L. Ehrlich ua (Hrsg.): Ereignis Weimar-Jena - H-Net

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Lothar Ehrlich, Georg Schmidt. Ereignis Weimar-Jena: Gesellschaft und Kultur um 1800 im
internationalen Kontext. Köln: Böhlau Verlag Köln, 2008. 299 S. ISBN 978-3-412-20113-5.
Reviewed by Christian Helmreich
Published on H-Soz-u-Kult (March, 2011)
L. Ehrlich u.a. (Hrsg.): Ereignis Weimar-Jena
Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis einer
im September 2007 an der Universität Jena abgehaltenen Tagung, die die Klassik Stiftung Weimar und der
Sonderforschungsbereich Ereignis Weimar-Jena. Kultur
”
um 1800“ (SFB 482) aus Anlass des 200. Todestages Anna Amalias von Sachsen-Weimar und des 250. Geburtstags ihres Sohnes, des Großherzogs Carl August, veranstaltet haben. Zwei Worte prangen auf dem Titelblatt
des Bandes, die nicht im Titel des Jenaer SFB-Projektes
standen: Gesellschaft“, womit der politischen und der
”
kultur- bzw. sozialhistorischen Perspektive der in diesem
Band versammelten Aufsätze Rechnung getragen wird,
sowie international“.
”
Das Adjektiv international“ bezieht sich nicht allein
”
auf die Nationalität der Autoren des zu besprechenden
Buches, sondern in erster Linie auf den überaus fruchtbaren Themenkomplex, der hier verhandelt wird. Es geht
in der Tat um die vielfältigen Beziehungen, die die beiden
Städte Weimar und Jena zu den großen deutschen und
europäischen Zentren unterhalten haben. Dabei sollen
die literarischen Bewegungen, die in Weimar und/oder
Jena entstanden, nicht isoliert untersucht werden; vielmehr wird die Literaturgeschichte als Teil eines größeren Ganzen gesehen: Politik, Gesellschaft, Kunst, Naturwissenschaft, Ideen- und Sozialgeschichte sind eng miteinander verbunden. Dieses Faktum tritt besonders deutlich in den disziplinübergreifenden Schriften des bekanntesten der Weimarer“ Autoren, bei Goethe, zutage, der
”
dementsprechend in dem Sammelband auch besonders
oft berücksichtigt wird.
Der Kulturraum Weimar-Jena ist in den Jahren 1770
bis 1830 nicht nur der Treffpunkt vieler Dichter und Denker aus dem gesamten deutschen Raum, sondern auch ein
Punkt in einem breit gefächerten Kommunikationsnetz.
In dem Sammelband entdeckt der Leser beispielsweise,
wie groß im Bereich der Musik der Einfluss der Wiener
Komponisten war (Cornelia Brockmann); Roland Krebs
zeichnet in seinem spannenden Beitrag nach, wie wichtig für Goethes und Schillers projektierte Theaterreform
Wilhelm von Humboldts Betrachtungen über den Pariser Theaterbetrieb waren, während Paul Raabes Ausführungen besonders anschaulich die Bedeutung der kulturellen Traditionen der verschiedenen Fürstengeschlechter hervorheben: So scheint die büchersammelnde Herzogin Anna Amalia in Weimar gewissermaßen eine Tradition einzuführen, die in ihrer Familie, dem Wolfenbütteler Fürstenhaus, über Generationen gepflegt wird. Spannend sind auch die politischen Implikationen der Verbindung des Hauses von Sachsen-Weimar mit der russischen
Zarenfamilie, die Franziska Schedewie anhand der Briefe
Carl Augusts an seine Schwiegertochter Maria Pavlovna,
der Schwester Alexanders I., nachzeichnet.
Nicht immer geht es in diesem Band darum,
die Wechselbeziehungen zwischen dem Weimar-Jenaer
Raum und dem nahen oder fernen Ausland“ nachzu”
zeichnen. In einigen Beiträgen werden andere Räume
mit Sachsen-Weimar kontrastiert, so zum Beispiel in dem
Beitrag Walter Schmitz’, der Dresdens kulturelle Stellung
im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert beschreibt und
analysiert, oder in Herbert Zemans Artikel, in dem die
Leistung der Wiener Komponisten und ihrer Textdich1
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ter für die Entstehung eines spezifisch österreichischen
Text- und Literaturverständnisses zwischen Aufklärung
und Biedermeier herausgearbeitet wird. Sehr erhellend
ist auch das Panorama der französischen Literatur, das
Heinz Thoma in seinen Ausführungen liefert. Bekanntlich ist die seit der Querelle“ immer wieder aufgenom”
mene Frage der Beziehung zwischen der Kunst der Neuzeit und der klassischen Kunst und Literatur der Griechen
und der Römer ein zentrales Thema vieler deutschsprachiger Autoren des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Vor
diesem Hintergrund ist die Skizze, die Thoma vom Stand
der Debatte in Frankreich entwirft, besonders lehrreich.
Die Betrachtung der kulturgeschichtlichen Entwürfe, die
Condorcet ( Esquisse d’un tableau historique des progrès
”
de l’esprit humain“, 1795), Madame de Staël ( De la litté”
rature“, 1800) und Chateaubriand ( Le Génie du Christia”
nisme“, 1802) in der revolutionären und nachrevolutionären Zeit vorlegten, zeigt, so Thoma, dass die Antike,
”
jedenfalls konzeptionell, keinen spezifischen qualitativen
Referenzpunkt mehr bildet. Nicht jedoch in Sicht ist ein
modernes Geschmacksideal. Es bleibt durch die eben die
Antike nachahmenden Autoren des Siècle de Louis XIV’
’
geprägt“ (S. 214).
Eisenach“) nachgezeichnet wird. Die politische Schwäche des Herzogtums sollte durch die Beförderung der
”
Künste und Wissenschaften“ (Goethe, Zitat bei G. Müller, S. 67) gleichsam kompensiert werden. In dem Sammelband finden Forschungen zum Alten Reich ihren Niederschlag, die schon seit geraumer Zeit dem gängigen,
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts insbesondere von den kleindeutsch-preußischen Historikern propagierten und noch heute gern wiederholten Bild des Reiches als buntscheckigem Flickenteppich“, in dem das
”
Reich als politisch machtloses Sammelbecken von Kleinstaaten und letztendlich von der Geschichte überholtes
Gebilde erscheint, entgegentreten. Die Beschreibung der
Grundlagen und Perspektiven des deutschen Födera”
lismus“ (um den Titel des Artikels von Johannes Burkhardt hier wieder aufzunehmen) zeigt auch, wie sehr die
historisch-politische Bewertung der Geschichte des Alten Reichs von der Weltsicht des Geschichtsschreibers
abhängt: Dort, wo ein Treitschke in der deutschen Vielstaaterei einen Effizienzverlust ausmachte, weil die teilweise widerstreitenden Kräfte der verschiedenen deutschen Territorien keine deutsche Machtpolitik zuließen,
kann heute, da nationale Machtpolitik im Lichte der katastrophalen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts in DeutschNeben der internationalen Perspektive muss auch der
land nicht mehr wünschenswert erscheint, das komplexe
zweite Schwerpunkt des zu besprechenden Bandes herSystem des Reiches, in dem ständig die Balance neu ausvorgehoben werden: Die Analyse der Position Weimars tariert werden musste, wiederentdeckt und aufgewertet
und Jenas in der Zeit um 1800 wird eingebettet in den his- werden.
torischen und politischen Kontext, wobei insbesondere
die Situation des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach
Es ist in der gebotenen Kürze nicht möglich, hier all
im Alten Reich dargestellt wird. Dabei werden unter an- die Themen aufzuführen, die in dem Band angeschnitderem die Bemühungen Carl Augusts thematisiert, der ten werden. Die historische, geographische und pluriin dieser Zeit des Umbruchs versuchen musste, seinem disziplinäre Perspektive erlaubt es, eine zentrale Epoche
kleinen Herzogtum Gestaltungsräume zu geben, der sich und einen zentralen Ort der deutschen Kulturgeschichgleichzeitig aber auch für eine Reichsreform einsetzte te (den Ereignisraum“ zu nennen allerdings vielen aus”
und in den 1780er-Jahren eine aktive Rolle im Fürsten- wärtigen Teilnehmern der Tagung – im Gegensatz zu den
bund spielte. Zunehmend konnte auch das kulturelle Ge- Mitarbeitern des SFB – offensichtlich schwer fällt) neu
wicht der Weimarer“ Autoren in politisches Kapital um- zu erfassen und genauer zu verstehen. Dass die bewun”
gemünzt werden. Der Glanz des Weimarer Musenhofes, dernswerte Themenvielfalt des Sammelbandes auch eine
der Jenaer Universität und der kulturellen Leistungen gewisse Heterogenität nach sich zieht, ist wohl unverWielands, Goethes, Herders und Schillers strahlte gewis- meidbar. Hätten sich alle Beiträge auf ein enger gefasstes
sermaßen auch auf das Herzogtum als politische Entität Thema konzentriert, wäre dies a contrario auf Kosten der
zurück.
weiten Perspektive gegangen. Dabei ist eine Weiterführung und Vertiefung des Forschungsansatzes des SFB 482
Die Inszenierung Weimars als deutsches Musenwünschenswert, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte,
”
idyll“ (Georg Schmidt, S. 31), das von den Weimarer
die verschiedenen Facetten der Geschichte Weimars und
Autoren schnell zu einem deutschen Bethlehem“ oder Jenas auszuleuchten und die vielfältigen nationalen und
”
Athen“ (S. 20) stilisiert wurde, ist auch das Ergebnis ei- internationalen Verknüpfungen aufzuzeigen, die diesen
”
ner aktiven Kulturpolitik“, die insbesondere in Gerhard Kulturraum ganz eigentlich auszeichnen.
”
Müllers Artikel ( Kultur als Politik in Sachsen-Weimar”
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Citation: Christian Helmreich. Review of Ehrlich, Lothar; Schmidt, Georg, Ereignis Weimar-Jena: Gesellschaft und
Kultur um 1800 im internationalen Kontext. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. March, 2011.
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