FACHGEBIET PROFESSOR WEIDINGER TU BERLIN LANDSCHAFTSARCHITEKTUR das Atmosphärische in der Landschaftsarchitektur Abendvortrag am Donnerstag, 10.05.2012 18.00 Uhr, TU Berlin Kathryn Gustafson, Landschaftsarchitektin, London/Seattle Tagung am Freitag, 11.05.2012 9.00 - 18.00 Uhr, TU Berlin Erweiterungsbau Raum EB 301 Öffentliche Tagung, gebührenfrei INHALT UND ABLAUF DER TAGUNG 1. Unser Interesse an Atmosphären Das Fachgebiet Entwerfen Objektplanung ist Teil des Instituts für Landschaftsarchitektur und Umweltplanung der TU Berlin. Das Fachgebiet beschäftigt sich mit Theorie, Methodologie und Praxis des Entwerfens von Freiräumen, wie Parks, Plätze, Strassen, Uferbereiche, Gärten. Landschaftsarchitektonisches Entwerfen verbindet gestalterische Fähigkeiten mit Wissen aus vielfältigen Bereichen: Städtebau, Biologie, Baukonstruktion, Recht, Verkehrswesen, Klima, Wasserwirtschaft, Ökonomie, etc.. Der Entwurf ist diejenige Tätigkeit, die diese unterschiedlichen Bereiche durch den Entwurfsprozess und durch konkrete Entwurfslösungen verbindet. Der Zugang des Fachgebiets zum landschaftsarchitektonischen Entwerfen bildet die ganzheitliche Qualität einer Entwurfslösung. Diese ganzheitliche oder durchgehende Qualität bezeichnen wir aus unserer Sicht als Atmosphäre. FACHGEBIET PROFESSOR WEIDINGER TU BERLIN LANDSCHAFTSARCHITEKTUR Begründet wird dies durch die Beobachtung, dass Entscheidungssituationen im Entwurfsprozess ohne ein vom Entwerfer selbst gesetztes thematisch-atmosphärisches Ziel nicht aufgelöst werden können. Auch der härteste Funktionalist kalkuliert eine atmosphärische Wirkung ein. Sogar der, im Bezug auf ästhetische Wirkung unbewußt agierende, Verkehrsingenieur schafft ein atmosphärisches Resultat. Atmosphären sind beim Entwerfen unumgehbar. Unser Weg zur Atmosphäre und zu Atmosphärentheorie erfolgte auf Basis unserer Entwurfspraxis und der Auseinandersetzung mit Entwurfstheorien. Die durch das Fachgebiet vermittelte Entwurfmethodik für das Entwerfen von Atmosphären nutzt Ergebnisse aus Philosophie/Phänomenologie, Wahrnehmungstheorie und Poetiken anderer Künste und Disziplinen. Es zieht sich ein roter Faden durch die theoretischen Beschreibungen von ganzheitlicher Qualität. Ähnliche Erklärungsansätze können im Modell der Abduktion von Charles Saunders Pierce, im Modell der durchgehenden Qualität von John Dewey, in der Gestalttheorie der (Wiener) und Berliner Schule des frühen 20. Jahrhunderts, dem Modell der Melodie von Christian von Ehrenfels, den Modell des gestimmten Raums von Ludwig Binswanger, der Theorie des Wesens der Stimmungen von O.F. Bollnow und den Ergebnissen der Kognitionswissenschaft und der Gedächtnisforschung, dem Modell der Geschichtengrammatik und der jüngeren Theorie der Atmosphäre von Gernot Böhme festgestellt werden. Parallelen können auch zur Wirkung eindrücklicher Filme, Romane und eindrücklicher Musik erkannt werden. Der rote Faden besteht im Phänomen der Qualität, die Einzelinformationen zusammenführt, die Umwelt leichter und schneller lesbar macht und Poesie erst ermöglicht. Die genannten Modelle machen deutlich, dass die Wahrnehmung mit (durch oder von) Atmosphären, in der Kunst, Architektur, Stadtlandschaft und im landschaftsarchitektonisch gestalteten Raum den grundsätzlichen Rahmen für die Rezeption bildet. Es soll nicht verschwiegen werden, dass einflussreiche Denkstile und Schulen in den naturwissenschaftlichen Disziplinen, in den Kulturwissenschaften und der Medientheorie, in Entwurfsschulen wie Funktionalismus und „Ökologismus“ oder in den Kunstrichtungen wie Realismus oder Konkreter Kunst das Ziel verfolgen, die atmosphärische Wirkung in Produktion und Rezeption auszuschalten. 2. Thesen als Grundlage für Tagung Entwerfen mit Atmosphären ist unumgehbar, deshalb soll die Funktionsweise und Methodik dieser Entwurfsweise genauer untersucht werden. Die andere Seite, die Seite der Bewertung und Kritik benötigt ebenfalls Modelle und Kriterien, um die Atmosphäre in landschaftsarchitektonischen Entwürfen und Projekte diskutieren zu können. Das bewusste Entwerfen mit atmosphärischen Zielen ist in der Lage die Wirkungsintensität des entworfenen Raums zu steigern. Dies FACHGEBIET PROFESSOR WEIDINGER TU BERLIN LANDSCHAFTSARCHITEKTUR trifft besonders auf Stadtgestaltung und Landschaftsarchitektur zu, deren Qualität erst durch Bewegung erfahren wird. Unsere Recherchen haben ergeben, dass es im Bereich Stadtgestaltung und Landschaftsarchitektur im deutschsprachigen Raum nur wenige Beiträge zum Entwerfen von Atmosphäre gibt. Hier besteht ein aktuelles Forschungsdefizit. Die Tagung versteht sich aber auch als kritische Reaktion auf eine Renaissance von Funktion und Messbarkeit in akademischen Diskursen und der Praxis des Öffentlichen Planes und Bauens von Landschaftsarchitektur. Das liegt zum einen an dem Druck, den die Politik auf die Entwurfsdisziplinen an den Universitäten ausübt, um quantifizierbare Forschungsresultate von den Entwerfern zu erhalten. Zum anderen sind die Entscheidungs- und Vermittlungsverfahren des Öffentlichen Planens und Bauens komplex und unberechenbar geworden. Jeder Planungsprozess eines Parks oder Platzes wird heute zum Anlaß für Auseinandersetzungen zwischen Bürgern und Politik/Verwaltung. Oftmals geht es nicht um die Inhalte der Planung selbst, sondern um den Wunsch ein generelles Unbehagen gegenüber der Politik zum Ausdruck zu bringen. Deshalb unterstützt die Politik diejenigen Verfahren, die einzelne Aspekte aus der Ganzheit einer Entwurfslösung isolieren und vermeintlich messbar machen, in der Hoffnung objektive Argumente für die Kommunikation mit den Bürgern und für den Fall der juristischen Auseinandersetzung justiziable Fakten zu erhalten. Wir halten diese Entwicklungen für unglücklich und nicht geeignet öffentliche Räume zu planen, die die Menschen begeistern und die eine dauerhafte Wirkung entfalten sollen. Durch die Fokussierung auf Funktion und Objektivität geht auch die Fähigkeit verloren, sich über Qualitäten und Atmosphären, d.h. den Verbindungskitt für die unfangreichen Funktionsanforderungen aus Ökonomie, Biologie, Recht, Gesellschaftswissenschaften usw. auseinandersetzen zu können. Es wird eine Theorie der Atmosphäre benötigt, die den angewandten Disziplinen und der Kritik Kriterien zur Verfügung stellt, um das wirkungsmächtige Phänomen der Atmosphäre diskutieren, beschreiben und bewerten zu können. 3. Charakter und Zielstellung der Tagung Die Arbeitsweise des Fachgebiets besteht darin Brückenschläge von Praxis zu Theorie zu herzustellen. Diese Arbeitsweise soll auch im Bezug auf die Zielstellung und die Dramaturgie der Tagung angewendet werden. In der Entwurfspraxis und der Reflektion des Entwurfsprozesses wird deutlich, dass Atmosphären gibt. Auch ohne naturwissenschaftliche Definition des Atmosphärenbegriffs, spielt die Atmosphäre eine wichtige Rolle im Entwurf. Wir folgen der Argumentation von Jean-Paul Thibaud, der zwei Wege der theoretischen Auseinandersetzung für möglich erachtet: „die implizite Herangehensweise, in der Atmosphären ausschließlich nach streng operationalen Gesich- FACHGEBIET PROFESSOR WEIDINGER TU BERLIN LANDSCHAFTSARCHITEKTUR tspunkten betrachtet werden“ und der expliziten Herangehensweise, die den Atmosphärenbegriff selbst durch Modellbildung thematisiert. Es geht also nicht ausschließlich um eine geisteswissenschaftliche Tagung, die die Modelle der Beschreibung von Atmosphäre weiter ausdifferenziert und auch nicht ausschließlich um Werkberichte von Entwerfern, die ihre Arbeiten vorstellen. Die Tagung organisiert eine Begegnung von Theorie, der expliziten Herangehensweise mit Bezug auf Entwurfsresultate, mit der Praxis, der impliziten Herangehensweise als theoretische Reflektion der Praxis durch die Entwerfer selbst. Die Tagung an der TU Berlin am 10.5. und 11.5.2012 zielt darauf ab Ansätze für die Beschreibung von Atmosphären aufzuzeigen und damit die ganzheitliche Qualität der Atmosphäre in den Fachdiskurs der Landschaftsarchitektur und Stadtgestaltung einzuführen. 4. Leitfragen für die Tagung Die Leitfragen verweisen auf den Brückenschlag zwischen Theorie und Entwurfspraxis. Die ersten Fragen der Auflistung sind eher an die Theoretiker gerichtet, die folgenden Fragen sind eher an die Entwerfer gerichtet. Welche Atmosphären gibt es? Wie werden Atmosphären wahrgenommen? Mit welchen Kriterien kann man Atmosphären beschreiben? Welche theoretischen Modelle der Atmosphäre gibt es? Wie kann man Atmosphären notieren (aufzeichnen)? Ist es möglich Atmosphären zu messen, oder können Atmosphären nur verstanden und intersubjektiv beschrieben werden? Gibt es Prinzipien oder Regeln um Atmosphären zu entwerfen? Benutzen die Entwerfer theoretische Modelle, um landschaftsarchitektonische Atmosphären zu entwerfen? Welche Strategien und Mittel werden durch Entwerfer eingesetzt, um landschaftsarchitektonische Atmosphären zu schaffen? Welche Rolle spielen atmosphärische Qualitäten im Rahmen der Kritik in den Disziplinen Kunst, Theater, Literatur und Musik im Vergleich mit der Kritik in den Disziplinen Architektur, Städtebau und Landschaftsarchitektur? FACHGEBIET PROFESSOR WEIDINGER TU BERLIN LANDSCHAFTSARCHITEKTUR 5. Referenten 10.5.2012 um 1800 h Kathryn Gustafson Landschaftsarchitektin, Büro Gustafson Porter, London / Gustafson Guthrie Nichol, Seattle 11.5.2012 von 900h bis 1800 h Prof. Stig L. Andersson Landschaftsarchitekt, Büro SLA, Kopenhagen AW Faust Landschaftsarchitekt, Büro Sinai, Berlin Prof. Michael Hauskeller Lehrstuhl für Soziologie und Philosophie, Universität Exeter Dr. Burkhard Meyer-Sickendiek Institut für Deutsche und Niederländische Philologie, Freie Universität Berlin Prof. Rainer Schönhammer Lehrstuhl für Psychologie der Gestaltung, Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle Dr. Sabine Schouten Autorin von ‚Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater’, Berlin 6. Podiumsdiskussion Im Rahmen der Podiumsdiskussion mit allen Referenten wird der Brückenschlag von theoretischen Modellen zu den praktischen Entwurfsverfahren weiter ausgebaut. Zur Diskussion stehen Kriterien, um Atmosphären und atmosphärische Landschaftsarchitektur erkennen, beschreiben und bewerten zu können. Es geht auch die Diskussion geeigneter Formate, um Forschung zum Thema zu etablieren und die öffentliche Diskussion um die Güte landschaftsarchitektonischer Entwürfe kritisch diskutieren zu können. 7. Struktur der Tagung Die Tagung „Atmosphären entwerfen“ an der TU Berlin besteht aus einem Abendvortrag am 10.5.2012 der Landschaftsarchitektin Katrin Gustafson, Mitbegründerin des Büros Gustafsen Porter aus Seattle, London und der eigentlichen Tagung am 11.5.2012 an der TU Berlin. Am 12.5.2012 folgt eine Veranstaltung der Internationalen Gartenschau Gesellschaft 2017. Diese Veranstaltung wird die Rolle des Atmosphärischen im Rahmen des zukünftigen Gartenschaugeländes einem Fachpublikum vorstellen.