Der kluge egoist kooperiert

Werbung
Strategie & Planung
Strategie & Planung
„Der kluge Egoist
kooperiert “
Die Datenflut steigt Tag um Tag. Doch welche Informationen bringen uns im Leben weiter?
Primatologe Volker Sommer gibt Einblicke in die Evolution des Menschen und erklärt, warum
sich jeder selbst der Nächste ist, Zusammenarbeit aber Vorteile im Konkurrenzkampf sichert.
Text Sabine Schlosser · Fotos Thekla Ehling
I
n einem Dorf am nordhessischen Reinhardswald wuchs Volker SomEs gilt das Prinzip „use it or lose it“. Unsere zum Bodenleben übergemer auf, dort, wo einst die Brüder Grimm ihre Geschichten sammelhenden Vorfahren brauchten beispielsweise die enormen Muskelpakete
ten. Dass im Märchen die Tiere sprechen können, erweckte bereits
baumbewohnender Großaffen nicht mehr. Die zum Muskelbau nötige
als Kind in ihm den Wunsch, sie eines Tages wirklich verstehen zu
genetische Information verursachte damit lediglich Speicherungskosten,
können. Heute ist Sommer ein weltweit renommierter Primatologe und
wurde also ein unnützer Fresser an der Tafel des Stoffwechsels. Jene
erforscht die Verhaltensökologie von Affen und Menschenaffen, um
Mutanten, die diese Information nicht mehr besaßen, wurden deshalb
daraus Rückschlüsse auf unsere eigenen natürlichen Neigungen, Mögvon der Auslese gefördert. Denn sie waren – bildlich ausgedrückt –
lichkeiten und Grenzen zu ziehen. Im Interschlanker und effizienter. Deshalb kommen
view erklärt er, wie im Laufe der Evolution
wir heute ohne Bodybuildergene zur Welt.
immer komplexere Informationen übertraAnalog verläuft das Schicksal technologischer Datenträger. Die Lochkarte vergen wurden, mit welchen Tricks wir uns straschwindet, als die Floppy aufkommt, die
tegische Wettbewerbsvorteile sichern, und
International ist Volker Sommer einer der
warum Allianzen zumeist gewinnbringender
führenden Primatologen. Der 58-Jährige lehrt
Zipdisk wird vom USB-Stick verdrängt. Die
sind als der Alleinkampf.
als Professor für Evolutionäre Anthropologie
sich akkumulierenden Big Data werden desan der Eliteuniversität UCL (University College
halb verrotten, wenn ihre Speicherung und
Welchen Stellenwert hat generell der BeLondon). Freilandstudien führten ihn zu den
Verwaltung sich nicht mehr durch handfeste
griff der „Information“ in der EvolutionsTempelaffen Indiens, zu Gibbons im RegenNutzung bezahlt macht.
biologie?
wald Thailands und zu den Schimpansen im
Jedes Lebewesen ist ein InformationsspeiBergland Nigerias. Als engagierter NaturLässt sich die Entwicklung der Informacher. Das Erbgut enthält Programme, die das
schützer berät er die UN als Menschenaffentionstechnologie eigentlich auch evolutionsbiologisch erklären?
Überleben und die Fortpflanzung ermögliexperte. Außerdem gehört er zum wissenchen. Erfahrungen werden über Neuronenschaftlichen Beirat der Giordano-BrunoVielleicht fing alles damit an, dass ein UrpriStiftung, die sich für einen säkularen
netze gespeichert. Wenn es diesen Informamat vor ein paar Tausend Jahren Äste umevolutionären Humanismus einsetzt. Das
tionsspeichern gelingt, sich zu reproduzieren,
brach, um der nachfolgenden Gruppe den
kommt die Evolution ins Rollen, als ein zielPolitikmagazin „Cicero“ zählt ihn zu den einWeg zu einem Fruchtbaum zu weisen. Im
flussreichsten deutschen Intellektuellen.
loser Prozess, bei dem für beschränkte Zeit
entfernten Sinn könnten diese Äste die ers‑
gewisse Lebensformen die Nase vorn haben,
ten „externen Datenspeicher“ gewesen sein.
Weitere Informationen
weil sie sich effizienter als die KonkurrenzMit der Erfindung von Schrift, Buchdruck
www.ucl.ac.uk/anthropology
modelle vermehren. Wandel entsteht inteund schließlich den heutigen digitalen Speiressanterweise, wenn Information fehlerhaft
chermedien wurden im Laufe der Zeit dann
auf die nächste Generation übertragen wird. Die weitaus meisten der
immer komplexere Inhalte zunehmend effizienter übermittelt.
Kopierfehler sind nachteilig, aber manche Varianten haben Vorteile.
Diese Mutationen verdrängen dann die älteren Typen.
Nicht nur genetische, auch kulturelle Informationen trägt die
Evolution weiter. Vernachlässigen wir heute die Pflege kulturell
Was können wir uns denn bei der Evolution für die Selektion von
tradierter Werte, die sich im Laufe der Stammesgeschichte angesammelt haben?
Informationen abschauen?
Zur Person
Volker Sommer
14
Strategie & Planung
Das Informationszeitalter beschert uns permanente Zerstreuung.
Welche Folgen hat eine solche Ablenkungskultur? Fehlt uns die
Zeit, althergebrachte Rituale und Lebensrhythmen zu pflegen?
Gelegenheit hätten wir schon, denn wir verfügen ja heute über viel
mehr Freizeit als früher. Doch sind für Netzhetzer die traditionellen
Grenzen zwischen Alltag und Feiertag kaum mehr markiert. Einerseits
schenkt uns das neue Freiheiten, anderseits verarmt der kollektive
Horizont. Gemeinsame Rituale, etwa rhythmische Bewegungen und
Rufe in der Masse, dienen ja vor allem dazu, das Individuum mit der
Gruppe zu verschmelzen. Das ist beim Regentanz der Schimpansen
genauso wie beim katholischen Hochamt.
Was ist denn die Funktion solcher Rituale?
Sie erwirken eine Identität, die Kooperation in der Gemeinschaft steigert.
Je effizienter dies gelingt, desto schärfer fällt aber auch die Konkurrenz
mit den Nachbargruppen aus. Das dürfte die wesentliche Triebfeder für
die Entwicklung von Feiern und Festen gewesen sein: die Trennlinien
zwischen „Wir“ und „Andere“, also zwischen „Ingroup“ und „Outgroup“
zu schärfen.
Führt die Globalisierung zur Auslöschung von Ritualen?
Es entstehen neue Formen. Bereits seit der Aufklärung und den Demokratisierungen wurden soziale Hierarchien immer flacher. Damit gibt
es für die Durchschnittsbürger mehr Brot, aber weniger Spiele – die ja
vor allem deshalb da waren, damit niemand an Revolution dachte.
Römische Potentaten, Barockfürsten und Kurienkardinäle demonstrierten ihre Macht über Gladiatorenspektakel, Prozessionen und Feuerwerke.
Heute konsumieren wir das in säkularisierter Form bei der Fußball-Europameisterschaft, in Disneyland, beim Stadtfest. Das ist dann oft sehr
nahe dran am trivialen Konsumismus. Aber wäre es mir als Sohn von
Kleinbauern besser gegangen als unter Nero, Gregor VII.
oder Friedrich dem Großen? Vermutlich nicht.
Sie haben bereits das Konkurrenzverhalten angesprochen. Ist sich tatsächlich jeder selbst der
Nächste?
Dass Lebewesen um Nahrung, sichere Wohnplätze
und Fortpflanzungspartner wetteifern, ist unvermeidlich, weil Ressourcen begrenzt sind. Das bedeutet aber nicht, dass diese Eigennützigkeit zur sozialen
Unverträglichkeit führen muss. Ganz im Gegenteil:
Der kluge Egoist kooperiert. Durch Allianzen mit
anderen kann ich nämlich gewöhnlich mehr erreichen, als wenn ich mich alleine durchs Leben schlage. Das zahlt sich etwa für Löwen, Hyänen oder
Wildhunde aus, die nur durch gemeinsame Jagd
große Beutetiere erlegen können. Umgekehrt betrachtet, geht für die Zebras bereits das einfache
Zusammenleben mit erhöhter Sicherheit einher.
Denn steht eines alleine in der Savanne, und der Löwe
hat Hunger, wird es gefressen. Gruppiert sich das
Zebra mit vier anderen, beträgt seine Überlebenswahrscheinlichkeit bereits 80 Prozent.
Gibt es denn aus Ihrer Sicht gar kein wirklich uneigennütziges Verhalten?
Wie der Historiker Edward Gibbon so schön vor
bereits 250 Jahren sagte: „Man traue keinem erhabenen Motiv für eine Handlung, wenn sich auch ein
niedriges finden lässt.“ In diesem Sinne hat die Soziobiologie als Subdisziplin der Evolutionstheorie mit
viel Erfolg versucht, soziales Verhalten gemäß
16
dem Prinzip Eigennutz zu erklären. Demnach lässt sich vieles, was selbstlos aussieht, als Pseudo-Altruismus deuten – etwa dann, wenn meine
Hilfe Blutsverwandten zugute kommt, wenn ich mit anderen nach dem
Motto „Kratzt du mir den Rücken, kratz ich dir den Rücken“ verkehre,
oder wenn ich über Spenden und Wohltaten meine Reputation und
damit Verhandlungsposition steigere. Gleichwohl: Selbstverständlich
gibt es auch immer mal wieder tatsächliche Selbstlosigkeit, indem jemand durch seine Gutheit einen Nettoverlust
einfährt. Dieser „wahre“ Altruismus fällt aber
der evolutiven Auslese zum Opfer, vererbt sich
deshalb nicht, und muss dementsprechend
immer wieder neu entstehen, quasi als „heiliger
Irrtum“.
wie ich hautnah an der Wildnis erfreut, leidet besonders darunter, dass
unserem konsumorientierten Lebensstil immer mehr Naturräume zum
Opfer fallen. Das trifft speziell auf die Regenwälder zu, also die Heimat
unserer allernächsten Verwandten, der Menschenaffen. Ich versuche
etwa in Nigeria zumindest ein letztes Naturparadies zu retten, in dem
die seltenste Schimpansenunterart noch eine Chance auf Zukunft hätte. Das bedeutet aber nicht, dass ich mich für einen besseren Menschen
halte. Denn die Schwermetalle, die meinen
Computer funktionieren lassen und der Treibstoff, der mich nach Afrika fliegt, wurden aus
genau den Gebieten extrahiert, wo bis vor
Kurzem noch Menschenaffen lebten.
Die Lüge war
der Wetzstein
unserer
Intelligenz
ALLE MOTIVE WURDEN im Museum König /Bonn FOTOGRAFIERT
Das ist der Gang der Zeit: Kulturen kommen und gehen. Kulturelle Vielfalt entsteht, wenn Angehörige der gleichen Art je nach Wohnort unterschiedliche Sitten und Gebräuche entwickeln – wenn ich mich beispielsweise zum Gruß in Indien verneige, in Argentinien Wangenküsse austeile
und in Deutschland die Hand schüttele. Das ist übrigens auch bei nichtmenschlichen Tieren so. So gehören bei manchen Gruppen japanischer
Makakenaffen homosexuelle Kontakte zum gepflegten Umgang, während
das am anderen Flussufer tabu ist. Kapuzineraffen in Costa Rica wiederum mögen sich als Treuebeweis Finger unter die Augäpfel und in die
Nase schieben. Solch ein Brauch kann boomen, um dann wieder aus
der Mode zu kommen – wie etwa die Tradition in schlagenden Studentenverbindungen, einander Schmisse zuzufügen. Traditionen entstehen
und vergehen also. Das kann man schade finden. Aber wenn es nicht
so wäre, wären kunstvoll behauene Handäxte noch immer der letzte
Schrei. Und so wie Globalisierung und Internet einerseits gleichmachen,
entstehen dadurch zugleich neue Subkulturen – was die Zurschaustellungen auf Facebook ebenso illustrieren wie YouTube-Sensationen.
Was geht uns verloren, wenn unsere nächsten Verwandten verschwinden?
Wenn schon das Prinzip Eigennutz regiert,
muss man es doch nicht auch noch befürDie Verbindung zu unserer eigenen Evolution.
Volker Sommer,
worten. Das tun Sie aber offenbar bereits
Eine Zeitmaschine können wir nicht bauen, um
Professor für Evolutionäre Anthropologie,
im Titel Ihres Bestsellers „Lob der Lüge“.
unsere Herkunft zu erforschen. Aber mit GibUniversity College London
Der Titel spielt auf die Theorie der „Machia‑
bons und Orang-Utans, Gorillas, Bonobos und
vellischen Intelligenz“ an. Demnach sind viele
Schimpansen teilten wir über Millionen Jahre
unserer kognitiven Fähigkeiten entstanden,
eine Stammesgeschichte. Durch Vergleich mit
weil unsere Vorfahren mit den betrügerischen Absichten von Artgediesen verwandten Arten können wir darauf schließen, wie die Anatonossen konfrontiert waren. Wer die durchschaute, und zudem selbst gut
mie unserer gemeinsamen Ahnen beschaffen war, wie ihr Erbgut strukdarin war, andere übers Ohr zu hauen, hinterließ mehr Nachkommen.
turiert war, wie ihre Denkprozesse abliefen. Zudem haben nicht-menschliche Primaten ein eigenes Lebensrecht, das unabhängig von unserem
Erkenntnisinteresse respektiert werden sollte. Und weil Tiere eben auch
Das klingt strategisch geschickt …
… und wird immer wieder gerne praktiziert. So ist bereits in Affengruplokale Sitten pflegen und Technologien mit Holz- und Steinwerkwerkpen ab und an falscher Alarm zu hören, durch den der Rufer andere auf
zeugen kennen, verschwindet mit ihrem Aussterben nicht nur genetische
die Bäume schickt, um dann in Ruhe das Fallobst zu verspeisen. Solche
Diversität, sondern auch kulturelle Vielfalt. Der Genozid geht mit einem
Raffinesse setzte eine mentale Rüstungsspirale in Gang – was erklärt,
Kulturentod einher. Das ist zwar praktisch unvermeidlich, aber eben doch
warum wir heute so gut darin sind, Motivationen und Absichten andeauch traurig – speziell wenn man die Untergänge vor Ort miterlebt.
rer in unser Planen und Handeln einzubeziehen. Die Lüge war also quasi der Wetzstein unserer Intelligenz. Die Fähigkeit zum Gedankenlesen
Was gibt Ihnen dennoch die Motivation, sich und andere Menschen
ermöglicht uns allerdings nicht nur gewitzteres Konkurrieren, sondern
für die Evolutionstheorie zu begeistern?
bescherte uns zudem die Fähigkeit zum Mitgefühl, zur Empathie.
Ich finde es faszinierend, wie uns die Evolutionsbiologie anderen Lebewesen näher bringt. Mein Denken und Fühlen bereichert es jedenfalls
ungemein, mich als eine besondere Art von Säugetier und MenschenSie setzen sich für den Naturschutz ein – etwa in Westafrika, wo Sie
affe zu begreifen. Das erklärt mir viel von meiner Herkunft und Gegenversuchen, eine der letzten verbliebenen Wildnisse zu bewahren.
Aus Empathie oder Forschergeist?
wart – auch wenn es mich mahnt, die zerbrechliche Zukunft dieses
Aus Mitgefühl – allerdings durchaus egoistisch motiviert. Denn wer sich
Biopaktes zu bedenken.
17
Herunterladen