26 GESUNDHEIT Möglichkeiten und Grenzen der Zahnerhaltung durch Endodontie große röntgenologisch sichtbare Knochenentzündungen heilen sicher aus. Chirurgische Wurzelspitzenresektionen erübrigen sich und sind heute nur noch in seltenen Fällen indiziert. Der Zahn kann viele Jahre erhalten bleiben. Dr. med. dent. Angela Fischer | Zahnärztin | Praxis für Zahnheilkunde Endodontie ist ein Teilbereich der Zahnheilkunde, der sich mit akuten oder chronischen Erkrankungen des Zahnmarkes (Blut-Lymphgefäße, Nerven, Bindegewebe) oder des Zahnhalteapparates (Parodontium) – als Folge einer endodontischen Entzündung – beschäftigt. Endodontisch bedingte Schmerzen – in erster Linie verursacht durch Kariesbakterien – gehören zu den häufigsten Schmerzsituationen in der zahnärztlichen Praxis: „Klopfend, ziehend, hämmernd, bei heiß und kalt, auf Druck, ausstrahlend, lokalisiert, ständig, ab und zu, nachts besonders, der Zahn ist länger geworden …“ – viele unterschiedliche und individuelle Schmerzangaben sind typisch! Wie auch immer, es schmerzt höllisch. Differenzialdiagnostisch sind folgende Schmerzzustände abzugrenzen: HNOUrsachen (Kieferhöhle), neurologische und kieferorthopädische Ursachen sowie nicht kompensierte Kiefergelenksfehlfunktionen (CMD). Auch Infraktionen (Mikrorisse), Bruxismus (Knirschen) und empfindliche Zahnhälse sind als Schmerzursache zu erwägen. Ebenso treten typische Nervschmerzen bei okklusalen Interferenzen (zu hohe Füllung) oder mangelhaften Verklebetechniken der modernen Füllungstherapie (Composit, Keramik) auf. Ist es nun zu einer bakteriell bedingten Infektion des Endodonts gekommen, gilt es, sofort zu handeln, um eine Ausbreitung der Keime im gesamten Zahninnenraum – und weiter über die Wurzelkanäle in den umliegenden Knochen zu vermeiden. Unser Ziel ist es, die Keimbesiedlung zu reduzieren (langes Offenhalten eines defekten oder aufgebohrten Zahnes ist zu vermeiden) – und die Bakterien, Gewebereste sowie Toxine aus den Zahnhohlräumen vollständig zu eliminieren. Gelingt dies und wird die Wurzel danach absolut dicht gefüllt, der Zahn mit einer adhäsiven Füllung verschlossen, so haben wir gewonnen. Sogar Abb. 1: Kirschkerngroße Knochenentzündung 2004 Abb. 2: Langzeiterfolg – Kontrolle 2009 Neue Techniken und moderne Hilfsmittel haben die Erfolgsprognose, einen endodontisch erkrankten Zahn zu retten, deutlich verbessert. Früher gelang dieses bei ca. 45 – 55 %, heute schaffen wir es durchaus bei 85 – 95 % der Fälle! Wir leben im Zeitalter der Implantate: welch ein Segen! Welch ein Fortschritt! Wie vielen Patienten kann im Falle von Zahnverlust Sicherheit und Lebensqualität durch „feste Zähne“ wiedergegeben werden! Die Erhaltung der eigenen Zähne ist und bleibt trotz Implantatmöglichkeit eines der wichtigsten Ziele der Zahnmedizin. Wie erreichen wir das? Zunächst einmal mit viel Zeit, Geduld und Fingerspitzengefühl – ohne das geht nichts! Primär geht es darum, die ehemalige Nervhöhle in ihrer ganzen Ausdehnung darzustellen, um die von hier abgehenden feinen Kanaleingänge zu finden. Hilfen wie Lupe, Kaltlicht, LED-Leuchtmittel oder ein Mikroskop stehen heute zur Wahl. Ohne Geduld, Übung und vor allem Zeit ist es aber niemandem möglich, zum Beispiel auch den atypischen, schwer identifizierbaren 4. oder 5. Kanal im oberen Backenzahn zu finden oder akzessorische Kanäle in den Unterkiefer-Prämolaren (kleine Backenzähne) zu sondieren. Der Misserfolg wäre vorprogrammiert. Haben wir alle Kanaleingänge gefunden – mithilfe von haarfeinen Sonden und Handfeilen – versuchen wir diese tastend bis zur Wurzelspitze zu verfolgen. Das GesundheitsMagazin für die Region Wo ist das Ende der Kanäle? Wo ist der Punkt, wo früher Nervgefäße etc. im Zahn ein- bzw. austraten? Das Röntgenbild ist für die Bestimmung der Wurzellänge zu ungenau. Wir würden Fehler machen, zwischen 0,2 bis 3,5 mm! Zu kurz, zu lang? Moderne Spezialgeräte zur elektronischen Längenmessung (Mehrfrequenzimpedanzmessgeräte) helfen uns, genauer zu sein, die richtige Arbeitslänge zu ermitteln – UND – sie reduzieren dadurch die Anzahl der notwendigen Röntgenaufnahmen! Jetzt geht es um die Erweiterung der haarfeinen Kanäle. Zu fordern ist dabei eine fließende Konizität, unter Erhaltung der originären Wurzelkrümmung, also oben weit, unten eng. Warum? Nur so ist eine ausreichende antibakterielle und gewebeauflösende Wirkung der unverzichtbaren Spüllösungen zu erreichen. Früher benutzte Stahlfeilen mit vielen Schwächen werden heute durch moderne superflexible Ni-Titanfeilen ersetzt, die auch stark gekrümmte Kanäle verfolgen und entsprechend erweitern können (Light Speed, Hero, Flex master, Profile, Protaper, GT, RT u. a.). Drehmomentgesteuerte Motoren oder Spezialwinkelstücke helfen die Risiken von Instrumentenfrakturen zu vermeiden. Um den fast immer vorhandenen, instrumentell nicht erreichbaren Bereich im Zahnhohlraum zu limitieren und die präparationsbedingte infizierte Schmierschicht möglichst sicher zu entfernen, werden neuste physikalische, chemische Spültechniken eingesetzt (hydrodynamisch = Rins Endo oder oszillierende Geräte = Piezon). Heute verwendete Spüllösungen sind NaOCl, EDTA, Alkohol, CHX. Verschiedene medikamentöse Wurzelkanaleinlagen für ca. 8 bis 14 Tage sollen Restkeime in bisher vielleicht nicht erreichten Nischen eliminieren. 27 Einigkeit besteht heute dahingehend, dass phenol- oder formalinhaltige Medikamente nicht mehr verwendet werden sollen. Extrem wichtig ist der dichte Verschluss zur Mundhöhle! Eine Keimverschleppung und Problemkeime aus der Mundflora verschlechtern die Erfolgsprognose. Also verschließen während der gesamten Behandlungsphase! Die folgende Wurzelfüllung soll biokompatibel, dicht, wandständig, homogen und ohne Lufteinschlüsse bis zur elektronisch ermittelten Wurzelspitze reichen. Mit einer absolut dichten Überfüllung, am besten adhäsiv geklebten Compositfüllung soll abgedichtet werden. Anschließende Versorgungen, evtl. zur Stabilisierung des Zahnes, sind individuell verschieden. Weitere Möglichkeiten der endodontischen Zahnerhaltung im parodontal weit fortgeschrittenen Erkrankungsstadium bietet die Hemisektion, das heißt, nur der halbe Zahn wird erhalten. Bei der Wurzelamputation wird die parodontal irreversibel geschädigte Wurzel eines dreiwurzeligen Zahnes entfernt. Und die zwei anderen endodontisch versorgten Wurzeln tragen dann die Krone oder Brücke. Ist durch Unfall oder Karies die gesamte Zahnkrone bis zum Zahnfleischrand verloren gegangen, so muss die endodontisch behandelte Wurzel extrudiert werden, das heißt durch kieferorthopädische oder chirurgische Maßnahmen aus dem Zahnfach herausbewegt werden, um die biologische Breite (Sollabstand zwischen Kronenrand und Knochen) wiederherzustellen. Im ästhetisch nicht kompromittierten Seitenzahnbereich erreicht man dieses durch eine chirurgische Kronenverlängerung (Knochen wird nach unten verlagert). Nicht mehr zu retten ist ein Zahn mit einem Wurzellängsriss, einer Stift- perforation oder einer unglücklichen Lage einer Wurzelquerfraktur. Risiken bleiben – gestern wie heute Risiken wie Instrumentenbruch, Perforationen, Über- oder Unterinstrumentierung bleiben. Auch heute noch gibt es akute Entzündungsphasen, in denen eine vollständige Betäubung erschwert ist oder in denen eine Antibiose unumgänglich ist. Abschwellend und schmerzlindernd wirkende Medikamente helfen aber meist zuverlässig. Noch immer gibt es Grenzen, die komplizierte Hohlraumanatomie eines Zahnes sicher desinfizieren zu können – auch wenn wir heute z. B. mit Laser und photoaktivierter Desinfektion bis zu 98 % Keimfreiheit erreichen können. Dennoch: Vieles ist möglich! Das Ausmaß der multiplen Schädigung entscheidet über den Therapieweg. Die Frage der Langzeitprognose, des Aufwandes – zeitlich und finanziell – die Frage der Alternativen, Brücke, Implantat oder kieferorthopädischer Lückenschluss, die Frage der Wertigkeit des Zahnes im Restgebiss, ist individuell zu beurteilen und sollte mit dem Patienten besprochen werden. Gibt es viele Wege, so wähle den besten für dich.