Hans Joas (Hg)

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Hans Joas (Hg). Lehrbuch der Soziologie. Frankfurt / Main. Campus. 2001
Das Wissen von der Gesellschaft
Joas schlägt vor mittels 5 Schlüsselbegriffen soziale Ereignisse zu diskutieren / zu analysieren und zu
hinterfragen.
Fünf Schlüsselbegriffe
Wie andere Wissenschaften benutzt die Soziologie spezifische Begriffe, um ihre Analyse sozialer
Phänomene zu organisieren und spezifische Gegenstände und Probleme in den Vordergrund zu
rücken. Viele soziologische Begriffe und Fachausdrücke sind in die Alltagssprache eingedrungen, wie
etwa Peer-group und Sozialisation; allerdings haben sie im soziologischen Kontext eine präzisere
Bedeutung. Wir führen im folgenden fünf soziologische Schlüsselbegriffe ein, die es uns
erlauben, die wichtigsten Dimensionen des sozialen Lebens zu erfassen.
Sozialstruktur
Die Sozialstruktur bezeichnet ein Muster von Beziehungen, Positionen und Mengen von
Individuen. Dieses Muster bildet das »Grundgerüst« der sozialen Organisation einer
Population, gleichgültig ob es sich um eine kleine Gruppe oder eine ganze Gesellschaft handelt.
Beziehungen entstehen, sobald Menschen in relativ stabile, kontinuierliche Muster spezifischer
Interaktionen und/oder gegenseitiger Abhängigkeit eintreten -beispielsweise Ehen oder
Beschäftigungsverhältnisse auf der interpersonalen Ebene oder Institutionen wie das Bildungssystem
und Gesundheitswesen auf einer umfassenderen, mehr abstrakten Ebene. Positionen (manchmal
auch als Status bezeichnet) sind anerkannte Plätze im Netz sozialer Beziehungen -beispielsweise die
Positionen der Mutter, des Präsidenten oder Pfarrers -, die in der Regel mit Verhaltenserwartungen
(gemeinhin als Rollen bezeichnet) verbunden sind. Die Individuenmengen in verschiedenen
Kategorien (etwa die Mitgliederzahl einer studentischen Verbindung oder die Gesamtpopulation
eines Landes, die Zahl unverheirateter Mütter oder der erwerbstätigen Frauen), insbesondere aber
die relative Größe dieser Kategorien (etwa der Anteil der über 65-Jährigen in einer Population oder
das Verhältnis von Offizieren zu Rekruten in einer Armee) sind für die Sozialstruktur relevant.
Es ist wichtig, zwischen der Sozialstruktur und den Individuen oder dem »Personal« zu
unterscheiden. So ist die Struktur einer Universität vergleichsweise stabil, während ihr
Personal sich ständig verändert. In jedem Semester nehmen Neuimmatrikulierte ihr Studium auf,
während Graduierte die Universität verlassen. Gleiches gilt auch für ihr Lehrpersonal: Manche
Dozenten erhalten eine volle Professur, andere wechseln die Universität. Trotz dieses ständigen
Personalwechsels ändert sich, wenn überhaupt, nur langsam ihre Grundstruktur - die Beziehungen
zwischen Verwaltung, Fachbereichen und Studentenschaft, zwischen Professoren und Studenten,
zwischen höheren und niederen Semestern usw. Die Struktur bestimmt die Möglichkeiten, die
den Individuen offen stehen, aber diese beeinflussen auch die Struktur. Wenn z.B. die Zahl
der Neuimmatrikulationen sinkt, werden womöglich weniger Professoren eingestellt. Wenn die Zahl
der Frauen, die ein Studium aufnehmen, wächst, nimmt vielleicht die Nachfrage nach Kursen über
Frauenthemen zu.
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Die Sozialstruktur ist eine wichtige Quelle der Stabilität im sozialen Leben, doch
strukturelle Faktoren können auch Veränderungen hervorrufen und sie prägen. So war das strikte
chinesische Familienplanungsprogramm, das in der Ein-Kind-Politik gipfelte, eine Reaktion auf das
rapide Bevölkerungswachstum. Nicht nur ist die chinesische Bevölkerung enorm groß, auch ihr
Wachstum - das Ergebnis besserer Ernährung und medizinischer Versorgung unter der
kommunistischen Regierung - ist relativ neuen Datums. Dies bedeutet, dass ein hoher Prozentsatz
der chinesischen Bevölkerung jung ist und viele Frauen in den 1990er Jahren ins gebärfähige Alter
eintraten, so dass selbst dann, wenn die Kinderzahl pro Paar sinkt, in den kommenden Jahrzehnten
viele Kinder geboren werden. Es gab also einen strukturellere Grund (eine bereits riesige Bevölkerung
plus einen hohen Prozentsatz gebärfähiger Frauen), der erwarten ließ, dass die chinesische
Bevölkerung weiterhin rapide expandieren würde. Eine rasch wachsende Bevölkerung hätte alle
potenziellen Gewinne aus der Entwicklung der Wirtschaft und der höheren Produktivität der
Landwirtschaft »aufgefressen«, wenn es nicht gelungen wäre, das Bevölkerungswachstum zu
reduzieren; auch der allgemeine Lebensstandard wäre auf einem relativ niedrigen Niveau verharrt.
China investierte einen 'Teil der Ausgaben für sein Familienplanungsprogramm in Technologien zur
Geburtenbeschränkung. (Allerdings sieht sich China derzeit einem enormen Überschuss an Männern gegenüber;
auch dies eine Folge der Strukturveränderungen; allerdings wird dadurch die Zusammensetzung der Bevölkerung
wesentlich beeinflusst; auch hinsichtlich von Migration. Derzeit kann man von ca. 25 Millionen chinesischer Männer
ausgehen, die keine Frauen finden. Werden Männerghettos das Gesicht der Großstädte verändern? (sto))
Wie erwähnt, reagierte China mit einer strikten Politik der Geburtenregelung. Eine unbeabsichtigte
Folge dieser Politik war, dass chinesische Paare nun über die Instrumente (Sonographie und
Abtreibung) verfügen, um ihrer traditionellen Bevorzugung von Söhnen zu folgen. Das daraus
resultierende Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern hat erhebliche strukturelle Konsequenzen.
Wenn das Geburtenverhältnis sich hin zu den Jungen verschiebt (117 : 100; sto), entsteht zwanzig
Jahre später ein Frauenmangel für Männer im Heiratsalter. Nicht nur gehen dann einige Männer bei
der Brautsuche leer aus, erwachsene Männer werden dann auch wesentlich jüngere Frauen heiraten
(wodurch oft Programme konterkariert werden, den Status der Frau durch bessere Ausbildung
anzuheben). Letzten Endes wird es zu wenige Töchter und Schwiegertöchter geben, die die Alten
pflegen, und folglich wird der Druck auf die Regierung wachsen, sich der Alten anzunehmen.
Ermutigt die Regierung die Frauen weiterhin, eine bessere Ausbildung anzustreben und traditionell
männliche Berufe zu ergreifen, wird der Frauenmangel in traditionell weiblichen Berufen und sozialen
Rollen noch dramatischer werden.
Auch die Sozialstruktur westlicher Länder wird gewaltig durch neue Fertilitätstmuster umgeformt. Die
Geburtenraten sinken, weil die Paare beschließen, weniger Kinder zu haben (zum Teil mit Hilfe
moderner Methoden der Familienplanung). Die neue westliche Familienstruktur, in der Familien mit
einem oder zwei Kindern die Norm sind, hat die Erfahrung des Familienlebens, die Nachfrage nach
Schulen und viele andere Aspekte des Lebens in Europa und Nordamerika drastisch verändert; auch
Frauen können heute viel leichter eine berufliche Karriere in den Ländern dieser Regionen starten.
Paare, die kleinere Familien planen, tendieren dazu, erst später Kinder zu bekommen. Viele
Erstgebärende sind heute Frauen im Alter zwischen dreißig und vierzig. In zwanzig Jahren werden
deshalb viele Erstsemester Eltern haben, die im oder nahe am Pensionsalter sind. Welche
Konsequenzen erwachsen daraus für die Studienfinanzierung?
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Soziales Handeln
Soziales Handeln bezeichnet ein Verhalten, für das wir uns bewusst entscheiden, das also
nicht instinktiv oder reflexhaft ist. Wir sprechen von sozialem Handeln, weil es sich erstens auf
andere Menschen bezieht und zweitens von Bedingungen abhängt, die andere Menschen geschaffen
haben. Ja, gerade die »Menschwerdung«, das Heranreifen zu einem Individuum, ist ein sozialer
Prozess: Wir lernen vorwiegend mittels sozialer Beziehungen eine Sprache, Werte,
Normen und ganz allgemein, wie man etwas macht.
Nicht nur Individuen führen soziale Handlungen aus, sondern auch Gruppen und
komplexe Organisationen wie Unternehmen oder Regierungen. Als Individuen handeln wir in
der Regel, um gewisse unserer Eigenschaften zu verändern, indem wir z.B. täglich Basketball
trainieren, um unser Spiel zu verbessern, oder indem wir uns den Anonymen Alkoholikern (AA)
anschließen, um die ruinösen Wirkungen der Alkoholabhängigkeit auf unseren Körper und unsere
Beziehungen zu stoppen. Wir können sowohl als Individuen als auch in Gruppen und Organisationen
handeln, mit dem Ziel, die Gesellschaft zu verändern - interethnische Konflikte zu entschärfen, das
Gesundheitssystem zu reformieren, den Wald zu retten oder eine Revolution zu machen. Durch einige
der wichtigsten sozialen Handlungen entstehen neue Beziehungen, so wenn sich Heiratskandidaten
ihr Jawort geben oder wenn Staaten oder Organisationen von ihren Gründern durch den Entwurf
einer Verfassung ins Leben gerufen und mit einer sozialen Struktur versehen werden. Diese
Handlungen wiederum schaffen neue Handlungszwänge. Nach der Heirat mögen Frau und
Mann einen wachsenden inneren und äußeren Druck verspüren, ein Kind zu zeugen; nach der Geburt
eines Kindes gleiten sie oft unbewusst in stereotype Geschlechtsrollen, obgleich sie sich vielleicht
vorgenommen hatten, die elterlichen Pflichten gerecht zu teilen (vgl. Kapitel 11 und 12).
Wir halten manche Aspekte unserer sozialen Umwelt oft für selbstverständlich, als wären sie schon
immer da gewesen oder gerade erst auf wundersame Weise und anonym entstanden; wir ignorieren
dabei die Rolle sozialen Handelns. So waren die neuen Reproduktionstechnologien nicht das
unvermeidliche Produkt des wissenschaftlichen Fortschritts, der aus sich heraus immer neue
Entwicklungen gebiert. Sie waren vielmehr »das Ergebnis einer Reihe spezifischer Entscheidungen,
getroffen von bestimmen Personengruppen an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten, die eigene
Ziele verfolgten« (Wajcman 1994). Mit denselben Ressourcen hätte man auch die Ursachen der
Unfruchtbarkeit und deren vorbeugende Behandlung erforschen oder Adoptionsdienste erweitern
können, um Paare, die sich Kinder wünschen, und Not leidende, verlassene Kinder
zusammenzubringen.
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Während in den USA immer weniger Kinder zur Adoption frei Begehen werden, Gar die chinesische Ein-Kind-Politik
zusammen mit der kulturellen Bevorzugung von Söhnen dazu geführt, dass chinesische Mädchen zerr Adoption durch
US-Amerikaner frei gegeben werden.
Chinas Politik der- Ein-Kind-Familie und die geschlechtsselektive Abtreibungspraxis indischer Familien
sind eindeutige Beispiele sozialen Handelns. Doch selbst die rein privaten Entscheidungen, die eine
Person trifft, sind soziale Handlungen. Betrachten wir als Beispiel eine alleinlebende 37-jährige Frau,
die mittels künstlicher Befruchtung schwanger wird. In welchem Sinne ist ihre Handlung »sozial«?
Einmal, weil sie von der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation abhängt. Zwar existierte diese
Technologie bereits vor 30 Jahren, doch die meisten Ärzte hätten es seinerzeit abgelehnt, einer
alleinlebenden Frau zu einer- Schwangerschaft zu verhelfen. Hinzu kommt, dass eine Frau, die weit
über Dreißig ist, ein höheres Risiko hat, ein Kind mit Down-Syndrom zubekommen. Doch heute
werden alleinlebende schwangere Frauen kaum mehr stigmatisiert. Und die moderne pränatale
Diagnostik kann genetische Defekte bereits in der Schwangerschaft feststellen. Zum zweiten ist ihre
Handlung sozial, weil sie andere betrifft: das Kind, den Vater (selbst einen anonymen Samenspender,
wenn das Kind ihn später kennen lernen will) und die größere Gesellschaft.
Mittels Amniozentese und Chorionbiopsie lassen sich angeborene Fehler- und genetische
Abnormalitäten in utero feststellen. Mittels genetischer Tests lässt sich auch die Wahrscheinlichkeit
bestimmen, dass ein Paar defekte Gene an seine Kinder- weitergibt. Eltern mit dem Gen für
Tay-Sachs, einer Erbkrankheit, die zu einem langsamen, schmerzhaften Tod in den ersten
Lebensjahren führt, haben ein Risiko von eins zu vier, dass sie sie an ihr Kind weitergeben. Früher
mussten sie sich zwischen dem Risiko, ein krankes Kind zu zeugen, und dem Verzicht auf die
Elternschaft entscheiden. Heute können sie im voraus erfahren, ob sie das Gen für Ta v-Sacks tragen.
Tragen beide Eltern das Gen, können sie sich für eine Adoption entscheiden, statt ein Kind mit TaySachs in die Welt zu setzen. Möglich geworden sind diese Entscheidungen erst, nachdem andere
Entscheidungen, in die Entwicklung dieser Technologien mehr zu investieren, getroffen wurden, weil
Ärzte heute bereit sind, diese Verfahren anzuwenden, usw.
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Kultur
Kultur ist das mehr oder weniger integrierte, den Lebensstil von Menschen prägende
Muster von Weisen des Denkens, Verstehens, Bewertens und Kommunizierens. Viele
unserer Merkmale, die für uns das spezifisch Menschliche ausmachen - Sprache, Moral, Technik und
Fertigkeiten - sind kulturelle Elemente, die wir durch soziale Beziehungen erlernen - zuerst
innerhalb der Familie und später durch Teilnahme an kulturellen Institutionen wie Schulen und
Kirchen. Die Kultur stellt die gemeinsamen Ressourcen des Denkens und Handelns bereit, deren
wichtigste die Sprache ist. Sie liefert uns auch die Kriterien, mittels deren wir die Bedeutung von
Handlungen bewerten. Eine immer wieder diskutierte Frage ist etwa, ob Abtreibung gesetzlich erlaubt
und jeder Frau zugänglich sein soll. Über diese (und zahllose andere) Fragen haben wir alle unsere
persönlichen Meinungen. Doch ob wir urteilen, das »Lebensrecht« des Fötus sei höher zu bewerten
als die freie Entscheidung der Frau oder umgekehrt, immer ist es die Kultur, dank derer wir die
Tragweite dieser Frage ermessen, zwischen diesen beiden Vorstellungen abwägen und sie
diskutieren. Generell misst unsere Kultur dem Leben einen hohen Wert bei, aber auch der Freiheit
der Wahl. Die Abtreibung gehört zu den Fragen, bei denen unterschiedliche kulturelle Werte
aufeinander prallen.
In vielen asiatischen Gesellschaften werden Söhne auf Grund tradierter kultureller Werte bevorzugt.
Weniger offensichtlich ist, dass asiatische Kulturen dazu neigen, der Gruppe (vor allem der Familie)
einen höheren Wert beizumessen als dem Individuum - und der sozialen Ordnung und Harmonie
einen höheren Wert als der persönlichen Freiheit. Viele Chinesen halten es für richtig und
angemessen, dass der Staat von den Paaren verlangt, ihren Wunsch nach mehr Kindern dem
größeren Wohl der Gesamtgesellschaft zu opfern. Doch - wie im Fall der Abtreibung in einigen
westlichen Kulturen - durchkreuzen in China die Werte der Familie und der sozialen Ordnung
manchmal einander, ohne dass man sich dessen bewusst wäre: Richtet man sich nach einem Wert
(dein Wohl der Gesellschaft), verletzt man einen anderen (den Wert großer Familien).
Die Kultur erschafft die Ideale, die unsere individuellen Träume und Wünsche bestimmen. Kinderlose
Ehen werden im Westen heute mehr akzeptiert als früher, gelten aber nicht als Idealzustand. Von
klein auf hören wir: »Wenn du groß bist«, gefolgt von, »und Mutter/Vater wirst« so oft, dass es uns
vorkommt, als sei beides dasselbe (Lasker/Borg 1994). Unser Frauenideal ist auf Mutterschaft, unser
Männerideal auf Vaterschaft ausgerichtet. Auf Grund kultureller Einflüsse, verstärkt durch sozialen
Druck, fühlen sich kinderlose Paare Mitte Dreißig oft unerfüllt. Da immer mehr ihrer Freunde Kinder
haben, sind sie (und fühlen sie sich) von gesellschaftlichen Ereignissen ausgeschlossen. Menschen
ohne Kinder gelten in der westlichen Kultur im allgemeinen als egoistisch und »komisch«. Doch nicht
nur Paare, auch alleinlebende kinderlose Frauen, ob lesbisch oder heterosexuell, kommen sich vor,
als würden sie von der Norm abweichen. Gelten Kinderlose als egoistisch, so kommen Paare mit nur
einem Kind - die ihr oder ihm ein Geschwister verweigern - nur wenig besser weg. Trotz gegenteiliger
Beweise werden Einzelkinder als verwöhnt und schlecht angepasst stereotypisiert. Im übrigen zieht
die westliche Kultur »natürliche« Geburten der Adoption vor, selbst wenn bei Ersteren medizinische
Hightech-Eingriffe notwendig sind.
Ferner ermöglicht die Kultur die Entwicklung neuer Technologien, indem sie einen gesellschaftlich
organisierten Vorrat an Informationen bereitstellt, aus dem Ärzte, Erfinder, der Staat, Planer und
normale Leute gleichermaßen schöpfen können. Die westliche Kultur ist stark von der Technik
geprägt. Wir verwenden enorme Anstrengungen auf den technischen Fortschritt: So haben die
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erstaunlichen Errungenschaften von Wissenschaft und Technik in den letzten 200 Jahren unsere
Vorstellungen von den Grenzen des Machbaren drastisch verschoben. Weit seltener als unsere
Vorfahren glauben wir an lest stehende Grenzen, die uns von der Natur oder Gott gesetzt sind, und
wir neigen weit häufiger zu der Vorstellung, es müsse für alle Probleme eine Lösung geben, wenn wir
nur über die erforderliche Technologie verfügten. Wir betrachten die Natur als eine Menge nützlicher
und manipulierbarer Ressourcen, nicht als etwas Heiliges oder Mächtiges, das wir nicht antasten
sollten. Das gilt selbst für die menschliche Natur, wie die Medikalisierung von Zeugung,
Schwangerschaft und Geburt belegt.
Macht
Macht ist die Fähigkeit eines sozialen Akteurs, den Gang der Ereignisse oder die Struktur einer
sozialen Organisation zu bestimmen. Sie kann ausgeübt werden gegen den Willen anderer Akteure,
damit sie Dinge tun, die sie sonst nicht täten, oder um ihren Willen zu bestürmen, damit sie gewisse
Dinge tun wollen (oder meiden). Macht der ersten Art übt ein Polizist aus, der einen Dieb daran
hindert, ein Auto zu stehlen, oder ein Autodieb, der mit vorgehaltener Pistole einen Autobesitzer
zwingt, an einen einsamen Ort zu fahren, wo es keine Polizei oder sonstige Zeugen gibt. Macht der
zweiten Art übt ein Fabrikant aus, der durch Werbung zum Kauf seiner Produkte animiert, auch
solcher Produkte, von denen die Konsumenten nicht wussten, dass sie sie wünschen oder brauchen.
Macht der zweiten Art nutzt auch der Staat, wenn etwa der Eigenheimbau steuerlich bezuschusst
wird; er unterstützt auf diese Weise die Mittelschicht und fördert ganz bestimmte
Siedlungsstrukturen. Man beachte, dass Macht von Individuen wie etwa Beamten oder Kriminellen
oder von weit "größeren" sozialen Akteuren wie etwa Unternehmen und Regierungen ausgeübt
werden kann.
Der chinesische Staat nutzt offensichtlich seine Macht, wenn er anordnet, dass die Familien sich auf
ein Kind beschränken müssen, und nette Technologien zur Verfügung stellt, um »minderwertige«
Geburten zu verhindern. Nur ein autoritäres Regime wie das chinesische kann sich eine so extreme
und kontroverse Maßnahme »leisten«. Andere Länder mit vergleichbaren Bevölkerungsproblemen Indien, Indonesien, Nigeria - haben weit größere Schwierigkeiten gehabt, eine wirksame
Familienplanung durchzusetzen.
Für die meisten Menschen in den westlichen Gesellschaffen ist die Vorstellung, der Staat könne seine
Macht zur Geburtenregelung einsetzen, ein Horror. Doch diese Praxis ist der westlichen Kultur nicht
so fremd, wie wir glauben mögen. In den 1930er Jahren befürworteten nicht nur zahlreiche deutsche
Biologen im Umfeld der nationalsozialistischen Ideologie Lind Herrschaft die Eugenik -d.h. Versuche,
die Eigenschaften einer Population durch selektive Reproduktion zu verbessern -,sondern auch ihre
Fachkollegen in anderen Ländern. Mehr als dreißig Staaten verabschiedeten Gesetze zur
Zwangssterilisierung in der Absicht, die Gesellschaft von »Unangepassten« zu >säubern< Alkoholikern, Drogenabhängigen, Epileptikern, Geisteskranken, Kriminellen und vor allem geistig
Zurückgebliebenen, deren Probleme man für erblich bedingt hielt. Die Eugenik wurde als
wissenschaftliche Lösung für ein soziales (und ökonomisches) Problem propagiert: Unangepasste sich
frei fortpflanzen zu lassen, sei, so dachten viele, eine »Verschwendung öffentlicher Mittel«. Diese
Pseudowissenschaft war allerdings mehr- durch populäre Vorurteile als durch ihre prognostischen
Fähigkeiten gekennzeichnet. Abraham Lincolns Eltern -der eine Elternteil war geistesgestört, der
andere Alkoholiker - wären- als ungeeignet für- die Zeugung von Kindern klassifiziert worden! Vor
allem im nationalsozialistischen Deutschland Iran es zu extremen Auswüchsen dieser Praxis.
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Trotzdem blieben in einigen Staaten Vorschriften zur Zwangssterilisierung bis in die 1970er und
1980er -Jahre hinein in Kraft. Heute fürchten manche, die Fortschritte der- Gentechnik könnten dazu
führen, dass erneut eugenische Maßnahmen vorgeschlagen werden.
Geld verleiht eine Form von Macht. Die Spezialkliniken für künstliche Befruchtungen in den USA sind
überwiegend kommerzielle Unternehmen: »Wer- bezahlen bann, schafft an«; wer- es nicht kann, ist
in der- Regel von ihren Dienstleistungen ausgeschlossen. Hingegen haben die meisten Menschen in
fast allen europäischen Ländern und in Kanada im Rahmen öffentlich finanzierter
Gesundheitssysteme Anspruch auf diese Dienstleistungen. Breite Gruppen haben hier ihre politische
Macht dazu benutzt, um durchzusetzen, dass die medizinische Versorgung für die gesamte
Bevölkerung aus Steuergeldern oder durch öffentliche Krankenversicherungen mitfinanziert wird und
nicht, wie in den USA üblich, überwiegend auf privaten Versicherungen und privater Bezahlung
basiert. Doch selbst in den USA nutzen alle, die sich die teuren künstlichen Befruchtungen leisten
können, aus öffentlichen Mitteln mitfinanzierte Forschungen über Fertilitätsprobleme. Es zeigt sich
mithin, dass bei diesem Problem noch andere Machtformen eine Rolle spielen: Die Macht voll
Regierungen, die Bürger zu besteuern und zu entscheiden, wofür die Steuereinnahmen ausgegeben
werden, und die Macht der Wohlhabenden (und Besser-Organisierten), Druck auf die Regierung
auszuüben, damit diese das Geld des »Volkes« zu ihrem Vorteil ausgibt.
Die Soziologie untersucht auch die Macht ganzer Sozialsysteme, die von der Macht von
Einzelpersonen, Gruppen oder Organisationen verschieden ist. So verfügt die US-amerikanische
Gesellschaft über mehr Macht als die äthiopische. Das heißt nicht nur, dass die USA die militärische
Macht besitzen, Äthiopien in einem Krieg zu besiegen, oder die Wirtschaftskraft haben, um das Land
zu schikanieren. Vielmehr ist die Diskrepanz zwischen den Niveaus der technischen, wirtschaftlichen
und sozialen Entwicklung dieser Gesellschaften gemeint, die das Leben der Menschen bestimmen. So
mögen US-Amerikaner gelegentlich Arbeitslosigkeit und Armut erfahren, aber sie verhungern selten.
Äthiopien hingegen wird häufig von schlimmen Hungersnöten heimgesucht, an denen nicht nur das
Klima schuld ist, sondern auch die relativ primitive Technik, die geringe wirtschaftliche Entwicklung
und die gesellschaftliche Desorganisation. Moderne Industriegesellschaften fördern das
Denken in Zeitplänen, Stechuhren und Terminen. Zunehmend bekommen diesen Zeitdruck
auch Agrargesellschaften wie Äthiopien zu spüren, sobald sie Städte, Büros und moderne Industrien
entwickeln. Man muss auf ihn reagieren, auch wenn einem das verplante heben nicht immer attraktiv
erscheint. Sowohl in Äthiopien wie in den USA ist die persönliche Identität enger mit der nationalen
Identität verflochten als mit den separaten ethnischen Identitäten. Die Individuen zahlen in beiden
Ländern Steuern und akzeptieren die Verpflichtung zum Militärdienst - jedenfalls meistens - weil sie
glauben, dass ihre Existenz an die ihres Landes geknüpft ist. Nationalistische Ideologien verfügen
über die Macht, solche patriotischen Gefühle zu mobilisieren. Diese Macht liegt nicht bei irgendeinem
einzelnen sozialen Akteur (obgleich Individuen und Gruppen patriotische Gefühle beschwören
können), sondere bei der Gesellschaft als Ganzer.
Funktionale Integration
Kinder kommen nicht isoliert von der sozialen Realität einer Gesellschaft zur Welt. Die
Zahl der Geburten - ob weiblich oder männlich, gesund oder behindert- wirkt sich auf die Schule,
den Arbeitsmarkt, die Heiratsmuster, die Altenpflege u.v.m. aus. Häufig sind Eigenschaften
der Sozialstruktur und der sozialen Organisation funktional miteinander verknüpft. Was in
einem Teil der Gesellschaft geschieht, beeinflusst, was in anderen Teilen geschieht, und wird
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wiederum selbst davon beeinflusst. Werden z.B. neue Medizintechniken entwickelt, um Frühgeburten
am Leben zu erhalten, müssen die Versicherungsprämien steigen, um diese kostspieligen Therapien
zu bezahlen.
Einige frühe Soziologen erklärten diese funktionalen Verknüpfungen oft mittels einer biologischen
Analogie. Sie verglichen die Gesellschaft mit einem Organismus wie dem menschlichen Körper, in
dem Herz, Lunge, Leber, Gehirn und andere Organe strukturell differenziert, aber- funktional
verknüpft sind. Die Lunge benötigt das Herz, das Blut in die Lungenarterie pumpt; alle anderen
Organe, also auch das Herz, hängen von der Lunge ab, die das Blut mit Sauerstoff anreichert; das
Gehirn steuert durch das Nervensystem direkt zahlreiche Körperfunktionen, braucht aber Herz und
Lunge, die es mit sauerstoffhaltigem Blut versorgen usw. Wenn das Herz nicht genügend und
regelmäßig Blut pumpt, oder die Lunge nicht genügend Sauerstoff liefert, oder Teile des Gehirns
beschädigt werden, ist das System insgesamt - der ganze Organismus -davon betroffen.
Gesellschaften sind nicht so stark integriert wie biologische Organismen, doch auch ihre Teile sind
wechselseitig voneinander abhängig, damit sie als System arbeiten können. So konnten die neuen
Reproduktionstechnologien nur entstehen, weil die medizinischen Fakultäten Ärzte ausbilden, die
Forschung die Technologien entwickelte, die Wirtschaft die finanziellen Mittel produzierte, um sie zu
bezahlen, usw.
Der Ausdruck »Funktion« bezeichnet den Beitrag, den jede soziale Beziehung, Position,
Organisation, jeder Wert oder jede Eigenschaft einer Gesellschaft für das soziale System
als Ganzes leistet. In einem funktional integrierten System wird jeder Teil von seinen
Beziehungen zu den anderen Teilen beeinflusst und ist von ihnen abhängig.
Um ihren funktionalen Beitrag für die Gesellschaft As Ganze zu leisten, müssen auch die Zeile innerhalb von Schulen
reibungsfrei koordiniert oder funktional integriert wirr. Fier treffen sich Schüler eurer städtischen Highschool in den USA
reit Angehörigen der Schulverwaltung um ihr Kursprogramm zu planen.
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So besteht die Funktion von Schulen darin, Schüler auszubilden, die über die von den Unternehmen
geforderten Fertigkeiten verfügen und am öffentlichen Leben als Bürger ihres Landes teilnehmen
können. Wir können die Funktion der Schule nicht voll verstehen, wenn wir sie isoliert untersuchen;
wir müssen auch die Beziehung von Schulen zu anderen Teilen der Gesellschaft, analysieren. Schulen
sind auf einer anderen Ebene selbst funktional integriert: die Lehrer der verschiedenen Fächer, das
Verwaltungspersonal, die Schüler, der Hausmeister, ja selbst die Wandtafeln und Schulbücher haben
verschiedene Funktionen zu erfüllen. In der sozialen Realität finden wir die funktionale Integration
stets in unterschiedlichem Maß verwirklicht, d.h. die Teile einer Gruppe oder einer Gesellschaft
arbeiten mehr oder weniger harmonisch zusammen und erfüllen ihre Aufgabe, sich gegenseitig
aufrecht zu erhalten, mehr oder weniger gut.
Gelegentlich kommt es vor, dass ein soziales Teilsystem das effiziente Funktionieren des
Gesamtsystems unterminiert, in welchem Fall es >dysfunktional< ist. So behaupten
Kritiker, die neuen Reproduktionstechnologien seien dysfunktional, weil sie erstens Ressourcen von
anderen, dringenderen Bedürfnissen abzögen (beispielsweise die medizinische Versorgung, eine
angemessene Ernährung, die Ausbildung in Kinderpflege und finanzielle Beihilfen für arme
Schwangere) und zweitens Eltern, die sich ein Kind wünschen, veranlassten, eine künstliche
Befruchtung der Adoption eines Waisenkindes oder eines alleingelassenen Kindes, das keine Familie
hat, die es liebt und ernährt, vorzuziehen.
Einige Beobachter halten die Ergebnisse der neuen Reproduktionstechnologien für gut, vielleicht gar
für wunderbar, da sie es Paaren mit Fertilitätsproblemen ermöglichen, Kinder zu haben; andere
prangern sie als gefährliche und moralisch fragwürdige Eingriffe in die Natur oder den göttlichen
Willen an. Welche Stellung wir zu ihnen beziehen, bleibt unserem eigenen Urteil überlassen. Doch um
sie zu verstehen - warum sie entwickelt wurden, welche Auswirkungen sie auf die Individuen und
ganze Gesellschaften haben, wem sie am meisten nutzen (oder schaden) und wohin sie führen
könnten - müssen wir sie im Licht der oben erwähnten Dimensionen betrachten. Je nach dem
Gegenstand, den sie untersuchen, und je nach ihrer genaueren theoretischen Perspektive
betonen die Soziologen einen unserer Schlüsselbegriffe - Sozialstruktur, soziales
Handeln, Kultur, Macht, funktionale Integration - stärker als die anderen.
Alle fünf sind jedoch für das soziologische Denken wichtig.
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