Fortbildung Sensible Neuropathie bei HIV Welche Besonderheiten gibt es, welche Substanzen wirken? Die Behandlung der HIV-assoziierten Neuropathie ist im klinischen Alltag oft schwierig: Zum einen besteht die Gefahr der Interaktion mit der antiretroviralen Therapie, zum anderen sind die bei Neuropathie üblicherweise eingesetzten Substanzen bei HIV-Patienten oft wenig hilfreich. Einige Strategien sind in dieser Situation aber dennoch von Nutzen. MARK OBERMANN © Image Broker / Imago Test mit der Stimmgabel: Eine Pallhypästhesie findet sich häufig bei HIV-assoziierten sensorischen Neuropathien. 32 NeuroTransmitter 9 · 2011 Fortbildung 32 H IV: Sensible Neuropathie Welche Besonderheiten gibt es, welche Substanzen wirken? 38 A GATE: Antidepressive Therapie bei Glaukompatienten Nur SSRI mit günstigem Risikoprofil D ie HIV-assoziierte sensible Neuropathie stellt eine der stärksten Einschränkungen in der Lebensqualität vieler HIV-positiver Patienten dar. Obwohl durch hochwirksame kombinierte antiretrovirale Therapien (cART) ein genereller Rückgang neurologischer Komplikationen zu verzeichnen ist, ist die Prävalenz der HIV-assoziierten sensiblen Neuropathie sogar noch gestiegen [25]. In einer US-amerikanischen Studie hatten von 1.539 untersuchten HIV-infizierten Patienten 881 (57,2 Prozent) eine sensible Neuropathie. Immerhin 335 (38,0 Prozent) hatten therapiebedürftige neuropathische Schmerzen. Schmerzen waren assoziiert mit einer signifikanten Einschränkung von Alltagsaktivitäten, Arbeitslosigkeit und verminderter Lebensqualität [5]. Patienten höheren Alters (über 40 Jahre), mit niedrigerem CD4-Zell-Nadir (unter 50 Zellen/mm3) und einer früheren oder aktuellen Einnahme von Stavudin, Didanosin oder Zalcitabin waren gefährdeter, eine Neuropathie zu entwickeln [13]. Gleiches gilt für eine initial hohe Viruslast (über 10.000 Kopien/ml), begleitenden Diabetes und die Einnahme der Proteaseinhibitoren Indinavir, Saquinavir und Ritonavir sowie für Alkoholkonsum [17]. Viele etablierte antineuropathische Medikamente sind bei HIV unwirksam Die Behandlung der HIV-assoziierten sensiblen Neuropathie stellt sich in vielen Fällen als äußerst schwierig dar und unterscheidet sich in manchen Punkten deutlich von der anderer Neuropathien. Zum einen müssen die Interaktionen der einzelnen Medikamente mit der cART berücksichtigt werden, zum anderen zeigen neuere Therapiestudien, dass viele etablierte Medikamente bei der HIV-assoziierten Neuropathie nicht ausreichend wirksam sind. Dies suggeriert beNeuroTransmitter 9 · 2011 42 S ERIE Interaktionslexikon – Teil 11 Chronopharmakologie – Wann wirken Arzneimittel am besten? 44 F rühdiagnostik bei Demenz DemTect – einfach, schnell und trotzdem zuverlässig sondere pathophysiologische Mechanismen bei HIV-Patienten. Missempfindung in den Zehen, die sich strumpfförmig ausbreitet Die beiden häufigsten Unterformen der HIV-assoziierten sensorischen Neuropathien (distal symmetrische Polyneuropathie, antiretroviral toxische Neuropathie) unterscheiden sich klinisch nicht. Initialsymptome sind meist symmetrische Missempfindungen in den Zehen, die sich strumpfförmig in Richtung Knöchel und Wade ausbreiten und häufig einen schmerzhaften, brennenden Charakter haben. Im Verlauf kann auch die obere Extremität mit handschuhförmigem Muster betroffen sein. Parallel bestehen häufig sensible Ausfallerscheinungen wie Hypästhesie oder Hypalgesie. Paresen sind meist nicht Teil der Symptomatik und sollten an andere Formen HIV-assoziierter Neuropathien denken lassen (Tabelle 1). Oft finden sich bei den Patienten abgeschwächte oder erloschene Achillessehnenreflexe und eine Pallhypästhesie (eingeschränktes Vibrationsempfinden). 48 P SYCHIATRISCHE KASUISTIK Kein Tic, sondern eine dissoziative Bewegungsstörung 54 CME Apparative Diagnostik bei Kopfschmerzen 59 CME Fragebogen Diagnostik Die korrekte und zeitnahe Diagnosestellung ist Voraussetzung für eine adäquate und effektive Therapie. Aufgrund des zunehmenden Alters der HIV-Patienten werden altersbedingte Komorbiditäten immer wichtiger. Neben der HIV-Infektion gehört daher das komplette Spektrum an Erkrankungen, die eine Polyneuropathie auslösen können, zur Abklärung (Tabelle 2). Auch die Elektrophysiologie liefert wichtige Hinweise: Hier findet sich häufig ein sensibel und axonal betontes Läsionsmuster. Allerdings zeigen etwa 20 Prozent der Patienten trotz typischer Beschwerden normale neurografische Befunde [26]. Hier kann eine Hautstanzbiopsie erwogen werden, die in der immunhistochemischen Analyse typischerweise eine Verminderung der intraepidermalen Nervenfaserdichte zeigt [15]. Die Reduktion der Nervenfaserdichte korrelierte mit niedrigen CD4+-Zellzahlen und einer hohen HIV-RNA-Viruslast sowie der individuellen Schmerzintensität. In einigen Zentren kann die Schädigung der kleinen Unterschiedliche Formen HIV-assoziierter Neuropathien Tabelle 1 HIV-assoziierte sensorische Neuropathien — Distal symmetrische Polyneuropathie (DSP) — Antiretrovirale toxische Neuropathie Inflammatorische Polyneuropathien — Akute inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (AIDP) — Chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP) Mononeuritis multiplex Autonome Neuropathie Neuropathie bei diffuser infiltrativer Lymphozytose Neuropathie im Rahmen opportunistischer Infektionen 33 33 Fortbildung ZNS-Komplikationen bei HIV: Sensible Neuropathie Laboruntersuchungen zur Abklärung von Polyneuropathien Tabelle 2 Basisdiagnostik BSG, CRP, Differenzialblutbild, Elektrolyte, Leber- und Nierenparameter, Protein- und Immunelektrophorese, TSH, oraler Glukosetoleranztest, HbA1c, Vitamin B12, Folsäure Erweiterte Untersuchungen Vaskulitis Rheumafaktor, ANA (wenn positiv, dsDNA- und ENA-Screening), p-ANCA, c-ANCA, zirkulierende Immunkomplexe, Kryoglobuline, Hepatitisserologie, Eosinophilie Malresorption Vitamin B1, B6, Parietalzell-Ak, Intrinsicfactor-Ak, eventuell Gastroskopie bei Vitamin-B12- oder Folsäuremangel Paraproteinämie Immunelektrophorese, Immunfixation, Bence-Jones-Proteine im 24-h-Urin, Anti-MAG-Ak, Knochenröntgen, Knochenmarkbiopsie Sarkoidose Thoraxröntgen, ACE-Bestimmung Paraneoplasien Autoantikörper gegen Nervengewebe, Knochenmark, erweiterte Suche nach Primärtumor (Lunge, Magen-Darm- und Urogenitaltrakt), Ganzkörper-PET-CT Ak = Antikörper, ACE = Angiotensin Converting Enzyme, ANA = Antinuclear Antibody, BSG =Blutsenkungsgeschwindigkeit, CRP = C-reaktives Protein, dsDNA = double stranded DNA, ENA =Extrahierbare Nukleäre Antigene, Hb = Hämoglobin, MAG = Myelinassoziiertes Glykoprotein, p-ANCA = perinukleäre antineutrophile cytoplasmatische Antikörper, PET = Positronenemissionstomografie, TSH = Thyroideastimulierendes Hormon Nervenfasern (Small-fiber-Neuropathie) auch nicht-invasiv (konzentrische Elektrode) zuverlässig bestimmt werden [11]. Nervenbiopsie oder Liquorpunktion sind in den seltensten Fällen zur Diagnosestellung notwendig und vor allem dann zu erwägen, wenn an eine andere Form der HIV-Neuropathie (etwa vaskulitische Polyneuropathie, infiltrative Lymphozytose) gedacht wird. Beide Formen machen sich durch sehr ausgeprägte und rasch progrediente Schmerzen sowie motorische Ausfälle wie Fußheberparesen bemerkbar. Therapie Endgültige Therapieempfehlungen für die HIV-assoziierte sensible Neuropathie sind durch den Mangel an aussagekräftigen Studien oft schwer. Meist orientieren sich die Fachgesellschaften an der diabetischen Polyneuropathie und extrapolieren die hier gewonnenen Studienergebnisse. Mittlerweile gibt es aber immer mehr und qualitativ hochwertigere Studien speziell zur HIV-assoziierten sensiblen Neuropathie. Trizyklische Antidepressiva (TCA) hemmen die präsynaptische Wiederaufnahme von 34 Serotonin und Noradrenalin und blockieren cholinerge, adrenerge sowie histaminerge Rezeptoren und Natriumkanäle. Kontrollierte Studien gibt es in dieser Stoffklasse nur für Amitriptylin. Dieses erwies sich jedoch in zwei kontrollierten Studien, jeweils im Vergleich zu Placebo und einer weiteren Intervention, entweder Akupunktur oder Mexiletin, als unwirksam in der Behandlung der HIV-assoziierten sensiblen Neuropathie [12, 19]. TCA haben darüber hinaus eine relativ geringe therapeutische Breite und sind bei einem Spiegelanstieg schnell im toxischen Bereich. Häufige anticholinerge Nebenwirkungen, kardiale Arrhythmien, Sedierung und Verwirrtheit schränken die therapeutische Relevanz bei HIV-Patienten weiter ein. Zudem bestehen Interaktionen mit Proteaseinhibitoren (PI), die den Serumspiegel von TCA erhöhen, während Nicht-Nukleosidische Reverse Transkriptasehemmer (NNRTI) den TCASpiegel senken (Dosisanpassung nötig!). Antiepileptika: Randomisierte, kontrol- lierte klinische Studien (RCT) gibt es zu Gabapentin, Pregabalin und Lamotrigin [8, 22 –24]. Interaktionen zur cART be stehen bei diesen Substanzen nicht. Allerdings konnte bei keinem der drei Antiepileptika eine eindeutige Wirksamkeit gezeigt werden. Gabapentin und Pregabalin sind Strukturanaloga zu GammaAminobuttersäure (GABA). Sie vermindern die Ausschüttung von Glutamat, Noradrenalin und Substanz P. Gabapentin: Insgesamt gibt es fünf Studien zur Wirksamkeit von Gabapentin bei der HIV-assoziierten sensiblen Neuropathie, wovon allerdings nur eine den RCTStandard erfüllt [8]. In dieser zeigte sich ein mittlerer Rückgang der individuellen Schmerzstärke auf einer visuellen Analogskala (VAS) um –44,1 bei Gabapentin und – 29,8 bei Placebo. Der Unterschied war zwar nach zwei Wochen signifikant; der Effekt verlor sich nach vier Wochen aber wieder. Dieser verspätete PlaceboEffekt konnte nicht gut erklärt werden, sodass es weitere Studien geben muss, um eine abschließende Bewertung abzugeben. Die Diskrepanz einer unzureichenden Wirksamkeit bei HIV-assoziierter sensibler Neuropathie steht in drastischem Gegensatz zu den Ergebnissen bei anderen Neuropathieformen. Pregabalin (maximale Dosis 1.200 mg/d) wurde in einer randomisierten, multizentrischen Studie an 302 Patienten im Vergleich zu Placebo untersucht. Es wurde kein signifikanter Unterschied in der Reduktion der Schmerzstärke nach 14 Wochen gefunden (Mean Numerical Pain Rating Scale mit Pregabalin: –2,88; Placebo –2,63; p = 0,39) [24]. Pregabalin ist daher in der Therapie der HIV-assoziierten Neuropathie nicht wirksam. Lamotrigin blockiert Natrium- und spannungsabhängige Kalziumkanäle von Nervenzellen und verhindert so die Freisetzung von Aspartat und Glutamat. Die Substanz (maximale Dosis 600 mg/d) wurde in zwei Studien untersucht [22, 23]. In der kleineren Pilotstudie (n = 42) zeigte sich eine Wirksamkeit im Vergleich zu Placebo [23], die allerdings in der größeren Studie (n = 227) nicht mehr reproduzierbar war [22]. In der Untergruppe der Patienten, die eine antiretrovirale neurotoxische Neuropathie aufwiesen, war Lamotrigin signifikant besser wirksam als Placebo (NNT = 2,88). NeuroTransmitter 9 · 2011 ZNS-Komplikationen bei HIV: Sensible Neuropathie Capsaicin ist ein pflanzliches Alkaloid, das durch Wirkung auf spezifische Rezeptoren einen Hitze- oder Schärfereiz hervorruft. Bei längerer Anwendung kommt es zum Verbrauch von Substanz P und damit zu einer schmerzstillenden Wirkung. Zur lokalen Anwendung gibt es zwei kontrollierte Studien [16, 20]. Während eine niedrige Dosierung von 0,075 Prozent keinen signifikanten Effekt im Vergleich zu Placebo zeigt [16], wurde mit der höheren Dosis (8 Prozent) nach einmaliger Anwendung ein signifikanter Therapieeffekt erzielt [20]. Als Kontrollsubstanz wurde ein aktiver Placebo (Capsaicin 0,04 Prozent) verwendet, was strenggenommen keinen sauberen Vergleich zulässt. Die Größe des Kollektivs (n = 307) und die Effektstärken lassen aber an einem robusten Ergebnis nicht zweifeln. Vielmehr wurde diskutiert, ob auch die niedrigere Dosierung von 0,075 Prozent nicht ebenfalls eine ausreichende Wirksamkeit zeigen könnte. Trotz guter Wirksamkeit scheint die Art der Applikation (Creme, Pflaster) die größte Hürde zu sein, weil dies sehr aufwendig und zeitintensiv ist, vor allem wenn größere Areale der Füße stark betroffen sind. Cannabis: Das Rauchen von Cannabiszi- garetten drei- bis viermal täglich zeigte in zwei placebokontrollierten Studien sehr gute Wirksamkeit bei ausreichenden Patientenzahlen (n = 55 und n = 34) [1, 6]. Trotz hoher Studienqualität war der größte Kritikpunkt die zweifelhafte Verblindung der Zigaretten. Die Placebokontrolle muss daher mit großer Vorsicht interpretiert werden. Hinzu kommt, dass die inhalative Applikation für Nichtraucher kaum infrage kommt. In Zukunft wird es andere Applikationsformen geben (etwa teilsynthetisch hergestelltes Dronabinol in Tropfenform). Tetrahydrocannabinol erhöht die Konzentration von Proteaseinhibitoren ohne relevante Interaktionseffekte. Wirksamkeit nicht. Ein Kritikpunkt war die schwierige Verblindung, da die Injektion von rhNGF zu ausgeprägten Myalgien führen kann. Eine Zulassung zur Therapie bei HIV-assoziierten Neuropathie besteht bisher nicht. Prosaptid ist ein Precursor-Protein des Saposins. Es aktiviert die lysosomale Hydrolyse von Sphingolipiden und hat einen neuroprotektiven Effekt. Eine Wirksamkeit hinsichtlich Schmerzlinderung konnte bei der diabetischen Neuropathie und der paclitaxelinduzierten toxischen Neuropathie im Tiermodell belegt werden. Die s.c.-Gabe von Prosaptid (maximale Dosis 16 mg/d) zeigte keine signifikant überlegene Wirksamkeit gegenüber Placebo [7]. Peptid-T ist ein synthetisches Oktapeptid, das ursprünglich als potenzielles antivirales Medikament gegen HIV entwickelt wurde, da es die Bindung von gp120 an den CD4-Rezeptor verhindert. Zusätzlich bindet es an Rezeptoren für vasointestinales Peptid (VIP) und blockiert die Zytokinproduktion und -funktion. Obwohl man die genaue Pathophysiologie der HIV-assoziierten sensiblen Neuropathie nicht kennt, spielen möglicherweise alle diese Faktoren eine Rolle. In einer zwölfwöchigen placebokontrollierten Studie konnte allerdings kein schmerzlindernder Effekt von 6 mg/d Peptid-TNasenspray gezeigt werden [21]. Acetyl-L-Carnitin ist die biologisch ak- Fortbildung Medikamentöse Therapieverfahren Tabelle 3 Wirksame Therapieverfahren — Cannabis inhalativ (1 – 8 % delta-9Tetrahydrocannabinol; 3 – 4 x/d) — Capsaicin topisch (8 % Pflaster, alle drei Monate) Eingeschränkt wirksam — Lamotrigin (25 – 600 mg/d; in zwei Tagesdosen) — Gabapentin (900 – 3.600 mg/d; in drei bis vier Tagesdosen) Nicht wirksame Therapieverfahren — Amitriptylin (25 – 75 mg/d; in ein bis zwei Tagesdosen) — Acetyl-L-Carnitin (1.000 mg/d i. m.; eine Tagesdosis) — Pregabalin (75 –1.200 mg/d; in zwei Tagesdosen) — Prosaptid (16 mg/d s. c.; eine Tagesdosis) — Peptid-T (6 mg/d nasal; eine Tagesdosis) Nicht untersuchte Therapieverfahren (30 – 60 mg/d; — Duloxetin eine Tagesdosis) — Venlafaxin (75 – 225 mg/d; in ein bis zwei Tagesdosen) — Tramadol (2 x 50 mg/d bis 4 x 100 mg/d) — Andere Opioide tivste Form des Carnitins, einer körperAnzeige Human Growth Factor: Die subkutane Injektion von rekombinantem humanem Nerve Growth Factor (rhNGF) zeigte in Dosierungen von 0,1 und 0,3 μg/kg zweimal pro Woche über 18 Wochen einen signifikanten Effekt im Vergleich zu Placebo [14]. In der Studie unterschieden sich die beiden Dosierungen bei der NeuroTransmitter 9 · 2011 35 Fortbildung ZNS-Komplikationen bei HIV: Sensible Neuropathie PRAXIS-TIPP! HIV-assoziierte Neuropathie: Ein pragmatischer Therapieansatz Erster Therapieversuch bei Patienten mit gleichzeitiger cART: Lamotrigin in langsamer Aufdosierung von 25 mg alle zwei Wochen bis zu einer maximalen Dosierung von 600 mg/d. Bei starkem Leidensdruck und Wunsch nach schnellerem Wirkungseintritt (auch Patienten ohne cART): eventuell Gabapentin (Beginn mit 3 x 300 mg/d, aufdosieren um 300 mg alle drei bis sieben Tage bis zu 3.600 mg/d). Müdigkeit und Schwindel sind die häufigsten Nebenwirkungen in der Aufdosierungsphase und zwingen unter Umständen zu langsamerer Aufdosierung. „Second-line“ Therapie (oder als Überbrückung, bis die Aufdosierung abgeschlossen ist): topische Applikation von 8 %igem Capsaicinpflaster einwirken (Wiederholung alle drei Monate). Häufigste Nebenwirkungen: vorübergehende Hautirritationen. Raucher und Patienten mit einschlägiger Vorerfahrung: eventuell Cannabiszigaretten als „Second-line“-Option; Cave: juristischer Aspekt (der Konsum von Cannabis ist in Deutschland verboten und wird je nach Bundesland und Menge strafrechtlich verfolgt); gesundheitliche Risiken, etwa Entwicklung/Exazerbation einer Psychose berücksichtigen! Dronabinoltropfen als verschreibbare Alternative (allerdings nicht in klinischen Studien untersucht). Patienten mit stärksten neuropathischen Schmerzen/Schmerzexazerbationen: versuchsweise Tramadol 50 mg 2 x/d in retardierter Form bis zu einer maximalen Dosierung von 4 x 100 mg/d. Bei unzureichender Wirksamkeit Versuch mit stärkeren Opioiden mit den genannten Einschränkungen („Third line“-Therapie analog der EFNS-Leitlinien) [2]. eigenen Substanz, die in der Leber aus zwei Aminosäuren (Lysin und Methionin) synthetisiert wird. Carnitin fördert die Fettoxidation und hat neuroprotektive Effekte [9]. Es wird von einigen Menschen als Nahrungsergänzungsmittel und „Fettkiller“ regelmäßig eingenommen. Von insgesamt sechs Studien erfüllt nur eine die RCT-Kriterien [28]. In dieser hatten 1.000 mg/d Acetyl-LCarnitin i. m. in der Intention-To-Treat(ITT)-Analyse keinen signifikanten Effekt gegenüber Placebo. werden und kann dann um 37,5 bis 75 mg pro Woche langsam auf die maximale Dosis von 225 mg/d aufdosiert werden. Durchfall und Übelkeit sind die häufigsten Nebenwirkungen. Es kann aber auch zu Blutdruckanstieg, Tachykardie und in seltenen Fällen (bei etwa 5 Prozent) zu EKG-Veränderungen kommen. Die NNT wird mit 3,1 angegeben [18]. Theoretisch besteht die Möglichkeit, dass Proteaseinhibitoren die Serumkonzentration von Venlafaxin erhöhen und die PIKonzentration leicht steigt. SSNRI: Studien zur HIV-assoziierten sen- Opioide: Auch zu Opioiden gibt es bei der Behandlung von HIV-Patienten mit sensibler Neuropathie bisher keine kontrollierten Studien. Insgesamt zehn unabhängige Studien zu Morphin, Oxycodon, Methadon und Levorphanol zeigten alle eine Überlegenheit von Opioiden in der Therapie der diabetischen Neuropathie im Vergleich zu Placebo [3]. Die häufigsten Nebenwirkungen waren Übelkeit, Obstipation, Sedierung und Erbrechen. Das Risiko des Substanzmissbrauchs und der Abhängigkeit wurde für alle chro- siblen Neuropathie liegen bisher für SSNRI nicht vor, sodass eine abschließende Einschätzung schwer fällt. Allerdings zeigen Daten anderer Neuropathien eine ausgezeichnete Wirksamkeit dieser Substanzklasse (vor allem von Duloxetin und Venlafaxin) [18, 27]. Duloxetin sollte in 30-mg-Schritten innerhalb von ein bis zwei Wochen bis auf 60 mg täglich aufdosiert werden. Häufige Nebenwirkung, besonders bei zu schneller Aufdosierung, ist Übelkeit. Venlafaxin sollte mit 37,5 mg/d begonnen 36 nischen Schmerzerkrankungen zwischen 5 und 50 Prozent angegeben [4]. Risikofaktoren dafür sind ein früherer Drogenoder Substanzmissbrauch, schwere psychiatrische Komorbidität oder Abhängigkeit in der Familienanamnese. Tramadol wird oft ein besseres Nebenwirkungsprofil und ein vermindertes Abhängigkeitspotenzial zugesprochen. Fünf placebokontrollierte Studien belegen die eindeutige Wirksamkeit bei neuropathischen Schmerzen [10]. Empfehlungen der Europäischen Fachgesellschaft Die große Diskrepanz der Studienergebnisse zwischen der HIV-assoziierten sensiblen Neuropathie und anderen neuropathischen Erkrankungen machen eine fundierte Therapieentscheidung schwierig. Dies spiegelt sich in den Empfehlungen der EFNS (European Federation of Neurological Societies) zur Therapie der HIV-assoziierten sensiblen Neuropathie wider [2]. Diese orientieren sich an den Richtlinien zur diabetischen Neuropathie trotz der teilweise gravierenden Diskrepanz der Studienergebnisse dieser beiden offensichtlich doch sehr unterschiedlichen Erkrankungen. TCA, Gabapentin, Pregabalin und SSNRI werden als „First-line“-Therapie empfohlen, obwohl es für keine dieser Substanzen positive Studienergebnisse gibt und SSNRI noch nicht hinsichtlich ihrer Wirksamkeit bei HIV-assoziierter Neuropathie getestet wurden. Tramadol gilt als „Second-line“-Option, während stärkere Opioide aufgrund des Abhängigkeits- und Missbrauchspotenzials „Thirdline“- Optionen darstellen. Cannabis und Capsaicin werden zwar als wirksam benannt, eine Empfehlung zur Anwendung wird aber nicht gegeben [2]. LITERATUR beim Verfasser Priv.-Doz. Dr. med. Mark Obermann Klinik und Poliklinik für Neurologie Universitätsklinikum Essen Hufelandstr. 55, 45122 Essen E-Mail: [email protected] NeuroTransmitter 9 · 2011