Möglichkeiten und Grenzen der Zahnerhaltung durch Endodontie

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GESUNDHEIT
Möglichkeiten und Grenzen der
Zahnerhaltung durch Endodontie
große röntgenologisch sichtbare
Knochenentzündungen heilen sicher
aus. Chirurgische Wurzelspitzenresektionen erübrigen sich und sind
heute nur noch in seltenen Fällen
indiziert. Der Zahn kann viele Jahre
erhalten bleiben.
Dr. med. dent. Angela Fischer | Zahnärztin | Praxis für Zahnheilkunde
Endodontie ist ein Teilbereich der Zahnheilkunde, der
sich mit akuten oder chronischen Erkrankungen des
Zahnmarkes (Blut-Lymphgefäße, Nerven, Bindegewebe)
oder des Zahnhalteapparates (Parodontium) – als Folge
einer endodontischen Entzündung – beschäftigt.
Endodontisch bedingte Schmerzen – in erster Linie verursacht durch Kariesbakterien – gehören zu den häufigsten Schmerzsituationen in der zahnärztlichen Praxis: „Klopfend, ziehend, hämmernd, bei heiß und kalt, auf Druck,
ausstrahlend, lokalisiert, ständig, ab und zu, nachts besonders, der Zahn ist
länger geworden …“ – viele unterschiedliche und individuelle Schmerzangaben
sind typisch! Wie auch immer, es schmerzt höllisch.
Differenzialdiagnostisch sind folgende Schmerzzustände abzugrenzen: HNOUrsachen (Kieferhöhle), neurologische und kieferorthopädische Ursachen sowie
nicht kompensierte Kiefergelenksfehlfunktionen (CMD). Auch Infraktionen
(Mikrorisse), Bruxismus (Knirschen) und empfindliche Zahnhälse sind als Schmerzursache zu erwägen. Ebenso treten typische Nervschmerzen bei okklusalen
Interferenzen (zu hohe Füllung) oder mangelhaften Verklebetechniken der
modernen Füllungstherapie (Composit, Keramik) auf.
Ist es nun zu einer bakteriell bedingten Infektion des Endodonts gekommen,
gilt es, sofort zu handeln, um eine Ausbreitung der Keime im gesamten Zahninnenraum – und weiter über die Wurzelkanäle in den umliegenden Knochen
zu vermeiden. Unser Ziel ist es, die Keimbesiedlung zu reduzieren (langes Offenhalten eines defekten oder aufgebohrten Zahnes ist zu vermeiden) – und die
Bakterien, Gewebereste sowie Toxine aus den Zahnhohlräumen vollständig zu
eliminieren. Gelingt dies und wird die Wurzel danach absolut dicht gefüllt, der
Zahn mit einer adhäsiven Füllung verschlossen, so haben wir gewonnen. Sogar
Abb. 1: Kirschkerngroße Knochenentzündung 2004
Abb. 2: Langzeiterfolg – Kontrolle 2009
Neue Techniken und moderne Hilfsmittel haben die Erfolgsprognose,
einen endodontisch erkrankten Zahn
zu retten, deutlich verbessert. Früher
gelang dieses bei ca. 45 – 55 %, heute
schaffen wir es durchaus bei 85 – 95 %
der Fälle! Wir leben im Zeitalter der
Implantate: welch ein Segen! Welch
ein Fortschritt! Wie vielen Patienten kann im Falle von Zahnverlust
Sicherheit und Lebensqualität durch
„feste Zähne“ wiedergegeben werden!
Die Erhaltung der eigenen Zähne ist
und bleibt trotz Implantatmöglichkeit eines der wichtigsten Ziele der
Zahnmedizin.
Wie erreichen wir das?
Zunächst einmal mit viel Zeit, Geduld
und Fingerspitzengefühl – ohne das
geht nichts!
Primär geht es darum, die ehemalige
Nervhöhle in ihrer ganzen Ausdehnung darzustellen, um die von hier
abgehenden feinen Kanaleingänge
zu finden. Hilfen wie Lupe, Kaltlicht,
LED-Leuchtmittel oder ein Mikroskop stehen heute zur Wahl. Ohne
Geduld, Übung und vor allem Zeit
ist es aber niemandem möglich, zum
Beispiel auch den atypischen, schwer
identifizierbaren 4. oder 5. Kanal im
oberen Backenzahn zu finden oder
akzessorische Kanäle in den Unterkiefer-Prämolaren (kleine Backenzähne)
zu sondieren. Der Misserfolg wäre vorprogrammiert.
Haben wir alle Kanaleingänge gefunden – mithilfe von haarfeinen
Sonden und Handfeilen – versuchen
wir diese tastend bis zur Wurzelspitze zu verfolgen.
Das GesundheitsMagazin für die Region
Wo ist das Ende der Kanäle? Wo ist
der Punkt, wo früher Nervgefäße
etc. im Zahn ein- bzw. austraten?
Das Röntgenbild ist für die Bestimmung
der Wurzellänge zu ungenau. Wir
würden Fehler machen, zwischen 0,2
bis 3,5 mm! Zu kurz, zu lang? Moderne
Spezialgeräte zur elektronischen
Längenmessung (Mehrfrequenzimpedanzmessgeräte) helfen uns, genauer
zu sein, die richtige Arbeitslänge zu
ermitteln – UND – sie reduzieren
dadurch die Anzahl der notwendigen
Röntgenaufnahmen!
Jetzt geht es um die Erweiterung der
haarfeinen Kanäle. Zu fordern ist
dabei eine fließende Konizität, unter
Erhaltung der originären Wurzelkrümmung, also oben weit, unten eng.
Warum? Nur so ist eine ausreichende
antibakterielle und gewebeauflösende
Wirkung der unverzichtbaren Spüllösungen zu erreichen. Früher benutzte
Stahlfeilen mit vielen Schwächen
werden heute durch moderne superflexible Ni-Titanfeilen ersetzt, die
auch stark gekrümmte Kanäle verfolgen
und entsprechend erweitern können
(Light Speed, Hero, Flex master, Profile,
Protaper, GT, RT u. a.). Drehmomentgesteuerte Motoren oder Spezialwinkelstücke helfen die Risiken von
Instrumentenfrakturen zu vermeiden.
Um den fast immer vorhandenen,
instrumentell nicht erreichbaren Bereich im Zahnhohlraum zu limitieren
und die präparationsbedingte infizierte
Schmierschicht möglichst sicher zu
entfernen, werden neuste physikalische,
chemische Spültechniken eingesetzt
(hydrodynamisch = Rins Endo oder
oszillierende Geräte = Piezon). Heute
verwendete Spüllösungen sind NaOCl,
EDTA, Alkohol, CHX.
Verschiedene medikamentöse Wurzelkanaleinlagen für ca. 8 bis 14 Tage
sollen Restkeime in bisher vielleicht
nicht erreichten Nischen eliminieren.
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Einigkeit besteht heute dahingehend,
dass phenol- oder formalinhaltige
Medikamente nicht mehr verwendet
werden sollen. Extrem wichtig ist
der dichte Verschluss zur Mundhöhle!
Eine Keimverschleppung und Problemkeime aus der Mundflora verschlechtern
die Erfolgsprognose. Also verschließen
während der gesamten Behandlungsphase!
Die folgende Wurzelfüllung soll biokompatibel, dicht, wandständig, homogen und ohne Lufteinschlüsse bis zur
elektronisch ermittelten Wurzelspitze
reichen. Mit einer absolut dichten
Überfüllung, am besten adhäsiv geklebten Compositfüllung soll abgedichtet
werden. Anschließende Versorgungen,
evtl. zur Stabilisierung des Zahnes,
sind individuell verschieden.
Weitere Möglichkeiten der endodontischen Zahnerhaltung im parodontal
weit fortgeschrittenen Erkrankungsstadium bietet die Hemisektion, das
heißt, nur der halbe Zahn wird erhalten.
Bei der Wurzelamputation wird die
parodontal irreversibel geschädigte
Wurzel eines dreiwurzeligen Zahnes
entfernt. Und die zwei anderen endodontisch versorgten Wurzeln tragen
dann die Krone oder Brücke.
Ist durch Unfall oder Karies die gesamte
Zahnkrone bis zum Zahnfleischrand
verloren gegangen, so muss die endodontisch behandelte Wurzel
extrudiert werden, das heißt durch
kieferorthopädische oder chirurgische
Maßnahmen aus dem Zahnfach
herausbewegt werden, um die biologische Breite (Sollabstand zwischen
Kronenrand und Knochen) wiederherzustellen. Im ästhetisch nicht
kompromittierten Seitenzahnbereich
erreicht man dieses durch eine
chirurgische Kronenverlängerung
(Knochen wird nach unten verlagert).
Nicht mehr zu retten ist ein Zahn mit
einem Wurzellängsriss, einer Stift-
perforation oder einer unglücklichen
Lage einer Wurzelquerfraktur.
Risiken bleiben – gestern wie heute
Risiken wie Instrumentenbruch, Perforationen, Über- oder Unterinstrumentierung bleiben. Auch heute noch
gibt es akute Entzündungsphasen,
in denen eine vollständige Betäubung
erschwert ist oder in denen eine Antibiose unumgänglich ist. Abschwellend und schmerzlindernd wirkende
Medikamente helfen aber meist zuverlässig. Noch immer gibt es Grenzen,
die komplizierte Hohlraumanatomie
eines Zahnes sicher desinfizieren zu
können – auch wenn wir heute z. B.
mit Laser und photoaktivierter Desinfektion bis zu 98 % Keimfreiheit
erreichen können.
Dennoch: Vieles ist möglich!
Das Ausmaß der multiplen Schädigung
entscheidet über den Therapieweg.
Die Frage der Langzeitprognose, des
Aufwandes – zeitlich und finanziell –
die Frage der Alternativen, Brücke,
Implantat oder kieferorthopädischer
Lückenschluss, die Frage der Wertigkeit des Zahnes im Restgebiss, ist
individuell zu beurteilen und sollte
mit dem Patienten besprochen werden.
Gibt es viele Wege, so wähle den
besten für dich.
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