Diagnostik - Leiden in der Parallelwelt

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Gesundheit
20. Januar 2014 10:33 Diagnostik
Von Werner Bartens
Ärzte entdecken Krankheiten, aber die Patienten spüren nichts davon.
Umgekehrt fühlen sich viele Menschen krank, doch der Doktor kann nichts
finden. Die Medizin muss sich fragen lassen: Erkennt sie überhaupt noch,
wie es den Leuten geht?
Wer krank sein will, muss leiden. Das ist die übliche Vorstellung davon, wie es
einem anständigen Patienten zu gehen hat. Doch immer häufiger kommt es in
Kliniken wie Arztpraxen zu folgender Konstellation: Dem Patienten geht es schlecht,
aber der Arzt kann keine Veränderung in Blut, Urin oder anderen Körpersäften
feststellen, jedenfalls nichts, was die Beschwerden erklären könnte. Auch Röntgen,
Kernspin, CT oder Endoskopie bringen keine Aufklärung. Der Kranke fühlt sich
miserabel, der Arzt denkt: "Das kann doch gar nicht wehtun!" Befund und Befinden
passen nicht zusammen.
Der Umgang mit Leiden, bei denen keine körperlichen Ursachen festgestellt
werden, ist nicht nur für Patienten, sondern auch für Ärzte schwierig: "Sage ich
Patienten, sie haben nichts, sind sie enttäuscht, sage ich ihnen, sie haben etwas,
sind sie auch enttäuscht. Deshalb sage ich: Wir finden keine Ursache, aber Sie
haben trotzdem Beschwerden", erklärt ein erfahrener Hausarzt das Dilemma. Denn
wenig ist für Patienten schlimmer, als wenn ihnen die Legitimation für ihr Leiden
abgesprochen wird. Wer leidet, will auch zu Recht krank sein - und sich nicht nur
krank fühlen.
Häufiger ist allerdings der umgekehrte Fall: Mit Untersuchungsmethoden, die immer
ausgefeilter werden, entdecken Ärzte Normabweichungen, auffällige Befunde und
messen Details, denen sie Krankheitswert zuschreiben, obwohl sich der Patient
pudelwohl fühlt. Sagt der Arzt dann, der Befund sollte künftig regelmäßig kontrolliert
werden, fällt der Patient aus allen Wolken. Ihm geht es doch gut.
Viele Diagnosen sind nicht sinnlich, das heißt nicht körperlich erfahrbar, sondern
abstrakt. Das gilt für Leiden wie Bluthochdruck oder erhöhte Cholesterinwerte. Aber
auch, wenn während einer Gewebeprobe oder im Röntgenbild Krebsherde entdeckt
werden, haben viele Menschen vorher nichts an sich bemerkt. Die Patienten spüren
das nicht, sie riechen oder schmecken keine Veränderung, sie sind häufig auch
nicht weniger leistungsfähig - gerade wenn der Tumor ein Zufallsbefund ist. Die
erste Konfrontation spielt sich ja vor allem in der Vorstellungswelt der Kranken ab,
die sich nicht krank fühlen, aber dennoch von einem Moment auf den anderen zu
Patienten geworden sind.
20.01.2014 18:49
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Die kleinteilige Organisation der Medizin mit ihren vielen Unterdisziplinen trägt
ebenfalls nicht dazu bei, dass sich Patienten mit ihrer subjektiven
Körperwahrnehmung gut aufgehoben fühlen. Die Medizin unterteilt kranke
Menschen in Körpersegmente oder Organsysteme, wie die Kardiologie, die
Gynäkologie oder die Urologie. Ein Arzt fürs Herz, einer für untenrum. Manche
Spötter sagen, es gebe heutzutage ja Ärzte, die können nur Ultraschall.
Diese Aufteilung ist mit dem Erleben der meisten Kranken nicht vereinbar. Sie
fühlen sich meist ganz krank (oder trotz einiger pathologischer Befunde ganz
gesund) - und nicht allein krank an Herz, Niere, Hirn oder Leber. Das macht ihr
Befremden im Krankenhaus oder in der Praxis noch größer.
Fiktion und Realität Zehn Mythen über Ärzte
Was ist da los? Hat die Medizin den falschen Werkzeugkasten, um zu erfassen, wie
es den Menschen tatsächlich geht? Wollen die Patienten nur nicht wahrhaben, dass
sie krank sind? Oder ist den Ärzten während des Siegeszugs der technischen
Innovationen und des quantitativ-naturwissenschaftlichen Denkens in der Medizin
das Gespür dafür abhanden gekommen, was die Patienten wirklich belastet? Wer
das Krankheitsverständnis der Ärzte und die subjektive Wahrnehmung der
Patienten betrachtet, könnte auf die Idee kommen, dass sich beider Erleben auf
getrennten Umlaufbahnen befindet. Leiden findet in der Parallelwelt statt.
In der Medizin geht es eben nicht allein um die physikalisch oder biochemisch
fassbaren Körpervorgänge, sondern um mehr. Das Messbare, etwa ein Laborwert,
ist nicht ein Wert an sich, der über Wohl und Wehe, Krankheit oder Gesundheit
entscheidet. Er muss angemessen sein für den Patienten und übereinstimmen mit
dem Erleben des Einzelnen.
Passt die Lebenswirklichkeit nicht, fühlt sich der Mensch krank, auch wenn seine
Gerinnungsstoffe, Röntgenbilder, die Blutwerte oder das Immunsystem in Ordnung
sind. Für Thure von Uexküll, der die Psychosomatik in Deutschland im 20.
Jahrhundert entscheidend geprägt hat, war Krankheit deshalb eine
"Passungsstörung" - das eigene Befinden passt nicht zu dem Erleben von Umfeld
und Umwelt. Und häufig eben auch nicht zu dem, was Ärzte messen und den
Patienten als Diagnosen zuweisen.
"... wenn nur die Patienten nicht wären"
Manche Menschen werden beispielsweise mit erhöhten Cholesterinwerten 90 Jahre
alt, weil sie gelassen und ausgeglichen sind und ihr Körper genügend
Schutzfunktionen entwickelt hat, sodass die vermehrten Blutfette ihnen nicht
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schaden. Andere Menschen mit normalen Blut- und Cholesterinwerten sterben
hingegen mit 40 Jahren am Infarkt, ohne dass Ärzte eindeutig erklären können,
warum die Koronarien so früh dichtmachen. Weil die Messwerte nur eingeschränkt
etwas über die Widerstandskräfte und das Befinden der Menschen aussagen,
überleben manche Krebspatienten die Diagnose acht Monate, andere hingegen 18
Jahre - obwohl beide ähnliche Röntgenbefunde und Laborwerte aufweisen.
Röntgenbilder der Wirbelsäule sehen bei manchen Menschen so aus, dass es
jedem Arzt graust - trotzdem fühlt sich der Kandidat munter und hat keine
Beschwerden. Andere haben hingegen ständig Rückenschmerzen, doch der Arzt
sieht auf dem Bildschirm wunderschöne, gerade Wirbel, die nicht zu dem Leiden
des Patienten passen wollen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, flüchten sich
Ärzte dann in die Verlegenheitsdiagnose: degenerative Veränderungen. Als
"Konstruktion einer notwendigen Krankheitsursache" hat der Medizinhistoriker
Thomas Schlich von der McGill University in Montreal es bezeichnet, wenn Ärzte
versuchen, das womöglich Unerklärliche doch noch naturwissenschaftlich erklären
zu wollen.
Zwar wird oft betont, wie wichtig die Arzt-Patienten-Kommunikation ist, aber
dennoch gibt es etliche Mediziner, die in Schilderungen der Patienten vor allem
lästige Sozialgeräusche sehen. Der Brockhaus hat bereits vor 120 Jahren unter dem
Stichwort "Diagnose" diese Haltung notiert. 1892 heißt es in der Ausgabe, dass
"Mitteilungen, die der Kranke über seinen Zustand macht, gewöhnlich nur Gefühle
und subjektive Empfindungen der verschiedensten Art betreffen, die den Arzt nur
selten zu einem sichern und begründeten Urteil über die vorliegende Krankheit
befähigen". Heute gibt es das Ärzte-Bonmot: Die Medizin ist eine schöne Disziplin,
wenn nur die Patienten nicht wären.
Jenseits dieser ärztlichen Arroganz liegen die Gründe für die Unterschiede
zwischen Befund und wahrgenommenem Befinden auch in der MedizinerAusbildung. Im Englischen gibt es "Disease", "Sickness" und "Illness". Begriffe, die
verschiedene Perspektiven für das beinhalten, was wir lediglich "Krankheit" nennen
und somit nur wenig Differenzierungen zulässt.
"Disease" meint das Konzept der Krankheit, wie es in Lehrbüchern steht - eben das,
"was man Ärzte in ihrer Ausbildung zu sehen gelehrt hat", sagt der HarvardPsychiater und Anthropologe Arthur Kleinman. "Dieses Sehen erfolgt durch die Brille
der theoretischen Sichtweisen ihrer speziellen Form klinischer Praxis. Das bedeutet,
dass der Arzt die Probleme des Sich-krank-Fühlens seitens des Patienten und
seiner Familie in abgeschlossene technische Sachverhalte umformt."
Krankheit wird jedoch von den Leiden der Menschen bestimmt - und nicht durch
Konzepte der Mediziner. Die Ängste der Patienten, die Bedeutung, die das Leiden
für den Kranken und sein Umfeld hat, werden im Englischen durch "Illness" erfasst,
"Sickness" beinhaltet zusätzlich die soziale Komponente, etwa die Abwesenheit
am Arbeitsplatz.
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Es liegt nicht nur an der Begrifflichkeit, wenn ärztliche Diagnosen und subjektives
Leiden nicht zusammenpassen. Aber sollte man überhaupt von Krankheit sprechen,
fragten Allgemeinmediziner aus Heidelberg und Erlangen kürzlich im Deutschen
Ärzteblatt, wenn etwa von Bluthochdruck, Hypercholesterinämie oder Osteoporose
die Rede ist? Eher handelt es sich hier um Risikofaktoren, denn der Patient spürt
weder erhöhte Blutfette, noch den Druck in den Adern und erst recht nicht eine
verminderte Knochendichte.
Die Trennlinie ist unscharf, und "was als Krankheit und was als Risikofaktor für
Krankheiten angesehen wird, unterliegt erheblichen Wandlungen im historischen
Verlauf und kann dem Verdacht einer gewissen Willkür nicht entgehen", schreiben
Thomas Kühlein, Tobias Freund und Stefanie Joos im Ärzteblatt.
Neu ist diese Entwicklung nicht. Ärztlichen Diagnosen haben sich im 20.
Jahrhundert immer weiter vom Erleben der Patienten weg hin zu technisch
erzeugbaren Befunden entwickelt. Der Bakteriologe Ludwik Fleck beschrieb diese
Veränderung in seinem Standardwerk über "die Entstehung und Entwicklung einer
wissenschaftlichen Tatsache" schon 1935, in dem er nachzeichnete, wie die Syphilis
nicht mehr nach den Symptomen der Patienten definiert wurde, sondern danach, ob
die Geschlechtskrankheit mittels des 1906 entwickelten "Wassermann-Tests"
nachgewiesen werden konnte oder nicht.
Kühlein, Freund und Joos führen im Ärzteblatt etliche aktuelle Beispiele auf: Die
Angina pectoris wurde lange Zeit ausschließlich klinisch - das heißt durch das
Engegefühl in der Brust - diagnostiziert. Inzwischen ist die Diagnose nur "gesichert",
wenn sich eine Engstelle in der Koronarangiografie zeigt, die längst zum viel zu
häufig praktizierten Routineeingriff geworden ist.
Der scharfsichtige Bremer Gesundheitswissenschaftler Norbert Schmacke hat auf
den "oculostenotischen Reflex" der Kardiologen hingewiesen: Die Herzexperten
sehen ein verengtes Kranzgefäß und sind vom Augenschein so beeindruckt, dass
sie daraus zwangsläufig auf die Diagnose schließen - unabhängig davon, wie sich
der Patient fühlt. Nach dem gleichen Prinzip wird aus der Angina pectoris erst ein
Herzinfarkt, wenn der Troponintest einen erhöhten Wert anzeigt.
Der Nächste bitte!
Hoher Blutdruck - hohe Gefahr?
Ein dauerhaft zu hoher Bludruck stellt zweifellos
ein Gesundheitsrisiko dar. Dennoch ist die Lage
oft nicht so dramatisch, wie es nach der Messung
beim Arzt erscheint. Wie Sie unnötige Sorgen
vermeiden.
Anders als es die Patienten erleben, die sich meist gesund oder eben krank fühlen,
werden Risikofaktoren, Frühformen von Krankheiten und manifeste Krankheiten in
der Medizin gerne als zwangsläufige Entwicklung konzeptualisiert, als
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Stufenschema. Oft resultieren daraus Diagnosen ohne Nutzen. "Gesundheit,
physiologische Alterungsprozesse, Risiken für Krankheit und eigentliche Krankheit
verschwimmen zunehmend in Kontinuen", wie Kühlein, Freund und Joos es
ausdrücken. Auch deswegen ist Früherkennung unter Ärzten so populär.
Jüngst zeigte eine elf Jahre andauernde Studie, dass 1055 Männer untersucht und
37 behandelt werden mussten, um einen Tod durch Prostatakrebs zu verhindern.
Viel Medizin und viel Leid für etliche Männer, um einen zu retten. Doch selbst dieser
Erfolg trog: Die Gesamtsterblichkeit blieb in der Gruppe aller gescreenten Männer
genauso hoch wie in der Gruppe derer, die sich nicht per PSA-Test untersuchen
ließen. Ein Vorteil der Reihenuntersuchung konnte nicht belegt werden.
Man muss es betonen: Infolge der ärztlichen Untersuchungen stieg die gemessene
Krankheitshäufigkeit an, während die Sterblichkeit unverändert blieb. Die
Allgemeinmediziner führt das im Ärzteblatt zu dem paradox anmutenden Fazit:
"Mehr ärztliche Tätigkeit führt zu mehr Morbidität. Eigentlich müsste es umgekehrt
sein." Ein anderer Schluss lautet: Die Medizin hat ein untaugliches Konzept von
Krankheit - und damit ist auch der Maßstab falsch, nachdem Milliarden für
Diagnostik und Behandlung zugeteilt werden.
Lebensqualität als medizinisches Kriterium
Zwar gibt es schon länger den Ansatz, die Patientenperspektive in die Konzepte von
Krankheit aufzunehmen und beispielsweise die Lebensqualität der Kranken zu
erfassen und ihre Einschränkungen stärker zu berücksichtigen. Doch in der
durchökonomisierten Medizin haben diese Initiativen wenig Platz, zudem lassen sie
sich in dem einzig nach kodierbaren Diagnosen strukturierten Abrechnungssystem
im ärztlichen Alltag kaum umsetzen.
Dieses System der Diagnosegläubigkeit hat Folgen. Es führt dazu, dass Patienten in
Deutschland schnell einem Übermaß an Medizin ausgesetzt sind. Eine
Untersuchung im Saarland zeigte kürzlich, dass bei Patienten mit unkomplizierten
Rückenschmerzen schon die Hausärzte zu viel bildgebende Diagnostik
verwendeten und zu oft invasiv tätig wurden. Bei niedergelassenen Orthopäden
waren Überdiagnostik und Übertherapie noch ausgeprägter, obwohl sie damit wider
die Leitlinien des eigenen Fachverbandes handelten. Da Fachärzte pro Patient mehr
abrechnen können und ihr apparativer Aufwand zusätzlich vergütet wird, bekommen
sie dieses Fehlverhalten auch noch belohnt und sehen vermutlich wenig Anreiz, es
zu ändern.
Die Allgemeinmediziner appellieren im Ärzteblatt an ihre Kollegen, "diagnostische
Unsicherheit auszuhalten", um Patienten unnötige Diagnostik und Therapie zu
ersparen. Es geht um die Kunst des Weglassens. "Dazu gehört, nach Ausschluss
abwendbar gefährlicher Verläufe nicht primär nach Diagnosen zu suchen, sondern
die Diagnose im Symptomhaften zu belassen und sich im aufmerksamen Abwarten
zu gedulden." Gerade bei Patienten, die an mehreren Gebrechen leiden, ist es
wichtig, medizinische Interventionen auf das Wesentliche zu beschränken.
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"Unterbleibt diese Begrenzung, auch dies ein merkwürdiges Paradox, droht der
medizinische Fortschritt die Lebensqualität der Patienten erheblich zu senken."
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