Fremdheit aus theologischer (und philosophischer) Perspektive

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Fremdheit aus theologischer (und philosophischer) Perspektive: Eine Annäherung.
1. Einführung
Fremdsein ist in den biblischen Erzählungen und in den theologischen Aussagen
über das Fremdsein Israels, das Fremdsein Jesu und das Fremdsein der Christen
im ersten Jahrhundert ein fundamentales Thema und Problem.1 Fremdheit und
Flucht sind die dramatischen Grundkonstanten biblischer und christlicher, ja
letztlich menschlicher Existenz. Die unterschiedlichen Fremdheitserfahrungen
sind Rahmen und Hintergrund für die biblischen Gebote zum Umgang mit den
Fremden und damit für das christliche Verständnis vom Fremden und von
Fremdheit. Dabei gibt es sowohl eine spannungsreiche Ambivalenz im Umgang
der Menschen mit Fremdheit und Fremden als auch eine wechselhafte
Disposition Gottes in der Beziehung mit den fremden und vertrauten
Menschen.
2. Erfahrungen von Fremdheit in der Bibel
Bereits im Alten Testament gibt es unzählige Fremdheits- und
Fluchterfahrungen, so wird z. B. in der Geschichte von der Flucht des
Brudermörders Kain dieser auf der Flucht von Gott durch das Kainszeichen
beschützt. Auch die Erzväter machen vielfältige Erfahrungen als Flüchtlinge in
der Fremde. Zumeist sind sie Flüchtlinge aus wirtschaftlichen Gründen
(Wirtschaftsflüchtlinge). Kriege und Hungersnöte waren in alttestamentlicher
Zeit die beiden Hauptgründe, um ein Fremder zu werden. Als Fremde waren sie
Menschen ohne Grundbesitz und ohne Verwandte in ihrer Nähe. Sie waren
rechtlose Arme und brauchten daher besonderen Schutz. Das Volk Israel
erlebte die Unterdrückung in Ägypten als ein Fremdsein und Ungewolltsein,
eine für Israel zentrale und existentielle Erfahrung. Später waren u. a. die
1
Inhaltliche und strukturelle Grundlage zu meinen Ausführungen ist Michael Holze, Fremde, Fremdsein und
Flüchtlinge in der Bibel (2015).
2
Leviten, die Propheten und selbst König David auf der Flucht und waren
Fremde. Nach den Berichten im Neuen Testament gehörten auch Jesus, die
Apostel und die Christen im ersten Jahrhundert zu den Fremden, Verfolgten
und Flüchtlingen.
3. Die theologische Bedeutung des Fremdseins in der Bibel
Eine zentrale theologische Grundannahme ist es, dass bei der Schöpfung alle
Menschen vor Gott gleich sind. Nach biblischem Zeugnis hat Gott die ganze
Welt und alle Menschen geschaffen. Daher gibt es vor Gott keinen Unterschied
zwischen den verschiedenen Völkern oder Kulturen der Menschheit. Alle
Menschen sind Kinder Gottes und Abbild bzw. Ebenbild Gottes. Insofern
wiederspricht die Bibel jeder Form von Rassismus und Unterdrückung anderer
Völker und Kulturen. Daraus leitet sich die unverlierbare und unzerstörbare
Würde des Menschen ab, ob als Fremder oder Vertrauter. Gott erwählte ein
besonderes Volk, Israel, als Volk Gottes. Das bedeutete sowohl eine
Auszeichnung und Würde, eine Rechtsübertragung, aber auch eine hohe Bürde,
eine Pflichtübertragung, Beauftragung oder Sendung. Nach der Erwählung
Israels als Volk Gottes wurden auch die fremden Völker von Gott gesegnet bzw.
ihnen wurde in prophetischen Visionen der Segen Gottes verheißen. Zur
Ambivalenz des Phänomens der Fremdheit in der Bibel gehört, dass die
traumatischen Erfahrungen Israels in der Exilzeit das Volk Israel selbst zum
Fremden, auch zum tragischen Fremden vor Gott machten.
In den Evangelien im Neuen Testament wird immer wieder von Fremden und
Nicht-Juden berichtet, die einen besonders starken Glauben hatten. Ihr Glaube
wird von Jesus z. T. als besonders vorbildlich beschrieben. Zunächst gilt aber
weiter der Unterschied zwischen dem Volk Israel als erwähltem Volk Gottes
und den Heiden als den Fremden. Diese Grenze zwischen Juden und Heiden
wurde oftmals, allerdings nicht ohne innere Spannungen und Konflikte, in den
3
christlichen Gemeinden aufgehoben, so dass die Heiden in religiöser Hinsicht
nicht mehr Fremde waren. Jesus selber ist seiner Heimat durch seine
Gottesbeziehung entfremdet:
• Die Geburtsgeschichte in Lukas 2 zeigt, dass nicht Nazareth, sondern
Bethlehem seine Heimatstadt ist.
• Jesus ist seiner eigenen Familie entfremdet. Er negiert seine leiblichen
Verwandten (Mk 3,33) und bezeichnet stattdessen im theologischen Sinne
diejenigen als seine wahren Verwandten, die „den Willen Gottes tun“ (Mk
3,34f.)
• Bei seinen Verwandten (Mk 3,21) und in Nazareth stieß er auf heftiges
Unverständnis und Ablehnung (Mk 6,1-6a par).
• Jesus beschrieb seine Heimatlosigkeit in einem Vergleich mit Füchsen, die
Höhlen und mit Vögeln des Himmels, die Nester haben, während der
Menschensohn nichts habe „wohin er den Kopf lege“ (Mt 8,20 par Lk 9,58).
• Im Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Mk 12,1-9) wird die Geschichte
Israels theologisch gedeutet als Ablehnung Gottes, die darin gipfelt, dass der
Sohn des Weinbergbesitzers gleichfalls abgelehnt und getötet wird.
Im Johannesevangelium wird Jesu Fremdheit und die Ablehnung durch die Welt
noch deutlicher theologisch gedeutet:
• Im Johannesprolog heißt es, dass Jesus „in das Eigene kam und die Eigenen
ihn aber nicht annahmen“ (Joh 1,11).
• Die ‚Welt‘ erkannte Jesus nicht und hasste ihn (vgl. Joh 1,10; 7,7; 15,18).
• Im Verhör vor Pilatus betont Jesus schließlich: „Mein Königtum ist nicht von
dieser Welt“ (Joh 18,36).
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Es wird deutlich, dass der Jude Jesus von Nazareth einerseits zwar aus Israel
stammte, sich andererseits dort fremd vorkam, weil seine Heimat bei Gott war.
Umgekehrt war Jesus den eigenen Leuten im Volk Israel – aber auch der ganzen
Welt – fremd, sofern man nicht an ihn glaubt und ihn nicht als den Sohn Gottes
anerkennen kann.
Jesus appellierte in seiner Ethik an das alttestamentliche Liebesgebot, aber er
akzeptierte nicht die damals übliche Begrenzung des Liebesgebotes, wonach
nur das Volk Israel als Nächster anerkannt war. So provozierte er mit der
bekannten Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30-37): Ein
Samariter, d. h. ein Mensch, den das damalige Judentum als Abgefallenen des
Jahwe-Glaubens ansah, wird hier Modellperson für die von Gott gewollte
Nächstenliebe. Die Frage des Schriftgelehrten „Wer ist mein Nächster?“ (Lk
10,29) drehte Jesus um und fragte: „Wer ist der Nächste geworden dem unter
die Räuber Gefallenen?“ (V. 36). Aus dieser Erzählung folgt die Grenzenlosigkeit
der Verpflichtung zur Liebe, die ihr Ende nicht am Zumutbaren und Üblichen
findet. Auch die Geschichte vom Weltgericht (Mt 25,31-46) betont, dass es für
Jesus nur auf die Nächstenliebe ankommt. Sie ist dadurch zu einem zentralen
biblischen Text zum Umgang mit den Fremden geworden. Hier identifizierte
sich Jesus mit den „Geringsten“ seiner Brüder, indem er sagte: „fremd war ich,
und ihr habt mich aufgenommen“ (V. 35) und: „Was ihr getan habt einem von
diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (V.40). Die
Nachfolger Jesu werden dazu ermutigt und aufgefordert, auch den geringsten
Menschen, d. h. auch den Fremden Gutes zu tun und somit jedem Menschen
zu helfen, der in Not ist. In der Bergpredigt hat Jesus dieses Liebesgebot dann
sogar auf die Liebe zu Feinden ausgedehnt (Mt 5,43-48 und Lk 6,27-36).
Für Christen ergibt sich aus den Erfahrungen von Fremdheit des Volkes Gottes
und der Tatsache, dass Jesus in dieser Welt ein Fremder war, eine immanente,
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inhärente Fremdheit der christlichen Existenz. Der Christ ist in der Nachfolge
Jesu immer auch ein Fremder, der zwar in der Welt lebt, aber nicht von der
Welt ist. Die frühen Christen verstanden sich daher in theologischer Hinsicht als
Bürger des Himmels und als Fremde in der Welt. Daraus leiteten sie und leiten
Christen heute wichtige moralische, ethische, soziologische, politische und
ökonomische Grundsätze ab. Diese Grundsätze sind Standards für die
Anforderungen und Verhaltensnormen im Umgang mit Fremden und
Fremdheit, mit Respekt und Toleranz, mit Verschiedenheit und Andersartigkeit.
Im Alten Testament (Bundesbuch) findet sich bereits das Gebot, die Fremden
nicht zu unterdrücken. Das wird u. a. damit begründet, dass das Volk Israel in
Ägypten fremd gewesen ist. Der Schutz der Fremden und die soziale Fürsorge
für sie werden in den Geboten mit der Liebe Gottes begründet, die sich auf alle
Menschen bezieht. Neben der Nächstenliebe ist daher auch die Liebe zu den
Fremden ausdrücklich geboten. Die Ethik Jesu befreit das Gebot der
Nächstenliebe von allen Trennungen, Grenzen und Partikularismen. Jedem, der
Hilfe braucht, soll geholfen werden. Da Jesus sich als Fremder mit den Fremden
identifiziert, wird die Hilfe für Fremde obligatorisch im Sinne eines moralischen
Imperativs. Daher wird im Neuen Testament immer wieder zur
Gastfreundschaft gegenüber Fremden aufgerufen. Nicht zuletzt ist die
Annäherung an den Fremden, die Fremdenhilfe und Fremdenliebe sowie die
Gastfreundschaft (heils-) relevant für die individuelle und universale
Heilsgeschichte, d. h. auch für das individuelle und universale Weltgericht am
Ende der Zeiten.
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4. Soziologische Grundlegung
Nach einer alten Diktion von Georg Simmel2 ist der Fremde jemand, „der heute
kommt und morgen bleibt.“ Damit unterscheidet sich der Fremde vom Gast,
vom Wanderer, „der heute kommt und morgen geht“. Diese Differenzierung
bleibt aktuell. Fremdheit bedeutet soziologisch eine Unbekanntheit,
Unvertrautheit und Unsicherheit mit Menschen, Personengruppen, Ideen oder
Dingen. Unwissenheit erhöht die Fremdheitswahrnehmung. Fremdheit stellt
somit einen Erfahrungshorizont außerhalb des eigenen Wirklichkeits- und
Wissensbereichs dar, d. h. der „Fremde“ wird außerhalb des eigenen
Gesellschaftssystems und Sinnhorizontes verortet. Insofern irritiert der
„Fremde“ die gegenwärtige Ordnung, die geglaubten Gewissheiten und stellt
Normalitätsvorstellungen sowie Selbstverständlichkeiten in Frage. Dies führt
zur Verunsicherung auf beiden Seiten, vor allem kann es zu Konflikten führen,
die sich in fremdenfeindlichen Einstellungen und Verhaltensweisen äußern. Als
„fremd“ wahrgenommen werden Menschen mit angenommenem und
tatsächlichem Migrationshintergrund. Ihnen wird eine andere „Kultur“
zugeschrieben. Fremdheit ist daher das Ergebnis von Zuschreibungen
kultureller, sozialer oder sachlicher bzw. rechtlicher Differenz auf Personen
oder Gruppen; sie ist das Produkt sozialer Aushandlungsprozesse, d. h. sozialer
Konstruktionsprozesse in spezifischen sozialen und kulturellen Kontexten. Sie
kann auch Ergebnis einer selbstgewollten und selbstgewählten (besonders
religiösen) Abgrenzung sein. Die Zuschreibung erfolgt jedoch zumeist nicht nur
individuell, sondern insbesondere kollektiv. Jedoch verrät dieser Prozess mehr
über die zuschreibenden Personen, als über die stigmatisierten „fremden“
Personen. Referenzpunkt für die Zuschreibung ist eine Kategorisierung im
Rahmen einer vertrauten Ordnung. Fremdheit ist daher subjektiv und
2
Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Kapitel IX: Der Raum und
die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft. Exkurs über den Fremden, Berlin 1908, S. 509-512.
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individuell. Es gibt es familienspezifische, milieuspezifische, kulturspezifische
und religionsspezifische Merkmale, die die Erfahrung von Fremdheit
beeinflussen können. Fremdheit lässt sich folglich auch nicht an objektiven
Kriterien messen. D. h.: Es gibt „Fremdheit“ als solche nicht; sie steht vielmehr
im Kontext einer Wertung und Bewertung im Sinne einer Fremddeklaration. Sie
zeigt sich in der sozialen Interaktion von Inklusion und Exklusion von Fremden.
Denn Individuen leben in ganz unterschiedlichen Kontexten, sie machen teils
völlig verschiedene Erfahrungen. Somit werden sie mit unterschiedlichen
Bezugsobjekten und Beziehungen konfrontiert und vielleicht auch vertraut
gemacht. Das bedeutet, dass die Grenzen zwischen dem „Fremden“ und dem
„Eigenen“ fließend sind. Was in einer Gesellschaft als „Normalität“ angesehen
wird, gilt in der nächsten als „Abnormität“. Multikulturelle und
polysubkulturelle Gesellschaften sind von einer Vielfalt an Fremdheit geprägt,
zeigen aber weniger uniforme Muster von Fremdheitserfahrung, da alle
Individuen kontextuell und wechselseitig Fremde sind. Fremdheit im Sinn einer
Unvertrautheit hat insofern nicht nur mit anderen Kulturen, Nationen, Rassen
etc. zu tun, sondern auch mit anderen Weltanschauungen, Sitten, Bräuchen,
Dialekten, Werten, Ästhetiken etc. Die Fremden sind also nicht nur die
Ausländer, Migranten, Flüchtlinge, sondern auch die Inländer, d. h. die
Einheimischen. Fremder kann also jeder sein, der unbekannt und unvertraut
ist, bzw. der mit den Bezugsobjekten und Beziehungen nicht bekannt und
vertraut ist. Damit schließt sich der Kreis: Ähnlich wie bei den biblischen
Erfahrungen auch, zeigen sich hier im gesellschaftspolitischen,
sozialpsychologischen Diskurs die besprochenen Phänomene existentieller,
totalitärer Fremdheit des Menschen.3
3
Instruktiv dazu Bernd Schäfer u. Bernd Schlöder, Identität und Fremdheit. Sozialpsychologische Aspekte der
Eingliederung und Ausgliederung des Fremden, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften (JCSW) 35
(1994) Flucht – Asyl - Migration, S. 69-87.
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5. Philosophische Annäherung
Im philosophischen Diskurs4 gibt es eine wichtige Unterscheidung zwischen (a)
Fremdheit und Andersheit (Alterität) sowie zwischen (b) innerer, vertikaler
Fremdheit und äußerer, horizontaler Fremdheit.
Zu a): Der Andere ist nicht unbedingt „fremd“, doch der Fremde kann „anders“
sein. Der Andere ist „anders“ aufgrund anderer, aber bekannter und vertrauter,
bzw. akzeptierter Muster und Unterscheidungen. Der Fremde ist „anders“, weil
er aufgrund nicht akzeptierter Muster und Unterscheidungen nicht bekannt
und unvertraut ist. Andersheit und Fremdheit besitzen also ähnliche Konzepte.
Fremdheit impliziert Andersheit. Andersheit bedeutet jedoch nicht zwingend
Fremdheit. Das Fremde, den Fremden kann man kennenlernen und sich
vertraut machen, bzw. sich zu eigen machen, aneignen. Das Andere, den
Anderen kann man sich nicht zu eigen machen. Der Andere bleibt nach dem
Primat der Ethik von Emmanuel Levinas der radikal, absolut Andere, der
Unendliche, dem man sich aber in unendlicher Verantwortung verpflichten und
bedingungslos, radikal hinwenden müsse, dem man unbedingt begegnen
müsse.5 Dieser philosophische Ansatz von Emmanuel Levinas versteht sich als
eine Philosophie, die radikal vom Anderen her gedacht wird. Damit stellt sie
nicht nur einen Gegenpol zur klassischen griechisch-abendländischen
Philosophie dar, in der die Begriffe Ich, Selbst und Vernunft dominieren. Die
Kategorie des Anderen wird auch notwendig, um der Endsolidarisierung und
den zunehmenden Individualisierungsprozessen in der Gesellschaft
konkurrierend und korrigierend gegenüberzutreten.
4
Dazu aus phänomenologischer Sicht Bernhard Waldenfels, Das Fremde denken, in: Zeithistorische
Forschungen/Studies in Contemporary History 4 (2007), S. 361-368.
5
Vgl. u. a. Emmanuel Levinas, Die Spur des Anderen: Untersuchungen zur Phänomenologie und
Sozialphilosophie. Übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Nikolaus Krewani. 4. Auflage.
Freiburg im Breisgau; München 1999; ders., Humanismus des anderen Menschen. Übersetzt und mit einer
Einleitung versehen von Ludwig Wenzler, Hamburg 1989; ders, Zwischen Uns. Versuche über das Denken an
den Anderen. Aus dem Französischen von Frank Miething. München; Wien 1995; ders., Die Zeit und der
Andere. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Ludwig Wenzler. 3. Auflage. Hamburg 1995.
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Zu b): Die vertikale, innere Fremdheit bezieht sich auf das Eigene, Innere, auf
das, was in mir als Fremdes aufbricht, auftaucht, existiert (Unbewusstes,
Traum, Wahn etc.). Die horizontale, äußere Fremdheit betrifft dagegen alles
Äußere, was von außen in mich einbricht, eintaucht, eindringt (Feind, Fremder,
Gast etc.).6 Die wichtige Frage heißt hier also: „Wie verhalte ich mich angesichts
des Fremden? Wie werde ich ihm gerecht und bleibe mir dabei treu?“7 Die
Konzepte der Fremdheit haben allerdings eine Schwierigkeit: Wo ist die Grenze
zwischen Vertrautheit, Bekanntheit und Unvertrautheit, Unbekanntheit? Und:
Wandelt sich an einem Ort, zu einer Zeit, in einer bestimmten Situation die
Furcht vor dem Fremden in eine Furcht vor dem Bekannten und Vertrauten?
Heute könnte man angesichts der populistischen Fremdenphobie und des
nationalistischen Fremdenhasses mehr Angst haben vor dem „Vertrauten“, z.
B. vor Deutschland und den Deutschen, als vor dem „Fremden“, z. B. den
Flüchtlingen.
Daher ist es vor allem wichtig, sich selbst zu verstehen, die Begrenztheit und
Relativität der eigenen Deutungs- und Interpretationsmuster einzusehen, um
andere zu verstehen. Pointiert gesagt: „Fremd“ meint „anders“ als bislang
gekannt; aber: „anders“ ist nicht „schlecht“, sondern „anders“.
6. Fazit
Was bedeutet das für Christen? Die politischen und gesellschaftlichen
Verhältnisse in Europa sind heute anders als im antiken Israel und Rom oder im
mittelalterlichen Europa. Es gibt aber auch Parallelen. Relativ vertraut
erscheinen uns die Fremden mit ähnlicher Kultur und mit der gleichen, z. B.
christlichen Religion. Integration gelingt hier relativ leicht. Komplizierter ist für
die Menschen die Gastfreundschaft und Fremdenliebe gegenüber Menschen
6
7
Konstruktiv dazu Yoshiro Nakamura, Xenosophie. Bausteine für eine Theorie der Fremdheit, Darmstadt 2000.
Yoshiro Nakamura, Xenosophie, S. 244.
10
einer anderen Religion, anderer Kultur und aus anderen Ländern. Christen sind
aber immer und überall auf der Welt fremd, weil sie ihre Heimat im Himmel
haben. Christen können sich wie Jesus mit dem Fremdsein der Fremden, der
Ausländer und Flüchtlinge identifizieren. Christen haben jedenfalls keinen
Grund, Fremde abzulehnen oder sich nicht mit Fremden, d. h. auch mit NichtChristen vertraut und bekannt zu machen. Christen und die christlichen Kirchen
haben den Auftrag Jesu, den Notleidenden zu helfen und sie zu unterstützen
und zwar unabhängig von Volkszugehörigkeit, Kultur, Religion etc. Auf
Grundlage der Philosophie von Emmanuel Levinas kann ein gesellschaftliches
Bewusstsein entwickelt werden, das dem Anderen und Fremden Vorrang vor
dem Eigenen und dem Selbst einräumt. Zudem werden Individuum und
Gesellschaft verpflichtet, Verantwortung für den Anderen zu übernehmen, da
dem Anderen und Fremden eine Erstbedeutung zukommt und gleichzeitig die
Andersheit des Anderen oder Fremden, die unterschiedlichen Lebenswelten
etc. bedingungslos akzeptiert werden. Dies spiegelt letztlich eine biblisch
fundierte christliche Ethik und philosophisch-soziologisch geprägte Handlungsbzw. Verantwortungsmaxime wieder. Aber so können gegenseitige,
wechselseitige Lern-, Assimilations- oder Integrations- und
Inkulturationsprozesse gelingen. Dann können aus „Fremden“ einmal
„Vertraute“ werden.
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