Leidensdruck: Grundlage für Veränderung - Erfahrungen eines Therapeuten. Referat bei der Tagung „Wieviel Leid(en) braucht der Glaube“ in Hofgeismar 10.-12.02.2012 Überblick: Psychotherapie braucht Leiden Das Leiden muss in vielen Fällen erst als solches entdeckt werden. Hinter körperlichen Leiden können sich seelische Leiden verbergen. Eine Charakterneurose lässt nur andere leiden. Leiden kann auch als Gewinn empfunden werden. Nach Behandlung eines Leidens kann dieses als negative therapeutische Reaktion zurückkehren. Vor allem bei Jugendlichen tritt das Leiden als Identitätszweifel zutage. Identitätssuche kann leidvoll sein, wenn sie mit Perfektheitsvorstellungen einhergeht. Leiden ist Lernen, Leben ist Problemlösen. Der Psychoanalytiker wird mit diversen Leiden seiner Patienten und Klienten konfrontiert z.B. der depressiven Verstimmung, dem Kontrollzwang, der Angst, die sich auch als Phobie zeigen kann etc. Ich habe die Frage „Wie viel Leid(en) braucht der Glaube?“ zunächst einmal auf die Psychotherapie und meine Erfahrungen als Berater und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut gewendet: „Wie viel Leid(en) braucht die Psychotherapie?“ Ich stoße dann bald auf zwei Begriffe, die für die Psychotherapie immer schon eine besondere Bedeutung haben: der Leidensdruck und der sekundäre Leidensgewinn. Begriffsklärungen: Leidensdruck: subjektives Erleben eines Leids, das beim Betroffenen einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität ausübt. Der hinreichend große L. ist eine wichtige Triebfeder für Veränderungen und kann den Betroffenen veranlassen, Hilfe zu suchen oder angebotene Hilfe anzunehmen (vgl. Wikipedia). Primärer Leidensgewinn: eine subjektive Entlastung, die durch die Symptomatik zustande kommt: Wer unter Angst leidet, vermeidet die Auseinandersetzung mit konflikthaften Situationen. Auch wenn der Rückzug suboptimal für das Erleben ist (der Ängstliche kommt nicht mehr an die Luft, kann nicht mehr ins Kino oder unter Leute gehen etc.) wird er bewusst der Auseinandersetzung mit der Angst vorgezogen. Sekundärer Leidensgewinn: ein objektiver Vorteil, den ein Mensch durch seine psychische Erkrankung erlebt, wenn er z.B. auf Grund seiner Erwerbsunfähigkeit Rente beziehen kann. Eine berentete Neurose ist nicht behandelbar.1 Psychotherapie braucht Leiden. Sigmund Freud (1905, Bd V, S. 13-26) beschrieb das Fehlen des Leidensdrucks als eine Kontraindikation zur psychoanalytischen Behandlung. Deswegen sind Patienten mit Süchten, Perversionen und Verwahrlosungen, also solche, die eher einen Gewinn durch ihre Krankheit haben, schwer zu therapieren. Da sie unter den Symptomen nicht leiden, sehen sie häufig auch keinen Anlass, sich den Mühen einer Therapie zu unterziehen. Wenn man die Art des Leidensgefühls betrachtet, kann man unterscheiden, ob der Patient in erster Linie an seinen realen Behinderungen und ihren Folgen leidet oder aber an einem 1 S.O. Hoffmann/G. Hochapfel (Hg.), Neurosenlehre, Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin, Stuttgart/New York 61999, 69f. 1 irrealen, subjektiven Empfinden. Franz Heigl2 beschreibt das und weist darauf hin, dass sich so auch eine schwere Neurose zeige. Er veranschaulicht es mit dem Fall eines 23jährigen Patienten mit verschiedenen neurotischen Symptomen, der wegen Händezitterns in die psychotherapeutische Praxis kommt. Das Symptom tritt nur in geselligen Kreisen bei Kaffee oder Wein auf oder wenn er ein Referat hält. Darüber ist er verzweifelt, während ihn andererseits seine objektiv schweren Arbeitsstörungen, die seine Arbeit als Physiker zu verunmöglichen drohen, nicht stören. Das Zittern wird von ihm als Ausdruck von Schwäche gesehen, als beschämende Einschränkung seiner Souveränität. Er lebt mit einem Superman-Ideal, will immer und überall dominieren und überlegen sein. Das Händezittern hindert ihn, seinem Ideal gerecht zu werden - und wird dadurch gesteigert. Es entspricht seiner zittrigen Unsicherheit, die er erlebt, wenn er in eine eher gefühlsbetonte zwischenmenschliche Situation geriet. Er könnte dann ja weicher und hingebender werden. Er aber strebt Sachlichkeit, Distanz und Souveränität an. Das verminderte Selbstwertgefühl schmerzt ihn mehr als die existentiell bedrohliche Arbeitsstörung. Nicht das Leiden an sich führt also dazu, dass Menschen eine Psychotherapie aufsuchen, sondern die subjektiv erlebte Einschränkung des Identitätsgefühls. Subjektiv wird häufig unterschiedlich auf eine Symptomatik reagiert und dabei sind Stolz und Autonomie wichtiger als existentielles Überleben (vgl. Heigl aaO, 39-45). In sehr ähnlicher Weise habe ich das in meiner Tätigkeit als Berater und analytischer Kinderund Jugendlichenpsychotherapeut an der Psychologischen Beratungsstelle Kassel erlebt. Kinder und Jugendliche zeigen häufig zunächst keinen Leidensdruck. Es gehört ein vor der eigentlichen Therapie durchgeführter Klärungsprozess dazu, sie in ein Arbeitsbündnis zu führen, in dem ihr (eigentliches) Leid bewusst und erlebbar wird. Bei dem 17jährigen Felix, der für sein Alter ein ausgebuffter Geschäftsmann ist, fiel es mir zunächst schwer, einen Leidensdruck festzustellen. Die Mutter, die ihn begleitete, litt sichtlich unter dem Drogenkonsum des jungen Mannes. Mir gegenüber berichtete er relativ offen darüber. Felix konsumiert regelmäßig Haschisch und verkauft es auch an seine „Freunde“. Freunde sind es – wie er dem Berater erklärt –, weil sie sich im Rausch gut mit ihm unterhalten. Aber er hat die Regie in der Beziehung und nutzt sein Wissen und den Stoff, den er anbietet, eiskalt aus, um ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen und ihre Naivität auszunutzen. Er ist der coole King und sie sind „Freunde“ und Opfer zugleich. Als Berater empfinde ich eine Mischung aus Verachtung und Faszination für den jungen, sportlich gebauten Mann mit seinem lässigen Verhalten und seinem offenen und kaltblütigen Reden. Auf der einen Seite neige ich dazu diese Art von Doppelmoral und Machtkalkül zu verurteilen und auf der anderen Seite fasziniert mich das, was mein Klient macht: Der scheint keine Angst und keine Skrupel zu kennen und wagt sich nicht nur an Haschisch heran, sondern probiert auch mal Ekstasy und nimmt eine Nase Kokain. Aber er balanciert es scheinbar geschickt so, dass er nicht den harten Drogen verfällt. Es macht irgendwie auch Spaß ihm zuzuhören, wenn er seine Überlegenheit und Gerissenheit gegenüber den naiven Gleichaltrigen schildert. Ich habe mich wie Leporello, der Diener des Don Giovanni gefühlt, als ich die ersten Gespräche, die er seltsamerweise wollte, mit ihm führte. Ich werde als Berater zum Mitwisser und auch irgendwie zum Mitverantwortlichen gemacht, aber ich habe auch ein mulmiges Gefühl dabei. In einer der nächsten Stunden aber erzählt der Jugendliche über seine tatsächlich als Leiden empfundenen seelischen Probleme im Zusammenhang mit Drogen und Beziehungen. Er kann bei den Mädchen im Ort nicht mehr ankommen, weil alle wissen, dass er dealt. Mit 2 Franz Heigl, Indikation und Prognose in Psychoanalyse und Psychotherapie, Göttingen, 21978. 2 denen von außerhalb bekommt er keinen Kontakt, weil er mit Alkohol lallt, „ prollig“ wirkt, abgelehnt wird und mit Pepp oder Teilchen u.a. (Rauschgift also) cool und überlegen wirkt, aber die Frauen das arrogant und selbstbezogen finden und er selbst in dem Moment auch keinen Kontakt mehr braucht. Wenn er im Rausch Liebe machen will, ist er impotent und wenn er ohne Rausch ein Mädchen anspricht, fühlt er sich ungelenk, stottert und wirkt wie ein Verlierer. Ich werde also hinter die narzisstische Maske geführt und entdecke den nach Beziehung hungernden und an sich selbst leidenden Menschen. Wäre ich mit Verachtung auf Abstand geblieben, so hätte ich nicht mitempfinden können, wie sehr der junge Mann die Maske brauchte. Wäre ich in meiner Faszination stecken geblieben, hätte ich keine Offenheit und kein Interesse an dem Menschen und seinen Beziehungswünschen zeigen können. Auch hier ist der Drogenkonsum und selbst der Rückzug der Mutter zunächst einmal nicht das leidvolle Erleben, sondern es sind die Kränkung des Selbstbewusstseins und die Probleme, echte freundschaftliche Kontakte herzustellen, die zu einem Leidensgefühl führen. Wie in diesem Fall wird manchmal das wirkliche Leiden erst auf den zweiten Blick entdeckt und stellt sich als eine tiefgehende Störung des Selbstgefühls und der Identität heraus. Bei Menschen, die unter Charakterneurosen oder Psychosomatosen leiden, ist eine Beratung nötig, damit sie überhaupt erahnen, was hinter ihren eigentlich wohl gelittenen Verhaltensweisen oder hinter den als körperlich erlebten Beschwerden steckt. Die dreiunddreißigjährige Katharina kommt wegen Herzbeschwerden ohne organischen Befund in die Beratungsstelle. Der Arzt hat ihr den Besuch empfohlen. Sie hat keine Ahnung woher ihre Angst vor Herzattacken mit Schwindel und Schweißausbrüchen kommt. Sie ist deswegen in ärztlicher Behandlung. Bevor sie einen Psychotherapeuten aufsucht, soll sie sich beraten lassen. Ihr Bericht über ihre augenblickliche Lebenssituation zeigt sie in einer verzwickten Situation. Ihr Lebensgefährte plant die Hochzeit und sie hat auch vor, ihn zu heiraten. Mit einem schlechten Gewissen, aber mit einer ebenso großen Lust, schleicht sie sich aber hinter seinem Rücken zu einem Geliebten, mit dem sie erotische Erfüllung erlebt. Sie genießt dieses Doppelleben und hat auch keine bewussten moralischen Skrupel, weil sie doch niemandem wehtut. Ihre Herzangst ist für sie ein ganz anderes Kapitel. Hinter ihrer unbeschwerten und lebenslustigen Fassade allerdings stehen Ängste, die sie im Laufe einer Reihe von Beratungsgesprächen als Wiederholung ihrer Gewissensängste erkennt, die sie schon als Kind gegenüber den Eltern hatte, wenn sie sie heimlich beim Verkehr beobachtete und noch davon überzeugt war, dass das nicht schlimm sei, da sie ja nicht gesehen werden konnte. Auch damals genoss sie die gelungene Verheimlichung, hatte aber immer Angst vor der Entdeckung. Heute kommt die Angst nur unbewusst im Herzrasen zum Vorschein. Das wird ihr im Beratungsgespräch klar. Es wird deutlich, dass die Frau scheinbar nicht unter ihrer von Ambivalenzen gekennzeichneten Lebenssituation leidet. Ihr bewusstes Leiden ist lediglich die Angst vor einer körperlichen Herzattacke. Neben der Angstproblematik ist auch die Beziehungsproblematik dieser Frau interessant: sie ist kurz davor sich an den von ihr geliebten Partner zu binden, sucht aber die Erfüllung von „freizügigen“ erotischen Erlebnissen mit dem anderen und wiederholt damit auch eine erregende heimliche Befriedigung von sexuellen Triebimpulsen ähnlich wie bei der Beobachtung der Eltern. Die Heimlichkeit und die Abspaltung des erotischen Erlebens vom offenen Miteinander (mit Partner bzw. mit Eltern) locken und führen sie zugleich in innere Konflikte. Ihre Angst vor der Bindung mit dem Lebensgefährten kann damit zu tun haben, dass sie befürchtet, auch ihre erotische Erfüllung zu verlieren, die ja immer schon vom Reiz des Verbotenen getragen war. Das vor dem Gesetz geschlossene Bündnis scheint von ihr gefühlsmäßig mit dem Ende der Lust verbunden zu werden. Die Beratung hilft ihr, diese Sorge zu erkennen und geleitet sie von der Trauer über die Einschränkung ihrer 3 Möglichkeiten über die Ausmalung des ehelichen Zusammenlebens zu einer Perspektive, die ihr auch als individuelles Wesen einen Entwicklungsraum in der Partnerschaft gestattet. Ihre Angst vor einer als bindend erlebten, die Freiheit bedrohenden Ehe, die ich als das eigentliche Leid sehe, wird im Laufe der Gespräche gemildert. In diesem Fall ist ein Leiden an der einschränkenden körperlichen Symptomatik zu erkennen, obwohl die Bedeutung des Herzrasens zunächst nicht bewusst ist. Erst die Beratung führt zur Erkenntnis, dass die Ambivalenz gegenüber der Bindung an einen Mann das wirkliche Problem ist. Dadurch wird die Bedeutung des Symptoms erkannt. Das Leiden an dem inneren Konflikt um Bindung und Verzicht wird deutlich und die Klientin kann sich der Lösung der grundlegenden Lebensfrage zuwenden. Auch bei den Charakterneurosen, das sind neurotisch begründete Einstellungen wie zum Beispiel Geiz und übertriebene Ordnungsliebe von zwangsneurotisch strukturierten Menschen oder der masochistische Triumph von depressiven oder die Hypochondrie von ängstlichen Menschen (mit Selbstbeobachtung und Krankheitsfurcht) ist ein subjektives Leidensgefühl oder eine Leidensdruck nicht festzustellen. Ähnlich ist häufig eine überwertige Selbstliebe von narzisstischen Persönlichkeiten behandlungsresistent. Die Charakterneurose ist „ichsynton“3, das bedeutet, das eigene, von anderen durchaus als neurotisch erlebte Verhalten, stimmt mit den eigenen Maßstäben und Idealen zusammen. Eine psychotherapeutische Behandlung wird erst angestrebt, wenn dieses Verhalten mit den Erwartungen der Umwelt in Konflikt tritt. Eine Behandlung ist erst über eine distanzierte Sicht des eigenen Erlebens mit den Augen der Umwelt möglich. Die charakterlich ausgeprägte Haltung muss „ichdyston“ werden, der Patient muss darunter zu leiden beginnen. Dies wäre z.B. der Fall, wenn ein mit seiner übergroßen Ordentlichkeit zufriedener Zwangsneurotiker sich aufgrund der Einwände von Angehörigen bei der Ordnungssuche zurückhält, nun aber einem Kontrollzwang nachgehen muss (immer wieder überprüft, ob der Kochherd auch ausgestellt ist). Jetzt klagt er über die Störung und dringt auf eine Symptombesserung durch die psychotherapeutische Behandlung. Häufig ist so mit der inneren Distanzierung von dem neurotischen Verhalten die Entstehung eines dem Patienten unangenehmen Symptoms verbunden, das ihn nun leiden lässt. Psychotherapie braucht Leiden, weil Leiden zum Wunsch nach Klärung und Heilung führt und Triebfeder für Veränderungen ist. Leiden ist genau so wie Schmerz ein Mittel zur Wahrnehmung von Verletzungen und Mangelerscheinungen und dient der Erkenntnis und der Suche nach Linderung und Heilung. Aus dem Leiden lernen Menschen, sich selbst besser und bewusster wahrzunehmen. Psychotherapie braucht Leiden, weil häufig nur durch das subjektive Gefühl, unter einem seelischen Zustand und den entsprechenden Symptomen zu leiden, der Mensch bereit ist, eine Psychotherapie zu beginnen. Andererseits sind therapeutische Fortschritte schwer zu erreichen, wenn es einen bleibenden Leidensgewinn gibt – primär durch die subjektiv als Entlastung erlebte Symptomatik (z.B. Vermeidung von Konflikten aufgrund von Angst), sekundär durch die objektiven Folgen der Störung (Rücksichtnahme der Anderen, Freiräume, Rente etc.). Schließlich kommt das Leiden manchmal auch als sogenannte negative therapeutische Reaktion zurück. Vor allem, wenn die Therapie zum Ende kommt, setzt ein Prozess ein, bei dem masochistische Tendenzen dazu führen, dass ein Patient sich mit dem (ihm gewohnten) 3 vgl. Hoffmann/Hochapfel aaO, 181. 4 Leiden besser und sicherer fühlt als mit den in der therapeutischen Beziehung gewonnenen neuen autonomen und selbstbewussten Einstellungen. Fallbeispiel: Die fünfzehnjährige Natascha kommt wegen depressiver Verstimmungen im Sinne von plötzlichen Stimmungsumschwüngen mit Weinen, Verlassenheitsgefühlen und psychogenem Zittern in die Therapie. Hinter den hysterisch wirkenden Symptomen werden Verlustängste deutlich. Die auslösende Situation, der Tod eines geliebten Haustieres, lässt diese Empfindungen deutlich werden. Sie selbst führt auch die gelegentlich erlebte Kälte der Mutter als Grund für ihre Verzweiflung an. Besonders schlimm ist es dann, wenn auch der Vater abwesend oder abweisend auf sie wirkt. Dann kommt ein mörderischer Hass gegen die Mutter in ihr hoch, der ihr Angst macht und den sie mit Schuldgefühlen von sich weist. Seit sie ihr Tier nicht mehr um sich hat, hat sie das Gefühl, niemanden mehr zu haben, der ihr Halt und Zuneigung gibt. Aus der Genese ist bekannt, dass sie mit heftiger Eifersucht auf die zwei Jahre jüngere Schwester reagiert hat, als diese geboren wurde, und mit ihrem trotzigen Aufbegehren bei den zwanghaft wirkenden Eltern aufgelaufen ist. Bosheiten der Schwester irritieren sie auch heute noch sehr, weil sie dann auch ihr gegenüber eine nicht steuerbare Wut empfindet. In ihren Träumen geht sie in dunkle Häuser. Die Dunkelheit dort schreckt sie nicht, wohl aber ein dunkles Loch, in das sie unvermittelt fallen könnte. Sie schmückt sich und ihr Zimmer mit dunklen Tüchern und wird auch von Freundinnen als Grufti-Anhängerin verdächtigt. Suizidvorstellungen haben den Inhalt, dass sie in die Weiten des Himmels entschwinden könnte. Immer wieder wird die Kaltherzigkeit der Mutter und die Trauer um das verlorene Tier, an dessen Tod sie sich die Schuld gibt, thematisiert. Zunehmend berichtet sie aber auch über andere Personen, z.B. über die Freundin, der gegenüber sie Wutgefühle hat. Ohnmachts- und Abhängigkeitsgefühle werden in diesem Zusammenhang bearbeitet. Nach 1 1/2jähriger Therapie schlage ich ein Gespräch zur Planung der Therapiedauer vor. Sie reagiert lächelnd und verschiebt das Gespräch. Nach einigen Stunden äußert sie plötzlich auftretende Prüfungsängste in der Schule, die verschwinden, nachdem wir ihre Neigung besprochen haben, alles perfekt und fertig zu haben. Als Therapeut verspüre ich lähmende Müdigkeit. Dann bittet sie um eine Verschiebung der Planung auf einen späteren Zeitpunkt. Schließlich verschwinden die Ängste und sie äußert, dass sie eigentlich nichts mehr zu besprechen habe. Ich spreche sie auf die Zusammenhänge dieser Vorgänge mit Abschied, Verlust und der Frage der eigenen Geliebtheit an. Sie verlängert die Therapie mit dem Argument, dass sie noch etwas zu besprechen hätte, was sie bisher noch nicht sagen konnte. Sie beginnt den Zeitraum bewusst zu genießen, der ihr in der Therapie zur Verfügung gestellt wird. Sie wirkt gelassen, ihre depressiven Verstimmungen sind schon länger nicht aufgetreten. Der Fall zeigt die Züge einer Adoleszenzkrise mit lärmenden Anzeichen der Ablösung und der aggressiven Auseinandersetzung, wie auch Züge einer hysterischen Verarbeitung mit körperlichen Reaktionen, die die Aufmerksamkeit der Beziehungspersonen auf sich ziehen und innere Verarbeitungen externalisieren helfen. Auch die Möglichkeit, über die Kleidung oder Dekoration von Räumen Empfindungen auszudrücken ist auffällig. Depressionen im Jugendalter haben eigene Erscheinungsformen. Die Inhalte von Berichten, Träumen und Assoziationen lassen aber die depressive Dynamik von wütender Enttäuschung, Selbstbeschuldigung und vermiedener Trauer als Verarbeitung von Verlusten erkennen. In der geschilderten Therapie führt die Ankündigung eines möglichen Endes der Beziehung, also eines von der Patientin selbst nicht gewollten Verlusts, zu einer negativen therapeutischen Reaktion, in der Ängste vor Prüfungen (als Infragestellung des Selbst und der gefühlten Identität) auftauchen und die Jugendliche sich in regressive Zustände zurückzieht (nicht mehr analytisch arbeiten, Zeit gewinnen, Sitzungen „genießen“). Erst als sie sicher 5 gestellt hat, dass sie über das Ende der Therapie bestimmen kann, kann sie sich verabschieden. Sie ist zu sich gekommen. In den geschilderten Fällen ist Leiden verbunden mit dem Gefühl, nicht richtig zu sein, nicht zu sich zu kommen und zu sich stehen zu können. Mit anderen Worten, das Leiden ist zumindest auch eine Form von Identitätszweifel oder gar Identitätsdiffusion. Wenn der 17jährige Drogendealer in der Seelsorge zwischen gefühlsisoliertem Geschäftssinn und moralischer Skrupulosität hin und her schwankt zeigt er sein Leiden an fehlendem Selbstbewusstsein und nicht gelingender Identität. Da hilft ein nicht moralisierender, aber auf die Unsicherheit als Zeichen von Menschlichkeit eingehender Berater, das Ich zu stützen, wieder an sich zu glauben und darauf zu vertrauen, dass es andere Wege gibt. Glaube an Gott oder Vertrauen auf Gott kann zur Entlastung beitragen, wenn der Jugendliche eigentlich meint, selbst alles im Griff haben zu müssen und sich selbst begründen zu können. Glaube an Gott kann Entlastung der anstrengenden Suche nach Identität (Klessmann, 254)4 sein. Die Diskussion um die Identitätsentwicklung ist wesentlich von Erik H. Erikson (Identität und Lebenszyklus 1966/71981, 62ff.)5 beeinflusst worden, der auf Grund therapeutischer Beobachtungen bei Kindern und Jugendlichen als Psychoanalytiker bestimmte Antinomien in Entwicklungsstufen feststellte und beschrieb. Auf der Grundlage des ersten Lebensjahres hieß das erste Stadium „Urvertrauen gegen Ur-Misstrauen“. Er setzt es selbst in das Verhältnis zu Religion und Glaube, indem er es als menschliches Bedürfnis darstellt, auf das alle Religionen fußen. „Wer also behauptet, religiös zu sein, muß aus seiner Religion einen Glauben ableiten können, den er dem Kleinkind in Gestalt des Urvertrauens weitergeben kann.“ (75). Das zweite Stadium (etwa 2. und 3. Lebensjahr) hieß „Autonomie gegen Scham und Zweifel“. Erikson setzt dieses Thema ins Verhältnis zu dem Prinzip „Gesetz und Ordnung“ (85). Für das 4. und 5. Lebensjahr findet er als Beschreibung einer nächsten Entwicklungsstufe das Thema „Initiative gegen Schuldgefühl“ mit der Beziehung zum „Gewissen“. Nachdem das Kind so sagen gelernt hat: „Ich bin, was man mir gibt“, dann „Ich bin, was ich will“, darauf „Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann“ (98) folgt als Thema der Grundschulzeit des Kindes „Werksinn und Minderwertigkeitsgefühl“ und das Kind sagt: „Ich bin, was ich lerne“. Als Thema für die Jugendzeit aber nennt er „Identität gegen Identitätsdiffusion“ und gibt damit dieser Entwicklungsperiode eine besondere Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung. In dieser Zeit münden nach seiner Überzeugung alle in der Kindheit gesammelten Ich-Werte in die Ich-Identität (Der Jugendliche kann sagen „Ich bin ich“). Das Selbstgefühl, das am Ende jeder der genannten Hauptkrisen erneut bestätigt sein muss, wächst sich schließlich zu der Überzeugung aus, dass man sich zu einer bestimmten Persönlichkeit innerhalb einer nunmehr verstandenen sozialen Wirklichkeit entwickelt (107). Damit ist für Erikson die Entwicklung aber noch nicht abgeschlossen. Er sieht im gesamten menschlichen Leben neue Entwicklungsstufen der Identität: „Intimität und Distanzierung gegen Selbstbezogenheit“ im jungen Erwachsenenalter mit Partnerschaftserleben, „Generativität gegen Stagnierung“ für die Zeit möglicher Elterschaft, „Integrität gegen Verzweiflung und Ekel“ beim Überblick über das bisherige Leben und bei der Aufgabe, die Annahme seines einen und einzigen Lebenszyklus und der Menschen, die in ihm notwendig 4 Klessmann, Michael, Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens. Ein Lehrbuch, Neukirchen-Vluyn 2008. 5 Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt/M. 1966/71981, 62ff.) 6 da sein mussten und die durch keine anderen ersetzt werden konnten, zu bewältigen (118). Das Leben wird also als eine Abfolge von Stufen dargestellt, in denen der Mensch jeweils ein erwartbares Thema angemessen für sich bewältigt und zu einem zeitweiligen Identitätsgefühl kommt, bis er in der Jugend eine Persönlichkeit findet, die wiederum im zunehmenden Alter ergänzt und durch neue Identitätsstufen gefestigt wird. Er schließt mit dem optimistischen Satz „Wenn wir nur lernen, leben zu lassen; der Wachstumsplan ist schon vorhanden.“ (122). Erik H. Erikson (Identität und Lebenszyklus 1966/71981, 62ff.): Urvertrauen gegen Ur-Misstrauen („Ich bin, was man mir gibt“) Autonomie gegen Scham und Zweifel („Ich bin, was ich will“) Initiative gegen Schuldgefühl („Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann“) Werksinn und Minderwertigkeitsgefühl Identität gegen Identitätsdiffusion Intimität und Distanzierung gegen Selbstbezogenheit Generativität gegen Stagnierung Integrität gegen Verzweiflung und Ekel Dieser Wachstumsoptimismus hält ein Leben ohne Leiden an sich selbst für möglich. Die mit dem Begriff der Identität verbundene Vorstellung von einem natürlichen Wachstum in Richtung auf Identität, wie sie Erik H. Erikson vertreten hat, wird aber kritisch hinterfragt. Zwar ist die Identitätssuche des jungen Menschen als Versuch einer Ausgleichung von inneren Vorstellungen über das Selbst und äußeren Anforderungen und Modellen eine mächtige Triebkraft in der Adoleszenz.6 Aber gerade die gesellschaftlichen Wandlungen zeigen, dass der Jugendliche in einer modernen Gesellschaft mit immer neuen Situationen, Frustrationen (Lehrstellenmangel) und Zukunftsaussichten (Perspektivelosigkeit) und Wertewandel kämpfen muss. Insofern ist von dem Einzelnen eine permanente Identitätsarbeit im Sinne von Vermittlung unterschiedlicher Ansprüche und eine Bereitschaft zur Vermischung unterschiedlicher Lebenskonzepte gefordert7 . Dabei müssen Brüche in der Biographie, in der Ich-Ideal-Konzeption und im Lebensentwurf hingenommen werden. Man kann auch sagen: bei der Suche nach der eigenen Persönlichkeit müssen sich junge Menschen mit dem Leid auseinandersetzen, das ihnen ein Identitätsgefühl erschwert. Henning Luther8 hat die Erfahrung solcher Brüche in einer „Identität als Fragment“ beschrieben. Für ihn ist Identität ein unerreichbares Ideal und mit der in ihrer Idealisierung liegenden Anforderung bedrückend. Er sieht das Gelingen von Identität als eschatologische Größe. Alle Selbstfindungs- und Selbstverwirklichungsversuche im Hier und Jetzt sind unvollständig. Er stimmt damit überein mit Wolfhart Pannenberg9, der in seiner Anthropologie sagt: Das Ich der Menschen lebt von sich aus nicht in der Wahrheit seiner Bestimmung. Die ist ihm vielmehr transzendent; sie weist immer über das Ich hinaus. Damit weist Pannenberg auf den Konflikt hin, der zwischen der weltoffenen Bestimmung des Ich und seiner Zentriertheit in sich selbst besteht. Eine Lösung sieht er nur, wenn sich das Ich als etwas versteht, aus dem sich sein eigenes Dasein und das seiner Welt gemeinsam zu gründen vermögen (aaO, 108). So gesehen ist die Suche nach einer Identität, die das Glück verspricht an sich leidensvoll. 6 vgl. Haar, Rüdiger, Persönlichkeit entwickeln, Göttingen 2010. vgl. Ziemer, Jürgen, Seelsorgelehre, Göttingen, 2000/2004, 201. 8 Luther, Henning, Identität und Fragment, in: Luther, Henning, Religion und Alltag, Stuttgart 1992, 160-182. 9 Pannenberg, Wolfgang, Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 81995, 45. 7 7 Andererseits gibt es in jedem individuellen Leben die Erfahrung von Selbstvertrautheit (Gräb 1998)10, in der wir immer schon leben und die uns einen Vorgeschmack auf Identität gibt, auch wenn sie uns nicht direkt zugänglich ist. Gerade wenn wir leiden, also mit disparaten Erfahrungen fertig werden müssen, Verlusterfahrungen bewältigen, einen Sinn finden wollen, leben wir aus der ebenso unmittelbaren wie letztlich unzugänglichen Selbstvertrautheit. Wir sind – um „Ich“ sagen zu können – darauf angewiesen, eine Selbstdeutung vorzunehmen. Wir entwerfen also eine Geschichte, die wir dann für unser Leben halten. Wir entwickeln Selbstbilder und Lebensentwürfe und wir deuten das Gefühl von absolutem Gegründet- und Gehaltensein als unsere Religion, als das, was uns in dieser Welt hält und unsere ganz persönliche Bindung (religio) ist. Hier wird Identität nicht als absolute Größe verstanden, sondern als der Versuch des Individuums, sich zu verstehen, zu deuten und mit der Deutung einen Halt, eine Religion zu finden. Hierzu gehört das Erkennen von Leiden und der Weg zu ihrer Klärung und Beseitigung. Das Leiden ist Teil des Lernprozesses vor allem im Jugendalter. Äsop sagt in einer seiner Fabeln: πηδηµατα µνδηµατα Leiden sind Lehren.11 Die Selbstdeutung spielt in der Persönlichkeitsentwicklung des Jugendlichen eine wichtige Rolle. Das beginnt u.U. mit dem leidvollen Blick des in die Pubertät geratenden Jugendlichen in den Spiegel und dem Erleben, dass er sich dem Spiegelbild gegenüber fremd fühlt. Von diesem Zeitpunkt an, der das Ende der Kindheit und der unreflektierten Bindung an die Eltern darstellt und die Auseinandersetzung mit dem ganz eigenen Bild, - von diesem Zeitpunkt an steht die Frage nach dem Selbst im Gegenüber eine Rolle: Was macht mich aus, wie kann ich mir selbst angenehm werden, mit mir einverstanden sein, den Blick der Gleichaltrigen aushalten, wie kann ich mich in der Welt verstehen und verständlich machen. In diesem Prozess gibt es Gefühle von Ambivalenz gegenüber der regressiv gewünschten aber auch progressiv abgewehrten Bindung an die Eltern, von Skrupeln und Schuldgefühlen, von dem Empfinden nicht richtig zu sein („nicht Fisch und nicht Fleisch“), eigentlich adoptiert und nicht das Kind der Eltern zu sein, von narzisstischer Idealisierung und Entwertung des Selbst. Diese Selbstentfremdung gipfelt bei religiöser Sozialisation in einer Entfernung von der religiösen Überzeugung, als Geschöpf gewollt und am richtigen Platz zu sein. Das Gefühl von Selbstvertrautheit wird gründlich erschüttert. Damit ist auch ein Zustand erreicht, wie ihn Martin Luther in seiner Zeit als junger Erwachsener kannte. Er konnte sich selbst nicht annehmen und lieben und verstand die Bemühung um Akzeptanz als eine Selbstliebe, die den Menschen zum „homo incurvatus in se ipso“ macht. Er wollte richtig sein und richtig glauben und fand für seine als defizitär erlebte innere Zerrissenheit keine Lösung, bis er entdeckte, dass der im Neuen Testament bezeugte Gott keine Selbstrettung durch Leistung erwartet, sondern ohne Verdienst und Würdigkeit seine Geschöpfe annimmt (rechtfertigt) und dass die Menschen zu sich Selbst kommen nur aus dem Glauben an die Gnade dieses Gottes. Die Rechtfertigungslehre ist (und das ist in Beratung und Seelsorge von jungen Menschen besonders wichtig) die Grundlage für eine Selbstannahme ohne fertige Identität. Therapeuten, Berater und Seelsorger können durch ihre annehmende Haltung, mehr noch als durch verbale Klärung, dem Jugendlichen vermitteln, dass er mit all seiner Unvollkommenheit doch ein liebenswertes und annahmewürdiges Wesen ist. Dann können Leiden als Aufgaben bei der Suche nach der eigenen Persönlichkeit und nach einem Identitätsgefühl verstanden werden. („Leben ist Leiden“, Goutama Buddha„ Alles Leben ist Problemlösen“, Karl Popper). 10 Gräb, Wilhelm, Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. Eine Praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 1998. 11 nach Äsops Fabel: Der Hund und der Koch, Nr. 232. 8 Leidensdruck: Grundlage für Veränderung - Erfahrungen eines Therapeuten. Psychotherapie braucht Leiden Das Leiden muss in vielen Fällen erst als solches entdeckt werden. Hinter körperlichen Leiden können sich seelische Leiden verbergen. Eine Charakterneurose lässt andere leiden. Leiden kann als Gewinn empfunden werden. Nach Behandlung eines Leidens kann dieses als negative therapeutische Reaktion zurückkehren. Vor allem bei Jugendlichen tritt das Leiden als Identitätszweifel zutage. Identitätssuche kann leidvoll sein, wenn sie mit Perfektheitsvorstellungen einhergeht. Leiden ist Lernen, Leben ist Problemlösen. Rüdiger Haar Heinrichstr. 8 34260 Kaufungen Tel.: 05605/6756, Fax: 05605/927441 e-mail: [email protected] website: http://www.Rüdiger-Haar.de 9