7-teilige Artikelserie im Tages-Anzeiger, 26.1.

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Tages-Anzeiger | 26. Januar 2015
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SERIE «WIE WIR LERNEN», TEIL 1
Was Sie im Leben schon gelernt haben
Den Pinzettengriff anwenden, grammatikalische Fehler erkennen, die Wirkung des eigenen Verhaltens auf andere
realisieren oder über eigene Gedanken nachdenken: Ein Mensch absolviert in seinen ersten 20 Lebensjahren essenzielle Entwicklungsschritte in Motorik, Sprache, Sozialem und Kognition. Von Dr. Claudia Rütsche
?
In welchem Alter verfügt ein Mensch erstmals über folgende Fähigkeiten:
A. Pinzettengriff (mit Daumen und Zeigefinger greifen)
B. Enorme Wortschatzerweiterung für Objekte und Objektmerkmale
(Benennungsexplosion)
C. Engere Freundschaften aufbauen (Vertrauen, Versprechen,
Verpflichtungen)
D. Beschreiben und bewerten in Gegensatzpaaren (klug–dumm,
gerecht–ungerecht, teuer–billig usw.)
A: 9.-12. Monat / B: 3.-5. Lebensjahr / C: 10.-13. Lebensjahr / D: 6.-10. Lebensjahr
Beim Gedanken an lernen kommen
rasch Begriffe wie «büffeln» oder
«pauken» in den Sinn. Doch lange
bevor wir uns bewusst hinsetzen und
konzentriert Wörter oder Fakten lernen, also pauken, haben wir als Kinder eine Vielzahl von Fähigkeiten
«wie von selbst» erlernt, die uns dieses Lernen im engeren Sinn überhaupt erst ermöglichen. Wir ahmen
nach und probieren aus, wir erleben
die Reaktionen anderer Menschen
auf unsere Aktionen, interpretieren
diese und absolvieren so eine Reihe
von Entwicklungsschritten in Motorik, Sprache, in der sozialen Entwicklung und im Denken und Erkennen.
In der Jugend geht diese Entwicklung weiter, dann speziell im sozialen und kognitiven Bereich. Das Fas-
zinierendste daran: Auch wenn es
individuelle Unterschiede in der Geschwindigkeit geben kann, Menschen tätigen diese Schritte übereinstimmend in einer bestimmten
Reihenfolge.
So erfolgt zum Beispiel die Entwicklung des Laufens in zeitlich geordneten Sequenzen vom Sitzen ohne Stütze (im Alter von 5 Monaten)
zum Sich-Hochziehen zum Stehen
(mit 7,5 Monaten) über das Krabbeln
und Kriechen (mit 8 Monaten) zum
Gehen mit Festhalten (mit 9 Monaten) und schliesslich zum Gehen ohne Hilfe (durchschnittlich mit 12
Monaten). Bei der sprachlichen Entwicklung sind die einzelnen Schritte
ebenfalls deutlich unterscheid- und
erkennbar. Während mit 4 bis 8 Monaten fröhlich gelallt wird als Übung
verschiedener Lautkombinationen,
werden mit 9 bis 12 Monaten die ersten Einzelwörter gesprochen (Mama, Papa), die dann zu ersten Zweiwortsätzen im 2. Lebensjahr führen
(Mama da) und zu Sätzen mit Verben in der Grundform (Apfel essen).
Bezüglich Kognition ist es Kindern
im Alter von 4 bis 8 Monaten möglich, einfache Handlungen vorauszusagen. Lässt man zum Beispiel eine
Murmel eine Bahn herunterkullern
und sie dazwischen in einem Tunnel verschwinden, so weiss das Kind,
wann und wo sie herauskommt. Verzögert man den Lauf oder lässt das
Objekt verschwinden, ist es irritiert.
Auch die soziale Entwicklung erfolgt
in solch zeitlich geordneten Sequenzen. Im 2. bis 3. Monat tritt das erste soziale Lächeln auf, im 1. Lebensjahr entwickelt sich das Kind dann
zum aktiven Kommunikationspartner und zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr wird die soziale Realität im
Spiel abgebildet und eine Vorstellungswelt aufgebaut, in der man soziale Kompetenzen übt. Empfinden
Sie es als selbstverständlich, Ihre
eigene Perspektive als subjektiv einzuschätzen? Schön! Das mussten Sie
aber irgendwo zwischen dem 6. und
dem 10. Lebensjahr erst mal lernen
– unter Umständen etwas schmerzlich durch die entsprechende Reaktion eines Gegenübers.
Und wenn Sie jetzt darüber nachdenken, worin Sie sich in Ihrem Leben noch alles aus- und weiterbilden möchten, so war diese Fähigkeit
nicht immer da, sondern Sie verdanken das Gedankenspiel der Tatsache,
dass Sie im Alter zwischen 10 und 13
Jahren das Denken in Möglichkeiten
erlernt haben.
Dr. Claudia Rütsche ist Direktorin des
KULTURAMA Museum des Menschen.
WIE WIR LERNEN
Neue und interaktive Dauerausstellung im KULTURAMA Museum
des Menschen in Zürich. Sie geht
der Frage nach, wie Lernen genau
«funktioniert».
Öffnungszeiten: Für Gruppen mit
Führung jederzeit nach Vereinbarung. Individuelle Besuche sind an
bestimmten Sonntagen von 13 bis
17 Uhr möglich. Regelmässig finden öffentliche Führungen statt.
Die genauen Daten finden Sie auf:
www.kulturama.ch
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Tages-Anzeiger | 23. Mär z 2015
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SERIE «WIE WIR LERNEN», TEIL 2
Billionen von Verknüpfungen im Gehirn
Bild: Dr. Uwe Konietzko, Division of Psychiatry Research, Universität Zürich
Eine Nervenzelle alleine ist weder intelligent, noch kann sie lernen. In unserem Gehirn bilden die Nervenzellen ein
Team, ein hochkomplexes neuronales Netzwerk. Es erlaubt uns, Informationen dauerhaft zu speichern, die wichtig sind oder immer wieder gebraucht werden. Von Dr. Claudia Rütsche
Nervenzellen-Netzwerk aus dem Gehirn einer Maus (Lichtmikroskop-Präparat).
grün = Dendriten, blau = Axone, rot = Synapsen
Nervenzellen sind darauf spezialisiert, Informationen aufzunehmen,
zu verarbeiten und weiterzuleiten. Dennoch kann eine Nervenzelle allein nicht lernen. 100 Milliarden Nervenzellen bilden ein
hochkomplexes Netzwerk, welches
sich laufend verändert. Beim Lernen werden – über das ganze Gehirn verteilt – dicke Spuren angelegt. Dieses Netzwerk spiegelt die
Lernerfahrungen, die wir im Laufe
unseres Lebens machen.
Bei der Geburt hat ein menschliches Baby schon fast gleich viele
Nervenzellen im Gehirn wie ein er-
wachsener Mensch. Trotzdem ist
das Gehirn noch viel kleiner. Das
Gehirn wächst in den kommenden
Jahren vor allem durch die Bildung
von Nervenzellfasern und neuen
Verknüpfungsstellen zwischen den
Nervenzellen (Synapsen). Dies entspricht dem Einspeichern von neuen Gedächtnisinhalten, wir lernen
also sehr viel in unseren ersten Lebensjahren. Mit der Zeit ist das Gehirn ausgewachsen. Es vergrössert
sich nicht mehr, weil einerseits keine neuen Nervenzellen mehr gebildet werden und sich andererseits
Bildung und Abbau von Synapsen
die Waage halten. Im höheren Al-
ter lässt die Fähigkeit des Gehirns
nach, neue Synapsen zwischen den
Nervenzellen aufzubauen. Lernen
fällt dann nicht mehr so leicht wie
in jüngeren Jahren, bleibt aber dennoch ein Leben lang möglich.
Nervenzellen-Netzwerk
verändert sich laufend
Jede einzelne Nervenzelle ist mit
vielen tausend anderen verknüpft
und kann diesen Informationen in
Form von Nervenimpulsen weitergeben oder Informationen erhalten. Wäre dieses Netzwerk fest verknüpft, könnten wir unser Gehirn
mit einem Computer vergleichen.
Wir hätten einen Grundstock an
Erinnerungen, ein Basisgedächtnis.
Speziell an unserem NervenzellenNetzwerk ist aber, dass sich dieses
im Gegensatz zu einem Computer
laufend verändern kann. Jede neue
Information muss einen sinnvollen
Platz im bereits vorhandenen Wissen einnehmen und sich entsprechend damit vernetzen.
sich ständig an neue Situationen
an: Wir lernen – und zwar immer!
Während Bewegungen im Kleinhirn
gelernt werden, ist die Grosshirnrinde für unser Bewusstsein und
unsere tollen Ideen zuständig. Das
Gehirn speichert jene Informationen dauerhaft, die sehr wichtig sind
oder immer wieder gebraucht werden. Deshalb müssen wir Sachen,
die wir uns merken wollen, immer
wieder üben.
Veränderungen im Nervenzellennetzwerk können schon relativ rasch passieren. So haben
Studien gezeigt, dass durch das
Spielen eines Musikinstrumentes bereits nach wenigen Wochen
stabile Nervenzellen-Verknüpfungen entstehen, welche die Hör- und
Bewegungszentren im Gehirn miteinander verbinden.
Dr. Claudia Rütsche ist Direktorin des
KULTURAMA Museum des Menschen. Die
interaktive Dauerausstellung «Wie wir
lernen» geht der Frage nach, wie Lernen
Bei jedem Impuls, der das Neuron
erreicht, verändern sich die Synapsen, die Kontaktstellen des
Neurons. Sie können neu gebildet, abgebaut, verstärkt oder abgeschwächt werden. Das Gehirn passt
«funktioniert». Sie ist für Gruppen mit
Führung nach Vereinbarung geöffnet und
für individuelle Besuche an bestimmten
Sonntagen von 13-17 Uhr. Regelmässig
finden auch öffentliche Führungen statt.
Mehr Infos: www.kulturama.ch
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Tages-Anzeiger | 11. Mai 2015
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SERIE «WIE WIR LERNEN», TEIL 3
Vom Trampelpfad zur Datenautobahn
Beim Lernen werden über das ganze Gehirn verteilt dicke Spuren angelegt. Für jeden Gedächtnisinhalt entsteht
ein weit verteiltes neuronales Muster. Das Gehirn gleicht neue Eindrücke jeweils mit diesen bereits bestehenden
Mustern ab. Von Dr. Claudia Rütsche und Isabelle Stöckli
Illustration: Rupert Sheldrake
darin erkennen. Natürlich funktioniert dies nur, wenn der Betrachter
bereits weiss, wie ein tanzendes Paar
aussieht.
Was sehen Sie auf den ersten Blick? Und auf den zweiten?
Schauen Sie sich das Bild ganz genau an. Sehen Sie darin «nur» eine
Ansammlung von Flecken? Dann ergeht es Ihnen gleich wie den meisten
anderen Menschen beim Betrachten dieses Bildes. Wenn sie das Bild
zum ersten Mal sehen, erkennen sie
zunächst nur schwarze und weisse
Flecken. Das Gehirn ist in den Bereichen aktiv, die für Flecken und Kanten zuständig sind.
Es sei hier verraten, dass man auch
ein tanzendes Paar wahrnehmen
kann. Der Doppelfleck oben in der
Mitte sind die Haarschöpfe der beiden, die grosse weisse Fläche in der
Mitte stellt das wallende Kleid der
Dame dar. Das Bild ist jetzt plötzlich lesbar: Sie erkennen das tanzende Paar problemlos. In Bruchteilen
von Sekunden wird bei neuerlicher
Betrachtung das Muster, welches für
die Erfahrung «Anblick eines tanzenden Paars» zuständig ist, mitaktiviert. Die Feinstruktur des Gehirns
hat sich nachhaltig verändert. Die
Erfahrung, dass eben dieses Bild ein
tanzendes Paar darstellt, prägt die
Deutung der Flecken und Striche für
immer. Selbst wenn Sie das Fleckenbild in zwei oder drei Jahren wieder
sehen, werden Sie mit grosser Wahrscheinlichkeit ein tanzendes Paar
Das Bildbeispiel zeigt, wie wichtig
unsere Erfahrung für das erfolgreiche Lernen und somit das Gelingen
von Fähigkeiten ist. Ein Erlebnis oder
Gelerntes wird in Neuronengruppen, welche synchron Nervenimpulse abfeuern, verankert. Für jeden
Gedächtnisinhalt entsteht ein weit
verteiltes neuronales Muster. Dieses
Muster ist wandelbar. Das Gehirn
gleicht dieses jeweils mit den neu zu
verarbeitenden Eindrücken ab.
Beim Lernen werden Neuronen
durch Wiederholung aufeinander
sensibilisiert, damit sie gemeinsam
feuern. Dabei verstärken sich häufig gebrauchte Verknüpfungsstellen
zwischen den Nervenzellen (Synapsen) oder bilden sich neu, während
weniger genutzte verkümmern (synaptische Plastizität). Häufig gebrauchte Verbindungen werden so
ausgebaut, wenig benutzte reduziert:
Das Muster ändert sich.
aber auch ein einzelnes Tier, immer
wieder durch denselben Pfad, wird
dieser stärker ausgetreten. Wird dieser Pfad nicht mehr benützt, überwächst er wieder.
Auf das Gehirn übertragen lässt
sich sagen, dass wir über eine breite Palette von Spuren verfügen, vom
Trampelpfad bis zur Datenautobahn, je nach Häufigkeit und Intensität der Nutzung. Dies erklärt
auch, warum einmal Gelerntes beim
zweiten Mal leichter im Gedächtnis
bleibt: Die Spur ist schon vorgegeben. Gelerntes kann aber auch wieder vergessen werden, wenn es eben
nicht oft genug genutzt wird.
Dr. Claudia Rütsche ist Direktorin,
Isabelle Stöckli ist Museumspädagogin
am KULTURAMA Museum des Menschen.
AUSSTELLUNG «WIE WIR LERNEN»
Die interaktive Dauerausstellung «Wie
wir lernen» im KULTURAMA geht der
Frage nach, wie Lernen «funktioniert».
Sie ist für Gruppen mit Führung nach
Vereinbarung geöffnet und für individuelle Besuche jeden Sonntag von 13-
Begeben wir uns in den Urwald: Ein
kleines Tier im Urwald hinterlässt
kleine Spuren, eine Tierherde eine
breite Spur. Stampft die Tierherde,
17 Uhr. Regelmässig finden auch öffentliche Führungen statt.
Mehr Infos: www.kulturama.ch
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Tages-Anzeiger | 22. Juni 2015
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SERIE «WIE WIR LERNEN», TEIL 4
Die persönliche Mediathek im Kopf
Lernen ohne Gedächtnis? Undenkbar! Das Gedächtnis ist gleichzeitig Grundlage und Resultat des Lernens. Beim
Lernen wird permanent auf das Gedächtnis zurückgegriffen. Das kann manchmal auf Irrwege führen, doch meist
erleichtert und beschleunigt es die Denkvorgänge. Von Dr. Claudia Rütsche
Was sehen Sie hier?
Die im blauen Kasten abgebildeten
drei Buchstaben wurden in der Ausstellung «Wie wir lernen» im Kulturama insgesamt mehreren Tausend
Besucherinnen und Besuchern gezeigt mit der Frage, was sie sehen.
Eine grosse Zahl der Personen las darin sofort das Wort «Hand», die anderen erkannten das Wort «Hund».
Kaum jemand las darin nichts, das
heisst ergänzte die drei Buchstaben
mit Lücke dazwischen nicht automatisch zu einem sinnvollen Wort.
Dieser Vorgang scheint für unser Gedächtnis sehr typisch zu sein.
Die Sinnesorgane, hier die Augen, liefern in das Sensorische Gedächtnis
dort nur äusserst kurz verbleibende
Informationen. Ein Teil davon wird
dann im Arbeitsgedächtnis verarbeitet. Das Arbeitsgedächtnis – unsere
psychologische Gegenwart sozusagen – gleicht permanent ab mit dem
Langzeitgedächtnis, unserem Schatz
an bisher getätigten Erfahrungen
und Erkenntnissen. So werden ständig Verknüpfungen und sinnvolle
Ergänzungen gesucht, auch da, wo
eigentlich (wie in diesem Beispiel)
gar keine gefragt waren. Das Langzeitgedächtnis ist vergleichbar mit
einer ganz persönlichen, höchst individuellen Mediathek, in der Bilder,
Gerüche, Fakten, Episoden, Prozesse, Emotionen, Wörter etc. gespeichert sind und die mit jeder neuen
Erfahrung laufend erweitert wird.
Bei Weitem nicht alles findet Eingang in diese Mediathek. Es sind
vorwiegend Dinge, die besonders beeindrucken, oft wiederholt oder gebraucht werden. Das Tor zur Ablage im Langzeitgedächtnis liegt im
Gehirn im Innern des Limbischen
Systems, in einer als Hippocampus
bezeichneten Struktur. Herausgefunden hat man das unter anderem
durch Studien an einem als «Mann
ohne Gedächtnis» in die Literatur
eingegangenen Patienten namens
Henry Molaison, dem Mitte des letzten Jahrhunderts im Alter von 27
Jahren Teile der Hippocampi operativ entfernt wurden und der sich danach an die früheren Ereignisse in
seinem Leben weiterhin erinnern,
aber kaum mehr neue Gedächtnisinhalte bilden konnte.
Die aktuelle Bearbeitung von Eindrücken erfolgt wie erwähnt im Arbeitsgedächtnis. Dieses hat eine beschränkte Kapazität. Der Psychologe
George A. Miller hat in den 1950er
Jahren die «Magische Nummer Sieben» beschrieben: So viele Zahlen
oder Wörter kann ein Erwachsener
durchschnittlich im Arbeitsgedächtnis speichern. Abweichungen um
plus oder minus zwei Einheiten kommen vor. Damit wir mehr als diese
rund sieben Informationseinheiten
im Arbeitsgedächtnis behalten können, wird oft die Technik der «Klumpenbildung» (Chunking) benutzt. So
wird aus der Zahlenfolge 0-4-4-2-6-06-0-4-4 die besser zu merkende Telefonnummer 044 260 60 44.
Der permanente Abgleich zwischen
Arbeits- und Langzeitgedächtnis
kann in Einzelfällen zu falschen Verknüpfungen und damit zu Irrtümern
führen. In der grossen Mehrheit der
Fälle aber erleichtert und beschleunigt er die Denkvorgänge und erlaubt es, stets Neues dazuzulernen
und die persönliche Mediathek im
Kopf zu erweitern.
Dr. Claudia Rütsche ist Direktorin am
KULTURAMA Museum des Menschen in
Zürich.
AUSSTELLUNG «WIE WIR LERNEN»
Die interaktive Dauerausstellung «Wie
wir lernen» im KULTURAMA geht der
Frage nach, wie Lernen «funktioniert».
Sie ist für Gruppen mit Führung nach
Vereinbarung geöffnet und für individuelle Besuche jeden Sonntag von
13 - 17 Uhr. Regelmässig finden auch
öffentliche Führungen statt.
Mehr Infos: www.kulturama.ch
Foto: KULTURAMA, Josef Stücker
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Tages-Anzeiger | 24. August 2015
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SERIE «WIE WIR LERNEN», TEIL 5
Mit Strategien zum Lernerfolg
Eine grosse Menge an Lernstoff vor sich zu haben, kann sich anfühlen, wie vor einem Berg zu stehen, von dem
man nicht weiss, wie man ihn bewältigen soll. Hier hilft das Nachdenken über geeignete Strategien, damit aus
einer Erstarrung ein gezieltes und selbstbestimmtes Herangehen wird. Von Dr. Claudia Rütsche
Menschen lernen ständig und
überall. Dies geschieht bewusst
und unbewusst, absichtlich oder
zufällig, durch Vorbilder, aus Fehlern und durch Übung. Manchmal
gilt es, gezielt eine grosse Menge an
Stoff zu bewältigen, sei es für eine
Prüfung oder im Beruf. Dabei kann
alleine die Menge verbunden mit
der Frage, wie man sich das bloss
alles merken soll, lähmend wirken. Hier bietet die Lernpsychologie eine Reihe von erprobten Strategien an, die sich zielführend und
nach eigenen Vorlieben anwenden
lassen.
Oft sieht man vor lauter Bäumen
den Wald nicht mehr, deshalb lautet eine ganz wichtige Strategie:
Zusammenhänge erkennen. Sich
selbst bewusst zu fragen: Wie sind
die Dinge miteinander verknüpft?
Es hilft, den Lernstoff in einfachen
Sätzen zusammenzufassen, da sich
einfache Sätze viel leichter lernen
lassen. Überhaupt gilt das Schreiben von Zusammenfassungen als
Königsweg unter den Lernstrategien. Dabei ist es weniger wichtig,
letztlich eine Zusammenfassung zu
besitzen, als diese selber geschrieben zu haben. Beim Schreiben der
Zusammenfassung überlegt man
sich automatisch, was wirklich
Mindmaps helfen,
Texte und Zusammenhänge auf einem Blatt
zusammenzufassen.
Meine Lernstrategie:
Thomas, 44
wichtig ist und durch das eigene
Schreiben steigt die Wahrscheinlichkeit auf Verankerung im Gedächtnis.
Lerntempo dosieren
Es helfen auch strukturierende
Massnahmen, wie z. B. den Lernstoff in Kategorien oder Hierarchien zu ordnen. So fällt es leichter,
sich zu erinnern. Gemeinsamkeiten mit bereits bekanntem Wissen
zu bemerken, erleichtert das Lernen, da die Verknüpfung mit vorhandenem Wissen hilft, das neue
Wissen abzuspeichern. Nicht zu
unterschätzen ist die persönliche
Motivation. Wenn man mit Interesse an den Stoff herangeht, steigert
dies in grossem Mass die Wahrscheinlichkeit, Dinge rasch zu lernen und zu behalten. Positive Gefühle wie Lernlust, Hoffnung (auf
eine gute Note) oder Stolz (über die
Vorstellung einer erfolgreich abgelegten Prüfung) wirken sich sehr
günstig auf die Motivation aus. Um
nicht Zeit mit Unnötigem zu verlieren, sollte das Lernziel möglichst
genau definiert werden. Dazu gehört auch die richtige Dosierung
des Lerntempos. Bei zu hohem
Tempo wird der Lernstoff ungenügend verankert. Bei zu langsamem
Tempo hingegen setzen Monotonie
und Langeweile ein.
festigen, liegt darin, jemandem den
Lernstoff zu erzählen. Dabei ist weniger das Gegenüber wichtig (es
könnte auch ein Haustier oder ein
Gegenstand sein), sondern die Tatsache, dass man das Gelernte selber in Worte zu fassen und zu erklären versucht. Dabei kann man
sein Wissen und Können sehr gut
kontrollieren, da beim Erzählen
rasch klar wird, wo noch Lücken
oder Unsicherheiten bestehen.
Schliesslich gilt es, auch aus Fehlern zu lernen. Fehler sind Annäherungsversuche an das Lernziel. Sie
sind damit Teil der Lernbemühungen und gehören zum Lernen einfach dazu.
Dr. Claudia Rütsche ist Direktorin am
KULTURAMA Museum des Menschen in
Zürich.
AUSSTELLUNG «WIE WIR LERNEN»
Die interaktive Dauerausstellung «Wie
wir lernen» im KULTURAMA geht der
Frage nach, wie Lernen «funktioniert».
Sie ist für Gruppen mit Führung nach
Vereinbarung geöffnet und für individuelle Besuche jeden Sonntag von
13 – 17 Uhr. Regelmässig finden auch
öffentliche Führungen statt.
Eine hervorragende Methode, um
Gelerntes zu überprüfen und zu
Mehr Infos: www.kulturama.ch
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Tages-Anzeiger | 5. Oktober 2015
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SERIE «WIE WIR LERNEN», TEIL 6
Wie Honig im Kopf
Im Film «Honig im Kopf» von Til
Schweiger aus dem Jahre 2014 wird
ein zunehmend an Alzheimer leidender Tierarzt dargestellt (hervorragend verkörpert durch Dieter
Hallervorden). Auf die Frage seiner
Enkelin, wie es sich anfühlt, meint
der Tierarzt, es sei «wie Honig im
Kopf». Unter den verschiedenen Formen von Demenzerkrankungen ist
die Alzheimer-Krankheit die häufigste Form. Alleine in der Schweiz gibt
es ca. 100 000 Demenzkranke. Mehr
als 50 % dieser dementen Menschen
leiden an der Alzheimer-Krankheit.
Entgegen einer häufigen Annahme
ist die Alzheimer-Demenz keine Alterskrankheit. Die Erkrankung des
Gehirns beginnt schon Jahrzehnte
bevor erste Symptome auftreten. Sie
entwickelt sich aber langsam und
wird dadurch häufig erst – wie beim
Tierarzt im Film – im Alter bemerkbar.
Zu den ersten Symptomen zählen
Gedächtnis- und Orientierungsprobleme sowie Wortfindungsstörungen. Es folgen Persönlichkeitsveränderungen und die Beeinträchtigung
kognitiver Funktionen. Dies kann
so weit führen, dass schliesslich
selbst Partner oder die eigenen Kinder nicht mehr erkannt werden. Im
Film führt dies zu einem traurigen
gesund Höhepunkt, als der Grossvater eines
Tages seine geliebte Enkelin nicht
mehr erkennt. Dies liegt daran, dass
das Gedächtnis zunehmend zerstört
wird. Zunächst leidet das Arbeitsgedächtnis sowie das episodische Gedächtnis (unser persönliches Ereigniswissen), danach das semantische
Gedächtnis (Faktenwissen). Oft am
längsten erhalten bleibt gut eingespeichertes Wissen aus frühen Lebensphasen sowie das prozedurale Gedächtnis (Bewegungsabläufe,
Fertigkeiten).
Im Verlauf der Krankheit schrumpft
das Hirnvolumen beachtlich um bis
zu 20 %. Besonders betroffen sind
Alzheimer-­‐Krankheit die Hippocampi (wichtig für das Einspeichern von Informationen) und
das Frontalhirn (wichtig für interpretierendes und organisierendes
Abrufen bzw. Einspeichern von Informationen).
Stadtspital Waid Zürich, Institut für Radiologie und Nuklearmedizin
Lernen wird immer schwieriger und bereits Erlerntes kommt zunehmend abhanden: Menschen, die an der Alzheimer-Krankheit leiden, verlieren im Lauf der Krankheit einen beträchtlichen Teil ihres Gehirnvolumens. AlzheimerDemenz ist aber keine Alterskrankheit. Von Dr. Claudia Rütsche und Dr. Daniel Schaub
rungen) zwischen den Nervenzellen
und verklumpte Faserknäuel innerhalb von Nervenzellen. Diese entstehen aufgrund eines geänderten Stoffwechsels und werden nicht mehr
abgebaut. Die Signalübertragung
zwischen den Nervenzellen wird zunächst erschwert und schliesslich
werden die Nervenzellen selbst zerstört. Bis heute ist eine Heilung nicht
möglich. Medikamente und Therapien können den Krankheitsverlauf
aber günstig beeinflussen. Sie helfen,
bestehende Fähigkeiten länger zu erhalten und somit die Lebensqualität
für die Betroffenen und ihre Angehörigen zu verbessern.
Stadtspital Waid Zürich, Ins<tut für Radiologie und Nuklearmedizin Eine ärztliche Diagnose der Alzheimer-Erkrankung wird gestellt bei
Gedächtnisstörungen sowie Funktionsstörungen in mindestens einem
weiteren intellektuellen Bereich, sofern diese über den normalen altersbedingten Abbau hinausgehen
und zu Einschränkungen im Alltag führen. Die Ursachen sind nach
wie vor ungeklärt. Im Gehirn zeigen sich Plaques (Eiweiss-Ablage-
Dr. Claudia Rütsche ist Direktorin und
Dr. Daniel Schaub ist Leiter Vermittlung
am KULTURAMA Museum des Menschen
in Zürich.
AUSSTELLUNG «WIE WIR LERNEN»
Die interaktive Dauerausstellung «Wie
wir lernen» im KULTURAMA geht der
Frage nach, wie Lernen «funktioniert».
Sie ist für Gruppen mit Führung nach
Vereinbarung geöffnet und für individuelle Besuche jeden Sonntag von
13 – 17 Uhr. Regelmässig finden auch
öffentliche Führungen statt.
Mehr Infos: www.kulturama.ch
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Tages-Anzeiger | 16. November 2015
29
SERIE «WIE WIR LERNEN», TEIL 7
Wer lernt, wandert im Gehirn
Der Leitspruch vom lebenslangen Lernen ist im Zusammenhang mit Aus- und Weiterbildungen allgegenwärtig.
Lebenslanges Lernen ist aber mehr als ein Slogan: Unser Gehirn kann gar nicht anders, als laufend zu lernen.
Sofern keine demenzielle Erkrankung vorliegt, lernen Menschen bis ans Lebensende. Von Dr. Claudia Rütsche
In der Ausstellung «Wie wir lernen» im Kulturama Museum des
Menschen werden die Besucherinnen und Besucher aufgefordert, an
einer Pinnwand anonym Aussagen darüber zu hinterlassen, was
Lernen für sie persönlich bedeutet.
Die Zahl und Art dieser Aussagen
zeigt, wie sehr das Thema Lernen
Menschen bewegt. Lernen wird beschrieben als «manchmal anstrengend», «mit viel Arbeit verbunden»
oder «schwierig». Oft wird das Lernen als «Entdecken» bezeichnet
und es wird häufig darauf hingewiesen, dass Lernen auch «Spass
und Freude» bedeutet. Lernen wird
gleichgesetzt mit Begriffen wie Weiterentwicklung, Veränderung, Begegnung, Horizonterweiterung. Jemand schrieb schlicht: «Lernen =
Leben».
Die von Besuchern genannte «Freude am Leben», die aus dem Lernen
resultiert, wird auch von Wissenschaftlern gestützt. Der Psychiater und Hirnforscher Prof. Manfred
Spitzer schrieb dazu: «Lernen hängt
unmittelbar mit positiven Emotionen zusammen, wir sind nur glücklich, weil wir lernende Wesen sind.
Unser Glückszentrum ist eigentlich
ein Lernzentrum. Glück und Lernen
hängen eng zusammen.»
«Was Hänschen nicht lernt,
kann Hans noch lange lernen.»
Dieses Glückserleben durch Lernen ist ein Leben lang möglich, sofern keine Erkrankung des Gehirns
vorhanden ist. Das bekannte Sprichwort «Was Hänschen nicht lernt,
lernt Hans nimmermehr», gibt es
in ähnlicher Form in verschiedenen Sprachen. «You can’t teach an
old dog new tricks» heisst es in England oder in Frankreich «Qui jeune
n’apprend, vieux ne saura». Erfreulicherweise sind sie alle inhaltlich
falsch. Im Alter erfolgt das Lernen
langsamer und eine «normale Vergesslichkeit» ist auf altersbedingt
veränderte Hirnfunktionen zurück-
zuführen. Die Informationsverarbeitung braucht mit zunehmendem
Alter mehr Zeit und die Konzentrationsfähigkeit verringert sich. Wenn
man aber die altersbedingten Veränderungen miteinbezieht und die
Vorteile des Alters nutzt, lässt sich
weiterhin gut Neues lernen: Ältere
Menschen sollten sich beim Lernen
mehr Zeit gönnen, einen Lernort frei
von Störungen und Ablenkungen suchen und an ihr reiches Vorwissen
anknüpfen.
erinnern: «Du hast nie zu viel gelernt!» Jemand hinterliess in der
Ausstellung folgenden Satz: «Wer
lernt, wandert im Gehirn.» Dies ist
ein mehrdeutig schönes Bild. Man
kann sich darin das Lernen als aktives Wandern zwischen einzelnen
Gedächtnisinhalten vorstellen. Es
lässt sich aber auch so lesen, dass
jemand, der vielleicht altersbedingt
in seinem Bewegungsradius eingeschränkt ist, weiterhin im Kopf auf
Wanderschaft gehen kann, indem
er Neues lernt. Mahatma Gandhi
brachte das lebenslange Lernen mit
folgenden Worten auf den Punkt:
«Live as if you were to die tomorrow.
Learn as if you were to live forever.»
Dr. Claudia Rütsche ist Direktorin am
KULTURAMA Museum des Menschen in
Zürich.
AUSSTELLUNG «WIE WIR LERNEN»
Die interaktive Dauerausstellung «Wie
wir lernen» im KULTURAMA geht der
Frage nach, wie Lernen «funktioniert».
Sie ist für Gruppen mit Führung nach
Vereinbarung geöffnet und für individuelle Besuche jeden Sonntag von
13 – 17 Uhr. Regelmässig finden auch
öffentliche Führungen statt.
Besucher beschrieben das Lernen
als «das Wichtigste im Leben» und
Mehr Infos: www.kulturama.ch
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