„ Abwehr, Schuld und Scham in der Alkoholismusbehandlung“ Vortrag im Rahmen des Treffens des AK Sucht und Prävention in Stadt und Landkreis Uelzen 8. Juni 2011 Dr.med. Robert Stracke Fachklinik Hansenbarg Hanstedt Nordheide / Hamburg www. hansenbarg. de [email protected] 1 … nicht viel Neues in den letzten Jahrhunderten … „ Es ist ganz Deutschland mit dem Saufen geplagt. Wir predigen … und schreiben darüber, es hilft aber leider nicht viel.“ Martin Luther, 1541 aus „ Wider den Saufteuf“ 2 Historische Epochen beeinflussen Funktionen von Drogen und umgekehrt • Alkohol in der Antike (3500 – Christi Geburt) • Alkohol in Christentum und Mittelalter (Christi Geburt – 1400 n.C.) • Erste Alkoholkrise (16. und 17. Jahrhundert) • Alkohol und Industrialisierung • 1 bis 2. Weltkrieg (1914 – 1945) • Prohibitionszeit (1919 – 1933) • Alkohol und Wirtschaftswunder ( 1945 – heute) 3 Einstellungen und Interaktionsformen im Umgang mit Alkoholkranken • Sünde • „Erb“krankheit • Laster / „schlechte“ Gewohnheit • Krankheit / seelische Störung 4 „ Alkoholismus ist keine lässliche Sünde, sondern eine Erkrankung des Gehirns. Ursächliches Agens ist der Alkohol selbst. Abstinenz ist das Behandlungsziel. „ Benjamin Rush, (1745-1813) 5 Einstellungen und wiederkehrende Interaktionsformen im Umgang mit Suchtkranken Sünde Einkehr, Buße „Erb“krankheit Verfolgung, Sterilisation, „Ausrotten“, Laster / „schlechte“ Gewohnheit Absonderung, Umerziehung Krankheit / seelische und soziale Störung Sozial/psychotherapeutische / medizinische Behandlung und / oder akzeptierende Begleitung (SHG, PSB) 6 Trinkkulturen • Abstinenzkulturen Verbot und Strafe • Trinkkulturen klare Regeln bzgl. Trinkmenge und Situation • gestörte Trinkkulturen keine klare Regeln mehr 7 5 ungeschriebene Gesetze einer gestörten Trinkkultur wie in Deutschland nach Liondenmeyer „ Lieber schlau als blau“, /. Aufl. 2005 1. regelmäßiger Konsum ist normal 2. Alkohol gehört einfach dazu 3. Alkohol tut gut 4. Trinke soviel wie dein Nachbar / Freunde etc 5. Alkoholtrinken ist Privatsache 8 Einstellungen gegenüber Alkoholkranken in Deutschland / Stigmatisierung psychisch Kranker • negative Archetypen • willensschwach, Penner, • arbeitsscheu, arbeitslos, • • Harzt IV aggressiv, unberechenbar verlogen, Bagatellisierer • „Sprung in der Schüssel“, • • • • „Rad ab“ Plemm – Plemm Hirnis, Mongos, Epilepis Weicheier „Emos“ 9 Über Alkoholiker Direktor Dr. Carl Wilhelm Pelmann Jahreschronik 1883 "Rheinische Provinzial-Irrenanstalt zu Grafenberg" (heute: Rheinische Kliniken Düsseldorf, Archiv Nr. 31639, LVB Rheinland) "Wir haben eine gewisse Anzahl von ihnen aufgenommen, aber wir sollten es nicht tun. Sie können nicht geheilt werden. Unter allen Kranken sind sie die am wenigsten angenehmen. . . Der Psychiater braucht viel Zeit und Beherrschung, um Gleichmut zu bewahren gegenüber einer derartigen Mischung von Eitelkeit, Charakterschwäche, Lügen und Wider-stand." Historisches (?) Zitat über Charaktereigenschaften von Alkoholkranken 10 Wie entsteht Sucht ? Mensch Umwelt Droge Biopsychosoziales Modell der Abhängigkeit nach Feuerlein 1989 11 Wie entsteht Sucht ? Mensch Sinn ? Spiritualität ? Umwelt Droge 12 Entstehungsbedingungen von Sucht Entstehungsbedingung der Sucht Genetische Ausstattung Prägungsprozesse, frühe Lebensereignisse Substanzwirkung Individuelle Vulnerabilität Verfügbarkeit der Substanz permissive Haltung Sucht psychosoziale Faktoren positive Verstärkung Kiefer, 2005 13 Verletzung menschlicher Grundbedürfnisse als Basis von Sucht • Orientierung • Kontrolle • Bindung • Selbstwertbestätigung / - steigerung • Selbstwertschutz • Lustgewinn • Unlustvermeidung 14 Konsistenzmodell seelischer Gesundheit (nach Klaus Grawe: Neuropsychotherapie 2004 ) • Ein Mensch ist dann seelisch gesund /zufrieden, wenn er / sie in Übereinstimmung mit seinen Grundbedürfnissen lebt • Durch Befriedigung oder Verletzung entwickelt sich motivationales Annäherungs – oder Vermeidungsverhalten • Beratung / Therapie sollte idealerweise auf der Basis der Befriedigung von Grundbedürfnissen Verhaltensänderungen beim Menschen einleiten 15 Schuld und Schamgefühle als Ergebnis und Behandlungshemmnis von süchtigem Verhalten • Bedürfnis nach Selbstwertbestätigung durch Sucht verletzt („Alki“) • Verhalten unter Alkohol oft beschämend • Ergebnis sind Schuld und Schamgefühle • die wiederum – weil unerträglich – verdrängt werden • Akzeptanz des Problems wird problematisch • Inanspruchnahme von Hilfe = gleich Eingeständnis des Problems (= noch mehr Verletzung des Selbstwertgefühls) verzögert sich 16 Schuld und Schamgefühle als Ergebnis und Behandlungshemmnis von süchtigem Verhalten • Bagatellisierung und Leugnung bei alkoholabhängigen Eltern des Patienten besonders ausgeprägt • Ausmaß der Leugnung in Abhängigkeit von der als Kind selbst erlebten Gewalt, Entwertung etc • ist das Bedürfnis nach Selbstwert biografisch bereits verletzt worden, bedeutet Alkoholismusdiagnose erneute Demütigung 17 Schuldgefühle und Abwehr „Das habe ich getan“, sagt das Gedächnis. „Das kann ich nicht getan haben“, sagt der Stolz. Schließlich gibt das Gedächnis nach. (Friedrich Nitzsche ) 18 Weitere Abwehrgründe • Stereotypisches Bild vom „Alki“, das dem eigenen Bild nicht entspricht • Inhomoges Krankheitsbild • Simplifizierendes „alle über einen Kamm scheren“ gerade auch von Suchtfachkräften verstärkt Abwehr 19 Kriterien Alkoholabhängigkeit • • • • • • Starker Wunsch / Zwang Alkohol zu trinken Verminderte Kontrolle bis zum Kontrollverlust Körperliches Entzugssyndrom Toleranz Vernachlässigung von Aktivitäten / Interessen Anhaltender Konsum trotz schädlicher Folgen 3 Kriterien innerhalb der letzten 12 Monate 20 Behandlungsschritte / haltung bei Abwehr, Schuld und Scham • Einfühlende Beziehungsgestaltung • gemeinsame Ziele entwickeln („shared attention“ • Ziel muß nicht (explizit) Abstinenz sein, sondern die Befriedigung der Grundbedürfnisse ( implizit fast nur über Abstinenz machbar. CAVE: Bindungsbedürfnis bei ängstlich – Vermeid. PST nur über Alk. machbar ?) • keine Konfrontation ohne stabile Beziehung • Konfrontationen auf emotionaler Ebene, weniger auf kognitiver • Grundhaltung der motivierenden Gesprächsführung: - Diskrepanzen entwickeln statt vordergründige Akzeptanz der Diagnose („Etikettierungsfalle“) - Verständnis für Leugnung zeigen - Entscheidung für Veränderungsschritte beim Patienten 21 J.G. Jung (1875 - 1961) „Ohne Not verändert sich nichts, am wenigsten die menschliche Persönlichkeit. Sie ist ungeheuer konservativ … Nur scharfe Not vermag sie aufzujagen. So gehorcht auch die Entwicklung der Persönlichkeit keinem Wunsch, keinem Befehl und keiner Einsicht, sondern nur der Not; sie bedarf des motivierenden Zwanges innerer und äußerer Schicksale.“ Gerhard Roth (geb. 1942) Nur „emotionale Revolutionen“ schaffen die Voraussetzung für grundlegende Verhaltensänderungen 22 „Süchtige“ Lernprogramme sind oft unbewußt und schwer veränderbar 23 Großhirnrinde gegen Mittelhirn: Warum ist Sucht so schwer Veränderbar ? 24 Vom Hirn als Lust / Motivations /Bedeutungszentrum zum „Social Brain“ 25 • Motivations / Belohnungssystem dient ursprünglich dem Überleben des Menschen • belohnt wird Sexualität Nahrungsaufnahme (Zucker, Fette) Lernen Freundlichkeit / Solidarität Drogeneinnahme (Tabak, Alkohol, Cannabis, Heroin u.a) 26 Wozu braucht unser Körper vorrangig hirneigene Motivationssysteme ? „ Motivation ist auf lohnende Ziele gerichtet und soll den Organismus in die Lage versetzen, durch eigenes Verhalten möglichst günstige Bedingungen zum Erreichen dieser Ziele zu schaffen.“ Bauer, 2006 27 Wozu braucht unser Körper vorrangig hirneigene Motivationssysteme ? „ Das natürliche Ziel der Motivationssysteme sind soziale Gemeinschaft und gelingende Beziehungen mit anderen Menschen.“ „ Is social attachement an addictive disorder ?“ 28 Kernziele menschlicher Motivation aus Sicht der Neurobiologie Zwischenmenschliche • Anerkennung • Wertschätzung • Zuwendung • Zuneigung finden und geben können 29 Grundausrichtung unseres Gehirns aus Sicht der Neurobiologie als „social brain“ • „die beste Droge für den Menschen ist der Mensch“ (J. Bauer) • leider nur in Abhängigkeit erlebter Erfahrungen 30 Selbstportrait E.L.K. 31 Selbstportrait E.M. 32 Selbstbildnis H.J. 33 Motivationsaufbau aus Sicht der Neurobiologie Zwischenmenschliche • Anerkennung • Wertschätzung • Zuwendung • Zuneigung finden und geben können reduziert Abwehrverhalten 34 „Neurobiologische Korruption“: Motivationssysteme und Drogenkonsum „Drogen sind also nur deshalb Suchtdrogen, weil sie auf die körpereigenen Motivationssysteme wirken, weil sie diese ersatzbefriedigen und damit quasi korrumpieren.“ (Joachim Bauer, 2006) Befriedigung der Grundbedürfnisse nach Bindung und Selbstwertbestätigung reduziert Abwehrverhalten 35 Menschliche Grundbedürfnisse und Suchttherapie Orientierung Kritische Bestandsaufnahme „Woher ? Warum ? Wohin ?“ ?“ Transparenz , Rituale Kontrolle Rückfallprä ckfallprävention Therapie seelischer Begleiterkrankungen Transparenz schaffen und Autonomie respektieren, Rituale Bindung Therapeutische Beziehung Familien / Betriebs / Paargesprä Paargespräche Selbstwertzuwachs Empathie, Respekt gegenü gegenüber Patient Zunahme von Selbstwirksamkeitsü Selbstwirksamkeitsüberzeugung durch Problemlö Problemlösen Selbstwertschutz Bearbeitung von Schuld und Schamgefü Schamgefühlen, Akzeptanz von Widerstand Keine vorschnelle Etikettierung Lustgewinn Aufbau / Entdeckung alternativer „Lustquellen“ Lustquellen“ (Musik, Sport, neue Beziehungen etc) Unlustvermeidung „Wohlfü Wohlfühlangebote / athmossphä athmossphäre“ re“ und siehe oben 36 Grundbedürfnisse, Therapeutische Wirkfaktoren und Werkzeuge in der Suchttherapie GRUNDBEDÜRFNISS „WERKZEUG“ WIRKFAKTOR Orientierung Kritische Bestandsaufnahme Woher ? Warum ? Wohin ? Klä Klärungshilfe Kontrolle Rückfallprä ckfallprävention Therapie seelischer Begleiterkrankungen Aktive Hilfe bei er Problembewä Problembewältigung, Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung Bindung Therapeutische Beziehung Familien / Paargesprä Paargespräche Empathische therapeutische Beziehung (TB) Selbstwertzuwachs Empathie, Respekt TB und Ressourcenaktivierung Selbstwertschutz Bearbeitung von Schuld und Schamgefü Schamgefühlen Empathische therapeutische Beziehung (TB), Akzeptanz von Widerstand Lustgewinn Aufbau / Entdeckung alternativer „Lustquellen“ Lustquellen“ (Musik, Sport, neue Beziehungen etc) Empathie, Aktive Hilfe bei der Problembewä Problembewältigung, Therapeutische Beziehung Unlustvermeidung „Wohlfü Wohlfühlangebote / athmosphä athmosphäre“ re“ Empathie, Aktive Hilfe, Therapeutische Beziehung 37 Motivationsdrogen für unser „social brain“ • tragfähige „echte“ Beziehungsgestaltung befriedigt Bindungsbedürfnis und reduziert Abwehr • Ressourcenförderung im kooperativem Miteinander bewirkt Selbstwertsteigerung • Befriedigung des Kontroll - und Orientierungsbedürfnisses durch Entscheidungshoheit beim Klienten • „Lustgewinn“ durch empathische Beziehungsgestaltung 38 Literatur: Bauer, J.: Prinzip Menschlichkeit – Warum wir von Natur aus kooperieren. Hofmann und Campe (2006) Förstl, H.; Hautzinger, M. Roth, G. Neurobiologie psychischer Störungen. Springer (2006) Grawe, K.: Neuropsychotherapie. Hogrefe (2004) Huether, G. : Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden. Vandenhoeck & Ruprecht (2003) Roth, G: Persönlichkeit, Verhalten und Entscheidung. – Warum es so schwer ist, sich und andere zu verändern. Klett-Cotta (2007) Singer, M., Batra, A., Mann, K.: Alkohol und Tabak. Grundlagen und Folgeerkrankungen. Thieme (2011) Spitzer, M: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Verlag Spektrum der Wissenschaft (2002) Spitzer, M: Schokolade im Gehirn und andere Geschichten aus der Nervenheilkunde. Schattauer (2001) Soyka, M., Küfner, H.: Alkoholismus – Mißbrauch und Abhängigkeit. Thieme ( 2007) 39 Sucht ist letztlich das Ergebnis neuroplastischer Veränderungen in biografischen und sozialen Kontexten 40