Verfassungsmäßigkeit der 5 % - Klausel in Bayern

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20. November 2006
Bearbeitung:
Anne Springob, Praktikantin
Sabine Hibben
Landtag
Nordrhein-Westfalen
14. Wahlperiode
Information 14/320
alle Abg.
Verfassungsmäßigkeit der 5 % - Klausel in Bayern
Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom
18.07.2006
Aktenzeichen: Vf. 9-VII-04
I. Kernaussage des Verfassungsgerichtshofs
Die 5%-Klausel des Art. 14 IV BV verstößt nicht gegen höherrangige Normen der
Bayerischen Verfassung.
II. Sachverhalt
Art. 14 IV der Bayerischen Verfassung (BV) bestimmt, dass Wahlvorschläge, auf die
nicht mindestens 5 % der insgesamt abgegebenen gültigen Stimmen entfallen,
keinen Sitz im Landtag erhalten. Gegen diese Norm reichte ein Bürger eine
Popularklage ein, mit der die Verfassungswidrigkeit der Norm festgestellt werden
sollte.
Der Bürger führte zur Begründung aus, die 5%-Klausel verstoße gegen das
Demokratieprinzip und gegen das Grundrecht der Gleichheit vor dem Gesetz, Art.
118 I BV. Eine freie und gleiche Wahl sei nicht mehr gewährleistet, wenn aus Angst
vor der verlorenen Stimme eine andere Partei gewählt würde. Im Jahr 2003 seien
bei der bayerischen Landtagswahl 12 % der abgegebenen Stimmen auf Parteien
entfallen, die unter der 5 %- Hürde blieben. Die CSU habe dadurch, dass diese
Wähler bei der Sitzverteilung wie Nichtwähler behandelt wurden, eine
Zweidrittelmehrheit erreicht, obwohl sie nur von 34 % der Stimmberechtigten gewählt
worden sei. Die Sperrklausel sei insbesondere im Hinblick auf eine Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Betätigung kleiner Parteien und die
Entstehung neuer Parteien nicht durch das Recht der Parteienfinanzierung
unangemessen beeinträchtigt werden dürfe, nicht mehr aufrecht zu erhalten. Des
Weiteren habe die Abschaffung der Klausel auf kommunaler Ebene zu keiner Gefahr
für die Demokratie geführt. Die Angst vor einem Parteienchaos sei wegen der
Regelungen des Parteiengesetzes und verschiedener Wahlgesetze nicht zu
befürchten. Die heutige Situation sei mit der Weimarer Republik nicht vergleichbar.
Im Gegenteil erleide das demokratische System großen Schaden dadurch, dass
neue politische Ideen in der weitgehend festgefahrenen Parteienlandschaft kaum
noch Chancen hätten.
Die Bayerische Landesregierung und der Bayerische Landtag, die Antragsgegner,
hielten die Popularklage für unbegründet. Der Grundsatz der Wahlgleichheit aus Art.
14 I 1 BV sei nicht verletzt. Die 5%-Sperrklausel sei nicht überholt, da eine Demokra-
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tie auch heute noch stabile Mehrheiten brauche. Besondere Gründe für einen
Verzicht auf die Sperrklausel seien nicht ersichtlich. Ein Wegfall der Klausel
behindere die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments. Weder die
vom antragstellenden Bürger angeführte geringe Wahlbeteiligung, noch der
Umstand, dass 12 % der Stimmen unberücksichtigt geblieben seien, stelle den
Zweck der Klausel in Frage. Das Fehlen einer Sperrklausel bei Kommunalwahlen
liege darin begründet, dass die Funktion eines Gemeinderats mit der eines
Parlaments nicht zu vergleichen sei.
Der Antrag wurde abgewiesen.
III.
Wesentliche
gerichtshofs
Aussagen
des
Bayerischen
Verfassungs-
1. Art. 14 IV BV kann Gegenstand einer Popularklage sein, obwohl die Vorschrift
selbst Teil der Verfassung ist. Die elementaren Verfassungsgrundsätze binden auch
den Verfassungsgeber. Andere Verfassungsbestimmungen, denen dieser Rang
nicht zukommt, können daher wegen eines Verstoßes gegen diese nichtig sein.
2. Art. 118 I BV gehört zu den Fundamentalnormen der Bayerischen Verfassung im
vorgenannten Sinn. Der Gleichheitssatz ist ein demokratischer Grundgedanke im
Sinne des Art. 75 I 2 BV. Der Grundsatz der Wahlgleichheit nimmt am überpositiven
Rechtscharakter des allgemeinen Gleichheitssatzes teil, so dass ein Verstoß des
Art. 14 IV gegen den Grundsatz der gleichen Wahl (Art. 14 I S. 1 BV) sowie gegen
den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 118 I BV) vom Rangverhältnis der Norm her
grundsätzlich denkbar ist.
3. Die Popularklage ist unbegründet. Art. 14 IV BV verletzt den in Art. 14 I S. 1 BV
normierten Grundsatz der Wahlgleichheit nicht.
a) Der Grundsatz der Wahlgleichheit beinhaltet beim aktiven Wahlrecht, dass alle
Wähler in formal gleicher Weise wählen können und alle Stimmen den gleichen
Einfluss auf das Ergebnis haben, und beim passiven Wahlrecht den Grundsatz der
Chancengleichheit der Parteien bei Wahlen. Er hat Grundrechtscharakter und
umfasst sowohl den Wahlvorgang als auch die Zuteilung der Mandate. Dem
Gesetzgeber bleibt bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener
Spielraum für Differenzierungen, die nur durch zwingende Gründe gerechtfertigt
werden können. Die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden
Volksvertretung ist in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung wiederholt als
ein solcher Grund angesehen worden.
b) Bereits in früheren Entscheidungen hat der Verfassungsgerichtshof die
Verfassungsmäßigkeit von Art. 14 IV BV a.F., wonach eine 10 % - Sperrklausel
bestand, überprüft. Im Rahmen dieser Entscheidungen wurde festgestellt, dass das
in Bayern bestehende System des verbesserten Verhältniswahlrechts den Sinn
habe, jede Wählerstimme streng verhältnismäßig abzubilden, sowie den Zweck,
durch Bildung regierungsfähiger Mehrheiten die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des
Landtags und der Regierung zu ermöglichen. Ein Zurückdrängen der Splitterparteien
beruhe daher auf sachlich berechtigten Erwägungen und verstieße nicht gegen Art.
118 I BV.
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c) Auch das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung
angenommen, dass zur Sicherung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des
Parlaments die Zuteilung von Sitzen an das Erreichen eines bestimmten
Schwellenwertes gekoppelt werden dürfe. Allerdings müsse sichergestellt werden,
dass die Funktion der Wahl als Vorgang der Integration politischer Kräfte erhalten
bliebe. Ein Schwellenwert von 5 % sei verfassungsgemäß, sofern nicht besondere
Umstände des Einzelfalls vorlägen, die diese Quote als unzulässig erscheinen
ließen. Lägen solche besonderen Umstände vor, müsse der Gesetzgeber diese
berücksichtigen. Er könne grundsätzlich eine Sperrklausel abschaffen, deren Höhe
herabsetzen oder andere geeignete Maßnahmen ergreifen.
d) Art. 14 Abs. 4 BV hält der an diesen Grundsätzen ausgerichteten verfassungsgerichtlichen Überprüfung stand. Zwar führt die Sperrklausel zu einem unterschiedlichen Erfolgswert der abgegebenen Stimmen. Allerdings kommt dem Ziel, die
Handlungsfähigkeit des Parlaments zu gewährleisten, ein hoher Stellenwert zu. Eine
mögliche Folge des Verhältniswahlsystems, das den politischen Willen des Volkes
möglichst wirklichkeitsnah abbildet, stellt eine Volksvertretung dar, die aus vielen
kleinen Gruppen besteht. Eine Gefahr für die Funktionsfähigkeit der zu wählenden
Volksvertretung kann nicht dadurch in Abrede gestellt werden, dass sich die
Umstände beispielsweise durch Erlass von Parteien- und Wahlgesetzen im
Vergleich zu denen der Weimarer Republik wesentlich geändert hätten. Auch wenn
gegenwärtig keine Radikalisierung der Parteien festzustellen ist, entfällt die
Notwendigkeit nicht, einer Parteienzersplitterung entgegen zu wirken. Eine sonstige
wesentliche Veränderung der Umstände ist nicht ersichtlich.
e) Es ist nicht undemokratisch, dass die Stimmen, die auf die an der 5 %-Hürde
gescheiterten Parteien entfallen sind, bei der Mandatsverteilung den Parteien zugute
kommen, für die sie nicht abgegeben wurden. Hat sich der Verfassungsgeber für das
Verhältniswahlsystem entschieden, unterwirft er sich den diesem immanenten
Ausprägungen. Die 5%-Sperrklausel widerspricht dem prinzipiellen Gebot des
gleichen Erfolgswerts jeder Wählerstimme nicht, weil sie durch einen besonderen,
zwingenden Grund gerechtfertigt ist.
f) Auch eine Verletzung demokratischer Grundsätze ist zu verneinen. In einer
früheren Entscheidung hat der Verfassungsgerichtshof bereits festgestellt, dass dem
Gesetzgeber die Festsetzung einer Sperrklausel nicht verboten werden könne. Der
Umstand, dass einer Partei mehr Sitze zufallen können, als ihrem Anteil an der
Gesamtzahl der Stimmen entspricht, sei durch Art. 14 IV BV a.F. gedeckt, der
bewusst das starre Verhältniswahlrecht durchbreche und eine zulässige
Differenzierung im Rahmen des Grundsatzes der gleichen Wahl bedeute. An dieser
Auffassung hält der Verfassungsgerichtshof fest.
g) Die Tatsache, dass bei der Landtagswahl 2003 12 % der Stimmen auf Parteien
entfallen sind, die nicht 5 % der Gesamtstimmen erhalten haben und, daraus
resultierend, die erfolgreichen Parteien einen über ihrem Stimmenanteil liegenden
Anteil von Sitzen im Landtag zugeteilt erhielten, begründet keinen besonderen
Umstand, der das in Art. 14 IV BV verlangte Quorum unzulässig erscheinen lässt.
Eine vergleichsweise hohe Gesamtzahl nicht berücksichtigter Stimmen bedeutet
nicht, dass wichtige Belange des Volkes nicht beachtet würden, da sich die 12 % der
Stimmen auf viele unterschiedliche Gruppierungen verteilen.
-4h) Der Umstand, dass die CSU bei dieser Wahl mit einem Stimmenanteil von 34 %
der Wahlberechtigten zwei Drittel der Sitze im Landtag erreicht hat, liegt maßgeblich
daran, dass die Wahlbeteiligung mit 57,1 % besonders niedrig war.
i) Der Umstand, dass die Sperrklausel bei Kommunalwahlen in Bayern 1952 wegen
eines Verstoßes gegen den Grundsatz des gleichen Wahlrechts nach Art. 14 IV BV
für nichtig erklärt wurde, begründet keine Verfassungswidrigkeit der 5%Sperrklausel bei Landtagswahlen. Der Gemeinderat ist nach seinem Aufgabenkreis
kein Parlament. Bestand und Funktion der gemeindlichen Verwaltungsorgane sind
auch dann gesichert, wenn "Splitterparteien" Sitze erhalten.
j) Im Schrifttum ist zum Teil Kritik an der Sperrklausel geäußert worden. Dies betrifft
allerdings nicht die grundsätzliche Zulässigkeit einer Sperrklausel, sondern
insbesondere ihre Höhe von 5 %. Die Notwendigkeit einer derartigen Regelung wird
angezweifelt. Die hierfür vorgebrachten Gesichtspunkte sind in der angeführten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung aber bereits abgewogen worden. Als
Ergebnis dieser Abwägung ist ein Quorum von 5 % unter dem Blickwinkel der
Sicherung der Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit des Parlaments regelmäßig
mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit vereinbar erachtet worden. Ob durch diese
Regelung die zweckmäßigste und rechtspolitisch vernünftigste Lösung gefunden
wurde, ist vom Verfassungsgerichtshof nicht zu überprüfen.
2. Art. 14 IV BV verstößt auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art.
118 I BV. Der allgemeine Gleichheitssatz verbietet nicht Differenzierungen, die durch
sachliche Erwägungen gerechtfertigt sind. Solche liegen der in Art. 14 IV BV
enthaltenen 5% - Sperrklausel zugrunde.
Auszug aus der Bayerischen Verfassung
Artikel 14
Grundsätze des Landtagswahlrechts
(1) Die Abgeordneten werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl nach einem
verbesserten Verhältniswahlrecht von allen wahlberechtigten Staatsbürgern in Wahlkreisen und
Stimmkreisen gewählt. Jeder Regierungsbezirk bildet einen Wahlkreis. Jeder Landkreis und jede
kreisfreie Gemeinde bildet einen Stimmkreis. Soweit es der Grundsatz der Wahlgleichheit erfordert,
sind räumlich zusammenhängende Stimmkreise abweichend von Satz 3 zu bilden. Je Wahlkreis darf
höchstens ein Stimmkreis mehr gebildet werden als Abgeordnete aus der Wahlkreisliste zu wählen
sind. Durch Überhang- und Ausgleichsmandate, die in Anwendung dieser Grundsätze zugeteilt
werden, kann die Zahl der Abgeordneten nach Art. 13 Abs. 1 überschritten werden. (…)
(4) Wahlvorschläge, auf die im Land nicht mindestens fünf vom Hundert der insgesamt abgegebenen
gültigen Stimmen entfallen, erhalten keinen Sitz im Landtag zugeteilt. (…)
Artikel 118
Gleichheit vor dem Gesetz
(1) Vor dem Gesetz sind alle gleich. Die Gesetze verpflichten jeden in gleicher Weise und jeder
genießt auf gleiche Weise den Schutz der Gesetze. (…)
Artikel 75
Verfahren bei Verfassungsänderungen
(1) Die Verfassung kann nur im Wege der Gesetzgebung geändert werden. Anträge auf
Verfassungsänderungen, die den demokratischen Grundgedanken der Verfassung widersprechen,
sind unzulässig. (…)
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