| Tages-Anzeiger | 26. Januar 2015 29 SERIE «WIE WIR LERNEN», TEIL 1 Was Sie im Leben schon gelernt haben Den Pinzettengriff anwenden, grammatikalische Fehler erkennen, die Wirkung des eigenen Verhaltens auf andere realisieren oder über eigene Gedanken nachdenken: Ein Mensch absolviert in seinen ersten 20 Lebensjahren essenzielle Entwicklungsschritte in Motorik, Sprache, Sozialem und Kognition. Von Dr. Claudia Rütsche ? In welchem Alter verfügt ein Mensch erstmals über folgende Fähigkeiten: A. Pinzettengriff (mit Daumen und Zeigefinger greifen) B. Enorme Wortschatzerweiterung für Objekte und Objektmerkmale (Benennungsexplosion) C. Engere Freundschaften aufbauen (Vertrauen, Versprechen, Verpflichtungen) D. Beschreiben und bewerten in Gegensatzpaaren (klug–dumm, gerecht–ungerecht, teuer–billig usw.) A: 9.-12. Monat / B: 3.-5. Lebensjahr / C: 10.-13. Lebensjahr / D: 6.-10. Lebensjahr Beim Gedanken an lernen kommen rasch Begriffe wie «büffeln» oder «pauken» in den Sinn. Doch lange bevor wir uns bewusst hinsetzen und konzentriert Wörter oder Fakten lernen, also pauken, haben wir als Kinder eine Vielzahl von Fähigkeiten «wie von selbst» erlernt, die uns dieses Lernen im engeren Sinn überhaupt erst ermöglichen. Wir ahmen nach und probieren aus, wir erleben die Reaktionen anderer Menschen auf unsere Aktionen, interpretieren diese und absolvieren so eine Reihe von Entwicklungsschritten in Motorik, Sprache, in der sozialen Entwicklung und im Denken und Erkennen. In der Jugend geht diese Entwicklung weiter, dann speziell im sozialen und kognitiven Bereich. Das Fas- zinierendste daran: Auch wenn es individuelle Unterschiede in der Geschwindigkeit geben kann, Menschen tätigen diese Schritte übereinstimmend in einer bestimmten Reihenfolge. So erfolgt zum Beispiel die Entwicklung des Laufens in zeitlich geordneten Sequenzen vom Sitzen ohne Stütze (im Alter von 5 Monaten) zum Sich-Hochziehen zum Stehen (mit 7,5 Monaten) über das Krabbeln und Kriechen (mit 8 Monaten) zum Gehen mit Festhalten (mit 9 Monaten) und schliesslich zum Gehen ohne Hilfe (durchschnittlich mit 12 Monaten). Bei der sprachlichen Entwicklung sind die einzelnen Schritte ebenfalls deutlich unterscheid- und erkennbar. Während mit 4 bis 8 Monaten fröhlich gelallt wird als Übung verschiedener Lautkombinationen, werden mit 9 bis 12 Monaten die ersten Einzelwörter gesprochen (Mama, Papa), die dann zu ersten Zweiwortsätzen im 2. Lebensjahr führen (Mama da) und zu Sätzen mit Verben in der Grundform (Apfel essen). Bezüglich Kognition ist es Kindern im Alter von 4 bis 8 Monaten möglich, einfache Handlungen vorauszusagen. Lässt man zum Beispiel eine Murmel eine Bahn herunterkullern und sie dazwischen in einem Tunnel verschwinden, so weiss das Kind, wann und wo sie herauskommt. Verzögert man den Lauf oder lässt das Objekt verschwinden, ist es irritiert. Auch die soziale Entwicklung erfolgt in solch zeitlich geordneten Sequenzen. Im 2. bis 3. Monat tritt das erste soziale Lächeln auf, im 1. Lebensjahr entwickelt sich das Kind dann zum aktiven Kommunikationspartner und zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr wird die soziale Realität im Spiel abgebildet und eine Vorstellungswelt aufgebaut, in der man soziale Kompetenzen übt. Empfinden Sie es als selbstverständlich, Ihre eigene Perspektive als subjektiv einzuschätzen? Schön! Das mussten Sie aber irgendwo zwischen dem 6. und dem 10. Lebensjahr erst mal lernen – unter Umständen etwas schmerzlich durch die entsprechende Reaktion eines Gegenübers. Und wenn Sie jetzt darüber nachdenken, worin Sie sich in Ihrem Leben noch alles aus- und weiterbilden möchten, so war diese Fähigkeit nicht immer da, sondern Sie verdanken das Gedankenspiel der Tatsache, dass Sie im Alter zwischen 10 und 13 Jahren das Denken in Möglichkeiten erlernt haben. Dr. Claudia Rütsche ist Direktorin des KULTURAMA Museum des Menschen. WIE WIR LERNEN Neue und interaktive Dauerausstellung im KULTURAMA Museum des Menschen in Zürich. Sie geht der Frage nach, wie Lernen genau «funktioniert». Öffnungszeiten: Für Gruppen mit Führung jederzeit nach Vereinbarung. Individuelle Besuche sind an bestimmten Sonntagen von 13 bis 17 Uhr möglich. Regelmässig finden öffentliche Führungen statt. Die genauen Daten finden Sie auf: www.kulturama.ch | Tages-Anzeiger | 23. Mär z 2015 33 SERIE «WIE WIR LERNEN», TEIL 2 Billionen von Verknüpfungen im Gehirn Bild: Dr. Uwe Konietzko, Division of Psychiatry Research, Universität Zürich Eine Nervenzelle alleine ist weder intelligent, noch kann sie lernen. In unserem Gehirn bilden die Nervenzellen ein Team, ein hochkomplexes neuronales Netzwerk. Es erlaubt uns, Informationen dauerhaft zu speichern, die wichtig sind oder immer wieder gebraucht werden. Von Dr. Claudia Rütsche Nervenzellen-Netzwerk aus dem Gehirn einer Maus (Lichtmikroskop-Präparat). grün = Dendriten, blau = Axone, rot = Synapsen Nervenzellen sind darauf spezialisiert, Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und weiterzuleiten. Dennoch kann eine Nervenzelle allein nicht lernen. 100 Milliarden Nervenzellen bilden ein hochkomplexes Netzwerk, welches sich laufend verändert. Beim Lernen werden – über das ganze Gehirn verteilt – dicke Spuren angelegt. Dieses Netzwerk spiegelt die Lernerfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens machen. Bei der Geburt hat ein menschliches Baby schon fast gleich viele Nervenzellen im Gehirn wie ein er- wachsener Mensch. Trotzdem ist das Gehirn noch viel kleiner. Das Gehirn wächst in den kommenden Jahren vor allem durch die Bildung von Nervenzellfasern und neuen Verknüpfungsstellen zwischen den Nervenzellen (Synapsen). Dies entspricht dem Einspeichern von neuen Gedächtnisinhalten, wir lernen also sehr viel in unseren ersten Lebensjahren. Mit der Zeit ist das Gehirn ausgewachsen. Es vergrössert sich nicht mehr, weil einerseits keine neuen Nervenzellen mehr gebildet werden und sich andererseits Bildung und Abbau von Synapsen die Waage halten. Im höheren Al- ter lässt die Fähigkeit des Gehirns nach, neue Synapsen zwischen den Nervenzellen aufzubauen. Lernen fällt dann nicht mehr so leicht wie in jüngeren Jahren, bleibt aber dennoch ein Leben lang möglich. Nervenzellen-Netzwerk verändert sich laufend Jede einzelne Nervenzelle ist mit vielen tausend anderen verknüpft und kann diesen Informationen in Form von Nervenimpulsen weitergeben oder Informationen erhalten. Wäre dieses Netzwerk fest verknüpft, könnten wir unser Gehirn mit einem Computer vergleichen. Wir hätten einen Grundstock an Erinnerungen, ein Basisgedächtnis. Speziell an unserem NervenzellenNetzwerk ist aber, dass sich dieses im Gegensatz zu einem Computer laufend verändern kann. Jede neue Information muss einen sinnvollen Platz im bereits vorhandenen Wissen einnehmen und sich entsprechend damit vernetzen. sich ständig an neue Situationen an: Wir lernen – und zwar immer! Während Bewegungen im Kleinhirn gelernt werden, ist die Grosshirnrinde für unser Bewusstsein und unsere tollen Ideen zuständig. Das Gehirn speichert jene Informationen dauerhaft, die sehr wichtig sind oder immer wieder gebraucht werden. Deshalb müssen wir Sachen, die wir uns merken wollen, immer wieder üben. Veränderungen im Nervenzellennetzwerk können schon relativ rasch passieren. So haben Studien gezeigt, dass durch das Spielen eines Musikinstrumentes bereits nach wenigen Wochen stabile Nervenzellen-Verknüpfungen entstehen, welche die Hör- und Bewegungszentren im Gehirn miteinander verbinden. Dr. Claudia Rütsche ist Direktorin des KULTURAMA Museum des Menschen. Die interaktive Dauerausstellung «Wie wir lernen» geht der Frage nach, wie Lernen Bei jedem Impuls, der das Neuron erreicht, verändern sich die Synapsen, die Kontaktstellen des Neurons. Sie können neu gebildet, abgebaut, verstärkt oder abgeschwächt werden. Das Gehirn passt «funktioniert». Sie ist für Gruppen mit Führung nach Vereinbarung geöffnet und für individuelle Besuche an bestimmten Sonntagen von 13-17 Uhr. Regelmässig finden auch öffentliche Führungen statt. Mehr Infos: www.kulturama.ch | Tages-Anzeiger | 11. Mai 2015 29 SERIE «WIE WIR LERNEN», TEIL 3 Vom Trampelpfad zur Datenautobahn Beim Lernen werden über das ganze Gehirn verteilt dicke Spuren angelegt. Für jeden Gedächtnisinhalt entsteht ein weit verteiltes neuronales Muster. Das Gehirn gleicht neue Eindrücke jeweils mit diesen bereits bestehenden Mustern ab. Von Dr. Claudia Rütsche und Isabelle Stöckli Illustration: Rupert Sheldrake darin erkennen. Natürlich funktioniert dies nur, wenn der Betrachter bereits weiss, wie ein tanzendes Paar aussieht. Was sehen Sie auf den ersten Blick? Und auf den zweiten? Schauen Sie sich das Bild ganz genau an. Sehen Sie darin «nur» eine Ansammlung von Flecken? Dann ergeht es Ihnen gleich wie den meisten anderen Menschen beim Betrachten dieses Bildes. Wenn sie das Bild zum ersten Mal sehen, erkennen sie zunächst nur schwarze und weisse Flecken. Das Gehirn ist in den Bereichen aktiv, die für Flecken und Kanten zuständig sind. Es sei hier verraten, dass man auch ein tanzendes Paar wahrnehmen kann. Der Doppelfleck oben in der Mitte sind die Haarschöpfe der beiden, die grosse weisse Fläche in der Mitte stellt das wallende Kleid der Dame dar. Das Bild ist jetzt plötzlich lesbar: Sie erkennen das tanzende Paar problemlos. In Bruchteilen von Sekunden wird bei neuerlicher Betrachtung das Muster, welches für die Erfahrung «Anblick eines tanzenden Paars» zuständig ist, mitaktiviert. Die Feinstruktur des Gehirns hat sich nachhaltig verändert. Die Erfahrung, dass eben dieses Bild ein tanzendes Paar darstellt, prägt die Deutung der Flecken und Striche für immer. Selbst wenn Sie das Fleckenbild in zwei oder drei Jahren wieder sehen, werden Sie mit grosser Wahrscheinlichkeit ein tanzendes Paar Das Bildbeispiel zeigt, wie wichtig unsere Erfahrung für das erfolgreiche Lernen und somit das Gelingen von Fähigkeiten ist. Ein Erlebnis oder Gelerntes wird in Neuronengruppen, welche synchron Nervenimpulse abfeuern, verankert. Für jeden Gedächtnisinhalt entsteht ein weit verteiltes neuronales Muster. Dieses Muster ist wandelbar. Das Gehirn gleicht dieses jeweils mit den neu zu verarbeitenden Eindrücken ab. Beim Lernen werden Neuronen durch Wiederholung aufeinander sensibilisiert, damit sie gemeinsam feuern. Dabei verstärken sich häufig gebrauchte Verknüpfungsstellen zwischen den Nervenzellen (Synapsen) oder bilden sich neu, während weniger genutzte verkümmern (synaptische Plastizität). Häufig gebrauchte Verbindungen werden so ausgebaut, wenig benutzte reduziert: Das Muster ändert sich. aber auch ein einzelnes Tier, immer wieder durch denselben Pfad, wird dieser stärker ausgetreten. Wird dieser Pfad nicht mehr benützt, überwächst er wieder. Auf das Gehirn übertragen lässt sich sagen, dass wir über eine breite Palette von Spuren verfügen, vom Trampelpfad bis zur Datenautobahn, je nach Häufigkeit und Intensität der Nutzung. Dies erklärt auch, warum einmal Gelerntes beim zweiten Mal leichter im Gedächtnis bleibt: Die Spur ist schon vorgegeben. Gelerntes kann aber auch wieder vergessen werden, wenn es eben nicht oft genug genutzt wird. Dr. Claudia Rütsche ist Direktorin, Isabelle Stöckli ist Museumspädagogin am KULTURAMA Museum des Menschen. AUSSTELLUNG «WIE WIR LERNEN» Die interaktive Dauerausstellung «Wie wir lernen» im KULTURAMA geht der Frage nach, wie Lernen «funktioniert». Sie ist für Gruppen mit Führung nach Vereinbarung geöffnet und für individuelle Besuche jeden Sonntag von 13- Begeben wir uns in den Urwald: Ein kleines Tier im Urwald hinterlässt kleine Spuren, eine Tierherde eine breite Spur. Stampft die Tierherde, 17 Uhr. Regelmässig finden auch öffentliche Führungen statt. Mehr Infos: www.kulturama.ch | Tages-Anzeiger | 22. Juni 2015 29 SERIE «WIE WIR LERNEN», TEIL 4 Die persönliche Mediathek im Kopf Lernen ohne Gedächtnis? Undenkbar! Das Gedächtnis ist gleichzeitig Grundlage und Resultat des Lernens. Beim Lernen wird permanent auf das Gedächtnis zurückgegriffen. Das kann manchmal auf Irrwege führen, doch meist erleichtert und beschleunigt es die Denkvorgänge. Von Dr. Claudia Rütsche Was sehen Sie hier? Die im blauen Kasten abgebildeten drei Buchstaben wurden in der Ausstellung «Wie wir lernen» im Kulturama insgesamt mehreren Tausend Besucherinnen und Besuchern gezeigt mit der Frage, was sie sehen. Eine grosse Zahl der Personen las darin sofort das Wort «Hand», die anderen erkannten das Wort «Hund». Kaum jemand las darin nichts, das heisst ergänzte die drei Buchstaben mit Lücke dazwischen nicht automatisch zu einem sinnvollen Wort. Dieser Vorgang scheint für unser Gedächtnis sehr typisch zu sein. Die Sinnesorgane, hier die Augen, liefern in das Sensorische Gedächtnis dort nur äusserst kurz verbleibende Informationen. Ein Teil davon wird dann im Arbeitsgedächtnis verarbeitet. Das Arbeitsgedächtnis – unsere psychologische Gegenwart sozusagen – gleicht permanent ab mit dem Langzeitgedächtnis, unserem Schatz an bisher getätigten Erfahrungen und Erkenntnissen. So werden ständig Verknüpfungen und sinnvolle Ergänzungen gesucht, auch da, wo eigentlich (wie in diesem Beispiel) gar keine gefragt waren. Das Langzeitgedächtnis ist vergleichbar mit einer ganz persönlichen, höchst individuellen Mediathek, in der Bilder, Gerüche, Fakten, Episoden, Prozesse, Emotionen, Wörter etc. gespeichert sind und die mit jeder neuen Erfahrung laufend erweitert wird. Bei Weitem nicht alles findet Eingang in diese Mediathek. Es sind vorwiegend Dinge, die besonders beeindrucken, oft wiederholt oder gebraucht werden. Das Tor zur Ablage im Langzeitgedächtnis liegt im Gehirn im Innern des Limbischen Systems, in einer als Hippocampus bezeichneten Struktur. Herausgefunden hat man das unter anderem durch Studien an einem als «Mann ohne Gedächtnis» in die Literatur eingegangenen Patienten namens Henry Molaison, dem Mitte des letzten Jahrhunderts im Alter von 27 Jahren Teile der Hippocampi operativ entfernt wurden und der sich danach an die früheren Ereignisse in seinem Leben weiterhin erinnern, aber kaum mehr neue Gedächtnisinhalte bilden konnte. Die aktuelle Bearbeitung von Eindrücken erfolgt wie erwähnt im Arbeitsgedächtnis. Dieses hat eine beschränkte Kapazität. Der Psychologe George A. Miller hat in den 1950er Jahren die «Magische Nummer Sieben» beschrieben: So viele Zahlen oder Wörter kann ein Erwachsener durchschnittlich im Arbeitsgedächtnis speichern. Abweichungen um plus oder minus zwei Einheiten kommen vor. Damit wir mehr als diese rund sieben Informationseinheiten im Arbeitsgedächtnis behalten können, wird oft die Technik der «Klumpenbildung» (Chunking) benutzt. So wird aus der Zahlenfolge 0-4-4-2-6-06-0-4-4 die besser zu merkende Telefonnummer 044 260 60 44. Der permanente Abgleich zwischen Arbeits- und Langzeitgedächtnis kann in Einzelfällen zu falschen Verknüpfungen und damit zu Irrtümern führen. In der grossen Mehrheit der Fälle aber erleichtert und beschleunigt er die Denkvorgänge und erlaubt es, stets Neues dazuzulernen und die persönliche Mediathek im Kopf zu erweitern. Dr. Claudia Rütsche ist Direktorin am KULTURAMA Museum des Menschen in Zürich. AUSSTELLUNG «WIE WIR LERNEN» Die interaktive Dauerausstellung «Wie wir lernen» im KULTURAMA geht der Frage nach, wie Lernen «funktioniert». Sie ist für Gruppen mit Führung nach Vereinbarung geöffnet und für individuelle Besuche jeden Sonntag von 13 - 17 Uhr. Regelmässig finden auch öffentliche Führungen statt. Mehr Infos: www.kulturama.ch Foto: KULTURAMA, Josef Stücker | Tages-Anzeiger | 24. August 2015 25 SERIE «WIE WIR LERNEN», TEIL 5 Mit Strategien zum Lernerfolg Eine grosse Menge an Lernstoff vor sich zu haben, kann sich anfühlen, wie vor einem Berg zu stehen, von dem man nicht weiss, wie man ihn bewältigen soll. Hier hilft das Nachdenken über geeignete Strategien, damit aus einer Erstarrung ein gezieltes und selbstbestimmtes Herangehen wird. Von Dr. Claudia Rütsche Menschen lernen ständig und überall. Dies geschieht bewusst und unbewusst, absichtlich oder zufällig, durch Vorbilder, aus Fehlern und durch Übung. Manchmal gilt es, gezielt eine grosse Menge an Stoff zu bewältigen, sei es für eine Prüfung oder im Beruf. Dabei kann alleine die Menge verbunden mit der Frage, wie man sich das bloss alles merken soll, lähmend wirken. Hier bietet die Lernpsychologie eine Reihe von erprobten Strategien an, die sich zielführend und nach eigenen Vorlieben anwenden lassen. Oft sieht man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr, deshalb lautet eine ganz wichtige Strategie: Zusammenhänge erkennen. Sich selbst bewusst zu fragen: Wie sind die Dinge miteinander verknüpft? Es hilft, den Lernstoff in einfachen Sätzen zusammenzufassen, da sich einfache Sätze viel leichter lernen lassen. Überhaupt gilt das Schreiben von Zusammenfassungen als Königsweg unter den Lernstrategien. Dabei ist es weniger wichtig, letztlich eine Zusammenfassung zu besitzen, als diese selber geschrieben zu haben. Beim Schreiben der Zusammenfassung überlegt man sich automatisch, was wirklich Mindmaps helfen, Texte und Zusammenhänge auf einem Blatt zusammenzufassen. Meine Lernstrategie: Thomas, 44 wichtig ist und durch das eigene Schreiben steigt die Wahrscheinlichkeit auf Verankerung im Gedächtnis. Lerntempo dosieren Es helfen auch strukturierende Massnahmen, wie z. B. den Lernstoff in Kategorien oder Hierarchien zu ordnen. So fällt es leichter, sich zu erinnern. Gemeinsamkeiten mit bereits bekanntem Wissen zu bemerken, erleichtert das Lernen, da die Verknüpfung mit vorhandenem Wissen hilft, das neue Wissen abzuspeichern. Nicht zu unterschätzen ist die persönliche Motivation. Wenn man mit Interesse an den Stoff herangeht, steigert dies in grossem Mass die Wahrscheinlichkeit, Dinge rasch zu lernen und zu behalten. Positive Gefühle wie Lernlust, Hoffnung (auf eine gute Note) oder Stolz (über die Vorstellung einer erfolgreich abgelegten Prüfung) wirken sich sehr günstig auf die Motivation aus. Um nicht Zeit mit Unnötigem zu verlieren, sollte das Lernziel möglichst genau definiert werden. Dazu gehört auch die richtige Dosierung des Lerntempos. Bei zu hohem Tempo wird der Lernstoff ungenügend verankert. Bei zu langsamem Tempo hingegen setzen Monotonie und Langeweile ein. festigen, liegt darin, jemandem den Lernstoff zu erzählen. Dabei ist weniger das Gegenüber wichtig (es könnte auch ein Haustier oder ein Gegenstand sein), sondern die Tatsache, dass man das Gelernte selber in Worte zu fassen und zu erklären versucht. Dabei kann man sein Wissen und Können sehr gut kontrollieren, da beim Erzählen rasch klar wird, wo noch Lücken oder Unsicherheiten bestehen. Schliesslich gilt es, auch aus Fehlern zu lernen. Fehler sind Annäherungsversuche an das Lernziel. Sie sind damit Teil der Lernbemühungen und gehören zum Lernen einfach dazu. Dr. Claudia Rütsche ist Direktorin am KULTURAMA Museum des Menschen in Zürich. AUSSTELLUNG «WIE WIR LERNEN» Die interaktive Dauerausstellung «Wie wir lernen» im KULTURAMA geht der Frage nach, wie Lernen «funktioniert». Sie ist für Gruppen mit Führung nach Vereinbarung geöffnet und für individuelle Besuche jeden Sonntag von 13 – 17 Uhr. Regelmässig finden auch öffentliche Führungen statt. Eine hervorragende Methode, um Gelerntes zu überprüfen und zu Mehr Infos: www.kulturama.ch | Tages-Anzeiger | 5. Oktober 2015 29 SERIE «WIE WIR LERNEN», TEIL 6 Wie Honig im Kopf Im Film «Honig im Kopf» von Til Schweiger aus dem Jahre 2014 wird ein zunehmend an Alzheimer leidender Tierarzt dargestellt (hervorragend verkörpert durch Dieter Hallervorden). Auf die Frage seiner Enkelin, wie es sich anfühlt, meint der Tierarzt, es sei «wie Honig im Kopf». Unter den verschiedenen Formen von Demenzerkrankungen ist die Alzheimer-Krankheit die häufigste Form. Alleine in der Schweiz gibt es ca. 100 000 Demenzkranke. Mehr als 50 % dieser dementen Menschen leiden an der Alzheimer-Krankheit. Entgegen einer häufigen Annahme ist die Alzheimer-Demenz keine Alterskrankheit. Die Erkrankung des Gehirns beginnt schon Jahrzehnte bevor erste Symptome auftreten. Sie entwickelt sich aber langsam und wird dadurch häufig erst – wie beim Tierarzt im Film – im Alter bemerkbar. Zu den ersten Symptomen zählen Gedächtnis- und Orientierungsprobleme sowie Wortfindungsstörungen. Es folgen Persönlichkeitsveränderungen und die Beeinträchtigung kognitiver Funktionen. Dies kann so weit führen, dass schliesslich selbst Partner oder die eigenen Kinder nicht mehr erkannt werden. Im Film führt dies zu einem traurigen gesund Höhepunkt, als der Grossvater eines Tages seine geliebte Enkelin nicht mehr erkennt. Dies liegt daran, dass das Gedächtnis zunehmend zerstört wird. Zunächst leidet das Arbeitsgedächtnis sowie das episodische Gedächtnis (unser persönliches Ereigniswissen), danach das semantische Gedächtnis (Faktenwissen). Oft am längsten erhalten bleibt gut eingespeichertes Wissen aus frühen Lebensphasen sowie das prozedurale Gedächtnis (Bewegungsabläufe, Fertigkeiten). Im Verlauf der Krankheit schrumpft das Hirnvolumen beachtlich um bis zu 20 %. Besonders betroffen sind Alzheimer-­‐Krankheit die Hippocampi (wichtig für das Einspeichern von Informationen) und das Frontalhirn (wichtig für interpretierendes und organisierendes Abrufen bzw. Einspeichern von Informationen). Stadtspital Waid Zürich, Institut für Radiologie und Nuklearmedizin Lernen wird immer schwieriger und bereits Erlerntes kommt zunehmend abhanden: Menschen, die an der Alzheimer-Krankheit leiden, verlieren im Lauf der Krankheit einen beträchtlichen Teil ihres Gehirnvolumens. AlzheimerDemenz ist aber keine Alterskrankheit. Von Dr. Claudia Rütsche und Dr. Daniel Schaub rungen) zwischen den Nervenzellen und verklumpte Faserknäuel innerhalb von Nervenzellen. Diese entstehen aufgrund eines geänderten Stoffwechsels und werden nicht mehr abgebaut. Die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen wird zunächst erschwert und schliesslich werden die Nervenzellen selbst zerstört. Bis heute ist eine Heilung nicht möglich. Medikamente und Therapien können den Krankheitsverlauf aber günstig beeinflussen. Sie helfen, bestehende Fähigkeiten länger zu erhalten und somit die Lebensqualität für die Betroffenen und ihre Angehörigen zu verbessern. Stadtspital Waid Zürich, Ins<tut für Radiologie und Nuklearmedizin Eine ärztliche Diagnose der Alzheimer-Erkrankung wird gestellt bei Gedächtnisstörungen sowie Funktionsstörungen in mindestens einem weiteren intellektuellen Bereich, sofern diese über den normalen altersbedingten Abbau hinausgehen und zu Einschränkungen im Alltag führen. Die Ursachen sind nach wie vor ungeklärt. Im Gehirn zeigen sich Plaques (Eiweiss-Ablage- Dr. Claudia Rütsche ist Direktorin und Dr. Daniel Schaub ist Leiter Vermittlung am KULTURAMA Museum des Menschen in Zürich. AUSSTELLUNG «WIE WIR LERNEN» Die interaktive Dauerausstellung «Wie wir lernen» im KULTURAMA geht der Frage nach, wie Lernen «funktioniert». Sie ist für Gruppen mit Führung nach Vereinbarung geöffnet und für individuelle Besuche jeden Sonntag von 13 – 17 Uhr. Regelmässig finden auch öffentliche Führungen statt. Mehr Infos: www.kulturama.ch | Tages-Anzeiger | 16. November 2015 29 SERIE «WIE WIR LERNEN», TEIL 7 Wer lernt, wandert im Gehirn Der Leitspruch vom lebenslangen Lernen ist im Zusammenhang mit Aus- und Weiterbildungen allgegenwärtig. Lebenslanges Lernen ist aber mehr als ein Slogan: Unser Gehirn kann gar nicht anders, als laufend zu lernen. Sofern keine demenzielle Erkrankung vorliegt, lernen Menschen bis ans Lebensende. Von Dr. Claudia Rütsche In der Ausstellung «Wie wir lernen» im Kulturama Museum des Menschen werden die Besucherinnen und Besucher aufgefordert, an einer Pinnwand anonym Aussagen darüber zu hinterlassen, was Lernen für sie persönlich bedeutet. Die Zahl und Art dieser Aussagen zeigt, wie sehr das Thema Lernen Menschen bewegt. Lernen wird beschrieben als «manchmal anstrengend», «mit viel Arbeit verbunden» oder «schwierig». Oft wird das Lernen als «Entdecken» bezeichnet und es wird häufig darauf hingewiesen, dass Lernen auch «Spass und Freude» bedeutet. Lernen wird gleichgesetzt mit Begriffen wie Weiterentwicklung, Veränderung, Begegnung, Horizonterweiterung. Jemand schrieb schlicht: «Lernen = Leben». Die von Besuchern genannte «Freude am Leben», die aus dem Lernen resultiert, wird auch von Wissenschaftlern gestützt. Der Psychiater und Hirnforscher Prof. Manfred Spitzer schrieb dazu: «Lernen hängt unmittelbar mit positiven Emotionen zusammen, wir sind nur glücklich, weil wir lernende Wesen sind. Unser Glückszentrum ist eigentlich ein Lernzentrum. Glück und Lernen hängen eng zusammen.» «Was Hänschen nicht lernt, kann Hans noch lange lernen.» Dieses Glückserleben durch Lernen ist ein Leben lang möglich, sofern keine Erkrankung des Gehirns vorhanden ist. Das bekannte Sprichwort «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr», gibt es in ähnlicher Form in verschiedenen Sprachen. «You can’t teach an old dog new tricks» heisst es in England oder in Frankreich «Qui jeune n’apprend, vieux ne saura». Erfreulicherweise sind sie alle inhaltlich falsch. Im Alter erfolgt das Lernen langsamer und eine «normale Vergesslichkeit» ist auf altersbedingt veränderte Hirnfunktionen zurück- zuführen. Die Informationsverarbeitung braucht mit zunehmendem Alter mehr Zeit und die Konzentrationsfähigkeit verringert sich. Wenn man aber die altersbedingten Veränderungen miteinbezieht und die Vorteile des Alters nutzt, lässt sich weiterhin gut Neues lernen: Ältere Menschen sollten sich beim Lernen mehr Zeit gönnen, einen Lernort frei von Störungen und Ablenkungen suchen und an ihr reiches Vorwissen anknüpfen. erinnern: «Du hast nie zu viel gelernt!» Jemand hinterliess in der Ausstellung folgenden Satz: «Wer lernt, wandert im Gehirn.» Dies ist ein mehrdeutig schönes Bild. Man kann sich darin das Lernen als aktives Wandern zwischen einzelnen Gedächtnisinhalten vorstellen. Es lässt sich aber auch so lesen, dass jemand, der vielleicht altersbedingt in seinem Bewegungsradius eingeschränkt ist, weiterhin im Kopf auf Wanderschaft gehen kann, indem er Neues lernt. Mahatma Gandhi brachte das lebenslange Lernen mit folgenden Worten auf den Punkt: «Live as if you were to die tomorrow. Learn as if you were to live forever.» Dr. Claudia Rütsche ist Direktorin am KULTURAMA Museum des Menschen in Zürich. AUSSTELLUNG «WIE WIR LERNEN» Die interaktive Dauerausstellung «Wie wir lernen» im KULTURAMA geht der Frage nach, wie Lernen «funktioniert». Sie ist für Gruppen mit Führung nach Vereinbarung geöffnet und für individuelle Besuche jeden Sonntag von 13 – 17 Uhr. Regelmässig finden auch öffentliche Führungen statt. Besucher beschrieben das Lernen als «das Wichtigste im Leben» und Mehr Infos: www.kulturama.ch