Kooperative Entscheidungsfindung oder Spielwiese?

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Vortrag auf der Jahrestagung
Intermediäre Akteure im Wandel. Parteien, Verbände, Interessengruppen und soziale
Bewegungen vor neuen kommunikativen Herausforderungen
Zürich, 9. bis 11. Februar 2012
Kooperative Entscheidungsfindung oder Spielwiese?
Die Öffnung von Parteien für online-basierte
Kommunikationsformen
Katharina Hanel & Stefan Marschall
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Gliederung
1. Ausgangspunkte
2. Fallstudie
3. Diskussion
4. Perspektiven
Ausgangspunkte – Fallstudie – Diskussion – Perspektiven
Ausgangspunkte I
• Herausforderungen an die intermediäre Leistung von Parteien:
– zunehmende soziale und kommunikative Komplexität (Lilleker et al. 2010;
Welzel 2009; Neugebauer 2007)
– (innerparteiliche) Beteiligungs- und Kommunikationsprobleme der
Mitgliederparteien (Alemann 2010; Spier et al. 2011)
– Mitgliederschwund und mangelnde Verankerung der Parteien in der
Gesellschaft (van Biezen et al. 2012; Scarrow/Gezdor 2010; Decker
2007)
• Reaktion/Folge: „party change“ (u.a. Wiesendahl 2009; Detterbeck
2002; von Beyme 2000)
• Risiko/Chance: „Medienwandel“ (u.a. Schulz 2011) und
Medial/tisierung der Parteien (u.a. Jarren/Steiner 2009; Donges 2008)
Ausgangspunkte – Fallstudie – Diskussion – Perspektiven
Ausgangspunkte II
• Etablierung und Konsolidierung des Internets als Plattform für politische
Kommunikation (u.a. Emmer et al. 2011)
• Implikationen des Internets auf „party change“:
– Stärkung des Managements, „top-down“ (Wiesendahl 2002; Hindman
2008)
vs.
– online-induzierte Demokratisierung und Öffnung der Mitgliederpartei,
„bottom-up“ (Bieber 2011; Kubicek/Westholm 2010; Gibson 2003)
• Entwicklung internetbasierter kollaborativer Plattformen (z.B. „Adhocracy“)
Inwiefern tragen onlinebasierte Beteiligungsverfahren zur
innerparteilichen Stärkung des Parteimanagements oder zur
Demokratisierung der Willensbildungs- und
Entscheidungsfindungsprozesse in Parteien bei?
Ausgangspunkte – Fallstudie – Diskussion – Perspektiven
Fallstudie – onlineantrag.spd.de
• online-basiertes teilnahmegeöffnetes Erstellen des Antragskapitels
„Arbeit und Wirtschaft in der digitalen Gesellschaft“ im Rahmen eines
Leitantrags an den Bundesparteitag der SPD vom 4. bis 6.12.2011
• „top-down“-initiiertes, moderiertes und thematisch vorstrukturiertes
Beteiligungsverfahren
• Laufzeit: 04.08.2011 – 19.09.2011
• Teilnehmer/innen: N=408
• technische Umsetzung: „Adhocracy“-Plattform
• Analyseelemente: Partizipationsformen, Aktivität der Teilnehmer/innen,
Umsetzung
Ausgangspunkte – Fallstudie – Diskussion – Perspektiven
Ausgangspunkte – Fallstudie – Diskussion – Perspektiven
Onlineantrag.spd.de
Prozess I – potenzielle und genutzte Aktionsformen
Aktionsformen:
• Vorschläge erstellen
• Kommentare abgeben
• über Vorschläge abstimmen
Nutzung:
77
222
326
Aktivität der Teilnehmer/innen
(N = 408 Teilnehmer)
keine Aktivität
125 (31%)
eine oder zwei Formen
genutzt
alle Formen genutzt
271 (66%)
12 (3%)
Ausgangspunkte – Fallstudie – Diskussion – Perspektiven
Prozess II – Gemeinsame Erarbeitung von Vorschlägen
Die Teilnehmer/innen konnten wählen, ob ihre Vorschläge von anderen
bearbeitet werden konnten.
N = 77 Vorschläge
Bearbeitung nicht möglich
Bearbeitung nicht genutzt
14 (18%)
gemeinsam bearbeitet
59 (77%)
4 (5%)
Ausgangspunkte – Fallstudie – Diskussion – Perspektiven
Umsetzung I – Verarbeitungsregeln?
• erwartbare Auswahlschritte für die Übernahme eines Vorschlags
in den Antrag:
1. Vorschlag passt zum Rahmenthema des Antrags
 33 von 77 Vorschlägen
2. Vorschlag erhält mehr Pro- als Contra-Stimmen
 30 von 33 Vorschlägen
• Im Antrag wird auf 19 Vorschläge verwiesen.
• 12 thematisch passende Vorschläge mit Zustimmung wurden
nicht aufgenommen
 keine Regeln erkennbar!
Ausgangspunkte – Fallstudie – Diskussion – Perspektiven
Umsetzung II – Anteil des Inputs am Output
• Das mithilfe der Online-Diskussion erstellte Antragskapitel macht gut 40%
des gesamten Leitantrags aus.
• Rund 18% des online erstellten Antragskapitels sind an den Input der
Online-Diskussion angelehnt (7,6% des gesamten Leitantrags).
Abstraktionsniveau der übernommenen Beiträge
Häufigkeit Prozent Gültige Prozente Kumulierte Prozente
Gültig
wörtliche Übernahme
6
18,2
18,2
18,2
sinngemäßer Bezug
7
21,2
21,2
39,4
sehr abstrakter Bezug
6
18,2
18,2
57,6
nicht übernommen
14
42,4
42,4
100,0
Gesamt
33
100,0
100,0
Ausgangspunkte – Fallstudie – Diskussion – Perspektiven
Umsetzung III – Einbringung auf dem Parteitag
• Online-Antragsverfahren wird explizit thematisiert und als Erfolg
präsentiert; Verabschiedung durch die Delegierten
"Dieser Antrag (…) ist ein gelebtes Zeichen der Öffnung der Partei. (…)
An der Erstellung dieses Antrags waren sicher mehr Genossinnen und
Genossen und auch Nichtmitglieder beteiligt, mehr als an jedem
anderen Antrag, der euch in diesem Antragsbuch vorliegt. (…) Dieser
Antrag ist der demokratischste des Parteitags“ (Björn Böhning,
netzpolitischer Sprecher SPD, Einbringungsrede für den Antrag)
• Wahrnehmung des Onlineantrags durch die Delegierten
(Rücklauf=26%):
– Großteil der Delegierten hat Online-Antrag nicht wahrgenommen
– Online-Verfahren hat keine Auswirkung auf die Gewichtung des Antrags
Ausgangspunkte – Fallstudie – Diskussion – Perspektiven
Diskussion
„Das ist ‚Mehr Demokratie wagen 2.0‘! Das Experiment ist gelungen!“
(Mattias Groote, MdEP)
Pro:
• Mitsprache und Einfluss auf Ergebnis möglich und manifest
• Positionen finden sich (teilweise wörtlich) im Antrag wieder
• auch Nichtmitglieder konnten gleichberechtigt teilnehmen
Contra:
• geringe Nutzung der kollaborativen Elemente
• starke Vorstrukturierung und Kontrolle des Verfahrens
• unstandardisierte und intransparente Umsetzung: abschließende
Entscheidungskompetenz verbleibt beim Partei(tags-)management
• Salienz/Qualität des Politikfelds?
Ausgangspunkte – Fallstudie – Diskussion – Perspektiven
Perspektiven
• „top down“ initiiert
• bleibende Skepsis gegenüber gleichberechtigter Mitarbeit von
Nichtmitgliedern
• innovative Beteiligungsverfahren vs. Robustheit der organisatorischen
Strukturen der traditionellen Parteien (vs. Piratenpartei?)
aber:
• Parteien responsiv auf Umweltveränderungen, auch des medialen
Repertoires
• Akzeptanz von Online-Beteiligungsverfahren innerhalb der Partei (auch
unter Einbindung von Nichtmitgliedern)
• Folgeprojekte
„kooperative Spielwiese“?
Ausgangspunkte – Fallstudie – Diskussion – Perspektiven
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!
Kontakt:
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Literatur
Alemann, Ulrich von (2010): Das Parteiensystem der BRD. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Beyme, Klaus von (2000): Parteien im Wandel. Von den Volksparteien zu den professionalisierten Wählerparteien. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Bieber, Christoph (2011). Der Online-Wahlkampf im Superwahljahr 2009. In: Schweitzer, Eva Johanna/Albrecht, Steffen (Hrsg.): Das Internet im Wahlkampf.
Analysen zur Bundestagswahl 2009. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 69-96.
Biezen, Ingrid van/Mair, Peter/Poguntke, Thomas (2012): Going, going, … gone? The decline of party membership in contemporary Europe. In: European Journal of
Political Research 51, S. 24-56.
Decker, Frank (2007). Parteiendemokratie im Wandel. In: F. Decker & V. Neu (Hrsg.), Handbuch der deutschen Parteien. Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften, S. 19-61.
Detterbeck, Klaus (2002): Der Wandel politischer Parteien in Westeuropa. Eine vergleichende Untersuchung von Organisationsstrukturen, politischer Rolle und
Wettbewerbsverhalten von Großparteien in Dänemark, Deutschland, Großbritannien und der Schweiz, 1960-1999. Opladen: Leske+Budrich.
Donges, Patrick (2008): Medialisierung politischer Organisationen. Parteien in der Mediengesellschaft.
Emmer, Martin/Vowe, Gerhard/Wolling, Jens (2011): Bürger online. Die Entwicklung der politischen Online-Kommunikation in Deutschland. Konstanz: UVK Verlag.
Gibson, Rachel/Nixon, Paul/Ward, Stephan (2003): Political Parties and the Internet. Net Gain? New York: Routledge.
Hindman, Matthew (2008): The Myth of Digital Democracy. Princeton, NJ: Princeton University Press.
Jarren, Otfried/Steiner, Adrian (2009): Intermediäre Organisationen unter Medieneinfluss? Zum Wandel der politischen Kommunikation von Parteien, Verbänden
und Bewegungen. In: Marcinkowski, Frank/Pfetsch, Barbara (Hrsg.): Politik in der Mediendemokratie, PVS Sonderheft 42. Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften, S. 251-269.
Kubicek, Herbert/Westholm, Hilmar (2010): Consensus Building by Blended Participation in a Local Planning Process: The Case of the Public Stadium Swimming
Pool in Bremen. In: Rios Insua, David; French, Simon, e-Democracy. A Group Decision and Negotiation Perspective, Dordrecht, NL: Springer, S. 323-344.
Lilleker, Darren G./Pack, Mark/Jackson, Nigel (2010): Political Parties and Web 2.0: The Liberal Democrat Perspective. In: Politics 30 (2), S. 105-112.
Neugebauer, Gero (2007): Politische Milieus in Deutschland. Bonn.
Scarrow, Susan E./Gezgor, Burco (2010): Declining Memberships, Changing Members? European Political Party Members in a New Era, in: Party Politics 16, 823843.
Schulz, Winfried (2011): Politische Kommunikation. Theoretische Ansätze und Ergebnisse empirischer Forschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Spier, Tim (2011): Wie aktiv sind die Mitglieder der Parteien? In: Ders./Klein, Markus/Alemann, Ulrich von (Hrsg.): Parteimitglieder in Deutschland. Wiesbaden: VS
Verlag für Sozialwissenschaften, S. 97-120.
Biezen, Ingrid van/Mair, Peter/Poguntke, Thomas (2012): Going, going, … gone? The decline of party membership in contemporary Europe. In: European Journal of
Political Research 51, S. 24-56.
Wiesendahl, Elmar (2009): Der Organisationswandel politischer Parteien. Organisations- und wandlungstheoretische Grundlagen. In: Jun, Uwe/Höhne, Benjamin
(Hrsg.): Parteien als fragmentierte Organisationen. Erfolgsbedingungen und Veränderungsprozesse. Opladen & Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich, S. 35-52.
Wiesendahl, Elmar (2002): Parteienkommunikation parochial – Hindernisse beim Übergang in das Online-Parteienzeitalter. In: Alemann, Ulrich von/Marschall,
Stefan (Hrsg.): Parteien in der Mediendemokratie. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 364-389.
Welzel, Christian (2009): Werte- und Wertewandelforschung. Politische Partizipation. In: Kaina, Viktoria/Römmele, Andrea (Hrsg.): Politische Soziologie. Ein
Studienbuch. Wiesbaden, 109-139.
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