Burian, Ronald Angststörungen Handout [Kompatibilitätsmodus]

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Tag der Allgemeinmedizin
07.09.2013
Institut für Allgemeinmedizin, Charité- Universitätsmedizin Berlin
AngststörungenPragmatisches Vorgehen in der
Hausarztpraxis
Dr. Ronald Burian
Fachbereich Psychosomatik und Konsiliarpsychiatrie
Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
Ev. Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge, Berlin
Leitung: Prof. Dr. Albert Diefenbacher, MBA
Überblick
Angststörungen
• Symptomatik und
Epidemiologie
• Diagnostik und
Differenzialdiagnosen
• Therapiemöglichkeiten in der
Hausarztpraxis
• Fallbeispiele
Fallbeispiel I
Geschichte
• Herr M., 54jähriger Ingenieur, stämmig, ruhig, freundlich- zurückhaltend.
• Vor 2 Jahren: Herzinfarkt, danach zunächst gute Erholung, Reha.
• Seit ca. 1 Jahr zunehmend Ängste vor Re- Infarkt, besonders abends nach
der Arbeit. Aber auch „aus heiterem Himmel“ Anfälle von Brustschmerz,
„Herzrasen“, Schweißausbrüche, Erstickungsangst, Unruhe, Zittern
• Mehrere Notaufnahmevorstellungen, jeweils Ausschluss MI.
• Wohnt mit Frau und erwachsenen Kindern in Sachsen- Anhalt, arbeitet
jedoch unter der Woche in Berlin, hat hier auch eine Zweitwohnung.
• Durch Sorgen um Re- Infarkt stark beeinträchtigt, grübelt.
• Vermeidung körperlicher Belastungen, verlässt kaum die Wohnung außer
zur Arbeit.
• „Zur Beruhigung hilft manchmal ein Glas Wein“.
• Ausweitung der Sorgen: nun auch während der Arbeitszeit abgelenkt,
ängstlich vor Belastungssituationen. „Weiß nicht, wie das weiter gehen soll“.
Angst
eine natürliche und wichtige Emotion
„Realangst“
• normale Reaktion auf
Bedrohung und Gefährdung
• Hilfreiche Reaktion für
Abwehr oder Flucht oder
Aufsuchen von Hilfe
Angststörungen
Wenn die natürliche Angst zur Last wird
„Pathologische
Angst/Angststörung“
•
Exzessive Angstreaktionen bei
gleichzeitigem Fehlen einer akuten
Gefahr oder Bedrohung
• Abgrenzung zu normaler Angst
v.a. durch Auslöser, Intensität,
Dauer und Angemessenheit der
Angstreaktion bestimmt
E.Munch: Der Schrei
www.no-flipout-zahnstudiosis.wg.am
Wie aus Angst eine Angststörung werden kann:
„Fight or Flight“
Quelle: www.sueddeutsche.de
Wie aus Angst eine Angststörung werden kann:
„Stress und Traumata“
Quelle: www.traumahealed.com
Wie aus Angst eine Angststörung werden kann:
„Die Macht der Sprache“
Quelle: http://www.unser-paradies.de
Zusammenfassung:
• Angst ist eine normale (physiologische) und lebensnotwendige Form der
psychischen und körperlichen Aktivierung
• Angst kann zur Angststörung werden durch:
– Fehlinterpretation physiologischer Symptome („Fight or Flight“)
– Überaktivierung des Stress- Systems durch alltäglichen Distress,
Schlafstörungen oder reale traumatische Ereignisse („Stress und
Traumata“)
– Durch die Sprache kann beim Mensch schon durch bloße Vorstellung
Angst erzeugt werden („Die Macht der Sprache“)
Angststörungen
Subtypen und Prävalenzen
Allgemeinbevölkerung– Angststörungen insgesamt
• Spezifische Phobien
• Agoraphobie
mit/ohne Panikstörung
• Generalisierte Angststörung
• Panikstörung
• Soziale Phobie
(Quellen: Levenson/Massie 2001, Arolt/Deckert 2003)
15%
8,6%
5,4%
5,1%
3,6%
2,4%
Angststörungen
Erstmanifestations- Alter
• Typische Alterstufen für die Erstmanifestation:
• Spezifische Phobien: Kindheit
• Soziale Phobie: Adoleszenz
• Panikstörung: 20-30. Lj.
• Generalisierte Angststörung: Adoleszenz und nach
40.Lj.
– Lebenszeitprävalenz: ca. 15%
– Geschlechterverteilung w:m = 2:1
Multikausale Entstehung (I)
Bio psycho-soziales Modell
• Biologische Faktoren
– Neurophysiologisch:
• v.a. präfrontale Kontrolle von Amygdala/Locus
coeruleus reduziert
• Bei Panikpatienten „CO2-Detektor“ hypersensitiv:
Erstickungsalarm
– Genetisch: Beitrag von 30-48% (Zwillingsstudien)
– Neuroendokrinologie: CRH-Rezeptoren im Hypothalamus
unterempfindlich
Neuronale Strukturen
(Bildquellen: www.fokus.de; www.clinicum.at )
Multikausale Entstehung (II)
Bio psycho-soziales Modell
• Häufig tragen soziale Faktoren zu Auslösung und/oder
Chronifizierung bei:
– Distress (Beruf, Partnerschaft etc.),
– reale und subjektiv wahrgenommene Belastungen/
Traumata
– Reaktionen des sozialen Umfelds auf Ängstlichkeit (u.U.
„überbehütend“ -> krankheitsfördernd)
– Iatrogen: „Sekundärer Krankheitsgewinn“- z.B. exzessive
Diagnostik aber auch Bagatellisierung, lange AU- Zeiten,
Rentenbegehren
Wichtige Differentialdiagnosen
• Organische Angststörungen (z.B. Hyperthyreose, Hypoglykämie,
Epileptische Aura)
• Substanzbedingte Angstsymptomatik (Intoxikation oder Entzug: Alkohol,
Amphetamine u.a. Drogen, Digitoxinüberdosierung etc.)
• Angstsymptomatik im Rahmen von Depression oder Psychosen oder auch
in der Prodromalphase von Demenzen
• Somatoforme- und hypochondrische Störungen (großer
Überlappungsbereich körperbezogener Ängste)
• Realangst, Sorgen (schwierige DD zur „Pathologischen Real-Angst, siehe
z.B. Fallbeispiel I“)
Pragmatische Diagnostik (I)
• Manche Patienten sprechen Angst direkt an, oft werden jedoch andere
Symptome vorgetragen
• Achte auf Beschwerden wie „Herzrasen“, „Schwindel“, „Atemnot",
"Schlafstörungen“, „Durchfall“, „Erschöpfung“, Vermeidungsverhalten (z.B.
AU- Wünsche, Vermeiden, das Haus zu verlassen oder öffentliche
Verkehrsmittel zu benutzen)
• Erfrage körperliche („Sympathikus“) Symptome
– „Was macht ihnen Beschwerden?“ „Verspüren sie z.B. ....“
• Hatten Sie das früher schon einmal?
Pragmatische Diagnostik (II)
•Erfrage neutral die Befürchtungen des Patienten
– „Was denken Sie woher das (z.B. der Schwindel) kommt?“
– „Was glauben Sie, was Ihnen dann passieren könnte?“
•Erfrage auslösende Situationen und Ausnahmen
– „Wann und wo tritt es auf?“
– „In welchen Situationen tritt es nie auf (z.B. zu Hause)“
•Erfrage die Dauer und was evtl. hilft
– (Minuten, Stunden? Hilft Rückzug? Ablenkung? Arzt/Notaufnahmebesuch?)
Pragmatische Diagnostik (III)
• Frage nach gedrückter Stimmung und Interessenlosigkeit, sowie nach
Gebrauch von Alkohol oder Tabletten
– Abgrenzung zu Depression, Substanzmissbrauch als Ursache oder
Folge
• Erfrage berufliche und familiäre Belastungen
• Untersuche den Patienten körperlich und auch orientierend neurologisch
– Je nach Befund EKG, Labor (TSH!) und bei neurologischen
Auffälligkeiten CCT bzw. MRT, ggf. EEG
Diagnostik: Zusammenfassung
Anfangsverdacht:
Patient äußert Angst direkt
oder über unspezifische
„Streßsymptome“
Anamnese:
Körpersymptome,
Gedanken, Situationen
und Variablen (+/-), soziale
Belastungen
Ausschluß Depression
und Substanzabusus
Orientierende
internistische und
neurologische
Untersuchung
Basis- Paraklinik
Fallbeispiel I
Geschichte
• Herr M., 54jähriger Ingenieur, stämmig, ruhig, freundlich- zurückhaltend.
• Vor 2 Jahren: Herzinfarkt, danach zunächst gute Erholung, Reha.
• Seit ca. 1 Jahr zunehmend Ängste vor Re- Infarkt, besonders abends nach
der Arbeit. Aber auch „aus heiterem Himmel“ Anfälle von Brustschmerz,
„Herzrasen“, Schweißausbrüche, Erstickungsangst, Unruhe, Zittern
• Mehrere Notaufnahmevorstellungen, jeweils Ausschluss MI.
• Wohnt mit Frau und erwachsenen Kindern in Sachsen- Anhalt, arbeitet
jedoch unter der Woche in Berlin, hat hier auch eine Zweitwohnung.
• Durch Sorgen um Re- Infarkt stark beeinträchtigt, grübelt.
• Vermeidung körperlicher Belastungen, verlässt kaum die Wohnung außer
zur Arbeit.
• „Zur Beruhigung hilft manchmal ein Glas Wein“.
• Ausweitung der Sorgen: nun auch während der Arbeitszeit abgelenkt,
ängstlich vor Belastungssituationen. „Weiß nicht, wie das weiter gehen soll“.
Fallbeispiel I
Diagnosen
• Panikstörung
F41.0
• Auf der Grundlage einer KHK und nach stattgehabten Myokardinfarkt
• Risiko: konsekutiver Alkoholmissbrauch
Angststörungen
Therapie
• Welche Methoden sind nachweislich („Evidence
based“) wirksam?
– Phobien:
• Verhaltenstherapie (Exposition/ kognitive
Verfahren/Entspannungsverfahren)
– Panikstörungen:
• Verhaltenstherapie (kognitive VT mit Exposition z.B.
Hyperventilationsversuch)
• Antidepressiva (TZA, SSRI, SNRI), Benzodiazepine (cave:
Abhängigkeit)
– Generalisierte Angststörung
• Antidepressiva (TZA, SSRI, Venlafaxin)
– Soziale Phobie
• Verhaltenstherapie
• Antidepressiva (SSRI, MAO-Hemmer)
Pragmatische hausärztliche Therapie (I)
• Eine korrekte Diagnostik und eine einfühlsam- verständliche
Aufklärung über die Physiologie von Angst- und
Streßreaktionen ist bereits „Therapie“
Pragmatische hausärztliche Therapie (II)
• Bei blander Symptomatik:
– Krankheitsaufklärung (z.B. Teufelskreismodell, Broschüre)
– Verhaltensregulation:
• „Schlafhygiene“
• Regulation von Alkohol, Medikamenten, Genußmitteln
• Körperliche Aktivierung, Ausdauersport (Zieldosis: 4 mal
45min/Woche = in Studien nachgewiesen gg. Angststörungen
wirksam)
– Einfache Achtsamkeitsübungen (ggf. durch Praxishelferin oder auch CD)
– Anfangs kurzfristig wiederbestellen zu Kurz- Checks (Verlauf, Adhärenz,
Motivation), später Abstände strecken
Achtsames Atmen
• Übung- siehe Handout
• Beginnen mit kurzen aber regelmäßigen Einheiten – z.B morgens und
abends je 2min, dann sukzessive „Dosissteigerung“
• Ziel: nicht entspannen sondern konzentrieren
• Körperliche Wahrnehmungen und auch Gedanken „da sein“ lassen können,
ohne sich abzulenken oder in Aktivitäten zu flüchten
• „Muss man lernen, ganz langsam, wie ein Instrument spielen oder
Radfahren. Wenn es nicht gleich klappt: kein Problem, das ist normal. Immer
wieder üben !“
Pragmatische hausärztliche Therapie (III)
Panikstörung
• Bei schwererer Symptomatik (hohes Angstlevel, Patient profitiert von o.g.
Basismaßnahmen nicht):
– Mit Patienten Option einer psychotherapeutischen oder medikamentösen
Therapie besprechen (beides „evidence based“)
– Beispiel Medikation: Sertralin (SSRI), Start mit 25-0-0mg, nach 1 Woche
50-0-0mg
– Ausführliche Aufklärung über Serotonin UAW (Übelkeit, Schwindel,
Unruhe, Wirklatenz, bei Depressivität: Suizidaltät)
– Praxistipp: Über 14 Tage durch 0,5-0-1mg Lorazepam „abschirmen“,
dann in der dritten Woche ausschleichen und konsequent absetzen
Pragmatische hausärztliche Therapie (IV)
• Bei Therapieresistenz, psychischer und körperlicher Komorbidität,
hoher psychosoziale Belastung, Chronifizierung
– Überprüfung der Differentialdiagnosen (z.B. (hirn-) organische
Erkrankung übersehen? Substanzmissbrauch? Depression, Psychose?)
– Wenn weiterhin Diagnose Panikstörung -> Motivation zur FachPsychotherapie: v.a. Verhaltenstherapie
– Bei schwerer Komorbidität, Komplexität oder psychopharmakologischen
Problemen: Überweisung zum Facharzt für Psychiatrie und
Psychotherapie bzw. Nervenarzt
Therapie von Angststörungen
Wirksamkeit nicht nur klinisch nachweisbar
(Quelle: Berger 2008)
Prognose und Verlauf
• Ein Teil der Angststörungen (z.B. Panikstörungen, spezifische Phobien)
kann spontan oder nach kurzer Behandlung remittieren
• Andere AS verlaufen mit wenig Beeinträchtigung je nach Exposition (z.B.
Flugangst problematisch bei einem Piloten, bei einem Postboten nicht)
• Oft jedoch unterdiagnostiziert und chronifizierender Verlauf
• Patient ist verunsichert, fühlt sich „nicht ernst genommen“
vs.
• „Iatrogene Fixierung“ z.B. wiederholte oder exzessive kardiale Diagnostik
bei Kardiophobie/Panikstörung)
• Vermeidungsverhalten -> Depression, „stressbezogene“ Erkrankungen
(Hypertonus, Gastritis, Ulcus duod., Reizdarm, Schmerzstörungen)
• „Selbstbehandlung“ -> Alkohol- oder Benzodiazepinabhängigkeit
Fallbeispiel I
Therapie
• Krankheitsaufklärung über Zusammenhang von Körperwahrnehmung,
gedanklicher Interpretation und Angst, Panik („Teufelskreis der Angst“), InfoBroschüre
• Motivation zu körperlicher Aktivierung, Ausdauersport in Absprache mit dem
Kardiologen
• Wiederaufnahme sozialer Kontakte auch in Berlin
• Erlernen von Achtsamkeitsübungen z.B. „Achtsames Atmen“, tägliche
Übungen -> Anker setzen (z.B. Farbpunkte auf Badspiegel oder Handy)
• Engmaschige Wiedereinbestellung nach 1 und 3 Wochen: Trotz
Alkoholkarenz und Aktivitäten- Steigerung weiterhin hohes Angstniveau,
Aufsuchen der Notaufnahme -> Einstellung auf Sertralin und Lorazepam
• Lorazepam nach 3 Wochen sistiert, unter Sertralin 50-0-0mg und begleitend
beratender Gesprächsführung gute Remission nach 6 Wochen
Angstkreislauf
Beispiel: Panikattacke
Körperliche
Wahrnehmung:
zB. Schneller Herzschlag
Körperliche Reaktion:
Adrenalinausstoss-> schnelle Atmung,
Muskelzittern, Schwitzen etc.
Teufelskreis
der
Angst
Emotionale Reaktion:
Besorgnis, Angst
Gedankliche Bewertung:
Was ist das? Bekomme ich
einen Herzinfarkt?
Aufrechterhaltendes Verhalten: Ablenken,
Situation verlassen, Hilfe suchen
Interaktive Übung
• Stellen Sie sich vor, sie haben bei ihrem Patienten (s. Fallbeispiel oder
eigene Praxiserfahrung) eine Panikstörung diagnostiziert. Erklären Sie ihm
anhand seiner Symptome den „Teufelskreis der Angst“.
• Beziehen Sie ihren Patienten möglichst aktiv und mit Alltagssprache in die
Erkenntnis der Zusammenhänge ein, indem sie ihn immer wieder nach
seinen eigenen Erfahrungen (Beschwerden, Gedanken,
Gefühlswahrnehmung und Verhaltensreaktion) fragen.
• Einigen sie sich kurz über die Rollenverteilung.
• Machen Sie es sich einander nicht unnötig schwer☺
• Zeitvorgabe: 15 min, Anschließend geben Sie einender bitte ein kurzes
Feedback.
Zusammenfassung (I)
• Angststörungen sind die häufigsten psychischen Störungen in der
allgemeinärztlichen Praxis, das Angstproblem kann durch körperliche
Beschwerden „maskiert“ sein
• Das Spektrum der Angststörungen ist vielfältig, oft treten sie gemeinsam mit
anderen somatischen und psychischen Störungen auf, eine organische
Basisabklärung ist immer indiziert
• wiederholte und exzessive apparative Diagnostik führt allerdings oft zur
Chronifizierung
Zusammenfassung (II)
• Zunächst liegt der therapeutische Schwerpunkt auf dem rechtzeitigen
Erkennen der Angststörung
• Weitere Basismaßnahmen sind Aufklärung über die Physiologie von Angst
und Stress, sowie das Vermitteln von Verhaltensregeln (Schlaf, Bewegung,
Umgang mit Alkohol etc.)
• Zum Teil ist angemessene Hilfe bei der Bewältigung realer Probleme
(beruflich, familiär) erforderlich
• Die Intensität der weiteren Therapie richtet sich nach der alltagsrelevanten
Beeinträchtigung, den Komorbiditäten und dem Ausmaß der Chronifizierung
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
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