Glenn Bowman – Radikaler Empirismus. Glenn Bowman Radikaler Empirismus. Anthropologische Feldarbeit im Gefolge von Psychoanalyse und Année sociologique. (aus: Der andere Schauplatz. Psychoanalyse | Kultur | Medien., M.-L. Angerer; H.P. Krips, Turia+Kant, 2001) Abstract Der Autor behandelt in seinem Essay die heutige anthropologische Feldforschung, bringt diese in Zusammenhang mit Psychoanalyse und dem Begriff der „Année sociologique“. Bowman hinterfragt die Methodik und „Heroisierung“ anthropologischer Feldforschung, er bezweifelt, dass objektive Beobachtungen und Untersuchungen (über einen längeren Zeitraum) möglich seien – er kommt zu dem Schluss, dass sich Forscher früher oder später dem Untersuchungsobjekt/-subjekt annähern, sich mit demselben identifizieren. Schlagwörter Radikaler Empirismus; Glenn Bowman; Année sociologique; Marcel Mauss; Anthropologie; Feldarbeit/Feldforschung; Relativismus; Dan Sperber; Subjektivismus; Benjamin-Timon Schaffer, 0305865 696511 VO Medienpädagogik: Medienbildung, Medienkompetenz, Medienkultur Univ.-Prof. Dr. Thomas A. Bauer, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Universität Wien, WS 2004/2005 1 Glenn Bowman – Radikaler Empirismus. 2. Zusammenfassung des Textes „Empirismus, philosophische Richtung, die davon ausgeht, dass alle Erkenntnis auf Erfahrung beruht und dabei die Möglichkeit einer Erkenntnis a priori bestreitet. Als Hauptvertreter des klassischen Empirismus gelten John Locke, Francis Bacon, David Hume und George Berkeley. Im direkten Gegensatz zum Empirismus steht der Rationalismus, der von René Descartes, Baruch Spinoza, Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian von Wolff begründet wurde. Die Rationalisten gehen davon aus, dass dem Verstand als Erkenntnisquelle Priorität gegenüber der – durch die Sinne vermittelten – Erfahrung zukommt. Immanuel Kant vereinte Empirismus und Rationalismus: Wie die Empiristen ging er davon aus, dass dem Wissen Sinneseindrücke zugrunde liegen, die a posteriori gewonnen werden. Erkenntnis wird jedoch erst durch den Verstand ermöglicht, der die Empfindungen in eine Struktur bringt. Diese stammt nicht aus der Erfahrung, sondern liegt a priori im menschlichen Verstand begründet. In den USA trugen William James und John Dewey zur Weiterentwicklung des Empirismus bei.“1 Glenn Bowman, Dozent für Sozialanthropologie in Kent, USA, verfasste den vorliegenden Artikel im Oktober 1997, publiziert wurde er erstmals im März 1998 in dem Fachjournal „Anthropological Journal on European Cultures“.2 Er versucht das Problem des Subjektivismus veranschaulicht an Beispielen aus anthropologischer3 Praxis näher zu beleuchten und die für die Wissenschaft so essentielle Subjekt-ObjektUnterscheidung zu analysieren. Zu Beginn seiner Ausführungen definiert der Autor noch die Aufgaben eines Anthropologen – nämlich die Lebensräume und Lebensgewohnheiten der „anderen“ (die man eventuell sogar durch bewusste Abgrenzung der Territorien zu „den anderen“ gemacht hat) zu erforschen. Gleichzeitig wird dadurch die Problematik bei solch einem Vorgehen verdeutlicht: Der Ethnologe muss einerseits vor Ort forschen, d.h. empirische Feldforschung betreiben und sich den „Empirismus“; Encarta 2003 vgl. Anthropology at Kent 2003 3 Anthropologie, vor allem Sozial- & Kulturanthropologie ist mit Ethnologie gleichzusetzen, also der Lehre von den Kulturen der Welt. Untersuchungsgegenstand sind Aspekte menschlichen Zusammenlebens und das Selbstverständnis einer Kultur; vgl. Merckle 1973 1 2 2 Glenn Bowman – Radikaler Empirismus. Untersuchungssubjekten nähern, mit ihnen eine gewisse Zeitspanne verbringen, um so ihre Lebensgewohnheiten beobachten zu können, aber andererseits darf weder er auf die Subjekte einwirken, noch sich durch sie beeinflussen und sich so von seinem empirischobjektiven Standpunkt ablenken lassen. Diese polaren Vorgaben, welche der Forscher erfüllen sollte, stoßen vor allem in der postmodernen Anthropologie auf Kritik: Der Forscher fühl sich also unter Druck gesetzt, um die Objektivität zu wahren, gewisse Unterschiede festzustellen, dazu werden teilweise Barrieren errichtet, die während der Feldarbeit vielleicht nicht so empfunden wurden, so Sperber4. Einige Anhänger der strengen Trennung von Objekt und Subjekt in der Feldarbeit, die der Moderne, stellen die Problematik so dar: Die Welt sei in zwei interagierende Teile geteilt, der eine regelmäßig, geordnet, der andere chaotisch, eine „Masse von Phänomenen“5. Die Intellektuellen (etwa Anthropologen) befänden sich in einem „Elfenbeinturm“, abseits, gewissermaßen in einer akademischen Hochburg, um sämtliche Zustände und Ereignisse sowie Phänomene rund umher zu beobachten, und gleichzeitig die Distanz zum Beobachteten, also zu den anderen, zu wahren. Diese Anschauung führt letztlich zu der Überzeugung, dass „… ein objektives Wissen der Welt für jene, welche modern sind, möglich ist, und daß dieses Wissen auf einer radikalen Unterscheidung zwischen einem >Subjekt/Gesellschaft<, welches die Welt der Objekte kennt, und der Welt als solcher gründet.“6 Eine Deutungsmöglichkeit dieser Aussage könnte sein, dass andere Kulturen, also Gemeinschaften von Menschen, sobald sie durch Intellektuelle unserer Kultur erforscht oder verstanden werden, zu Objekten „verkommen“. Weiters behandelt Bowman in seinem Essay den Ablauf der Feldforschung, sowie das Resultat, nämlich dass weder Forscher noch Erforschter aus dem erkenntnisgenerierenden Prozess austreten, wie sie in ihn eingetreten sind. Dies könnte dadurch erklärt werden, dass nun mal in empirischer Forschung oder wissenschaftlicher Arbeit generell keine 100% objektive Behandlung eines Themas stattfinden kann, 4 vgl. Bowman 1997, S. 119. Bowman 1997, S. 120 6 Bowman 1997, S. 122 5 3 Glenn Bowman – Radikaler Empirismus. sondern dass gerade in sozialer Forschung subjektive Komponenten mit einfließen und so die Ergebnisse auch beeinflussen – Aufgabe des Forschers ist es, die Subjektivität so gering wie möglich zu halten, komplett ausblenden wird er sie doch wohl nicht können. Weiters wird der Arbeitsprozess der Anthropologen insofern gedeutet, dass er „…nicht nur neues Wissen, sondern auch neue Wissende“7 hervorbringt – sowohl der Forscher lernt von seinem Erkenntnissubjekt als auch der Beforschte vom Forscher. Gegen Ende des Artikels gibt der Autor vermehrt Verbesserungsvorschläge an, wie man ethnologische Texte verständlicher verfassen könnte, bzw. wie man bestehende obligate Regeln modernisieren könnte: Einerseits die erste Person in Fachliteratur zuzulassen, um so den „geisterhaften Beobachter“8, der durch die Verwendung der dritten Person entsteht, zu umgehen. Andererseits schlägt Bowman vor, nicht krampfhaft zu versuchen, beforschte Kulturen zu „andern“9, d.h. möglichst viele Gegensätze und Unterschiede aufzuzählen. Weiters spricht sich der Autor für eine Änderung der Terminologie „Erkenntnisobjekt“ in „Subjekt“ aus, da so der bis dato in den meisten Fällen vernachlässigte Begriff der Individuen etwas stärker ins Zentrum rückt. Der Forscher sollte sich der Doppelseitigkeit seiner Tätigkeit bewusst sein – einerseits muss er Verständnis für die Vorgänge im Feld zeigen, andererseits Beobachtetes so „übersetzen“, dass seine eigene Kultur Beschriebenes versteht. Gegen Ende seiner Überlegungen überdenkt Bowman ein weiteres Mal den Begriff der Subjektivität und versucht ihn aus dem Blickwinkel der Psychoanalyse10 bzw. der Mitglieder der „Année sociologique“11 zu erfassen. Abschließend stellt Bowman fest, dass: „…ein Verstehen des erforschten >Sie<, ebenso wie des forschenden >Wir<, kann nur erreicht werden durch akribische Beobachtung und Nacherzählung jenes Prozesses, in dem man zu einem 7 Bowman 1997, S. 123 Bowman 1997, S. 124 9 (Es handelt sich um keinen Tippfehler, sonder es ist tatsächlich „andern“, nicht ändern gemeint!) Dan Sperber meint, dass wenn „…das künstliche >andern<, …, einmal beseitigt[ist], können Leser die Erfahrung nachempfinden, …, welche der Anthropologe überquerte, als er sich innerhalb des Habitus der Menscher, die er oder sie erforscht, ansiedelte.“; Bowman 1997, S. 128 10 Begründer: Siegmund Freud; vgl. Merckle 1973 11 1898 in Frankreich von Émile Durkheim (hatte den Lehrstuhl f. Soziologie & Pädagogik in Bordeaux inne) gegründete Zeitschrift. Durkheim wurde vor allem durch Auguste Comte, dem Begründer des Positivismus, beeinflusst; vgl. Encarta 2003 8 4 Glenn Bowman – Radikaler Empirismus. Subjekt des beobachteten Habitus wird. Solch ein >radikaler Empirismus< ist autobiographisch,…“12 3. Auswertung / Besprechung des Artikels Es ist schwierig einen Zusammenhang des Textes, der sich fast ausschließlich auf Ethnologie bzw. Anthropologie, also Völkerkunde, bezieht, mit der Medienpädagogik herzustellen. Ich würde glauben, dass die zentrale Frage des Subjektivismus in Feldforschung oder überhaupt die unklare Trennung zwischen Objekt bzw. Subjekt und Forscher in empirischen Arbeiten am ehesten auf die Kommunikationswissenschaft und daher auch auf die Medienpädagogik zutrifft. Denn auch in unserer Disziplin wird über den Einfluss subjektiver Komponenten in Forschungsarbeiten und über die Annäherung zwischen Beobachter und Beobachteten geklagt – vergleichbare Problematik aus unserem Fach ist z.B. das Phänomen der sozialen Erwünschtheit bezüglich heikler oder intimer Themen in Umfragen. Wie die Medienpädagogik beschäftigt sich die Anthropologie mit Menschen, mit Kulturen und Gesellschaftsformen, sie versucht andere Gesellschaften (und so andere Kommunikationssysteme) zu erforschen und zu entschlüsseln. Ich glaube jedoch, dass es bessere Texte und Essays gibt, um die bereits beschriebene Problematik zu veranschaulichen – Bowmans Text ist meiner Meinung nach zu fachspezifisch, und daher für die Kommunikationswissenschaft nicht so relevant, wie beispielsweise ein U. Saxer-Text für Biologen kaum Sinn ergeben wird. Bowman bleibt sehr nahe an den Praktiken, Methoden und lässt ausschließlich Vertreter aus der eigenen Disziplin zu Worte kommen, ich hätte es bevorzugt, entweder einen (Disziplins-) neutraleren Text zu lesen, oder einen spezifisch kommunikationswissenschaftlichen bzw. medienpädagogischen. 12 Bowman 1997, S. 143 5 Glenn Bowman – Radikaler Empirismus. 4. Bibliographie Anthropology at Kent (2003): Glenn Bowman. Siehe URL: http://www.kent.ac.uk/anthropology/staff/glenn.html (Abrufdatum: 27.11.2004) G. Bowman (1997): Radikaler Empirismus. Anthropologische Feldarbeit im Gefolge von Psychoanalyse und Année sociologique. In: M.-L. Angerer; H.P. Krips (2001): Der andere Schauplatz. Psychoanalyse | Kultur | Medien. Seiten 115ff. Wien. Turia+Kant Encarta Enzyklopädie Standard (2003): Suchbegriff; Suchbegriff2; Suchbegriff3. Multimediaenzyklopädie: Microsoft® Encarta® Enzyklopädie Professional 2003.(c) 1993-2002 Microsoft Corporation. Alle Rechte vorbehalten. Merckle Lexikon (1973): Lingen Lexikon in 20 Bänden. Wiesbaden. F.A. Brockhaus. 6