Wha - Psychodrama

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Who is who…
Ein soziometrischer Blick auf psychodramatische Psychotherapie
in der Psychiatrie
Claudia Mühlbauer
Zusammenfassung: Die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der letzten Jahre
und Jahrzehnte haben auch deutliche Auswirkungen auf das Gesundheitssystem und die
Beziehungen derer, die sich darin bewegen: PatientInnen und Professionelle sowie der
Mitglieder beider Gruppen untereinander. Neben der Beschreibung dieser Veränderungen
und ihrer Implikationen auf die Psychotherapie in der Akutpsychiatrie wird ein möglicher
Umgang damit entworfen aus einer psychodramatischen Haltung heraus. Als wichtige
Aspekte werden die Rolle als PsychiatriepatientIn heute, v.a was das Selbstverständnis der
Betroffenen angeht, und die Zugehörigkeit der AkteurInnen zu unterschiedlichen SinusMilieus beleuchtet. Für ein umfassendes Verständnis von komplexen Lagen bietet das
Psychodrama sowohl Erklärungsansätze als auch Handlungsoptionen.
Schlüsselwörter: Psychodrama – Psychotherapie – Psychiatrie – Soziometrie – Politik –
Gesundheitssystem – Sinus-Milieus
Who is who… A view from a sociometric perspective to psychodrama-psychotherapy
in psychiatric institutions today
Abstract: During the last years and decades there have been social and political changes in
society. These have had remarkable effects on both the health system and the people within
it. These changes have had effects both on the encounters between professionals and
patients and the relationships within both groups. As well as describung these changes and
their implications for psychodrama-therapy in psychiatric institutions of the Public Health
System, I try to find a way to deal with them from a specifically psychodramatic perspective. I
explore the role of being a psychiatric patient today, especially from the inner view, and
consider in which way the belonging of the actors to different “Sinus-Milieus” (which is an
actual and differentiated model of class distinctions) is important. Psychodrama offers a
theoretical approach and options to act in relation to complex situations.
Keywords: Psychodrama – Psychotherapy – Psychiatry – Sociometry – Politics – Health
System – “Sinus Milieus”
Präambel
„Das Wichtigste, was einen guten Arzt ausmacht, ist, dass er Liebe hat.“ Diese Definition
verdanke ich einem – aus dem schwarzafrikanischen Kulturraum stammenden –
Psychiatriepatienten, der vor über 15 Jahren an einer Rollenspielgruppe teilnahm, die ich
leitete. Die PatientInnen bauten den „idealen Arzt“ und er brachte die Liebe ein. Ich halte
diesen Satz bis heute für gültig für alle im psychosozialen Bereich Tätigen: Das Wichtigste ist,
über die Professionalität hinaus, die Liebe zu den Menschen. Auch Moreno hat dies
beschrieben: „Aber beim Psychotherapeuten ist es extrem schwierig, wenn nicht gar
unmöglich, die Fähigkeiten von der Persönlichkeit des Therapeuten abzuspalten. Hier sind
Fähigkeit und Persönlichkeit, zumindest im Handeln während der Sitzung, untrennbar eins.
Man könnte geradezu sagen: die Persönlichkeit des Therapeuten ist seine Fähigkeit. […]
Allgemein gesprochen könnten wir deshalb in der Psychotherapie zwischen drei Typen
1
professioneller Darstellung unterscheiden: Fähigkeit ohne Liebe, Liebe ohne Fähigkeit und
Fähigkeit plus Liebe.“ (Hutter 2009b, S. 451f). Allerdings scheint mir manchmal, dies würde
heute für unwesentlicher gehalten als vor 15 oder 20 Jahren und die Liebe in den aktuellen
Settings vielleicht auch schwerer zu verwirklichen sein.
Die axiodramatische Ebene
Ferdinand Buer pointiert in einem Artikel über psychodramatische Ethik, Psychotherapie
(wieder) zu denken und zu realisieren als einen „Dienst am Menschen“ gehe über „die
gesetzlich fixierte und versicherungsrechtlich abgesicherte Psychotherapie“ hinaus (vgl. Buer
2004, S. 38). Diesem Dienst am Menschen steht in der heutigen Situation das Risiko
gegenüber, sich in Formalitäten und Dokumentationsrichtlinien zu verzetteln. Für
therapeutisches Arbeiten, Begegnung und ein umfassendes Krankheitsverständnis ist die
Berücksichtigung des gesellschaftlichen und politischen Kontexts unerlässlich. Dieser ist der
Rahmen für Heilung i.S.v. Reduktion der psychopathologischen Symptomatik, aber auch für
verbesserte Selbstakzeptanz des jeweils individuell Imperfekten. Dies wird aktuell von
AutorInnen mit unterschiedlichen theoretischen, praktischen, professionellen und
biographischen Hintergründen herausgearbeitet. Manfred Lütz (2011) stellt provokativ fest,
dass wir in unseren Psychiatrien die Falschen behandeln. Juli Zeh greift das Thema des
steigenden Anpassungsdrucks und der Sanktionierung von Eigenwilligkeit literarisch auf
(2010 vgl. z.B. S. 186). Und Peter Kruckenberg, setzt sich unter der Überschrift
„Perspektiven der Krankenhausbehandlung“ (2010, S. 426ff) mit der Frage auseinander, was
das zukünftige Entgeltsystem aus den Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und
Psychosomatik machen wird. An den beiden ersten Stellen der Prozessqualität nennt er
Beziehungsarbeit und Lebensweltbezogenheit (ebd.), was sich leicht in psychodramatische
Sprache übersetzen lässt: Psychiatrie kann nur heilend und hilfreich wirken, wo
Begegnungsräume geschaffen werden (können). Seiner Schlussfolgerung, dass dies durch
die Erarbeitung von Operationen- und Prozedurenschlüsseln („OPS“) in 25-MinutenLeistungspaketen, die pflegerische und milieutherapeutische Behandlung vernachlässigen,
kaum gelingen kann, ist nichts hinzuzufügen (vgl. ebd. S. 429-431).1
Letzteres beinhaltet auch das Risiko einer unnötigen Spaltung zwischen den
Berufsgruppen, die jedoch im Stationsalltag darauf angewiesen sind, als Team zusammen
zu arbeiten. Einige Professionen, v.a. die akademischen Berufe, die untereinander und
jeweils in sich wiederum hierarchisch geordnet sind, werden als Leistungsträger aufgebaut.
Andere Berufe hingegen (z.B. Pflegekräfte und nicht-psychologische TherapeutInnen)
erfahren unter dem primär ökonomischen Blickwinkel weniger Wertschätzung, als ihrer
realen Bedeutung im therapeutischen Geschehen entspricht. Dies ist keine Zwangsläufigkeit.
Hutter (2010b, S. 218) arbeitet heraus, dass es sich dabei um eine von Interessen geleitete,
berufspolitisch gewollte, historische Entwicklung handelt, während „therapeutische
Wirksamkeit für Moreno nicht an professionellen Status gebunden ist (…). Wirksamkeit
beruht für ihn auf Begegnungsfähigkeit und nicht auf akademischen Qualifikationen.“
Die soziodramatische (gesellschaftliche) Ebene
Es leuchtet unmittelbar ein, dass eine stärkere Statusorientierung soziometrische
Implikationen auf das Rollenverständnis von Berufsgruppen und einzelnen Personen hat. An
eher positiven Folgen sind eine klarere Aufgabenteilung und Verantwortungszuschreibung zu
nennen. Die meines Erachtens aber überwiegenden, eher negativen Konsequenzen sind
eine geringere Identifikation mit dem Gesamtzusammenhang und weniger Stolz auf die
Teamleistung. Damit verbunden ist eine punktuell niedrigere Bereitschaft zur
Verantwortungsübernahme durch einzelne („dafür werde ich schließlich nicht bezahlt“). Wo
dies z.B. zu einem Rückgang des Austauschs relevanter Informationen führt, ist der Nachteil
für die PatientInnen direkt sichtbar. Die Relevanz der Beobachtungen des Pflegepersonals
im Stationsalltag kann jedeR klinisch Tätige betätigen.
2
Die Analyse des Rollenverständnisses kann um milieuspezifische Aspekt erweitert
werden. Dafür soll kurz das Modell der Sinus-Milieus® vorgestellt werden. Die zehn SinusMilieus® sind gruppiert nach den Kriterien „Soziale Lage“ und „Grundorientierung“ (vgl.
Merkle & Wippermann 2008, S. 29). In der Dimension der sozialen Lage findet sich der
klassische Begriff der „Schicht“ und es wird die Trennung zwischen Oberschicht/Obere
Mittelschicht, Mittlere Mittelschicht und Untere Mittelschicht/Unterschicht abgebildet. Diese
wird in der zweiten Dimension durch die Differenzierung der lebensweltlichen Orientierung
der Menschen ergänzt. Hier unterscheidet die Sinusstudie Orientierungen an Traditionellen
Werten (wie Pflichterfüllung und Ordnung), Modernisierung/Individualisierung (mit den
Stichwörtern Individualisierung, Selbstverwirklichung und Genuss) und Neuorientierung (die
umfasst Multi-Optionalität, Experimentierfreude und Leben in Paradoxien) voneinander. Die
frühere „Oberschicht“ setzt sich hier vor allem zusammen aus Konservativen, Etablierten,
Postmateriellen und Modernen Performern. Gemeinsam ist diesen Gruppen ein relativ hohes
Einkommen und eine ebensolche Bildung. Daran schließen sich an die Milieus der DDRNostalgischen, der Bürgerlichen Mitte und der Experimentalisten, die in etwa der
„Mittelschicht“ entsprechen würden. Die Traditionsverwurzelten erstrecken sich von der
Unterschicht bis in die mittlere Mittelschicht. Und schließlich als Milieus mit niedrigen
Einkommen und geringer formaler Bildung die Gruppen der Traditionsverwurzelten, der
Konsummaterialisten und der Hedonisten. Außerdem werden einbezogen der familiäre und
gesellschaftliche biographische Hintergrund, wie z.B. Migration oder DDR-Sozialisation.
Innerhalb dieser Gruppen kann dann wieder eine Differenzierung der Milieus vorgenommen
werden, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede erkennen lässt. Die Milieustudien von
Sinus Sociovision verdeutlichen beispielsweise, dass Moderne Performer mit und ohne
Migrationshintergrund mehr gemeinsam haben als Traditionsverwurzelte und Moderne
Performer der gleichen Ethnie. Womit jede Aussage über „die Türken“ oder ähnliche
Pauschalisierungen gänzlich unsinnig werden. Vor wenigen Jahrzehnten konnte bei
PatientInnen und Beschäftigten von einer klaren Schichtzugehörigkeit und der Identifikation
damit ausgegangen werden. Diese Eindeutigkeit ist heute aufgelöst – zugunsten einer
höheren Komplexität im Sinne einer größeren Vielfalt an möglichen Lebensentwürfen, die
sich nicht selten als überfordernde Überkomplexität erweist. In einer Aktualisierung der
Studie 2010 (s. www.Sinus-Milieus) fällt auf, dass die ehemalige Dreiteilung einer faktischen
Vierteilung der sozialen Lage weicht: ein prekäres Milieu, dem immerhin fast 9 Prozent der
Deutschen zuzurechnen ist, markiert eine von gesellschaftlichen Prozessen abgehängte
Unterschicht.
Das Modell der Sinus-Milieus erhellt somit nicht nur eine Binnendifferenzierung in
der Gesellschaft und damit einhergehend in der MitarbeiterInnenschaft und Klientel der
Psychiatrie, sondern auch eine Abgrenzung, die bis hin zur Abschottung gehen kann. Die
gemeinsame Werte- und Erfahrungsbasis von Menschen aus unterschiedlichen Milieus ist
geringer als noch vor wenigen Jahrzehnten, weil es weniger Begegnungsmöglichkeiten und
Begegnungsnotwendigkeiten gibt. Merkle & Wippermann (vgl. 2008, S. 50) nennen dies
soziale „Demarkationsgräben“, die eine „stärker werdende räumliche und kulturelle
Segregation“ zur Folge hätten, zu beobachten sei dies z.B. an der „erheblichen Entmischung
von Stadtteilen“2. Diese – aus der Binnensicht der Milieus sinnvolle – Abgrenzung geschehe
zum Teil massiv, zum Teil durch „subtile Signale der Distinktion“: die Folge sei jedoch in
beiden Fällen „mit Blick auf soziale Integration und gesellschaftliche Solidarität (…) fatal:
Wenn Kinder heute keinen Kontakt mehr zu Menschen unterer Schichten haben, (…) dann
wird keine Empathie und kein Grund für Solidarität entwickelt. Solidarität wird zum
Abstraktum“ (Merkle & Wippermann 2008 vgl. S. 51f). Bernd Ulrich (2011) schreibt von
einem „Schweigekartell“, nämlich dem „Verdrängen der unmoralischen Seite unseres Lebens
durch Geschäftigkeit“, zu dessen Erhalt es erforderlich oder wenigstens günstig sei, „dass
sich die sozialen Klassen nicht allzu oft begegnen, und wenn doch, dass sie dann darüber
nicht reden.“
Einige Sätze zum Genderbewusstsein der in der Psychiatrie Tätigen: dies scheint
mir oft wenig vorhanden – von einem, aufgrund ihrer Unterrepräsentanz nachvollziehbaren,
relativ unreflektierten Männerbonus einmal abgesehen. So werden Männer teilweise eher
geschätzt und gefördert, weil sie wenige sind als wg. ihrer tatsächlichen Leistungen. In den
3
Führungspositionen allerdings gilt auch in der Psychiatrie wie in anderen Bereichen mit allen
Implikationen der (Un-)Vereinbarkeit von Kindern und Karriere: es ist eine geringere
Bereitschaft von Frauen zu konstatieren, sich in den vorhandenen Strukturen zu engagieren.
Buer (2004) weist auch zu recht auf die Bedeutung hin, die die Einbeziehung der
unbelebten Umwelt hat, was in der Psychotherapieliteratur heute eher selten der Fall ist.
Diese Erkenntnis scheint in den 80-er Jahren unter dem Eindruck der „68-er Revolution“ mit
der Marxschen These vom Sein, das das Bewusstsein bestimmt und der PsychiatrieEnquete bzw. den Radeberger Thesen selbstverständlicher gewesen zu sein als heute (vgl.
z.B. Victor Chu (1988) mit „Psychotherapie nach Tschernobyl“3 und Dörner/Plog „Irren ist
menschlich“ von 1984).
Die Akzeptanz der Rolle als PsychiatriepatientIn ist sowohl von individuellen als
auch von gesellschaftlichen Werten beeinflusst. Insofern hätte sie auch bereits im vorigen
Abschnitt der axiomatischen Erwägungen reflektiert werden können. Gleichzeitig spiegelt sie
einen soziometrischen Status, der nach wie vor denkbar gering ist. Ein Hinweis darauf ist die
Praxis der privaten Krankenversicherungen, bei denen immer noch eine auch nur ambulante
Psychotherapie vor mehreren Jahren ein Aufnahmehindernis darstellt. In der Umkehrung
wird die Übernahme von Behandlungskosten von psychischen Krankheiten restriktiv
gehandhabt oder ausgeschlossen. Wir erleben aktuell eine Reduktion und eine zunehmend
restriktiven Handhabung, wenn Sozialleistungen gewährt werden. Gleichzeitig entwickelt sich
der Arbeitsmarkt negativ. So sind bei einem offenen Umgang mit einer psychischen
Erkrankung eher wieder höhere individuelle Kosten zu erwarten als es zwischenzeitlich
einmal der Fall gewesen sein mag. Insofern könnte sogar der Begriff der Re-Stigmatisierung
zutreffend sein.
Die soziometrische Ebene4
Die soziometrischen Verwicklungen und Verwerfungen haben Auswirkungen auf das Team
als Gruppe, welches – für die PatientInnen – modellhafte Beziehungen untereinander hat.
Ein Faktor dabei, der in seiner Bedeutung nicht zu überschätzen ist, ist die Konfliktfähigkeit
der Teammitglieder: „Wie der einzelne psychiatrisch Tätige durch seine Person wirkt, so das
Team durch die Beziehungen seiner Mitglieder. Daher sollte das Team (…) auch nach (…)
sozialer Schicht (…) unterschiedlich sein.“ schrieben Klaus Dörner und Ursula Plog 1984
(Dörner/Plog 1992, 7. Auflage, S. 279). Über den Umgang miteinander wird die
Gesamtatmosphäre geschaffen und beeinflusst. Dies ist schwierig positiv zu gestalten in
Phasen, in denen ein Team sehr mit sich beschäftigt ist.
Die oben benannte Ausdifferenzierung der Milieus beinhaltet unsichere
Beschäftigungsverhältnisse eines Teils der Angestellten und ist gleichzeitig mit bedingt durch
diese. Wir erleben heute in der deutschen Nachkriegsgeschichte bisher nicht bekannte
prekäre Arbeitsbedingungen auch für qualifiziertes Personal. Dies bewirkt größere
ökonomische und damit teilweise auch emotionale Abstände zwischen hierarchisch u.U.
sogar gleich gestellten Individuen in der kollegialen Rolle als noch vor einem Jahrzehnt. Das
betrifft sowohl das Freizeit- und Konsumverhalten, als auch Werte(-hierarchien) und Weltund Selbstverständnis. In Verbindung mit der oben beschriebenen Reduktion der formalen
und informellen Begegnungen der Milieus untereinander stellt dies eine Herausforderung dar:
die Wertschätzung von Unterschiedlichkeit kann im beruflichen Feld alltäglich gelebt werden
anstatt nur ein Lippenbekenntnis der Milieus, in deren Wertekanon sie passt, darzustellen.
Die Gruppe der PatientInnen beschreibe ich nun an dritter Stelle: Spiegelt sich darin
ein Stück des psychiatrischen Alltags oder ist es nur dem Aufbau des Artikels geschuldet?
Die Beziehungen zwischen PatientInnen und MitarbeiterInnen sind heute egalitärer als früher,
v.a. bei freiwilligen Klinikaufenthalten.5 Ebenso treffen wir heute teilweise auf gut oder
halbwegs gut informierte PatientInnen, was neben Vorteilen auch Schwierigkeiten bedeuten
kann. Ich erinnere mich z.B. lebhaft an die Diskussionen über Anti-Depressiva vor ca. 2 1/2
Jahren, als der Skandal um nicht publizierte Studien von den Medien auf das
Schlagwort„Anti-Depressiva sind nicht wirksam“ verkürzt wurde.
4
Andererseits macht sich auch hier das Auseinanderklaffen der Milieus bemerkbar:
immer häufiger begegnen uns PatientInnen, die als „DauerzeitarbeiterInnen“ trotz 3-SchichtSystem kein ausreichendes Gehalt erzielen oder sich mit der Rolle als „Hartzer“ abgefunden
haben. Wenn noch deutlich unterschiedliche Wertvorstellungen und
Sozialisationserfahrungen und vielleicht ein erheblicher Altersunterschied hinzukommen,
braucht es viel Professionalität und Engagement für gelingende Kommunikation oder sogar
Begegnung und um gemeinsame Therapieziele zu finden. Allerdings hat diese Betrachtung
der veränderten Umstände auch ein entlastendes Moment, da die Interaktion mit fremden
„Kulturen“ mehr Kompetenz erfordert und mehr Konfliktpotential enthält als in homogeneren
Dyaden oder Gruppen. Sowohl die Fähigkeit als auch die Bereitschaft, auf andere Gruppen
zuzugehen, sind eng verbunden mit der Kongruenz mit der eigenen Rolle und der sozialen
Vernetzung innerhalb der eigenen Gruppe.)
Um die eigene PatientInnen-Rolle akzeptieren zu können, ist eine Voraussetzung,
die wenn auch schmerzhafte fortbestehende Stigmatisierung anzuerkennen. Nur von dieser
realistischen Position ausgehend, lässt sich die (neue) Rolle angemessen gestalten und
füllen, womit wieder die bereits oben beschriebene notwendige Einbeziehung des
gesamtgesellschaftlichen Kontexts ins Spiel kommt.
Psychodramatische Psychotherapie in der Psychiatrie heute
Die Einbeziehung der verschiedenen Aspekte und Ebenen ist gewährleistet, wenn wir als
psychodramatische Perspektive die szenische Diagnostik wählen (vgl. Hutter 2009b, S. 27ff).
D.h. für Diagnostik und Behandlung relevante Faktoren sind:
 die somatische Ebene, also der Körper als direktes und indirektes
Kommunikationsinstrument und evtl. Symptomträger. Alleine durch die Körperlichkeit
der Beteiligten ist diese Ebene unmittelbar relevant und Teil des therapeutischen
Geschehens.
 die soziodramatische (gesellschaftliche) Ebene mit den vielfältigen, uns
beeinflussenden Umweltfaktoren.
 die soziometrische, konkrete Beziehungen betreffende Ebene.
 die psychodramatische Ebene, die biographische Erfahrungen enthält und uns als
PsychodramatikerInnen wohl am vertrautesten ist.
 die axiodramatische Ebene, die ebenfalls immer mindestens implizit wirkt, da
Psychodrama auch eine Haltung, nicht nur eine Methode ist.
 schließlich die Einzigartigkeit jeder Szene, Lage und Begegnung – über alle
Verallgemeinerungen hinaus.
Ein solch komplexes und umfassendes Modell anzuwenden ermöglicht ein Verständnis und
Interventionsansätze über Psychopathologie und bloße Symptomorientierung hinaus.
Allerdings sind die von Yalom 1980 (vgl. ‚Yalom 2000³) benannten,
methodenübergreifenden zentralen Themen für Psychotherapie6 bei immer kürzeren
Liegezeiten weniger in der Tiefe bearbeitbar. Stattdessen kann
 in aktuellen Konflikten Hilfestellung gegeben werden,
 versucht werden, Orientierung zu geben,
 zu einer längerfristigen, auch ambulanten Psychotherapie motiviert werden und
 Hoffnung gemacht werden auf eine Veränderung der Lage durch eigene
Handlungsoptionen.
Und – last not least – was Schacht (2009) über das Status-nascendi-Modell
psychodramatisch begründet, reduziert eine Entscheidung zur Nicht-Veränderung die
Hilflosigkeit im Unterschied zu einem passiven Verharren in der Situation. Dies ist
nachvollziehbar bei Betrachtung des Prozesses: die Situation zu belassen, wie sie ist,
erscheint dann als eine von mehreren Optionen und zwar als die, die schließlich gewählt
wird. (Und dadurch besteht ebenso die Möglichkeit, dass sie eines Tages abgewählt wird.)
Indem eine bewusste Wahl getroffen wurde, entsteht eine neue Lage.
5
Worin liegt das Potential des Psychodramas auch bei eher kurzen Therapiezeiten?
An erster Stelle im Moment der Ermächtigung in der Katharsis und des sich Erlebens als
GestaltendeR und HandelndeR. Dies betrifft sowohl die Kraft von Symbolarbeit als auch
früher Erlebtes und aktuelle Konflikte durch szenisches Arbeiten sichtbar zu machen. Hierin
sind beinhaltet Rollenerweiterung durch übendes Spiel und heilende Erfahrungen durch
Wunscherfüllungen. Wenn schließlich in einer halboffenen Gruppe über mehrere Wochen
hinweg eine ausreichende Gruppenkohäsion entsteht, werden neue reale
Beziehungserfahrungen gemacht. Bestenfalls umfassen diese sowohl unterstützende Anteile
als auch die Möglichkeit, im Schutz der Gruppe, mit therapeutischer Hilfe und
psychodramatischen Techniken gelingende Konfliktlösung zu erleben. Wenn das Eis erst
einmal gebrochen ist, ist immer wieder die Erfahrung zu machen, dass es oft der Wunsch
der Patientinnen ist, bei den nächsten Gruppenterminen psychodramatisch zu arbeiten. Dies
mag auch damit zu tun haben, dass eine verantwortungsvoll geleitete
Psychodramatherapiegruppe durch ihre Struktur ausreichend Sicherheit bietet ohne rigide zu
sein. Ebenso sind die psychodramatischen Sequenzen häufig das, was im Rückblick von
den PatientInnen am intensivsten und auch am positivsten erinnert wird als zentrale
Momente ihrer Therapie. Dies führe ich auf die multimodale Erfahrung im Handeln, die
Erkenntnisintensität im Rollentausch und die kathartischen Momente des Psychodramas
zurück. Für Therapie-Unerfahrene kann bereits eine Anfangssoziometrie weit über eine
Anwärmübung hinaus eindrücklich sein: Zugehörigkeit wird hier leibhaftig sichtbar und
spürbar gemacht.
Häufig steht vor der Arbeit an weiter gehenden Therapiezielen die Akzeptanz der
Rolle als PsychiatriepatientIn als Voraussetzung für therapeutische Erfolge und Heilung.
(Oder vielleicht ist dies das weitest gehende Therapieziel? Erst wenn wir in der Lage sind,
uns selbst in unserer aktuellen Situation zu akzeptieren, erleben wir unsere eigene Kraft und
haben Zugang zu ihr, was vieles ermöglicht.) Deutlich wird immer wieder eine
Hierarchisierung, die auch die Betroffenen als Mitglieder unserer Gesellschaft mittragen und
reproduzieren: am leichtesten lässt sich zu einem „Burn-Out“ stehen, da dieser ja teilweise
geradezu heroisiert wird: „nur die Besten brennen aus“ (vgl. Hutter 2010a). Auch „eine
Depression haben“ ist noch einigermaßen akzeptabel, da diese inzwischen als
„Volkskrankheit Nr. 1“ bekannt ist. Fast vergleichbar im (gesamtgesellschaftlichen und
therapiegruppeninternen) Ranking liegen die Angsterkrankungen. Sogar den MitpatientInnen
gegenüber werden jedoch Psychosen und v.a. auch Suchterkrankungen verschwiegen,
mindestens am Anfang. Eine Sonderstellung nehmen Persönlichkeits- und auch
Essstörungen ein, die individuell sehr unterschiedlich präsentiert werden: von sehr versteckt
bis geradezu demonstrativ gibt es hier viele Variationen. Neben anderen Techniken ist zur
Erforschung und Akzeptanz der eigenen Rolle als PatientIn soziometrisches Arbeiten
besonders hilfreich. So können z.B. unter dem Kriterium Erkrankungsdauer einerseits
Erfahrungen in diesem Zeitraum aus einer neuen Perspektive gesehen werden und
andererseits auch die Inanspruchnahme von Hilfe positiv konnotiert werden.
Ebenfalls sinnvoll ist die Arbeit mit dem Sozialen Atom. Hier wird die
psychodramatische Haltung ebenso direkt vermittelt wie bei soziometrischer Arbeit: Die
Vorgabe ist die Sicht auf den Menschen als zutiefst soziales Wesen, das Begegnung als
Bedeutungserleben existentiell benötigt. Dies ist meine axiomatische Setzung als
Psychodramatikerin, um die ich mit den PatientInnen ringe, z.B. wenn mir der
unverwundbare „Lonesome Cowboy“ als positivstes aller Rollenmodelle präsentiert wird. Zu
beachten ist, dass die Arbeit mit dem Sozialen Atom für PatientInnen häufig eine größere
Herausforderung und ein weit konfrontativeres Verfahren darstellt als z.B. für
AusbildungsteilnehmerInnen. Das soziale Netz der PatientInnen ist häufig ungenügend bzw.
gerade durch kritische Lebensereignisse (Tod von Bezugspersonen, Trennung, Umzug) im
unmittelbaren Vorfeld der psychischen Erkrankung dünn geworden. Ein
ressourcenorientiertes Vorgehen ist also zu empfehlen, z.B. indem ausdrücklich aufgefordert
wird, auch anderes Bedeutsames als Personen (so unterschiedliche Kategorien wie Gott,
Hobbys und Tiere kommen hier in Frage) darzustellen. Alternativ kann auch versucht werden,
das Soziale „Wunsch-Atom“ zu gestalten. In der Einzel- und Gruppentherapie kann in allen
6
Fällen daran weiter gearbeitet werden, wie sich gewünschte Veränderungen aktiv
beeinflussen lassen.
Psychodrama stellt darüber hinaus eine unmittelbare multimodale Erfahrung dar7,
die die somatische Ebene, inkl. der neurologischen Vorgänge einschließt, und gleichzeitig
eine soziale Erfahrung ermöglicht – im Kontakt mit einer Gruppe oder im Monodrama in der
therapeutischen Beziehung. Im Rückbezug auf die PatientInnenrolle bietet die Methode
Psychodrama im Format Psychotherapie im Setting psychiatrische Klinik wertvolle Angebote
zur Erweiterung der vorhandenen Rollenanteile um aktive Momente: Es werden
soziometrische Wahlen und andere Entscheidungen getroffen und Handlungen ausgeführt.
Somit erhöht Psychodrama-Therapie wahlweise die Rollenflexibilität, Kreativität und
Spontaneität oder steigert in verhaltentherapeutischer Terminologie die
Selbstwirksamkeitsüberzeugung oder verbessert in tiefenpsychologischer Sprache die
Differenzierung der Ich-Struktur und Mentalisierungsfähigkeit.
Die Einsicht, dass wir dafür wissenschaftliche Nachweise erbringen müssen, setzt
sich bei immer mehr KollegInnen durch und es gibt mittlerweile auch einen internationalen
Konsens, welche Messinstrumente und Forschungsdesigns sich dafür eignen. So ist zu
hoffen, dass wir in einigen Jahren über eine solide Datenbasis zur Wirksamkeit von
Psychodrama-Therapie verfügen, in der die Erfahrungen von praktisch Tätigen
PsychodramatikerInnen repräsentiert sind.
Die Schlussfolgerung aus diesen Darlegungen ist, dass Psychodrama auch unter
heutigen Bedingungen eine geeignete Therapieform für den Einsatz in der Akutpsychiatrie ist.
Und wir das bald durch Evaluation und Forschung weiter begründen können.
7
Literatur
Buer, F. (2004). Morenos therapeutische Philosophie und psychodramatische Ethik. In: J. Fürst, K.
Ottomeyer, H. Pruckner (Hrsg.), Psychodramatherapie (S. 30 – 58) Wien: facultas
Chu, V. (1988) Psychotherapie nach Tschernobyl Frankfurt/M: Zweitausendeins
Dörner, K. & Plog, U. (1992, 7. Auflage) Irren ist menschlich Bonn: Psychiatrie Verlag
Hutter, Ch. (2009a). Das Kind, das ich war, spielt immer mit Vortrag vom 25.05.2009
Hutter, Ch. (2009b). J.L.Morenos Werk in Schlüsselbegriffen Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften
Hutter, Ch. (2010a). Burn-Out. Unveröffentlichte Arbeitsmaterialien, überlassen am 25.01.2010
Hutter, Ch. (2010b). Begegnung als Konzept. Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie 2/2010 211
- 224
Kruckenberg, P. (2010). Perspektiven der Krankenhausbehandlung. Verhaltenstherapie &
Psychosoziale Praxis 2/2010, 426 – 431
Lütz, M. (2011). Irre! Wir behandeln die Falschen Goldmanns Taschenbücher
Merkle, T. & Wippermann, C. (2008). Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung von Sinus
Sociovision im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. In: Henry-Huthmacher, Ch. & Borchard, M.,
Eltern unter Druck Stuttgart: Lucius & Lucius
Schacht, M. (2009). Das Ziel ist im Weg Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Sinus-Milieus. http://www.sinus-institut.de, 13.03.2011
Ulrich, B. (2011) Was ist gerecht? DIE ZEIT 17.02.2011 S.1
Yalom, I. (2000³). Existentielle Psychotherapie Köln: Edition Humanistische Psychotherapie
Zeh, J. (2010). Corpus delicti btb
Claudia Mühlbauer 1964, Dipl. Psychologin, Psychodrama-Therapeutin und Trainerin, Approbation
als Psychologische Psychotherapeutin (Tiefenpsychologie), Anerkennung als Suchttherapeutin (VdR);
Vorstandsmitglied des Psychodrama-Instituts für Europa, Landesverband Deutschland (PIfED e.V.);
Mitglied im Psychodrama-Institut für Europa (PIfE e.V.); Mitarbeit in der Weiterbildungskommission
des Deutschen Fachverbands für Psychodrama (DFP e.V.) und im Research Committee der
Federation of European Psychodrama Training Organisations (FEPTO). Tätig als Psychotherapeutin
in psychiatrischer Klinik (Tagesklinik und Ambulanz) und freiberuflich (Psychotherapie, Supervision
und Psychodrama-Ausbildung)
Berlin
[email protected] oder [email protected]
Schlüsselwörter: Psychodrama – Psychotherapie – Psychiatrie – Soziometrie – Politik –
Gesundheitssystem – Sinus-Milieus – Rolle – Axiodrama – Szenische Diagnostik
C. Mühlbauer
Lenaustr. 12, D-12047 Berlin
E-Mail: [email protected]
1
Die Möglichkeit eines Transfers dieses und der folgenden Problembereiche auf andere
psychosoziale Arbeitsfelder (z.B. Jugend- und Suchthilfe) und andere Settings (z.B. Beratungsstellen
und Reha-Kliniken) erscheint mir höchst plausibel und wahrscheinlich. Die detaillierte Beschreibung
möchte ich den jeweils dort tätigen PsychodramatikerInnen überlassen.
8
2 So gibt es in Berlin bestimmte Viertel („Kieze“), aus denen die besser verdienenden und gebildeten
Eltern wegziehen, sobald die Kinder das schulpflichtige Alter erreichen. Ohne Recherche von
statistischen Zahlen lässt sich dies z.B. erleben an einem sonnigen Sonntagnachmittag in einer
Eisdiele in Kreuzberg.
3 Mit erneut grauenhafter Aktualität während der Überarbeitung dieses Artikels Mitte März 2011…
4 In der Beschreibung der Beziehungen sind die dabei agierenden Rollen und Gegenrollen enthalten,
auch wenn sie im Folgenden nicht an jeder Stelle explizit benannt sind.
5
Die Extremsituationen während des Nationalsozialismus, als Ärzte und PflegerInnen teilweise zu
Mördern oder deren HandlangerInnen wurden, führe ich hier nicht weiter aus. Ebenso wenig die
Bereiche, in denen während der DDR die Psychiatrie Teil des Repressionsapparates war. Dennoch
gehe ich davon aus, dass diese historischen Schrecken bis heute Schatten werfen auf die deutsche
Psychiatrie. (Vgl. dazu auch Hutter 2009a „Das Kind, das ich war, spielt immer mit“.)
6
In aller Kürze aufgeführt: existentielle Einsamkeit und dennoch bzw. deshalb die Notwendigkeit zu
relevanten Beziehungen; die Pflicht zur Verantwortungsübernahme; die Aufgabe, individuell Sinn im
Leben zu finden und die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit, also dem Tod.
7
Es ist somit unmittelbar anschlussfähig sowohl an die Schematherapie als auch an die
mentalisierungsbasierten Techniken.
9
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