H-Germanistik CFP: Das Politische in der Literatur der Gegenwart, KoblenzLandau (15.7.2016) Discussion published by Immanuel Nover on Tuesday, May 17, 2016 Die Auslassungen des Erzählers in Christian Krachts Roman Faserland (1995) sind in der Rezeption nicht nur weitgehend unbesehen übernommen, sondern zugleich als paradigmatische Sicht auf das Politische in der Literatur der Gegenwart etabliert worden. Die demonstrative Abkehr von der Politik, die in Faserland nicht zuletzt aus ästhetischen Gründen geschieht und die die Sphäre der Politik nur mehr als Reservoir für Beleidigungen aufruft („Halt’s Maul, du SPD-Nazi“, Faserland, S. 57), verunklarte eine mögliche politische Lesart der Texte, so scheint es, nachdrücklich. Spätestens mit der Pop-Literatur war offenbar eine politische Literatur, eine littérature engagée, die dezidiert Stellung im Politischen bezieht, unmöglich geworden. Die avantgardistische Literatur der 1990er Jahre grenzte sich somit nicht nur ästhetisch und formal, sondern auch hinsichtlich ihres Verhältnisses zu der Politik und dem Politischen von den literarischen Vorgängern ab. Die verbreitete These des Unpolitischen in der Literatur der Gegenwart beruht jedoch auf einem strukturellen Denkfehler, da sie die Kategorien der politischen Artikulation und Partizipation, die etwa an Texten der Nachkriegsliteratur erarbeitet wurden, nun an Texte anlegt, die ihre mögliche politische Semantik nicht aufgrund ihrer Erzählung der Politik, sondern aufgrund ihrer Erzählung des Politischen gewinnen. Das Politische – als Abgrenzung zu der (Tages-)Politik und dem Politikbetrieb – kann hier sowohl als eine „Modalität der Existenz des gemeinsamen Lebens als auch eine Form kollektiven Handelns“ verstanden werden, das in eine komplexe wie variable Struktur im Kontext „von Macht und von Gesetz, vom Staat und der Nation, von der Gleichheit und der Gerechtigkeit, von der Identität und der Differenz, von der citoyenneté und Zivilität“ eingebettet ist und somit die Aushandlungen des Gesellschaftlichen durch die Gesellschaft in den Blick nimmt (Pierre Rosanvallon: Pour une histoire conceptuelle du politique, S. 14). Zudem versucht die Literatur der Gegenwart nun nicht mehr auf das System der Politik direkt einzuwirken, um dort beständige Veränderungen zu etablieren. Vielmehr öffnet die Literatur einen unabschließbaren politischen Diskurs und verabschiedet Letztbegründungen; das Gesellschaftliche wird zu der „fortgesetzte[n] Stiftung und Institution seiner selbst“ (Claude Lefort und Marcel Gauchet: Über die Demokratie. Das Politische und die Instituierung des Gesellschaftlichen, S. 96). In der Diskursivierung des Politischen versprechen nun, wie etwa Richard Rorty gezeigt hat, literarische Texte, die im Gegensatz zu der rationalisierenden Philosophie „Gefühl und Sympathie“ ansprechen, einen größeren Erfolg als der Versuch der philosophischen Setzung von Gründen (Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 91). Die Literatur beschränkt sich laut Rorty eben nicht auf den Versuch der mimetischen Abbildung von textexterner politischer ‚Wirklichkeit‘, sondern fungiert selbst als innovatives politisches Handeln, durch das die politische/soziale ‚Wirklichkeit‘ ausgehandelt wird. In Anlehnung an Aristoteles zeigt Jacques Rancière, wie diese Aushandlung des Politischen aussehen kann; so kann „Literatur als Literatur in diese Einteilung der [politischen] Räume und der Zeiten, des Sichtbaren und des Unsichtbaren, der Sprache und des Lärms eingreif[en]. Sie greift in dieses Verhältnis zwischen den Praktiken, den Formen der Sichtbarkeit und der Sprechweisen ein, die eine oder mehrere Welten zerteilen“ (Jacques Rancière: Politik der Literatur, S. 14). Citation: Immanuel Nover. CFP: Das Politische in der Literatur der Gegenwart, Koblenz-Landau (15.7.2016). H-Germanistik. 05-1-2016. https://networks.h-net.org/node/79435/discussions/125032/cfp-das-politische-der-literatur-der-gegenwart-koblenz-landau Licensed under a Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 3.0 United States License. 1 H-Germanistik Die Tagung will einen neuen Blick auf das Politische in der Literatur der Gegenwart werfen und ausgehend von den skizzierten theoretischen Überlegungen den Diskurs des Politischen in der Literatur der Gegenwart verfolgen. Im Fokus der Tagung soll die Literatur zwischen 1995 und 2016 stehen. Krachts Faserland wird hier als Zäsur gesetzt, wissend, dass im selben Jahr auch Günter Grass‘ Ein weites Feld und Thomas Brussigs Helden wie wir als zwei der besonders beachteten ‚Wenderomane‘ erschienen sind. Es soll auch, aber nicht vorrangig um mehr oder weniger offensichtlich ‚operative‘ Literatur gehen, sondern eher um die Texte, die im skizzierten Sinn ein anderes, neues Politik-Verständnis in der Gegenwartsliteratur etablieren. Freilich soll auch hier die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen mit in den Blick genommen werden. Folgende Themenfelder in der Gegenwartsliteratur lassen sich ausmachen, die Liste wäre zu ergänzen: ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Erzählungen des Sozialen Praktiken des Politischen und der Politik Praktiken der Selbstermächtigung in der Literatur Spezifische ästhetische Formung oder Literarisierung des Politischen Das Verhältnis von Terror/Gewalt und Politik Radikale, massenmedial wirksame und literaturübergreifende Konzepte (z.B. Christoph Schlingensief) Neue/alte Ästhetiken politischer Wirksamkeit Das Politische des Pop und der Popliteratur Hybride Sprache und hybride Identitäten Die Rezeption der Gender Studies und des Feminismus’ 2.0 Politische Autobiographien Politische Manifeste Politische Figuren (z.B. der Whistleblower) Die Tagung wird vom 18. bis 20. Mai 2017 an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz, stattfinden. Für die Bewerbung um eine Teilnahme werden Abstracts von ein bis zwei Seiten Länge bis zum 15. Juli 2016 erbeten. Über die Annahme Ihres Vorschlags werden wir Sie bis Anfang Oktober informieren. Die Übernahme der Kosten für Anfahrt und Unterkunft ist angestrebt, kann aber noch nicht zugesichert werden. Die Publikation der Beiträge ist geplant. Exposés für Vorträge und Anmeldungen zur Teilnahme senden Sie bitte an beide Organisatoren der Tagung, die Ihnen auch für etwaige Rückfragen zur Tagung zur Verfügung stehen: Prof. Dr. Stefan Neuhaus: [email protected] Dr. Immanuel Nover: [email protected] Diese Ankündigung wurde von H-GERMANISTIK [Mark-Georg Dehrmann] betreut – [email protected] Citation: Immanuel Nover. CFP: Das Politische in der Literatur der Gegenwart, Koblenz-Landau (15.7.2016). H-Germanistik. 05-1-2016. https://networks.h-net.org/node/79435/discussions/125032/cfp-das-politische-der-literatur-der-gegenwart-koblenz-landau Licensed under a Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 3.0 United States License. 2