Hessischer Rundfunk Hörfunk – Bildungsprogramm Redaktion: Volker Bernius WISSENSWERT Der freie Wille (2) Charles Darwin kränkt die Menschen Von Mischa Ehrhardt Dienstag, 06.12.2005, 08.30 Uhr, hr2 Sprecher: Sprecherin: 05-166 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Ver-wendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. 1 Sprecherin: Lucy war eine Frau. Sie wog so wenig wie ein Kind und war auch nur so groß wie ein Kind. Lucy ist etwa 3,2 Millionen Jahre alt. Sie gehört zur Stammesfamilie der Australopithecus – den Vorfahren der Menschen. Es war eine Sensation, als Lucy in Südäthiopien entdeckt wurde: ein gut erhaltenes Skelett der Affenmenschen, die bereits aufrecht gehen konnten. Seit Darwin 1859 sein Werk über die Entstehung der Arten veröffentlichte, belegen immer mehr Funde, dass die Evolutionstheorie den Rahmen absteckt, in dem der Mensch sich entwickelt hat. Streng genommen ist aber auch diese Vorform des Menschen relativ jung. Denn die Geschichte des Lebens auf unserem Planeten fing vor rund 3,5 Milliarden Jahren an – und zwar mit einer oder nur sehr wenigen Keimzellen. Musik Zitator: Es ist wahrlich etwas Erhabenes um die Auffassung, dass der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder gar nur einer einzigen Form eingehaucht hat und daß, während sich unsere Erde nach den Gesetzen der Schwerkraft im Kreise bewegt, aus einem so schlichten Anfang eine unendliche Zahl der schönsten und wunderbarsten Formen entstand und noch weiter entsteht. Sprecherin: Charles Darwin schrieb diese Sätze – und legte damit den Grundstein für eine Theorie über die Entstehung der Arten. Das Grundprinzip dieser Entwicklung ist auf geniale Weise einfach: Alle Lebewesen erzeugen Nachkommen, die bei begrenzten Nahrungsressourcen überleben wollen. Daher stehen die Arten in einem “Struggle for Live”, also in einem Wettbewerb ums Dasein. In diesem überleben nur die Tauglichsten, was allgemein bekannt ist unter dem Schlagwort des “Survival of the fittest”. In der Welt haben nur die Arten überlebt, die sich an die gegebene natürliche Umwelt am besten angepasst haben. Dabei geht es aber nicht um bloße Stärke, die sich im Überlebenskampf auszahlt, erklärt Frank Lienhardt. Lienhardt erforscht die Geschichte der Naturwissenschaften an der Universität Frankfurt. Lienhardt 5,00 (20’) 2 Es geht nicht darum, dass eben der Stärkste überlebt, sondern survival of the fittest heißt dass der, der am besten an die äußeren Gegebenheiten angepasst ist, dass derjenige sich also am besten Fortpflanzt, darum geht es bei der Evolution. Sprecherin: Mit seiner Theorie stellt Darwin den Menschen mitten in die Natur. Alles Leben begann in einer oder wenigen Zellen und brachte alle anderen Arten hervor. Heute sind diese Gedanken Bildungsgut. Mitte des 19. Jahrhunderts aber waren sie neu und ebenso revolutionär. Zuvor galt über Jahrhunderte die Meinung, dass der Mensch die Schöpfung Gottes sei. Darwin stellt ihn nun auf eine Ebene mit allen anderen Tieren und Lebewesen auf der Welt. Eine Theorie, die zeitlich mit der Emanzipation des Bürgertums zusammen fällt: Lienhardt 3,28 (28’) Im Verlauf des 19 Jahrhunderts emanzipiert sich die bürgerliche Gesellschaft und in diesen Verlauf sollte man auch Darwin einordnen. Die Situation des Menschen innerhalb der Natur oder innerhalb des Universums wird einfach nicht mehr als gottgegeben und unhinterfragbar angenommnen. Sprecherin: Es geht Darwin in erster Linie aber nicht darum bloß zu erhellen, woher der Mensch abstammt; seine eigentliche Leistung liegt darin, dass er einen Mechanismus offen legt, der für die Entstehung aller Lebewesen gleichermaßen gilt. Und das eigentlich revolutionäre an seiner Theorie ist, dass er in den Verlauf dieser Geschichte keine Absicht und keinen Sinn hinein interpretiert. An die Stelle einer höheren Ordnung oder eines göttlichen Plans tritt ein Naturprinzip, bei dem es – vereinfacht gesagt –um das Überleben der einzelnen Arten geht. Der Geschäftsführer vom Institut für Evolutionswissenschaften Morphisto in Frankfurt, Michael Gudo, über die Konsequenzen der Darwinschen Sichtweise: Gudo 0,48 (43’) Darwin hat natürlich mit seiner Evolutionstheorie das bis dahin vorherrschende Weltbild sehr stark beeinflusst. Man ging bis dahin eigentlich davon aus, dass alle Organismen – Tiere, Pflanzen und der Mensch – von Gott geschöpft seien, und damit natürlich einen besonderen Wert in der Welt hatten. Darwin hat mit der Evolutionstheorie eben die Frage in die Diskussion gebracht, ob der Schöpfungsakt Gottes überhaupt so weit reichend ist, wie das in der Bibel steht und wie es in den Köpfen der Menschen damals eben verankert war. 3 Sprecherin: Charles Darwin wird 1809 in England geboren. Von 1827 bis 1831 studiert er Theologie. Doch schon während des Studiums interessieren ihn mehr und mehr biologische und naturwissenschaftliche Fragen. 1831 bekommt er durch seinen Botanikprofessor einen Platz auf dem Forschungs- und Vermessungsschiff “Beagle”. Fünf Jahre reist Darwin über die Cap Verdischen Inseln nach Südamerika, von dort über Tahiti nach Neuseeland und schließlich über Mauritius und Kapstadt nach England zurück. Vor allem der Aufenthalt auf den Galapagos-Inseln mit ihrer reichhaltigen Vogelwelt bringt Darwin nach eigenem Bekunden dazu, über die Entstehung der Arten zu forschen. Das christliche Welt- und Menschenbild wird ihm dabei zunehmend fremd. Schließlich schreibt er in seiner Autobiografie: Zitator: Ich kann es kaum begreifen, wie jemand, wer es auch sei, wünschen könnte, die christliche Lehre möge wahr sein; denn wenn dem so ist, dann zeigt das Evangelium, daß die Ungläubigen, und ich müsste zu ihnen meinen Vater, meinen Bruder und nahezu alle meine besten Freunde zählen, ewige Strafen verbüßen müssen. Das ist eine abscheuliche Lehre. Sprecherin: Als Darwin 1859 seine “Entstehung der Arten” herausgibt, sind die Bücher sofort vergriffen. Offenbar trifft Darwin trifft den Nerv der Zeit. Die Kirche reagierte und setzte Darwins Schriften auf die Liste der verbotenen Bücher. Erst 1996 – also vor etwa zehn Jahren – verkündet Papst Johannes Paul II., dass Darwin mit dem christlichen Glauben vereinbar sei. Dabei ist bemerkenswert, dass Darwin in seinem Hauptwerk “Die Entstehung der Arten” auffallend wenig über den Menschen schrieb. Darüber, wie die höheren Fähigkeiten des Menschen gebildet werden schreibt Darwin knapp: Zitator: Die Psychologie wird auf einer neuen Grundlage weiterbauen: daß jedes geistige Vermögen und jede Fähigkeit notwendig nur stufenweise erlangt werden kann. Licht wird auch fallen auf den Menschen und seine Geschichte. Sprecherin: 4 Die Geschichte des Menschen ist nicht anders verlaufen als die aller anderen Tierarten auch. Er hat sich mit anderen im Überlebenskampf durchgesetzt. Daher behauptet Darwin konsequent, dass der Mensch im Prinzip auch nichts Besseres ist als andere Tiere. Kein Sprung führt vom Tier zum Menschen, es ist allenfalls eine Fortentwicklung festzustellen – und das gilt auch für seine geistigen Eigenschaften: Zitator: Wie groß auch der Unterschied zwischen den Seelen der Menschen und der höheren Tiere sein mag, er ist doch nur ein gradueller und kein prinzipieller Unterschied. Sprecherin: Auch der menschliche Geist ist also nicht vom Himmel gefallen oder ein Geschenk höherer Eingebung. Wie alle anderen Eigenschaften hat er sich im Laufe der Evolution entwickelt. Daher ist für Darwin auch die religiöse oder philosophische Annahme falsch, der Mensch sei ein reines Geistwesen. Sondern in all seinem Verhalten, in seinen Instinkten und Antrieben zeigt sich seine tierische Abkunft: Im Wahrnehmen und Denken zeigen sich die Spuren seiner Stammes- und Entwicklungsgeschichte. Ja selbst die Sprache ist ein Verhalten, deren Ursprung Darwin in der biologischen Evolution verortet: Zitator: Ich kann nicht daran zweifeln, daß die Sprache – unterstützt durch Gesten und Zeichen – ihren Ursprung der Nachahmung und Modifikation verschiedener natürlicher Laute verdankt – der Stimmen anderer Tiere und der eigenen instinktiven Schreie des Menschen. … Nach einer weitverbreiteten Analogie können wir schließen, daß die Fähigkeit vor allem während der Werbung der Geschlechter eingesetzt wurde, um verschiedene Gefühle auszudrücken, wie Liebe, Eifersucht, Triumph, aber auch dazu diente, Rivalen herauszufordern. 5 Sprecherin: Das neue an dieser Idee ist, dass der Mensch nicht bloß durch die eigene Entwicklung beeinflusst ist, sondern vor allem durch die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Gattung. Natürlich ist dabei das Gehirn nicht ausgenommen, denn im Grunde ist das menschliche Gehirn nur eine Fortentwicklung früherer Hirnformen. Es mag leistungsfähiger sein als das anderer Tiere, aber es funktioniert nach denselben natürlichen Prinzipien. Daher folgte auf Darwin ein Ansatz, den man evolutionäre Erkenntnistheorie nennt, erklärt der Evolutionsforscher Gudo. Gudo: Das ist eine notwendige Konsequenz aus der Verlängerung der darwinschen Evolutionstheorie in die evolutionäre Erkenntnistheorie, wo also dann versucht wird die Entstehung des Geistes und der Kultur direkt aus den Naturgesetzen oder aus der naturalistischen Auffassung der Evolution zu erklären. Sprecherin: Das ist nicht unumstritten und auch Michael Gudo ist kein Anhänger dieser Sichtweise. Doch historisch gesehen ist der Mensch nach Darwin sozusagen ein Stück weit entzaubert. Konnte Immanuel Kant noch von der Freiheit, ja von der absoluten Autonomie der Vernunft ausgehen, ist die Vernunft für Darwin bedingt – sie hat eine Funktion und ihr Ursprung liegt in der Naturgeschichte. Heute wird diese Sichtweise kaum noch angezweifelt. Das ist die Folie, nach der auch heutige Hirnforscher das menschliche Gehirn betrachten. Sie gehen wie Darwin davon aus, dass wir in vielen unsere Handlungen und Entscheidungen durch evolutionäre Prozesse vorherbestimmt sind. So etwa der der bekannte Neurophysiologe Wolf Singer: Singer (22,00): Schon im So-Sein von Gehirnen ist enorm viel Information über die Welt gespeichert und die wird dann ergänzt durch frühe Prägungsprozesse und Lernprozesse. Insofern sind Variablen, die unsere Entscheidungen betreffen natürlich auch zum Teil evolutionär bedingt. Sie sind festgelegt und unsere Verhaltensmuster sind geprägt. Wir kommen nicht als Tabula Rasa auf die Welt sondern mit hoch strukturierten Gehirnen, die ganz bestimmte Annahmen über die Welt machen. Sie stülpen diese Annahmen über die Welt. Unsere Gehirne konstruieren sich die erfahrbare Sinnenwelt nach ganz bestimmten festgelegten Gesetzmäßigkeiten, die genetisch vorgegeben sind. Die Welt sähe anders aus, wenn unsere Gehirne anders strukturiert wären. 6 Sprecherin: Darwin überträgt seine Abstammungslehre auch auf den Bereich der Moral. Er ist der erste konsequente Vertreter einer evolutionären Ethik. Demnach sind die sozialen Instinkte, die die Menschen ausgebildet haben, eine Folge der natürlichen Auslese: Sie haben sich in der Entwicklungsgeschichte als nützlich erwiesen; und sie haben die Position der Gattung Mensch in der Natur und gegenüber anderen Arten gestärkt. Für Darwin sind die Instinkte Zitator: “die elementarste Grundlage der sittlichen Beschaffenheit des Menschen. Sie führen mit Hilfe aktiver intellektueller Kräfte und der Wirkungen der Gewohnheiten zu der goldenen Regel: ‚Was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen’” Sprecherin: Darwin selbst war aber kein Determinist – er nahm nicht an, dass alles in der Welt streng nach physikalischen Gesetzen ablaufe. Dem Menschen gesteht er zu, seine sozialen Instinkte verfeinern und ausbauen zu können. Durch seine Lernfähigkeit ist der Mensch in der Lage, auch geistig noch höher zu steigen als eine bloße Naturgeschichte vermuten ließe. Hinzu kommt, dass eine Pointe der Evolutionstheorie es ist, dem Zufall eine gewichtige Rolle beizumessen. Heute nehmen viele Evolutionsbiologen an, dass wenn die Evolution sich noch einmal wiederholen würde, deren Ausgang völlig unvorhersagbar wäre. So wurde das Buch eines zeitgenössischen renommierten Evolutionsforschers ins Deutsche übersetzt mit dem Titel “Zufall Mensch”. Darwin hat dem Menschen einen Raum für freie und selbstbestimmte Handlungen offen gelassen. Dennoch ist der Mensch aus seinem geistigen Himmelreich gestürzt und fand sich inmitten der Tiere und der Natur wieder. Nun ist es nur noch ein kleiner Schritt, die Freiheit des Menschen selbst anzuzweifeln – denn als Naturwesen unterliegt der Mensch und sein Gehirn prinzipiell auch den Naturgesetzen. Geistige Phänomene zieht es so in den Sog der naturwissenschaftlichen Aufklärung hinein. Zitator: Die Psychologie wird auf einer neuen Grundlage weiterbauen: daß jedes geistige Vermögen und jede Fähigkeit notwendig nur stufenweise erlangt werden kann. Licht wird auch fallen auf den Menschen und seine Geschichte. 7 8