„Alles was uns fehlt, ist die Solidarität“. Geschichtsschreibung und

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Richard Heigl, Anja Ebersbach
„Alles was uns fehlt, ist die Solidarität“.
Geschichtsschreibung und soziale Bewegung.
„Jedes Hegemonie-Verhältnis“, schreibt Gramsci, „ist notwendig auch ein pädagogisches
Verhältnis und manifestiert sich nicht bloß zwischen den verschiedenen Kräften innerhalb
einer Nation, sondern auch auf der gesamten internationalen und globalen Ebene, zwischen
den Komplexen nationaler und kontinentaler Zivilisationen.“1 Die grundlegende
Beschreibung von Hegemonie als „pädagogischem Verhältnis“ lässt sich auf soziale
Emanzipationsbewegungen als treibende Kraft einer Gegenhegemonie übertragen. Soziale
Bewegungen sind als komplexe und widerspruchsvolle Lernprozesse großer Gruppen in
historischer Dimension interpretierbar. So betrachtete Otto mit gutem Grund die
Ostermarschbewegung als selbstorganisierten, kollektiven, politischen Lernprozess.2 Indem
Bewegungen Situationen neu deuten, Aktionsformen und Strategien ändern, zwingen sie auch
das kritisierte System zu Quasi-Lernprozessen.3
In der kontinuierlichen Formierung von Hegemonie und Gegenhegemonie, dem ständigen
Aufbau sozialer Bewegungen und deren Auflösung haben HistorikerInnen als „Fachleute“ für
Identitätsstiftung und historische Veränderung immer eine tragende Rolle gespielt. Der
Zusammenhang von Hegemoniebildung, sozialen Bewegungen und Geschichtsschreibung ist
komplex und belastet. Gerade nach dem 20. Jahrhundert erscheint jede
Geschichtswissenschaft wegen ihrer Instrumentalisierung durch politische Herrschaft für
Befreiungsbewegungen diskreditiert. Auf der Strecke blieb die Idee, dass historische
Forschung einen Beitrag zur Gewinnung politischer und sozialer Freiheit – jenseits der immer
wiederkehrenden zynischen Verdrehungen dieser Begriffe – leisten kann. Doch fragen wir
anders herum: Wie steht es um die gegenwärtigen Kämpfe gegen Ausbeutung,
Unterdrückung, Entfremdung und Diskriminierung? Sind diese ohne Aufarbeitung von
Geschichte, der Diskussion von Fehlern und einem Verständnis von historischem Wandel
überhaupt zu gewinnen?
1
Gramsci, Antonio (1967): Philosophie der Praxis. Eine Auswahl, hg. v. Christian Riechers, Frankfurt a.M., 152.
2
Vgl. Otto, Karl A. (1977): Vom Ostermarsch zur APO. Geschichte der außerparlamentarischen Opposition in
der Bundesrepublik 1960–1970, Frankfurt a.M./New York, 24. Das Beispiel Ostermarsch zeigt: Aus zunächst
ethisch-pazifistisch motivierten Ostermarsch-Demonstrationen entstand eine permanente Kampagne für
Abrüstung, die sich schließlich zu einer gesellschaftskritisch begründeten Kampagne für Demokratie und
Abrüstung radikalisierte.
3
Vgl. Rolke, Lothar (1987): Protestbewegungen in der Bundesrepublik. Eine analytische Sozialgeschichte des
politischen Widerspruchs, Opladen, 116 ff.
1
HistorikerInnen analysieren Ursachen historischen Wandels. Damit (re-)produzieren sie
Geschichtsauffassungen und letztlich menschliches Handeln mit. Insofern gibt es für die
Geschichtswissenschaft kein „Außen“. Ob sie will oder nicht, sie ist sozialen Bewegungen
gegenüber niemals neutral. Geschichtswissenschaft ist schon deshalb stets kontrovers, weil sie
Herrschaftserhalt legitimiert oder die Aufhebung von Herrschaft beabsichtigt.
„Alles was uns fehlt, ist die Solidarität“. Diese Liedzeile der Band Ton, Steine, Scherben war
Ausgangspunkt unserer Problemstellung auf dem Workshop der Tagung „Making History“.
Es ist notwendig, das Verhältnis von HistorikerInnen und sozialen Bewegungen neu zu
durchdenken und mit einer Bestandsaufnahme zu beginnen. Welche Rolle können
HistorikerInnen heute noch spielen? Welche nicht mehr? Dazu muss der Horizont der „Neuen
Sozialen Bewegungen“ der Nachkriegszeit überschritten und bürgerliche wie sozialistische
Bewegungen müssen miteinbezogen werden. Die folgenden Skizzen versuchen sich dem
Problem zu nähern, indem der Blick auf Momente gerichtet wird, in denen Geschichte und
soziale Emanzipationsbewegung zusammengedacht wurden.4 Unsere Überlegungen drehen
sich um zwei Fragen: Wie haben herrschaftskritische Historikerinnen und Historiker in der
Vergangenheit zur Bildung von „Gegen“-Hegemonien beigetragen? Und was lässt sich für
uns heute daraus schließen? Wir haben dazu am Ende Thesen formuliert.
1. Bürgerlich-demokratische Geschichtsschreibung
a) Die Aufklärungshistorie als Oppositionswissenschaft
Es ist weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt, dass Geschichtswissenschaft
als herrschaftskritische Wissenschaft begann und nicht zum geringen Teil systemoppositionell
war. Mit Ende der Aufklärung entwickelte sich Geschichte als eigene wissenschaftliche
Disziplin im Zusammenhang mit der bürgerlichen Emanzipationsbewegung und der
Herausbildung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft in Opposition zur feudalklerikalen Herrschaft. Die Säkularisierung der Weltanschauung sowie die Neubewertung der
4
Unter sozialen Bewegungen werden hier immer Emanzipationsbewegungen verstanden, wie auch der Begriff
Solidarität für uns auf eine demokratische und soziale Gesellschaft hin orientiert bleibt. Diese Unterscheidung
wird notwendig, da in der empirischen Sozialforschung diese wichtige Kategorisierung ins Hintertreffen gerät,
wenn soziale Bewegung häufig als Erscheinungen und Funktion eines abstrakten Modernisierungsprozesses
betrachtet werden. Vgl. v. a. Rucht, Dieter (1994): Modernisierung und neue soziale Bewegungen, Deutschland,
Frankreich und USA im Vergleich, Frankfurt a.M./New York. Die Etablierung einer solidarischen Gesellschaft
wäre demnach Inhalt und Ziel einer Emanzipationsbewegung. Solidarität meint damit nicht nur eine
tagespolitische Notwendigkeit, sondern steht in einem engen Zusammenhang mit einem möglichen historischen
Lern- und Emanzipationsprozess.
2
außereuropäischen Welt hatten zu einer Distanzierung von heilsgeschichtlichen
Geschichtsauffassungen geführt. Geschichte wurde zunehmend als Handlungsraum, als
planbar und machbar erfahren und die Menschheit wurde – befreit von jeder Transzendenz –
selbst zum Gegenstand ihrer eigenen Geschichte.5 Den Menschen als bewegendes und
handlungsfähiges Subjekt der Geschichte zu verstehen, ihn als Bedingung und Beweggrund
aller Veränderung zu begreifen, war eine scheinbar banale aber im wahrsten Sinne des Wortes
revolutionäre Erkenntnis. Dies zog einen vielschichtigen Diskussions- und Lernprozess nach
sich, der in der Spätaufklärung die Grundlegung des modernen historischen Denkens und
einer modernen gesellschaftskritischen Geschichtswissenschaft einläutete.6 Subjektivität
wurde dabei lange vor Marx nicht als Hindernis, sondern als Voraussetzung für Objektivität
verstanden.
Die Befreiung des Individuums wurde mit der freien Entfaltung des gesamten
Menschengeschlechts gleichgesetzt. Die Naturrechtler hielten der ständischen
Privilegienordnung die Gleichwertigkeit des Menschen entgegen.7 Dies ermöglichte von
Beginn an eine „globale“ Perspektive: „So wie die politische Aufklärung ihre Zielvorstellung,
die ständischen Privilegien abzuschaffen, mit der Vorstellung begründete, dass alle Menschen
gleich seien, so hat die Aufklärungshistorie die (ständische) Partikularität der von ihr
angesprochenen Subjekte aufgehoben zugunsten der Vorstellung einer
universalgeschichtlichen Einheit der Gattung ‚Mensch’“.8 Mit der Universal- und
Weltgeschichte entwickelte die Aufklärungshistorie ein Genre, das Ausdruck ihres
innerweltlichen, säkularen aber eben auch umfassenden Denkens war.9
5
Koselleck, Reinhart/Meier, Christian/Engels, Odilo/Günther, Horst (1975): Geschichte, Historie, in:
Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart, 686 ff.
Dass der Umgang mit Geschichte die Kenntnisse ihrer „Gesetze“ voraussetzt, förderte einen
Verwissenschaftlichungsprozess, in dem die Bedeutung der Theorie für den Umgang mit historischen
Ereignissen erkannt wurde.
6
Vgl. Blanke, Horst Walter (1999): Zu Geschichte und Theorie des Theorie-Gebrauchs und der Theorie-Reflexion
in der Geschichtswissenschaft, in: Anke Jobmann/Bernd Spindler (Hg.): Tagungsdokumentation „Theorien über
Theorien über Theorien“ [= IWT Paper 24], Bielefeld, 7–23.
7 Bloch sieht in der Gleichheit eine politische Forderung derjenigen, die gegen ihre Unterdrückung anzugehen
beginnen. Vgl. Bloch, Ernst: Naturrecht und menschliche Würde, in: Ders.: Gesamtausgabe, Bd. 6, Frankfurt
a.M., 176, [im Folgenden: Bloch, GA].
8
Bödeker, Hans Erich (1994): Die Entstehung des modernen historischen Denkens als sozialhistorischer Prozeß.
Ein Essay, in: Küttler, Wolfgang/Rüsen, Jörn/Schulin, Ernst (Hg.): Geschichtsdiskurs, Bd. 2: Anfänge modernen
historischen Denkens, Frankfurt a.M., 306.
9
Die ersten Universal- und Weltgeschichten zeichnete eine weitgespannte komparative kultur- und
sozialwissenschaftliche Perspektive aus. Wenngleich Weltgeschichte schon in der Aufklärung durchaus
eurozentrische Züge aufwies. Vgl. Blanke, Horst Walter (1991): Historiographiegeschichte als Historik,
Stuttgart/Bad Cannstatt, 118.
3
„Die Geschichte trägt der Aufklärung die Fackel vor“, schreibt der Spätaufklärer Friedrich
Nicolai.10 Die Aufklärungshistoriker verstanden sich ganz selbstverständlich als aktiver Teil
des bürgerlichen Emanzipationsprojekts und als politische Wissenschaft. Historischwissenschaftliches Denken ging so eine enge Verknüpfung mit politischer Theorie und
weltanschaulich-ideologischer Perspektive ein. Entsprechend trat ein neuer IntellektuellenTypus in den Vordergrund, der unter Zuhilfenahme der Wissenschaft die Emanzipation der
gesamten Menschheit fördern möchte. Der Gedanke, historische Analyse und
Geschichtsschreibung zum Gegenstand allgemeiner politischer Bewusstseinsbildung zu
machen, entwickelte sich überhaupt erst in der Spätaufklärung. Mit der Aufklärungshistorie
wurde eine Tradition kritischer Geschichtswissenschaft begründet, die gegenwartspraktisches
Orientierungswissen bereitstellen will. Die Geschichtswissenschaft „diente seither nicht mehr
antiquarischen Vorlieben, sondern dezidiert der historischen Selbstaufklärung und
Selbstinterpretation der modernen Gesellschaft.“11 Und ging es darum, die
Herrschaftslegitimation der feudalen Gesellschaftsformation zu zerbrechen, so war das
grundsätzlich über das Bürgertum hinaus zustimmungsfähig. Das Projekt der Aufklärung
blieb jedoch ambivalent. Vorwärtsweisend wurden Gleichheit, Freiheit und Recht auf
Unverletzlichkeit gefordert und ein Widerstandsrecht proklamiert, während gleichzeitig mit
dem spezifischen Eigentumsbegriff soziale Ungleichheit festgeschrieben wurde. Die für die
bürgerliche Gesellschaft konstitutiven sozialen Unterschiede machten das Konzept der
bürgerlichen Gesellschaft insgesamt fragwürdig und es ergab sich daraus der grundsätzliche
Konflikt zwischen „aufgeklärtem Bürgertum“ und den Emanzipationsinteressen des „vierten
Standes“.12
b) Aufklärungshistorie in Aktion
In Karl von Rotteck (1775–1840) finden wir einen prominenten Repräsentanten der
Spätaufklärung. Seit 1789 ordentlicher Professor für allgemeine Weltgeschichte und ab 1818
für Staatwissenschaft und Naturrecht gilt Rotteck als wichtigster Vertreter des
südwestdeutschen Liberalismus und kann als Inbegriff eines „politischen Professors“ gelten. 13
10
Zit. nach Blanke 1991, 122.
11
So Jaeger, Friedrich/Rüsen Jörn (1992): Historismus. Eine Einführung, München, 19.
12
Schon John Lockes berühmte Zwei Abhandlungen über die Regierung (1698) veranschaulichen die
Ambivalenz bürgerlich-liberalen Denkens. Zum Denken Hegels vgl. Tomberg, Friedrich (1973): Bürgerliche
Wissenschaft. Begriff, Geschichte, Kritik, Frankfurt a.M., 19 f.
13
Zu Rotteck vgl. Allgemeine deutsche Biographie, hg. durch die historische Commission bei der Königl.
Akademie der Wissenschaften, Bd. 29, 1889, 385 ff., [im Folgenden: ADB]; Ehmke, Horst (1964): Karl von
Rotteck der „politische Professor“, Karlsruhe; Becher, U. A. J. (1988): Weltgeschichte als Aufklärung: Karl von
Rotteck, in: Festgabe Heinz Hürten zum 60. Geburtstag, hg. v. Harald Dickerhof, Frankfurt a.M., 359–373.
4
Der von Rousseau und Kant beeinflusste Historiker trat als streitbarer Kämpfer für das
Vernunftrecht in Erscheinung, der Revolutionen solange für berechtigt erachtete, wie sie
Form und Zweck des Vernunftrechts nicht widersprachen. Nicht ohne Grund wird er als ein
wichtiger Wegbereiter der Ideen von 1848 eingeschätzt. Im Kampf gegen feudale Repression
engagierte er sich u. a. in der Badischen Abgeordnetenkammer für Pressefreiheit, gleiches
Wahlrecht und steuerliche Gleichberechtigung. Mit dem Verbot der von ihm und Karl
Theodor Welcker gegründeten Tageszeitung Der Freisinnige wurde ihm 1832 die
Lehrerlaubnis entzogen.14
Rottecks demokratiepolitisches Engagement ist eine für Spätaufklärung und Frühliberalismus
typische Erscheinung: alle bedeutenden Historiker der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – es
waren freilich nur Männer – betätigten sich in der Politik oder trugen als Publizisten des
Vormärz aktiv zur Herausbildung der bürgerlichen Revolutionsbewegung bei.15 Rottecks
Engagement erschöpfte sich nicht nur in seiner Tätigkeit als Abgeordneter, sondern er war in
seiner grundsätzlichen Haltung „politisch“. „Nicht die Wissenschaft um ihrer selbst willen,
sondern ihr Nutzen für die Verwirklichung des Rechts- und Freiheitsgedankens lag ihm am
Herzen; […] gleichgültig jetzt, ob er als Rechtslehrer, als Politiker, oder als
Geschichtsschreiber auftrat“, charakterisierte ihn Robert von Mohl.16
Rotteck bemühte sich erfolgreich um publizistische Breitenwirkung für die bürgerlichen
Ideen. So ist Rotteck bis heute durch das von ihm und Welcker verfasste Staats-Lexikon
bekannt, das zum wichtigsten Hand- und Bürgerbuch des Frühliberalismus wurde. Sein
historiographisches Hauptwerk, die Allgemeine Geschichte vom Anfang der historischen
Kenntniß bis auf unsere Zeiten (1813–1818) blieb nicht weniger erfolgreich: Mit der
Allgemeine[n] Weltgeschichte für alle Stände (1832–1845) folgte sogar eine
publikumswirksame Volksausgabe. Rottecks Weltgeschichte gehörte zum festen literarischen
Grundbestand des badischen Bürgerhauses und Bauernhofes.17 Bis zu Rottecks Tod wurden
14
Ebenso wurde die Wahl Rottecks zum Bürgermeister in Freiburg 1833 von der Regierung nicht anerkannt.
15
Vgl. Iggers, Georg G. (1997): Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen
Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, Wien/Köln/Weimar, 121. Weitere außerhalb des
Wissenschaftsbetriebes politisch engagierte Historiker in Spätaufklärung und Frühliberalismus waren: Isaak
Iselin (1728–1782), August Ludwig von Schlözer (1735–1809), Friedrich Christoph Schlosser (1776–1861) und
seine Schüler („Heidelberger Schule“): Georg Gottfried Gervinus (1805–1871), Ludwig Häusser (1818–1867),
Karl Hagen (1810–1868). An der Frankfurter Nationalversammlung nahmen Friedrich Christoph Dahlmann,
Gustav Droysen, Karl Welcker, Georg Waitz, Georg Gervinus, Max Duncker, Karl Hagen und Rudolf Haym teil.
16
Mohl, Robert v.: Die Geschichte und Litteratur der Staatswissenschaften, Bd. 2. 1856; zit. nach Becher 1988,
360 f. Dort weiter: „Der Name Karl von Rotteck hat in Deutschland einen starken und weiten Klang; allerdings
nicht sowohl in den Büchersälen der Gelehrten oder auf den Lehrstühlen der Hochschulen, als weit und breit in
den Häusern des Bürgers und fast noch in den Hütten.“
17
Ehmke 1964, 13.
5
über 100.000 Exemplare dieser beiden Ausgaben verkauft – eine für damalige Verhältnisse
spektakuläre Größenordnung.
Geschichte sah er ganz im Trend der Zeit als Prozess der sich entwickelnden Freiheit – jedoch
ohne teleologische Gewissheit, da er Rückschläge und Unterbrechungen für möglich hielt.
Die von ihm eingeforderte bürgerliche Moral richtet sich gegen politische Gewalt und Macht.
Die Analyseinstrumente für die dahinter stehenden ideologischen und sozialen
Zusammenhänge standen noch nicht zur Verfügung.
Rotteck schrieb nicht nur über, sondern vor allem für die bürgerliche
Emanzipationsbewegung, wobei er sich selbst nicht als Historiker im engeren Sinn verstand.
Vielmehr sah er seine pädagogische Aufgabe darin, auf ein Laienpublikum – die „denkenden
Geschichtsfreunde“ – und vor allem auf die Jugend erzieherisch einzuwirken. Sein Anspruch
war, zur Entwicklung von Maßstäben eigenen politischen Denkens und Handelns beizutragen.
Dabei bediente er sich einer lebhaften und leicht verständlichen Sprache, „da man die
Gelehrten ohnehin nicht bekehren“ könne.18 Die Aristokratie wurde an der bürgerlichen
Moral gemessen – und sollte das die Zensur nicht zulassen, kritisierte Rotteck in seiner
Weltgeschichte den Despotismus des Orients derart, dass die Kritik gegen die Feudalherren zu
Hause deutlich wurde.
Das Ziel der Spätaufklärer war die Durchsetzung nationaler Einheit kombiniert mit
bürgerlichen Freiheitsrechten. Dieses Ziel bedurfte in der Revolution von 1848
gesellschaftlicher Bündnispartner. Die spätaufklärerische Geschichtsschreibung rührte die
Werbetrommel für ihre Ordnungsvorstellungen des Öffentlichen und Privaten. Die
wissenschaftlichen und politischen Aktivitäten der Historiker hatten wesentlich zur
Herausbildung des Bildungsbürgertums beigetragen, aber ein gesellschaftliches Bündnis
konnte natürlich nicht herbei geschrieben werden – die Konstellationen gestalteten sich
bereits innerhalb des Bürgertums ausgesprochen kompliziert und ungünstig.
Die Historiographie jener Jahre ist Ausdruck für die reservierte Haltung gegenüber den nichtbürgerlichen Klassen. Während der Revolution 1848 schreckten angesichts der „radikalen“
Interventionen demokratischer Kleinbürger, Studenten, Arbeiter und teilweise auch Bauern
auch die fortschrittlicheren Historiker vor den Konsequenzen einer Demokratisierung zurück.
Der Historiker und Publizist Karl Hagen (1810–1868)19, der schon im Vormärz an der Spitze
18
Zit. nach Ehmke 1964, 17.
19
Zur Biographie Hagens vgl. ADB 10 (1879), 341 ff.; Mühlpfordt, Günter 1980): Karl Hagen. Vom Historiker
der radikalen Reformation zum Radikaldemokraten 1848, in: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte, Bd.
IX, Tel Aviv, 219–272; Wolgast, Eike (1985): Karl Hagen in der Revolution von 1848/49: Ein Heidelberger
6
der radikaldemokratischen Opposition stand, schreibt in einem Brief über seinen Kollegen
Georg Gottfried Gervinus, dieser habe eine zu große Furcht vor den „radicalen Bestrebungen“
unserer Tage. „Er meint, die Gefahr drohe uns mehr von den unteren Schichten, als von den
Regierungen, und man müsse sich daher eigentlich zunächst gegen jene richten. Daß ihm
darin nicht Recht gegeben wird von anderen […] und auch von mir, können Sie sich doch
denken.“20
Gervinus und Hagen gehörten zur damals progressivsten historische Schule um den
Heidelberger Historiker Friedrich Christoph Schlosser. Diese sah sich durch die sozialen
Verwerfungen gezwungen, sich den ökonomischen Ursachen historischen Wandels politisch
und wissenschaftlich anzunähern. Hagen selbst war offen gegenüber sozialen Forderungen.
Ein Beispiel liefert Hagens Schrift Über das Proletariat und den Communismus (1844), „in
dem Vorschläge zur Verbesserung der sozialen Verhältnisse durch Einführung von
Assoziationen, Staatsanstalten und durch ein neues Finanzsystem gemacht werden.“21 Ebenso
versuchte Hagen, in seiner historischen Forschung eine Perspektive „von unten“
einzunehmen. Entsprechend innovativ ist sein dreibändiges historisches Hauptwerk über die
Reformation einzuschätzen, in dem populäre Flugschriften als Quellen verwandt wurden.22
Hagen charakterisiert damit „die geistige Bewegung in den unteren Kreisen des Volkes und
der Litteratur, und schildert die Extreme der miteinander in Kampf geratenen Richtungen.“23
Dieser Ansatz, die Sicht „von unten“ wenigstens für ein besseres Verständnis der Vorgänge
einzunehmen, war wegweisend für die Entwicklung einer kritischen Wissenschaft, denn nicht
mehr Haupt- und Staatsaktionen banden damit die Aufmerksamkeit der Historiker der
Schlosser-Schule, sondern Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Gesetzgebung rückten in den
Blick. Nachdem Gervinus schließlich in seiner Einleitung in die Geschichte des 19.
Jahrhunderts (1853) demokratische Volksbewegungen als entscheidende Triebkräfte
politisch-sozialen Wandels dargestellt hatte, führte dies zum Entzug seiner Lehrbefugnis und
zu einem Hochverratsprozess.
Historiker als radikaler Demokrat und politischer Erzieher, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins,
Heft 133, 277–299; Zepf, Robert (1988): Karl Hagen, in: Engehausen, Frank/Kohnle, Armin (Hg.): Gelehrte in
der Revolution. Heidelberger Abgeordnete in der deutschen Nationalversammlung 1848/49, Ubstadt-Weiher,
155–182.
20
Zit. nach Zepf 1998, 157 f.
21
Wolgast 1985, 283, Fußnote 18.
22
Deutschlands religiöse und litterarische Verhältnisse im Zeitalter der Reformation, 3 Bde., 1841–1844.
23
ADB 10 (1879), 341.
7
Trotz dieser emanzipatorischen Bestrebungen blieb auch die Schule um Friedrich Chr.
Schlosser gegenüber sozialen Bewegungen außerhalb der bürgerlichen Klassen
ausgesprochen reserviert. Schlosser meinte: „Mein Gemüt ist demokratisch, meine
Neigungen, Gewohnheiten, Verstand sind ewig aristokratisch, weil ich nie ins Weinhaus und
noch weniger ins Bierhaus gegangen bin“.24 Ihre Geschichtsschreibung verkörpert den
bürgerlichen Führungsanspruch im Allgemeinen und des Bildungsbürgertums im Besonderen.
Das Bildungsbürgertum wollte Ziel, Inhalt und Geschwindigkeit des Systemwechsels
bestimmen.
Die politische Strategie, Zustimmung zu organisieren, korrespondiert mit dieser
gesellschaftlichen Haltung und führt zu einer entsprechenden „Lerntheorie“. Lernprozessen
sind hier noch eindimensional als Frontalunterricht für Individuen angeordnet, deren
Entwicklung einem vorgegebenen Ziel unterworfen ist. Das Erziehungsmodell bleibt noch ein
klassisches Lehrer-Schüler-Verhältnis.25
Die Chancen auf eine Verwirklichung der Republik sah auch der radikalere und am
Konstitutionalismus der USA orientierte Hagen mit Skepsis. Er legt ein für das bürgerliche
Bildungsverständnis dieser Zeit typisches Phasenmodell zu Grunde: Die Republik sei erst
möglich, wenn das Volk „eine gewisse politische Bildung erlangt, wenn es ein selbständiges
politisches Urteil gewonnen hat.“26 Einigkeit sollte durch rationale Erkenntnis und sachliche
Auseinandersetzung hergestellt werden. Dies wird zur Grundlage dessen, was Gramsci später
als Zivilgesellschaft umschreibt.27 Dieses bildungsbürgerliche Verständnis geriet innerhalb
der bürgerlichen Öffentlichkeit auch nicht ernsthaft in die Krise – und war übrigens auch in
der späteren Arbeitsbewegung breit verankert.
c) Integrationswissenschaft
Die ausgebliebene nationale Einheit und das Scheitern der Revolution von 1848 bedeutete für
die bürgerlich-demokratische Bewegung eine tiefe Zäsur. Mit Aufkommen der
Arbeiterbewegung wurden demokratische Bestrebungen weitgehend aufgegeben. Die
Verschiebung gesellschaftlicher Kräftekonstellationen und der Durchbruch des
24
Zit. nach Wolgast 1985, 279.
25
Vgl. Seddon, Terri (1999): Bildung, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 2, 2. Aufl.,
Hamburg, 245–253.
26
Zit. nach Wolgast 1985, 285.
27
Der Begriff der Zivilgesellschaft wird heute sehr verengt gebraucht. Vgl. dazu Haug, Wolfgang Fritz (2003):
Zivilgesellschaft – Kämpfe im Zweideutigen. Zur Kontroverse über die neozapatistische Politik, in: Das
Argument, Heft 253, 845–860.
8
Industriekapitalismus bedeuteten ebenso einen Wendepunkt in der sich etablierenden
Geschichtswissenschaft. Zwar bestand eine humanistische, republikanisch-aufklärerische
Traditionen weiter, doch wurde mit dem Historismus eine Geschichts- und
Gesellschaftsauffassung hegemonial, die die Bildung jenes Ensembles geistiger und sozialer
Kräfte unterstützte, die sich autoritär und konservativ gegen Aufklärung und Revolution
wandten. Die Erkennbarkeit geschichtlich-sozialer Zusammenhänge wurde nun ebenso
bestritten, wie die grundsätzliche Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Realität. So wandelte
sich die Fachdisziplin insgesamt von einer Oppositions- zur staatstragenden nationalpolitische Integrationswissenschaft.
In die neue Allianz brachten die Historiker des aufkommenden Historismus den politische
Antirationalismus mit ein. Geschichte trat diesen Historikern als ein eigenständiges Subjekt
mit eigener Gesetzmäßigkeit gegenüber. Dagegen trat das universelle Naturrecht zurück:
Geschichte und Ideen selbst wurden zur moralischen Instanz erhoben. In diesem Verständnis
war der Historiker kein Sittenrichter mehr. Heinrich von Sybel warf Schlosser 1856
„hausbackene Moral“ vor, die politischen Vorgänge seien „zu compliziert, um sich nur mit
jenem Einen messen zu lassen.“28 Geschichte wurde für Ranke zur „Hieroglyphe Gottes“, die
es nur noch zu entziffern galt. Humboldt glaubte in seinen Überlegungen Über die Aufgaben
des Geschichtsschreibers (1821), die lebende Natur könne nur durch intuitive Erfahrung ihres
innersten Wesens begriffen werden. Der geschichtliche Prozess, so die Botschaft des
Historismus, sei von den Menschen nicht zu beeinflussen.
Politisch blieben diese Historiker nicht weniger engagiert. Iggers meint, die deutschen
Historiker hätten niemals dermaßen tätigen Anteil am Geschehen in Deutschland genommen
als im Kampf um die nationale Einigung zwischen 1830 und 1871.29 Den „Priestern der Klio“
(W. Weber) gelang es sogar, ihr Fach als Leitwissenschaft und „Orientierungsmacht“
(Hübinger) zu etablieren.30
Mit Emanzipationsbewegungen wollte diese Generation von Historikern nichts mehr zu tun
haben. Das Gros der Historikerschaft war spätestens nach 1848 bereit, freiheitliche
Grundsätze aufzugeben für nationale Einigung und militärische Macht. Geschichtsschreibung
wurde zur Angelegenheit der akademischen Fachwissenschaft. Die Sicherung der eigenen
28
Zit. nach Gölter, Georg (1966): Die Geschichtsauffassung Friedrich Christoph Schlossers, Diss., Heidelberg,
97.
29
Iggers 1997, 122.
30
Hübinger, Gangolf (1988): Geschichte als leitende Orientierungswissenschaft im 19. Jahrhundert, in:
Wissenschaftsgeschichte, Heft 11, 149–158, hier:149.
9
sozialen, akademischen Stellung förderte die Aversion gegen alle „Volksbewegungen“, die
diese gefährden konnten. Der nationale Machtstaat, und nicht mehr eine bürgerliche
Emanzipationsbewegung, sollte Träger von Modernisierung und Garant gegen den
Sozialismus sein. Die etablierte Geschichtswissenschaft wandte so Geschichte nicht nur gegen
Revolution, sondern auch gegen die Republik.
2. Sozialistisch-demokratische Geschichtsschreibung
a) Geschichte und Klassenbewusstsein
Die Aufgabe, die Demokratisierung der Gesellschaft fortzuführen, übernahm die
sozialistische Arbeiterbewegung.31 Auf Grundlage der Theorie Hegels über das SubjektObjekt-Verhältnis hatten Marx und Engels ein umfassenderes Verständnis über die
Entstehung von Gesellschaftsordnungen entwickelt, das Leo Kofler prägnant zusammenfasst:
„In seinem Tun ‚produziert’ das menschliche Individuum (das Subjekt) Handlungen und
Gegenstände, die sich in ihrer Gesamtheit zu einem geordnetem System verdichten (Objekt),
das seinerseits dem Menschen als etwas Selbstständiges (wiederum als Subjekt)
gegenübertritt.“32 Damit hatte man eine Formel der permanenten Selbsterzeugnis des
Menschen, der gesellschaftlichen Verhältnisse unter denen er lebt und von denen sein Denken
und Handeln wiederum geprägt wird, gewonnen. Entfremdungsprozesse und Ideologiebildung
wurden nun erklärbar. In einem entscheidungsfähigen Subjekt-Objekt fielen Theoriebildung
und gesellschaftliche Praxis zusammen. Dieses tritt mit anderen Subjekten ins Verhältnis und
bildet so die gesellschaftliche Totalität. Der dialektische Widerspruch zwischen der konkreten
Reduktion des gesellschaftlichen Prozesses auf seine einfachsten Kategorien und der
gleichzeitigen Entfaltung seiner verworrensten und spannungsreichsten Problematik wurde
nach Kofler zur Geburtsstätte der dialektischen Sozialtheorie.33
Das Prinzip, wie der gesellschaftliche Mensch mit anderen in Beziehung tritt, wie er „lernt“
und Erfahrungen verarbeitet, war nun wesentlich genauer erfasst. Ausgelöst durch
Widerspruchserfahrungen können die wirklichen Zusammenhänge erst in einem dynamischen
31
Diese gilt in der Sozialforschung als Inbegriff sozialer Bewegung. Inwieweit die bürgerliche Bewegung in
diesem Sinne eine soziale Bewegung ist, ist nicht eindeutig. Es kommt auf den Begriff nicht so sehr an, wenn die
beiden Typen historischer Ereignisse deutlich voneinander getrennt werden.
32
Kofler, Leo (2000): Die Gesellschaftsauffassung des Historischen Materialismus, in: Ders.: Zur Kritik
bürgerlicher Freiheit, hg. v. Christoph Jünke, Hamburg, 84.
33
So Kofler 2000, 85.
10
Lernprozess, der sich zum Ziel gesetzt hat, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der
Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen“ ist,
verstanden werden.34 Und so wird später Brecht in Gegenüberstellung zu Kants ‚Ding an
Sich’ notieren: „Sollten wir nicht einfach sagen, dass wir nichts erkennen können, was wir
nicht verändern können, noch das, was uns nicht verändert?“35
Die marxsche Geschichtsbetrachtung verstand sich so nicht nur als wissenschaftliche
Methode, sondern zugleich als politische Theorie einer sozialen Bewegung. Aufgabe einer
solchen Gesellschaftstheorie und -praxis ist es, dass der moderne Mensch sich der
gesellschaftlichen und geschichtlichen Situation bewusst wird und befähigt wird, die
gesellschaftlichen Strukturen praktisch und theoretisch zu durchbrechen (= Revolution). Das
proklamierte Ziel, die Aufhebung der Klassenherrschaft, meinte keinen idealen,
gesellschaftlichen Endzustand, sondern die Überwindung einer Vorgeschichte. Klassenkampf
und Gewinnung von Klassenbewusstsein meint für Marx daher nicht Mobilisierung entlang
einer Freund-Feind-Linie, sondern Aufhebung von Entfremdungsprozessen, die für die
bürgerliche Gesellschaft konstitutiv sind. Die historische Analyse war in diesen Lern- und
Bewusstwerdungsprozess mit eingebunden und nimmt eine hervorgehobene Position ein.
„Vor allem in Deutschland, aber auch in Frankreich, Italien und Russland bildete sich im
Rahmen der marxistischen Publizistik schließlich auch eine eigene Geschichtsschreibung als
‚Subkultur’ heraus.“36
b) Sozialistische Geschichtsschreibung in Aktion
Die Frage nach dem Verhältnis von Intellektuellen und sozialer Bewegung stellte sich vor
diesem Hintergrund neu. Einerseits entwickelten Arbeiter und Akademiker – oder die
späteren Angestellten – ein eigenes Sozialbewusstsein nicht allein aus gesellschaftlichen
Widersprüchen. Es bedarf vom marxistischen Standpunkt aus der kritischen Hilfe und aktiven
Tätigkeit von Intellektuellen, die dies eigene Sozialbewusstsein formulieren und propagieren,
wobei die Aneignung von Welt wiederum nur durch eigene revolutionäre Praxis von sich aus
erfolgen kann. Marx versucht, dieses Dilemma als Wechselverhältnis zu begreifen, in dem
„der Erzieher selbst erzogen werden muss“.37
34
Marx-Engels Werke, Berlin 1957ff, Bd. 1, 385, [im Folgenden: MEW].
35
Brecht, Bertolt (1992): Werke, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 21,
Berlin/Weimar/Frankfurt a.M., 413.
36
Vgl. Küttler, Wolfgang/Petrioli, Alexis/Wolf, Frieder Otto (2004): Historischer Materialismus, in: Historischkritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 6/I , Hamburg, 316–334.
37
MEW, 3, 553 ff.
11
Während die Aufklärungshistorie noch an Moral und Vernunft appelliert, rückt in der
marxistischen Geschichtsschreibung die Dokumentation von (Klassen-)Kämpfen und
Oppositionspolitik in den Vordergrund. Rosa Luxemburg entwarf mit ihrem Modell der
revolutionären Realpolitik eine Art Rahmenordnung, innerhalb der Lernerfahrungen gemacht
werden können.38 Der Sozialdemokratie verdeutlicht Luxemburg:
Das moderne Proletariat geht anders aus geschichtlichen Proben hervor. Gigantisch
wie seine Aufgaben, sind auch seine Irrtümer. Kein vorgezeichnetes, ein für allemal
gültiges Schema, kein unfehlbarer Führer zeigt ihm die Pfade, die es zu wandeln hat.
Die geschichtliche Erfahrung ist ihre einzige Lehrmeisterin, sein Dornenweg der
Selbstbefreiung ist nicht nur mit unermesslichen Leiden, sondern auch mit unzähligen
Irrtümern gepflastert. Das Ziel seiner Reise, seine Befreiung hängt davon ab, ob das
Proletariat versteht, aus den eigenen Irrtümern zu lernen.39
Bereits Marx und Engels griffen mit historischen Analysen in die Diskussionen der
Arbeiterbewegung ein.40 Doch trotz des hohen Stellenwerts der historischen Analyse hatte die
Arbeiterbewegung ihren ersten Fachhistoriker erst mit Franz Mehring (1846–1919), dem
profiliertesten marxistischen Geschichtsschreiber des wilhelminischen Kaiserreichs.41
Insgesamt blieb die Zahl von sozialistischen FachhistorikerInnen gering.42
Das Ausbleiben der Revolution im Westen, die Spaltung der Arbeiterbewegung und der
Aufstieg des Faschismus führten die organisierte Arbeiterbewegung in die Krise. Probleme
bereiteten auch ein Schematismus und eine Fortschrittsgewissheit, die sich in der II.
Internationale etabliert hatten. Von politischen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit, wie
Antonio Gramsci oder Walter Benjamin, gingen schließlich neue Impulse für eine
38
Weiss 1998, 281.
39
Luxemburg, Rosa (2000): Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin, 6. Aufl., 53.
40
Beispielsweise mit den Schriften Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848–50 (1850), Der 18. Brumaire des
Louis Bonaparte (1851/52) oder Der Bürgerkrieg in Frankreich (1871). Aber auch Engels Arbeiten sind zu
beachten, dem vor allem die Aufgabe der Popularisierung der Theorie zufiel.
41
Vgl. u. a. Grebing, Helga/Kramme, Monika (1973): Franz Mehring, in: Wehler, Hans-Ulrich (Hg.): Deutsche
Historiker, Göttingen 1973, 559–580. In seinen Hauptwerken („Lessing-Legende“, „Geschichte der deutschen
Sozialdemokratie“) stand die Geschichte der Arbeiterbewegung und die Kritik an bürgerlichen
Geschichtsmythen im Vordergrund.
42
Was sich nicht zuletzt durch die Abschottung der Universitäten gegenüber Vertretern sozialistischer und
marxistischer Positionen erklären lässt. In der marxistischen Geschichtswissenschaft nahm natürlich die
Geschichte der Arbeiterbewegung immer einen großen Raum ein. Grund war auch, dass ihnen der akademische
Forschungsbetrieb versperrt blieb, dessen Ressourcen sie nicht nutzen konnten und sie auf die entsprechenden
Quellen schnelleren Zugriff hatten. Zu vielen von Marx beeinflusste HistorikerInnen gibt es noch keine
historiographische Aufarbeitung. Das heißt, sofern überhaupt Material überliefert ist, oder ihr Werk überhaupt
über Ansätze hinaus gelangte.
12
Reformulierung eines Geschichtsverständnisses und einer Historiographie für soziale
Bewegungen aus, die jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg rezipiert werden konnten.
Einen für unsere Fragestellung interessanten Schritt vollzog Wolfgang Abendroth (1906–
1985), der in gewisser Weise an die Debatten in der Weimarer Republik anknüpfte. In der
frühen Bundesrepublik gehörte der Jurist und Politologe – mit Leo Kofler und Theo Pirker –
zu den wenigen Vertretern einer marxistischen Geschichtsbetrachtung, die sich zudem jenseits
der staatssozialistischen Dogmatik bewegten. Der Sohn einer sozialistischen Lehrerfamilie
war seit seiner Jugend für die Arbeiterbewegung aktiv.43 Nach Widerstand, Zuchthaus und
Kriegsgefangenschaft, politischem sowie wissenschaftlichem Wirken in der SBZ, die er Ende
1948 wegen der immer stärker werdenden Stalinisierung verließ und seinem Wirken an der
Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven, lehrte er ab 1951
Politikwissenschaft in Marburg. Seit den 1950er Jahren hatte er sich maßgeblich an
zahlreichen Kampagnen gegen restaurative Tendenzen (Remilitarisierung, KPD-Verbot,
Notstandsgesetze etc.) beteiligt und profilierte sich als marxistischer Verfassungsrechtler und
Grundgesetzinterpret, aber auch als Kritiker des Godesberger Programms der SPD. Als er sich
1961 mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund solidarisierte, wurde er mit anderen
Linkssozialisten aus der SPD ausgeschlossen. In den folgenden Jahren spielte Abendroth eine
wichtige Rolle bei der Formierung der außerparlamentarischen Opposition und der Neuen
Linken.
Bei Abendroth wiederholten sich Muster, die wir bereits bei den Spätaufklärern entdecken
konnten, wie zum Beispiel der hohe Stellenwert der politischen Bildung und sein
praxisorientiertes Wissenschaftsverständnis. Selbst unter schwierigsten Bedingungen, etwa in
der Kriegsgefangenschaft, organisierte Abendroth Fortbildungsmaßnahmen und vermittelte
marx’sches Denken. In der frühen Bundesrepublik war er aktiv am Aufbau der
Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft beteiligt. Sein Hauptaugenmerk richtete er
jedoch auf die Entwicklung der Arbeiterbewegung, als dessen Teil er sich verstand.
Abendroth hielt die historisch-materialistische Geschichtsauffassung von Marx und Engels
nach wie vor für gültig und griff das Konzept der sozialistischen Klassiker wieder auf. Ein
wichtiger Schritt war hierbei Abendroths Versuch, systematisch Geschichts- und
Themenpolitik auf akademischer Ebene weiterzuentwickeln. Damit wurde auch eine junge
Intellektuellengeneration an Theorie, Themen- und Fragestellungen der Zeitgeschichte und
43
Abendroth trat bereits mit 14 Jahren der Freien Sozialistischen Jugend bei. Er war zu Beginn der Weimarer
Republik Mitglied der KPD, dann ab 1929 Mitglied der KPD (Opposition) um Heinrich Brandler und August
Thalheimer.
13
der Arbeiterbewegung herangeführt. Abendroth legte hierbei großen Wert auf konkrete
empirische Forschung. Am Marburger Institut für wissenschaftliche Politik entstanden so
beachtete Pionierstudien zu Themen, die in den 50er Jahren tabuisiert waren: politische
Soziologie des Dritten Reichs, Geschichte des Widerstands und der Arbeiterbewegung.
Das Problem der Spaltung der Arbeiterbewegung gehört zu prägenden Ereignissen der
Generation Abendroths. Im Faschismus hatte sich eine bürgerliche Herrschaftsform gezeigt,
die zur völligen Zerstörung jeder Emanzipationsbewegung bereit und imstande war. Da
Abendroth die Spaltung der Arbeiterbewegung für den Durchmarsch des Faschismus
verantwortlich machte, beschäftigten ihn die Ursachen der ausgebliebenen Einheit im Kampf
gegen den Nationalsozialismus und der Verlust der Solidarität zwischen den Flügeln der
Arbeiterbewegung. Er vertrat die Auffassung, dass diese verloren gegangene Einheit nur
durch gemeinsame politische Kampagnen aufzuheben sei. Der „rechte“ marxistische Flügel
der KPD, die spätere KPO, hatte dazu mit ihrer „Einheitsfrontpolitik“ ein Modell
kooperativen und kollektiven Lernens entwickelt. In einer Abfolge von verständlichen
Tagesforderungen und Übergangsforderungen sollte Schritt für Schritt das politische
Bewusstsein erweitert werden. Praktisch sah Abendroth etwa in der Kampagne zum
Volksentscheid über die Fürstenenteignung 1926 den Beweis, dass die Spaltung auf diese
Weise überwindbar war. Und auch die Kampagne gegen die Notstandsgesetze war auf
dieselbe Weise durchaus erfolgreich, Arbeiterbewegung und linke Intellektuelle zumindest
zeitweilig in einer gemeinsamen Kampagne zu verbinden – eine wichtige Vorbedingung für
die Revolte von 1968. Doch bekanntlich scheiterte der Versuch einer Verbindung von
Studierendenbewegung und Gewerkschaftsbewegung in Deutschland im Sommer 1968, u. a.
an der Integrationswirkung des Fordismus und der Strategie der antiautoritären Linken.
Die historischen Analysen Abendroths vermitteln und diskutieren Oppositionspolitik als Teil
eines historischen Erkenntnisprozesses. „Geschichte der Arbeiterbewegung ist also im Grunde
gar nichts anderes als die Geschichte der Produktion und Reproduktion von
Klassenbewusstsein, seiner Entfaltung und seiner Rückschläge.“44 Ohne Bestimmung des
eigenen historischen Standorts und der geschichtlichen Entwicklungsformen, die die
Klassenbewegung der abhängigen ArbeiterInnen hervorgebracht haben und immer neu
hervorbringen, ließen sich für Abendroth keine „strategisch angemessenen Anweisungen“ für
ihre Praxis fixieren.
44
Abendroth, Wolfgang (1978): Zur Auseinandersetzung um das Verhältnis von Spontaneität und
Organisationsentwicklung in der Geschichte der Arbeiterbewegung, in: Das Argument, Heft 108, 223.
14
Deshalb muss sich die Wissenschaft von der Geschichte der Arbeiterbewegung stets
darüber im klaren bleiben, dass sie einen einheitlichen, alle seine Vereinzelungen und
Besonderheiten umfassenden und in sich einordnenden Prozess darzustellen hat, der
hilft, die gleichsam durch die divergenten technischen Produktionsbedingungen und
Produktionsmethoden des kapitalistischen Produktionsprozesses vorgegebene
Schichtendifferenzierungen innerhalb der eigenen Klasse gerade auch in ihren
geschichtlichen Veränderungen erkennbar zu machen, ihre jeweiligen Schranken zu
thematisieren und dadurch dazu beizutragen, sie im gemeinsamen Klassenbewusstsein
aufzuheben.45
Abendroth wollte zwar ein gemeinsames Klassenbewusstsein und forderte im Gespräch mit
Georg Lukacs: „Wir müssen ein Geschichtsbewusstsein der Identität in der Nicht-Identität
schaffen“46, doch ist diese „Identität“ durch die Ausdifferenzierung der sozialen
Klassenstrukturen immer weniger als „Einheit“ zu denken. Abendroth wusste um die
Differenzen innerhalb der Linken und auch um die soziostrukturellen Veränderungen. Seine
Geschichtsschreibung zielte daher stark darauf ab, solidarisches Handeln überhaupt erst
wieder zu ermöglichen und Wege offen zu halten.
Das Versagen vor dem Faschismus, die ausgebliebene notwendige Einheit ist in Abendroths
Werk der Bezugspunkt. Sein Projekt war, über die Einseitigkeiten der Parteihistoriographie
hinweg zu gelangen. Er bespricht kommunistische und sozialdemokratische Politik
gleichermaßen, kritisiert sie, verweist auf Verdienste, verzichtet aber auf einseitige
Schuldzuweisung. Als einer der ersten verfolgt er mit seiner Geschichtsschreibung
ideologiekritisch den Entfremdungsprozess zwischen den beiden großen Lagern und verweist
auf Alternativen. Eine Besonderheit für die Zeit des Kalten Krieges bestand darin, dass
Abendroth die Wechselwirkung der beiden Lager thematisierte. Er wollte die Kommunisten
über die offene Diskussion wieder integrieren und von stalinistischen Fixierungen lösen. Die
SPD sollte an ihre marxistischen Wurzeln erinnert werden und sich vom Antikommunismus
distanzieren.
Diese Diskussion hat weniger den Zweck, die Geschichte im Nachhinein urteilend „richtig“
zu stellen. Abendroths „Kritik“ sollte vielmehr die Konflikte in ihren historisch-sozialen
Kontext setzen und auf diese Weise einen rationalen Umgang mit ihnen finden. In diese
45
Ebd.
46
Pinkus, Theo (Hg.) (1967): Gespräche mit Georg Lukács. Hans Heinz Holz, Leo Kofler, Wolfgang Abendroth,
Hamburg, 94.
15
Überlegungen sind nach Abendroth einzubeziehen: 1. Entwicklung der Produktivkräfte und
der ökonomisch-sozialen Situation (einschließlich ihrer technischen Voraussetzungen); 2.
selbstständiges Auftreten verschiedener Schichten der abhängig arbeitenden Klasse gegenüber
dem Kapital und der politischen Gewalt; 3. Aneignung von Bewusstsein über diesen Verlauf
in ihren gleichsam „spontanen“ Reaktionen und Aktionen, ihren ideologischen Formen; 4.
theoretische Diskussionen, die sich dabei ergeben; 5. organisatorische Versuche, diesen
Prozess permanent zu erhalten.47
Durch diese Historisierung und Erklärung werden Handlungsspielräume zurückgewonnen,
weil das „Geworden-sein“, die Irrtümer und historische Alternativen wieder erkennbar
werden. Am Beispiel des Stalinismus formuliert Abendroth: Hat man Prozesse als
„psychologisch unvermeidbar“ begriffen – eine Formulierung, die Abendroth für
sozialpsychologische „Lerneffekte“ verwendet, ohne dabei die freie Entscheidung des
Einzelnen zu hintergehen – so kann man sie auch verarbeiten und darüber hinwegkommen.48
Dialektisch sind Historisch-individuelles und Allgemeines vereint. Über die historische
Darstellung wird Allgemeines am Beispiel von immer wiederkehrenden Problemlagen in der
Arbeiterbewegung berichtet. Auf diese Weise wird die Kritik durch Distanzierung und
Objektivierung versteh- und annehmbar. Das historische Erinnern stellt aber auch einen
Gegenwartsbezug her, den Benjamin als ein „Aufblitzen im Moment der Gefahr“ beschreibt –
Abendroth verweist explizit auf historische Parallelen.49 Damit ist seine Historiographie auch
immer subjektive Handlungsanleitung.
Abendroth verzichtet bewusst auf lange theoretische Ausführungen, vielmehr vermittelt er die
Grundlagen der dialektischen Theorie für alle verstehbar durch seine Anwendung auf
historisch-konkrete Entwicklungen. Damit will er einerseits sektiererischen Streit an
abstrakten Theoriegebäuden umgehen, andererseits soll der eigentlichen Zielgruppe, nichtakademischen FunktionärInnen und AktivistInnen der Arbeiterbewegung, exemplarisch die
notwendige Haltung, der Diskussionsstil und die Fragestellung vermittelt werden.
Auch wenn Abendroth versuchte, wissenschaftspolitisch zu wirken, so bleibt die
Popularisierung der Ideen von Marx über die akademische Sphäre hinaus ein wichtiger
47
Vgl. Abendroth 1978, 222. Für Abendroth gilt gewerkschaftliches und politisches Klassenbewusstsein als
höchste Stufe des Bewusstseins.
48
Mit Bezug auf den Stalinismus in: Intellektuelle in der Arbeiterbewegung. Eine Diskussion mit Wolfgang
Abendroth, Hans Brander und Josef Schleifstein. Materialien zur Diskussion über Peter Weiss’ „Ästhetik des
Widerstands“, hg. v. Marxistischen Studentenbund Spartakus, Dortmund 1986, 19.
49
Benjamin, Walter (1980): Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd.
I, Frankfurt a.M., 696, [im Folgenden: Benjamin, GS].
16
Charakterzug seines politischen Handelns. Den abhängig Beschäftigten wollte er Denkmittel
bereitstellen, damit sie sich von einem bloßen Objekt in ein Subjekt des historischen
Prozesses transformieren können. Dies geschah nicht ohne Erfolg: die Sozialgeschichte der
europäischen Arbeiterbewegung (1965) wurde zu einem Standardwerk der
gewerkschaftlichen Bildungsarbeit.50
Die Interventionen Abendroths richteten sich nicht an die Großen dieser Welt – was nicht
unwesentlich dazu beitrug, dass er in Vergessenheit geriet. Abendroth, der schon früh
gesellschaftliche Netzwerke weit über die Arbeiterbewegung hinaus mit linken bürgerlichen
und kirchlichen Kreisen unterhielt, blieb in seiner Geschichtsschreibung jedoch auf die
Einheit und Vorrangstellung der Arbeiterbewegung fixiert.51 Die Arbeiterbewegung – die er
differenzierter und weiter fasste, als der Begriff heute geläufig ist – bildete von seinem
marxistischen Verständnis aus und auch aus einfachen machtpolitischen Gründen die
notwendige Speerspitze gesellschaftlicher Veränderung. Der antiautoritären und
anarchistischen Linken der 1968er-Bewegung stand er zwar grundsätzlich solidarisch aber z.
T. auch mit einer gewissen Distanz gegenüber. Die Aufarbeitung des Verhältnisses der jungen
Studentenbewegung und der klassischen Arbeiterbewegung blieb Aufgabe anderer
Intellektueller.
c) Staatsideologie
Sozialistische Revolution und Ideen wurden in der sozialdemokratischen wie leninistischen
Vorstellungswelt zu etwas, das von außen in die Arbeiterbewegung hineingetragen werden
musste. Zusammen mit mechanistischen Geschichtsauffassungen nahm hier marxistisches
Denken ebenfalls Züge einer Geschichtsreligion an. Marxismus gerann zur Dogmatik und
wurde zum fertigen deterministischen philosophischen System, in dem die Fakten des
wirklichen Lebens zum Illustrationsmaterial der unveränderlichen Lehrsätze absinken. Der
dialektische Materialismus wird nicht mehr als eine offene Denkhaltung, sondern als
geschlossene Weltanschauung verstanden. Diese Spezifik kann hier nicht weiter ausgebreitet
werden.52
Die gesellschaftskritische sozialistische Geschichtsschreibung mutierte unter den Vorzeichen
50
Von dem Buch wurden bis 1981 83.000 Exemplare gedruckt. Es erlebte in Deutschland über 14 Auflagen und
wurde in 14 Sprachen übersetzt.
51
Diese Beschränkung hatte auch mit den unmittelbaren Entstehungszusammenhängen und der tagespolitischen
Intention Abendroths zu tun.
52
Vgl. Hofmann, Werner (1967): Stalinismus und Antikommunismus. Zur Soziologie des Ost-West-Konflikts,
Frankfurt a.M., 64 f.
17
der sozialdemokratischen und staatssozialistischen Etatismen zur Staatsideologie. Entledigte
sich die Sozialdemokratie in den westlichen Industriestaaten aus Verantwortung gegenüber
dem „Staat“ zunehmend des Marxismus, gab in den Staatssozialismen die Staatspartei die
„richtige“ Auslegung von Geschichte und Marxismus vor. Die Geschichtswissenschaft in der
autoritär-staatssozialistischen Sowjetunion wurde zur Rechtfertigung der Gegenwart mit ihren
wechselnden Bedürfnissen und damit dem Opportunismus der Macht.53
Entgegen diesen Entwicklungen konnten sich undogmatische Richtungen erhalten. Doch mit
der Auflösung der organisierten Arbeiterbewegung und einer fortschreitenden
Akademisierung kam es auch zu einer funktionalen Trennung von Theorie und Praxis.54
Während sich etwa die VertreterInnen der Kritischen Theorie in die akademische Welt
zurückzogen, um dort zu überwintern, wandte sich eine andere und mehr
gewerkschaftsorientierte Historiographie (z. B. aus der Abendroth-Schule: Georg Fülberth,
Reinhard Kühnl) weiterhin an den linken Flügel der Arbeiterbewegung.
3. Zwischenzeit? Aufgaben demokratischer HistorikerInnen
Mit der Einbindung von Gewerkschaften und Sozialdemokratie in das Institutionengefüge der
bürgerlichen Gesellschaft – die diese auch zweifellos ein Stück weit verändert haben –
verschob sich die Trägerschaft der Demokratisierungsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg
in eine neuartige politisch-kulturelle Sphäre, die sich über die Neue Linke und die „Neuen
Sozialen Bewegungen“ etablierte. Diese facettenreiche politische Linke legte großen Wert auf
selbstbestimmte, antiautoritäre Zusammenhänge, Politikformen und Lernverhältnisse.
Diese Linke gilt heute vielfach als geschichtslos, obwohl Geschichte in den letzten 40 Jahren
in nie zuvor da gewesener Breite erforscht und besprochen worden ist. Große Impulse gingen
zweifellos von der weltweiten „68er-Bewegung“ aus, die in Teilen ein eigenes
Geschichtsverständnis entwickelte. Historische Sozialwissenschaft, Alltagsgeschichte,
Geschichtswerkstätten oder die Renaissance der Kulturgeschichte markierten
Modernisierungs- und Liberalisierungsschübe des Fachs. Faschismusforschung,
Arbeiterbewegungsgeschichte, Kolonialgeschichte, Migrationsgeschichte, Gender Studies,
Queer Studies aber auch Umweltgeschichte überwanden Verdrängungen und thematisierten
gesellschaftliche Auseinandersetzungen an bislang wenig beachteten Konfliktlinien.
53
Ebd., 86.
54
Vgl. Anderson, Perry (1978): Über den westlichen Marxismus, Frankfurt a.M.
18
Historische Analyse und Geschichtsverständnis wurden jedoch für die Positions- und
Strategiediskussion politischer und sozialer Bewegungen unerheblich, deren sozialer
Fortschrittsoptimismus erschöpft war und für die historische Analyse dadurch an Bedeutung
verlor.55 Die Neuen Sozialen Bewegungen agierten ohne eine allgemeine Gesellschaftstheorie
und Geschichtsauffassung. Damit hing zusammen, dass der deterministische, an Wissenschaft
und Technik gekoppelte Fortschrittsbegriff des 19. und 20. Jahrhunderts zu Recht in die Kritik
geraten war. Walter Benjamin spitzt es in einem berühmten Satz zu: „Marx sagt, die
Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist es gänzlich
anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden
Menschengeschlechts nach der Notbremse.“56
In der Geschichtswissenschaft prägte der Auftritt der postmodernen Theoretiker von Foucault
über Barthes bis Derrida das Denken weit mehr, als die Kritik der technokratischen,
bürokratischen und totalitären Tendenzen der Kritischen Theorie. Die Verarbeitung
krisenförmiger Sozialentwicklung und Orientierungslosigkeit mündete in eine scheinbar
radikale Hegemoniekritik, von der die Attraktivität der postmodernen Theoreme ausgeht.57
Der Blick für Zwischenräume der Gesellschaft, für Widerstandsformen gegen Totalitarismen
wurde geschärft. Doch als Subjektivismus ohne Subjekte, in dem diese als Konstrukte ohne
Authentizität begriffen wurden, schlug er zugleich der Wissenschaft die unentbehrliche
Modell- und Theoriebildung aus der Hand. Jede Begriffsbildung und Kausalität gerät so in
den Verdacht der Fiktion. Welche Konsequenzen aus der poststrukturalistischen Kritik zu
ziehen sind, ist daher höchst strittig.
Gegenwärtig erleben wir weltweit eine Renaissance sozialer Bewegungen, die Bedingungen
sozialer Gerechtigkeit sowie die Kooperations- und Bündnisfähigkeit politischer
AktivistInnen debattieren. Sie zwingen zur Positionsbestimmung und zum Handeln. Für ein
neues Durchdenken des Verhältnisses von sozialen Bewegungen und Geschichtswissenschaft
ergeben sich auf Grund der bisherigen Überlegungen erste Thesen:
a) Subjekte und Adressaten
Gesellschaftskritische Geschichte richtete sich in der bürgerlich-demokratischen
Emanzipationsbewegung und in der Arbeiterbewegung in erster Linie an die Bewegung als
55
Wobei historisches Denken und Entwicklung konkreter Utopien sich bedingen.
56
Benjamin, GS, I, 3, 1231.
Vgl. Seppmann, Werner (2000): Das Ende der Gesellschaftskritik? Die ‚Postmoderne’ als Ideologie und
Realität, Köln.
57
19
historisches Subjekt der Veränderung selbst und weniger an eine akademische Öffentlichkeit.
Zweifellos haben Hochschule und Wissenschaft durch die fortschreitende Verzahnung von
Wissenschaft, Technik und Industrie ihre Bedeutung für die sozialen und ideologischen
Reproduktionsprozesse ausgebaut. Sie haben so als politische Räume für hegemoniale
Auseinandersetzungen um Geschichtsauffassungen und Geschichtsbilder an Bedeutung
gewonnen. Doch erinnert Gramsci daran, dass eine neue Kultur zu schaffen nicht allein
bedeute, individuell „neuartige“ Entdeckungen zu machen, sondern auch und besonders,
bereits entdeckte Wahrheiten kritisch zu verbreiten, sie sozusagen zu ‚vergesellschaften’.58
Die Gesellschaft, die die Voraussetzung für wissenschaftliches Arbeiten schafft, hat einen
Anspruch darauf. Kritische Geschichte ist zunächst ein Beitrag zur Selbstaufklärung einer
Bewegung. Die Brücke zwischen akademischer und nicht-akademischer Sphäre wieder neu zu
schlagen, ohne dabei die wichtigen politischen Felder Hochschule und Wissenschaft zu
vernachlässigen, sehen wir als vordringliche Aufgabe einer kritischen
Geschichtswissenschaft. Voraussetzung bleibt dabei immer die eigene historische und soziale
Positionsbestimmung, die Kritik an Funktion und Standort des eigenen Fachs und seiner
Geschichte. Hier wird es notwendig sein, die Erfahrungen der verschiedenen Ansätze
kritischer Geschichtswissenschaft zu berücksichtigen und den Blick nicht zeitgeschichtlich zu
verengen.
Eine Neubestimmung des Verhältnisses von historischen Wissenschaften und sozialen
Bewegungen kann an Zwischenergebnisse der langen Diskussion über die Rolle von
Intellektuellen anknüpfen. Wie oben gezeigt, setzte bereits Marx Intellektuelle und Bewegung
in ein wechselseitiges dynamisches Lehr-Lern-Verhältnis und überwand die Vorstellung, dass
Wissensvermittlung nur eine Richtung habe. Gramsci reformuliert das, wenn er schreibt, dass
„jeder Lehrer immer Schüler und jeder Schüler zugleich Lehrer“ ist.59 Eine Philosophie der
Praxis soll frühere Denkweisen und das bestehende konkrete Denken überwinden, indem
Kritik des „Alltagsverstandes“ und Kritik der Philosophie der Intellektuellen in einem
dialektischen Lernprozess zusammenfallen.60 Gramsci macht deutlich, dass alle Menschen
Intellektuelle seien, aber nicht alle Menschen in der Gesellschaft die Funktion von
Intellektuellen hätten.61 So verstanden ist die gesellschaftliche Funktion von Intellektuellen,
Lernprozesse zu organisieren. Von ihrer Geschichts- und Gesellschaftsauffassung hängt es
58
Gramsci 1967, 131.
59
Ebd., 152.
60
Ebd., 136.
61
Ebd., 407.
20
vielfach ab, wie diese Lernprozesse angeordnet sind und ob Lernprozesse blockiert werden.
Damit sind sie auf Grund der eigenen Begrenztheit Teil der Lösung wie des Problems. Es
bleibt unbestreitbar, dass ohne die Hilfe aus den Wissenschaften keine soziale Bewegung
Herrschaftsverhältnisse durchbrechen kann. In der Vergangenheit waren historischwissenschaftliche Analyse und Geschichtsschreibung sogar zentrale Elemente des
Hervorbringens großer Emanzipationsbewegungen. Unbestreitbar ist aber auch, dass
autoritäre Lehrer-Schüler-Verhältnisse, Avantgardismen und intellektuelle Bevormundung
immer weniger akzeptabel sind. Das historische Subjekt zur Überwindung von
Unterdrückung, Ausbeutung und Entfremdung besteht aus Menschen, die diese Ziele bereits
untereinander zu erreichen suchen. Für eine kritische Geschichtsschreibung bedeutet dies,
dass sie für eine soziale Bewegung nur insoweit notwendig ist, als sie Menschen
Anhaltspunkte liefert, um sich selbst demokratisch organisieren zu können.
Kritische Wissenschaft und soziale Bewegung bedingen einander. In den hegemonialen
Auseinandersetzungen sind soziale Bewegungen und kritische Wissenschaftler aufeinander
angewiesen und stehen zueinander in einem engen Wechselverhältnis. Keines kann ohne das
andere sein. Eine gesellschaftskritische Wissenschaft schafft und formt den Rezipienten, die
soziale Bewegung als verändernden Teil des historischen Subjekts. Umgekehrt fordert und
formt eine soziale Emanzipationsbewegung eine ihr gemäße kritische Wissenschaft. Von ihr
hängen Qualität und gesellschaftliche Wirksamkeit ab. Es ist eine Bewegung, in der beide
aufeinander bezogen sind, auch wenn sie sich als separate Teile gegenübertreten. So verdrängt
ein passives Warten auf das „richtige“ historische Subjekt, dass dieses auch hervorgebracht
werden muss und HistorikerInnen selbst Teil einer gesellschaftlichen Totalität bleiben, die
ihnen keine „Außen“-Position gewährt. Solidarität zwischen kritischer Wissenschaft und
sozialer Bewegung hat die Widersprüche der „Ökonomie“ der jeweiligen Gesellschaft zur
Grundlage. Doch erwächst daraus nicht automatisch gemeinsames Handeln – was Ergebnis
von persönlicher Entscheidung und Lernprozessen ist. Ebenso wenig sind damit automatisch
die unterschiedliche soziale Position und die sozialen Kämpfe der Beteiligten untereinander
schon beseitigt. Trotzdem scheint es notwendig, ohne Existenz und Unterschiede von Klassen
zu bestreiten, die Exklusivität, die der Klassenbegriff auch immer beinhaltete (z. B. im
Arbeiter- und Proletarierkult, aber auch in einem zu engen Intellektuellen-Begriff), zu
überwinden.
b) Formen kooperativer Lernprozesse
21
Jede Emanzipationsbewegung hatte bislang nicht nur eine Geschichts- und
Gesellschaftsauffassung, sondern auch eine damit korrespondierende „Lerntheorie“. Auch
eine neue Emanzipationsbewegung müsste Vorstellungen entwickeln, wie sich Menschen
einzeln oder in Gruppen Welt aneignen, Theorie und Praxis verbinden und zueinander in
Beziehung treten. Kritische Geschichtswissenschaft kann hier Erfahrungen und noch nicht
verwirklichte Ansätze bereitstellen.
Die gemeinsame Ermittlung von Illusionen, historischen Fehlern und Mystifikationen bedarf
einer entsprechenden Form und Haltung zueinander. Gramsci warnt davor, „wissenschaftliche
Diskussion“ als Gerichtsprozess aufzufassen, „in dem es einen Angeklagten und einen
Ankläger gibt, der von Amts wegen beweisen muss, dass der Angeklagte schuldig ist und zu
recht hinter Schloss und Riegel gehört“ – vielmehr seien die Gründe des Gegners „zu
verstehen“ und „realistisch zu bewerten“.62 Gramsci geht es um die Durchsetzung einer neuen
Qualität in der Auseinandersetzung, in der der Anspruch einer anderen Welt bereits
verwirklicht wird. Eine kritische Geschichtswissenschaft muss von der Vernunftbegabung
und Lernfähigkeit der Beteiligten ausgehen, will sie sich nicht selbst ad absurdum führen.63
Gefordert ist eine wissenschaftliche Haltung, die ihre emanzipatorischen Ansprüche bereits
verwirklicht.
Es darf kein Dogma daraus gemacht werden, aber gänzlich ohne kritische
Gesellschaftstheorie und Ideologiekritik wird es nicht gehen. Wir meinen, eine kritische
Geschichtswissenschaft darf nicht mehr hinter die Erkenntnisgewinne dialektisch-kritischer
Gesellschaftstheorie zurückfallen. Marx hat mit der Erkenntnis des identischen Subjekt-
Die Textstelle bei Gramsci (1967, 146 f.) lautet vollständig: „Bei der Behandlung historisch-kritischer
Probleme darf die wissenschaftliche Diskussion nicht als ein Gerichtsprozess aufgefasst werden, in dem es einen
Angeklagten und einen Ankläger gibt, der von Amts wegen beweisen muss, dass der Angeklagte schuldig ist und
zu recht hinter Schloss und Riegel gehört. Eben weil man annimmt, dass das Hauptinteresse in der
Wahrheitsfindung und dem Fortschritt der Wissenschaft liege, zeigt sich in der wissenschaftliche Diskussion am
‚fortgeschrittensten’, wer den Standpunkt vertritt, dass der Gegner einen Anspruch auszudrücken vermag, der,
wenn auch als untergeordnetes Moment, in die eigene Konstruktion eingegliedert werden kann. Die Position und
die Gründe des Gegners zu verstehen und realistisch zu bewerten (und manchmal ist der Gegner das gesamte
vergangene Denken), bedeutet also, sich aus dem Gefängnis der Ideologien und des im schlechten Sinne blind
ideologischen Fanatismus zu befreien, das heißt, sich auf einen ‚kritischen’ Standpunkt zu stellen, den einzig
fruchtbaren in der wissenschaftlichen Forschungsweise.“
62
Gramsci, Antonio (1991–1999): Gefängnishefte. Kritische Ausgabe, Heft 11 §15, Hamburg, 1402.: „Es ist
nicht sehr ,wissenschaftlich’ oder ganz einfach ,sehr seriös’, die Gegner unter den Dümmsten und
Mittelmäßigsten auszusuchen oder auch unter den Meinungen der eigenen Gegner die unwesentlichsten und
beiläufigsten auszusuchen und anzunehmen, den Gegner völlig vernichtet zu haben, weil man eine seiner
zweitrangigen und zufälligen Meinungen vernichtet hat, oder eine Ideologie oder eine Lehre vernichtet zu haben,
weil man das theoretische Ungenügen ihrer dritt- oder viertrangigen Verfechter nachgewiesen hat. Auch ,gilt es,
gerecht zu sein mit den Gegnern’, und zwar in dem Sinne, dass man sich anstrengen muss zu verstehen, was sie
wirklich haben sagen wollen, und sich nicht boshaft bei den oberflächlichen und unmittelbaren Bedeutungen
ihrer Ausdrucksweisen aufzuhalten.“
63
22
Objekts wesentliches zum Verständnis der „Mechanik“ und der Verschränkung von Makround Mikroebene beigetragen, die sich nicht einseitig in Richtung Voluntarismus oder
Determinismus auslegen lässt.
c) Ziele
Die Wandlung selbst großer Emanzipationsbewegungen zu Staatsideologien lässt jeden
weiteren Anlauf zunächst aussichtslos erscheinen. Gerade die kapitalistische Gesellschaft hat
es immer wieder verstanden, Nonkonformismus in ihre Verteidigungsmauer einzubauen. Ist
daher in Anlehnung an Benjamin eine Geschichtswissenschaft gefordert, die nicht nur für den
Faschismus, sondern generell für autoritäres Denken unbrauchbar ist?
Aufgabe einer kritischen Geschichtswissenschaft bleibt seit der Aufklärung das Aufzeigen der
Veränderlichkeit und gesellschaftlicher Widersprüche. Es geht ihr um die Vermittlung des
durch menschliche Entscheidung Geworden-Seins des nur scheinbar Selbstverständlichen.
Dabei kann historische Wissenschaft zeigen, dass Utopien konkret sind, indem sie auf nicht
verwirklichte Möglichkeiten, bereits bestehende Erkenntnisse und Ansätze hinweist.
Die gegenwärtigen sozialen Bewegungen erscheinen gegenüber den großen historischen
Bewegungen weitaus heterogener zusammengesetzt. Zudem sind die auf demokratische
Weiterentwicklung drängenden Teile weder eindeutig im Zentrum noch an der Peripherie zu
lokalisieren. Der gegenwärtige Aufstand der Zapatisten zeigt, dass eine andere Welt überall
geschaffen werden muss und kann und dass es keines Zentrums bedarf – wenngleich sich ein
dauerhafter Erfolg ohne Veränderungen in den Ländern jenseits der kapitalistischen Zentren
nicht einstellen wird. Die Hauptrolle von Klassen ist heute fraglich geworden. Niemand
wartet mehr auf die Befreiung durch eine Gruppe, die historisch „dran“ ist. Immanuel
Wallerstein meint, dass sich revolutionäre Bewegungen, die „Minderheiten“ oder andere
benachteiligte Schichten repräsentieren seit 1968 nicht mehr hinter revolutionäre Bewegungen
stellen müssen, die „Mehrheiten“ repräsentieren.64 Zudem gibt es diverse
Transformationsmodelle, wie die Dritte-Welt-Bewegung, die ohne den Anspruch agiert,
jemals zur Mehrheit zu werden. „Die auf neue Weise gestellte Frage nach der Hegemonie hält
dazu an, das geschichtliche Wirken gesellschaftlicher Klassen im Zusammenhang mit der
Entwicklung ihrer politischen Kultur zu untersuchen und Klassenkämpfe in ihrer
Wallerstein, Immanuel (1997): 1968 – Revolution im Weltsystem, in: 1968 – ein europäisches Jahr?, hg. v.
Etienne François e. a., Leipzig, 19–36.
64
23
Vieldimensionalität, jenseits ökonomistischer Reduktion zu denken“, meint Haug.65 Sinnvoll
erscheint, dass Intellektuelle und HistorikerInnen dazu beitragen, dass vorhandene
emanzipatorische Potenziale, wo immer sie auftreten, stärkere Gewichtung erfahren. Dabei
wird es in Zukunft in noch nie da gewesener Weise notwendig sein, dass verschiedene
Gruppierungen ihre Aktivitäten auch über nationale Grenzen hinweg kombinieren.
Geschichtsschreibung kann und sollte dabei keine „Identitäten“ stiften, nicht die Geschichte
nur der einen oder der anderen Gruppierung schreiben, sondern solidarisches Handeln
ermöglichen, indem sie zwischen den verschiedenen Strömungen vermittelt. Es kann nicht
darum gehen, Unterschiede zu verdecken, sondern den Ursachen von Unterschieden auf den
Grund zu gehen. Abendroth liefert ein Grundprinzip, wie historische Selbstaufklärung zur
Vermittlung und rationaleren Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Gruppen beitragen
kann. HistorikerInnen können als HistoriographInnen keine solidarischen Bündnisse
produzieren, vielmehr ist Historiographie selbst Ausdruck des jeweils zu Grunde liegenden
Politikverständnisses und Verarbeitungsprozesses von Erfahrungen. Da sich Solidarität nur
durch gemeinsame Zielfindung und gemeinsames Handeln ergibt, bedarf es einer Haltung, die
den eigenen thematischen Zugang nicht absolut setzt.
Jeder Entwicklung einer wissenschaftlichen Methodik lag eine spezifische gesellschaftliche
Ordnungsvorstellung zu Grunde – dem kann man sich nicht entziehen. Kritik, Aufklärung,
Wissenschaft bedürfen, anders als die Postmoderne lehrt, eines Standpunkts und einer
Richtung. Auch Solidarität bedarf einer Gemeinsamkeit. Marx Imperativ – der auf die
Durchsetzung der Demokratie als inhaltliches Prinzip der ganzen Gesellschaft abzielt – gibt
vor, was Bloch als „Invariante der Richtung“ bezeichnet. Geschichtswissenschaft kann helfen,
besser einzuordnen, was das Erreichen dieses Zieles bisher verhindert hat und wie es erreicht
werden könnte. Wie Solidarität im Kleinen immer wieder neu gelernt und aktualisiert werden
muss, so ist eine solidarische Gesellschaft überhaupt erst zu verwirklichen. Bloch spricht
daher vom „Experimentum Mundi“, von einem Experiment nicht an der Welt, sondern in ihr,
eben als Realexperiment der Welt selber.66 Eine kritische Geschichte wird darin kooperativ
vor allem historisch und soziologisch klären müssen, wann Solidarität (nicht) zustande kam
und einen Beitrag dazu leisten müssen, Hegemonieverhältnisse nicht mehr als Hierarchien,
sondern als selbstbestimmte Verhältnisse zu gestalten.
65
Vgl. Haug, Wolfgang Fritz (2004): Hegemonie, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 6/I,
Hamburg, 12.
66
Vgl. Experimentum Mundi, in: Bloch, GA 15, 263.
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Für Anregungen danken wir: Peter Birke, Christine Bühler, Andreas Diers und Petra Ziegler.
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