Die Rechtfertigung der FünfProzent-Sperrklausel bei der Wahl zum Deutschen Bundestag und ihre Verfassungswidrigkeit im Europawahlrecht DR. PETER BECKER Problemstellung: Der Zweite Senat des BVerfG hat mit Urteil vom 11. November 2011 die Fünf-Prozent Sperrklausel in § 2 Abs. 7 des deutschen Europawahlgesetz (Gesetz über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland) für nichtig erklärt. 2. Die entsprechende Regelung in § 6 Abs. 6 Bundeswahlgesetz (Wahl zum Bundestag) blieb vom BVerfG dagegen bisher unbeanstandet. Ist dies nicht ein Widerspruch? 1. Ausgangsüberlegung: Was ist eine „Fünf-Prozent- Sperrklausel“ und wie funktioniert sie? Welche historische Erfahrung hat zur Einführung der Fünf-ProzentSperrklausel im deutschen Wahlrecht geführt? Welche historische Erfahrung hat zur Einführung der FünfProzent-Sperrklausel im deutschen Wahlrecht geführt? Die Einführung der Fünf-Prozent-Hürde geht auf die Erfahrungen in der Weimarer Republik zurück. Das Fehlen einer Sperrklausel führte zu einer Zersplitterung der Sitzverteilung im Reichstags (bis zu 17 Parteien) Keine stabile Mehrheiten Regierungsbildung und Entscheidungsfindung wurde erschwert (extremen) Klein- und Kleinstparteien kam ein relativ hohes Gewicht bei Entscheidungen zu Was ist eine „Fünf-Prozent-Sperrklausel“ und wie funktioniert sie? § 6 Abs. (6) Bundeswahlgesetz: Bei Verteilung der Sitze auf die Landeslisten werden nur Parteien berücksichtigt, die mindestens 5 vom Hundert der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten oder in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen haben. Demnach muss eine Partei bundesweit mindestens fünf Prozent der Stimmen erhalten, um in den Bundestag einzuziehen. Die Wählerstimmen, die auf Parteien mit einem geringerm Stimmenanteil entfallen, bleiben damit unberücksichtigt. Die Grenzen der Sperrklausel Ist die Einführung einer Sperrklausel im deutschen Wahlrecht damit ohne weiteres gerechtfertigt? Frage: Kann der einfache Gesetzgeber durch Bundes- bzw. Europawahlrecht anordnen, dass die Stimmen von Wählern unter den Tisch fallen oder Parteien nicht ins Parlament einziehen nur weil sie eine bestimmes Quorum nicht erreicht haben? Ist eine schwierige Entscheidungsfindung nicht vielmehr „Demokratie-immanent“? Sperrklausel als Einschränkung von Grundrechten und grundsrechtsähnlichen Rechten 1. Wer ist von den Beschränkungen betroffen? 2. Prüfungsschema: Schutzbereich Eingriff/Einschränkungen Rechtfertigung Frage 1: Wer ist Betroffener und welche Rechte sind von der Sperrklausel betroffen? Der Wähler als Betroffener Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit Verfassungsrechtliche Grundlage: Art. 3 Abs. 1 GG , Gebot der formalen Wahlgleichheit Dient der Sicherung der vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Bürger und ist eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung. -> Geschützt werden die Wahlberechtigten. Schutzbereich Wahlrechtsgleichheit (aktives Wahlrecht) Zählwert der Stimme Erfolgswert der Stimme BVerfG: Jeder Wähler muss mit seiner Stimme auch den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Vertretung haben. Einschränkung Die Fünf-Prozent-Sperrklausel bewirkt Ungleichgewichtung hinsichtlich des Erfolgswert: Wählerstimmen für Parteien mit mindestens 5 % haben unmittelbaren Einfluss auf die Sitzverteilung Wählerstimmen für Parteien die an der Sperrklausel gescheitert sind ohne Erfolg. Parteien als Betroffene Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien Verfassungsrechtliche Grundlage Art. 21 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 GG Verlangt demokratisch gleiche Wettbewerbschancen. Jeder Partei, jeder Wählergruppe und ihren Wahlbewerbern sind grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze einzuräumen. -> Geschützt werden politische Parteien/ Wahlbewerber Einschränkung Die Fünf-Prozent-Sperrklausel beeinträchtigt den Anspruch der politischen Parteien auf Chancengleichheit beeinträchtigt. Beispiel: Bei der Europawahl 2009 in Deutschland blieben sieben Parteien und sonstige politische Vereinigungen unberücksichtigt, die ohne die FünfProzent-Sperrklausel bei der Sitzverteilung mindestens in Mandat errungen hätte. Rechtfertigung BVerfG: Enger Zusammenhang zwischen Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien Verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Einschränkungen folgt den gleichen Maßstäben. Prüfungsmaßstab: Differenzierende Regelungen bedürfen eines besonderen, sachlich legitimierten, „zwingenden“ Grundes Sie müssen zur Verfolgung des Zwecks geeignet und erforderlich sein. Enger Spielraum (Parlament wird in „eigener Sache „tätig) Frage: Was ist der Zweck der Fünf-Prozent Sperrklausel? Funktionsfähigkeit der Volksvertretung Als anerkannter Zweck kommt in Betracht: Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes (~ Transmissionsriemen) Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung BVerfG: Eine Wahl hat nicht nur das Ziel, überhaupt eine Volksvertretung zu schaffen, sondern sie soll auch ein funktionierendes Vertretungsorgan hervorbringen. Wertungsmaßstäbe BVerfG: Die Vereinbarkeit einer Sperrklausel mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl kann nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden. Der Gesetzgeber hat sich bei seiner Einschätzung und Bewertung nicht an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern an der politischen Wirklichkeit zu orientieren. „Politische Wirklichkeit“ Bundestag Europaparlament Stabile Mehrheiten für die Keine Unionsregierung die auf Wahl eine einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung Ohne Mehrheit Stillstand in der Gesetzgebung Bei probeweiser Abschaffung der 5 % Klausel Wiedereinführung schwierig. Unterstütung des Parlaments angewiesen ist Derzeit 160 Parteien, Intergrationswirkung der Fraktionen, Zwang zu Bündnissen, Funktionsfähigkeit durch zusätzliche kleine Parteien nicht gefährdet EU Rechtsakte auch ohne Zustimmung des EU Parlaments möglich Ergebnis Während Splitterparteien die Funktionsfähigkeit des Bundestags beiträchtigen können, ist ähnliches beim EU Parlament nicht zu befürchten. Ergebnis: Fünf-Prozent Sperrklausel ist bei der Wahl zum Deutschen Bundestag gerechtfertigt, bei der Wahl zum EU-Parlament dagegen nicht. … aber Minderheitenvotum Fünf-Prozent Sperrklausel ist keine Einschränkung, sondern Ausgestaltung des Wahlrechts. -> Bei einem nach dem GG ebenfalls zulässigen Mehrheitswahlsystem wären Stimmanteil ohne Erfolgswert viel höher.