Mit dem zweiten sieht man besser Wieder an der falschen Ecke gespart: Die alten Patienten sind die Dummen im Gesundheitssystem / Von Martina Lenzen-Schulte In der katholischen Kirche ticken die Uhren immer noch anders. Wer sonst würde sich derart gegen den Zeitgeist stellen und ein so altes Oberhaupt wählen. Der deutsche Papst dürfte aus Altersgründen in seinem Heimatland bald nicht mehr jede medizinische Behandlung als Kassenleistung beanspruchen, ginge es nach den Vorschlägen mancher Rationierer. Vielleicht liegt es ja am nahen Vatikanstaat, daß italienische Ärzte noch stolz von einer alten Frau berichten können, die im Alter von 95 Jahren mit der Dialyse begann und ohne jeden Krankenhausaufenthalt ihren hundertsten Geburtstag feierte. Nicht nur in Deutschland überlegt man, ob dies künftig eine Selbstverständlichkeit bleiben soll. In einem in Großbritannien veröffentlichten Dokument des National Institute for Health and Clinical Excellence heißt es jetzt offiziell, das Alter der Patienten sei bei der medizinischen Behandlung zu berücksichtigen. Noch wird darin zwar nicht die künstliche Niere, sondern die künstliche Befruchtung für ältere Patienten in Frage gestellt, was wohl eher konsensfähig sein dürfte. Aber die Kritiker des Papiers fürchten, daß dies nur der sich unspektakulär gebende Beginn einer Festschreibung der Altersrationierung in der Medizin sein könnte. Die Befürworter von Beschränkungen gehen offensichtlich unbesehen und naiv davon aus, daß das Einsparen medizinischer Leistungen zwangsläufig auch Geld einsparen wird. Es scheint keiner weiteren Erklärung zu bedürfen, daß Operationen, die man ab 75 grundsätzlich nur noch jenen anbietet, die selbst dafür bezahlen, den Kostenträgern genau die Summen beläßt, die sie sonst dafür aufwenden müßten. Das ist jedoch in vielen Fällen ein Trugschluß. Dafür liefern neuere Beobachtungen stichhaltige Beweise. Ein gutes Beispiel ist die Kataraktoperation, die Entfernung der bei grauem Star trüb gewordenen Augenlinse, um die Sehfähigkeit zu verbessern. Die Hälfte der über Siebzigjährigen leidet am grauen Star, im Alter über 90 ist es fast jeder. Mehr als eine halbe Million Operationen werden jährlich in Deutschland vorgenommen, in den Vereinigten Staaten sind es rund eine Million. Augenärzte sehen sich zunehmend gezwungen, den Eingriff zu rechtfertigen. Daß zum Beispiel zwei Drittel der über 85 Jahre alten Patienten danach überhaupt wieder lesen können und eine dramatische Verbesserung ihrer Lebensqualität erfahren, dürfte die Rechner nicht so sehr überzeugen wie jene allerneueste Studie, die belegt, daß dadurch vor allem die Zahl der Stürze alter Menschen deutlich verringert wird. Hochbetagte erleiden mindestens einmal im Jahr einen Sturz, ein Fünftel verletzt sich dabei, sechs Prozent tragen einen Knochenbruch davon. Die Selbständigkeit alter Menschen - normalerweise ein erklärtes Ziel jeder auf Einsparungen zielenden Altenpolitik - wird infolge schlechter Sehfähigkeit massiv eingeschränkt. Es gibt sogar erste Hinweise, daß sich durch eine Kataraktoperation nicht allein das Sehvermögen, sondern auch die Stimmung bessert, daß psychisch bedingte Beschwerden geringer werden. Sogar kognitive Fähigkeiten blieben eher erhalten, heißt es. Vollends gegen den Spartrend scheint die Forderung zu sein, bei grauem Star nicht nur ein Auge zu operieren, sondern am besten auch das zweite. Stereosehen ist notwendig, um Entfernungen richtig einzuschätzen, um eine angemessene räumliche Vorstellung zu erhalten. Kanadische und britische Wissenschaftler konnten zeigen, daß über Siebzigjährige, die an beiden Augen operiert wurden, doppelt so gut über Unebenheiten gehen können, als wenn nur ein Auge behandelt wurde. Sie bewegen sich überdies schneller und können sich besser orientieren. Schon jetzt liegen internationale Hochrechnungen vor, wonach sogar die beidseitige Kataraktoperation ein kosteneffektives Verfahren darstellt. Wer dies als Kassenleistung ab einem bestimmten Alter einschränkt, muß einrechnen, wie viele Klinikaufenthalte wegen Oberschenkelhalsbruch, anschließende Rehabilitationsmaßnahmen, langwierige Schmerzbehandlungen bei womöglich dauerhafter Einschränkung der Beweglichkeit und den damit verbundenen Arztbesuchen statt dessen zu übernehmen wären. Denn es wäre irrig anzunehmen, daß alle alten Patienten sich auf eigene Kosten diese Operation leisten wollten oder würden, wo sie schon jetzt bei Hochbetagten zu selten vorgenommen wird. Das liegt nicht zuletzt daran, daß innerhalb der Medizin selbst die Vorurteile über alte Patienten längst noch nicht genügend abgebaut sind. Weit verbreitet sind Fehleinschätzungen darüber, was alte Patienten nicht vertragen könnten und was ohnehin für sie nicht mehr von Nutzen sei. Oder es wird schlicht fälschlich unterstellt, sie wünschten die Behandlung selbst nicht. Diese allenthalben spürbare, suggestive Atmosphäre von "zu spät, zu alt, zu gefährlich" läßt bei alten Patienten nicht das Selbstbewußtsein reifen, um gegen landläufige Trends auch noch Forderungen zu stellen und aufzubegehren. Dabei profitieren mitunter gerade die ältesten Patienten von aggressiven Maßnahmen mehr als jüngere. Auch das mußten Ärzte erst aus sorgfältigen Beobachtungsstudien lernen. Peter Matt von der Herzchirurgie der Universitätsklinik in Basel hat einige davon unlängst im Deutschen Ärzteblatt zusammengetragen. Herzoperationen werden zunehmend bei älteren Patienten vorgenommen, in Basel beträgt der Anteil der über Siebzigjährigen bereits ein Drittel, Tendenz jährlich steigend. Der Ersatz verengter Herzklappen hilft jenseits der fünfundsiebzig so überzeugend, daß diese Kranken wieder das Gesundheitsniveau der herzgesunden Bevölkerung im gleichen Alter erreichen. Das schaffen jüngere Patienten nach Herzklappenersatz nicht. Wenn über Fünfundsiebzigjährige für ihre verkalkten Herzkranzgefäße eine BypassOperation erhalten oder die verengten Stellen mit einem Ballon aufgedehnt werden, so ist dies bereits nach zwölf Monaten kostengünstiger, als wenn man lediglich Medikamente verabreicht, was vordergründig billiger zu sein scheint. Dank der Eingriffe haben sie weniger Schmerzen, kaum schwere Rückfälle, ihre Lebensqualität hat sich dramatisch verbessert, sie gehen weit weniger zum Arzt als ihre lediglich konservativ behandelten Altersgenossen. Dennoch sehen ältere Patienten alt aus und gehen leer aus, wenn sie mit dem Verdacht auf einen Herzinfarkt zum Arzt kommen: Sie bekommen nicht nur seltener eine angemessene Diagnostik, sie müssen auch weit öfter als jüngere auf nachweislich hilfreiche Medikamente verzichten. Insbesondere eine Therapie, die Blutgerinnsel verhindert, wird ihnen häufig vorenthalten, weil Ärzte immer noch die Befürchtung hegen, das führe eher als bei jüngeren Patienten zu einem Schlaganfall infolge von Einblutungen im Gehirn. Inzwischen ist erwiesen, daß diese Angst unbegründet ist und die Folgen eher schädlich sind. Selbst mit der eigenverantwortlichen Messung kommen alte Patienten gut zurecht, sie stellen mitunter ihre Gerinnung besser ein als der Hausarzt. Unüberlegte Sparvorgaben, die den Patienten die Kosten solcher Behandlungen und teurer Operationen aufbürden wollten, würden das Umdenken, das in der Medizin gerade erst eingesetzt hat, nur bremsen. In vielen Fällen geht es mithin nicht darum, das Leben von Hochbetagten kostentreibend um jeden Preis zu verlängern. Vielmehr gilt es, für die Zeitspanne am Lebensende Lebensqualität und Selbständigkeit zu erhalten. Das muß die Medizin vor allem für die Krebsbehandlung von alten. Patienten deutlicher als bisher zum Ausdruck bringen. In keinem anderen Fach regiert so sehr die Vorstellung, hier würde das Leiden alter Menschen nur unnütz verlängert und der medizinische Sinn vieler Maßnahmen ins Gegenteil verkehrt. Gleichwohl gilt gerade für die Behandlung von bösartigen Tumoren, daß alte Patienten nirgends offensichtlicher diskriminiert und falsch behandelt werden. Cornelius Cranai von der Brown University in Providence, Rhode Island, hat in der führenden Krebszeitschrift "Cancer" seine Kollegen erst unlängst auf zahlreiche Unterlassungsfehler hingewiesen, zu der das schiere Starren auf die Altersangabe die Mediziner verführt. Eine Analyse von zweihunderttausend Krebsoperationen hat klar gezeigt, daß um so eher - und ohne Begründung - auf eine Krebsoperation verzichtet wird, je älter ein Patient ist. Als Entschuldigung für zögerliche und falsche Enthaltsamkeit bei der Krebstherapie alter Patienten werden häufig jene vielen Begleiterkrankungen des alten Menschen angeführt, die sowohl Chemotherapie als auch Bestrahlung und Operation weniger gut vertragen ließen. Aber das stimmt nachweislich nicht, denn die meisten Therapieentscheidungen werden blind vom Alter diktiert und eben nicht rational aufgrund dieser oder jener Begleitkrankheit entschieden. Das gilt zum Beispiel für den häufigen Prostatakrebs beim Mann und den Brustkrebs bei der Frau. Die Benachteiligung beginnt sogar noch früher: Obwohl Brustkrebs zur Hälfte bei über fünfundsechzigjährigen und zu einem Drittel bei über siebzigjährigen Frauen vorkommt, werden gerade die älteren Patientinnen vom Hausarzt nicht zur Früherkennung geschickt, eine vergessene Klientel, wie es in einer neuesten Untersuchung dazu heißt. Alte Patienten werden auch, wenn es um die Testung neuer Krebsmedikamente oder Bestrahlungsverfahren geht, vollkommen übergangen. Die Folge ist, daß sie später diese Therapien nicht erhalten oder aber mit unerwarteten Nebenwirkungen rechnen müssen, die man vorher nicht erkennen konnte. Auch das kostet Geld, das Vorenthalten der besseren Behandlung oder der Schaden durch eine falsche gar nicht erst gerechnet. Wer nicht erforscht, welche Krebsbehandlung in welchem Alter die günstigere ist, gibt womöglich für unnütze Zusatztherapien mehr Geld aus als nötig. So zeichnet sich zum Beispiel ab, daß man nach der Operation von Brusttumoren bei älteren Frauen unter bestimmten Bedingungen auf eine zusätzliche Bestrahlung verzichten könnte, ohne daß dies einen Nachteil hätte. Angesichts der vielfältigen Defizite, die bei der Behandlung alter Patienten ohnehin schon zu beklagen sind, würde man sich bei vorschnell vorgetragenen Rationierungsvorschlägen doch eine exaktere Definition dessen wünschen, was als überflüssig oder nicht mehr hilfreich anzusehen ist. Zumal, wenn sich Fehleinschätzungen im Rahmen von Sparvorhaben als Kostenfalle erweisen könnten. Da es offenbar so leicht nicht ist, bei den Alten zu sparen, sollte man vor allem darauf verzichten, zwischen den Generationen eine Rivalität um medizinische Behandlungen zu schüren. Es ist wohlfeil, aber nicht richtig, wenn Eltern suggeriert wird, ihre Kinder bekämen womöglich die optimale Versorgung deshalb nicht, weil das Geld für unnütze Leidensverlängerung derer ausgegeben wird, die ihr Leben schon gelebt haben. Für Kinder und Erwachsene in jungen und mittleren Jahren fehlt es an vielem, aber offenkundig nicht deshalb, weil ältere Patienten mehr als nötig erhielten. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Erstmalig veröffentlicht: 04.08.2005, F.A.Z., Feuilleton, Seite 38