Nur Text - Ruhr-Universität Bochum

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PD Dr. Hubert Dinse, Institut für Neuroinformatik der RUB, Prof. Dr. Ulf T. Eysel,
Institut für Physiologie, Medizinische Fakultät
Leistungssteigerung und Plastizität bis ins hohe Alter
Das erwachsene Gehirn ist unveränderbar - das galt jahrzehntelang als
Postulat. Doch längst besteht kein Zweifel mehr daran, dass
Leistungssteigerung und Selbstreparatur des Gehirns bis ins hohe Alter
möglich sind. Neurowissenschaftler zeigen am Beispiel des Laufverhaltens
und bei Verletzungen der Sehrinde wie gut sich dieses Potenzial erschließen
lässt.
Nach dem Konzept der „gebrauchsabhängigen Plastizität“ befindet sich auch das
erwachsene Gehirn in einem Zustand permanenter Veränderung: Schon ein
geringfügiger Wechsel der Lebensumstände, der zu einem anderen alltäglichen
Verhalten führt, kann plastische Reorganisationsprozesse in Gang setzen. Welchen
Einfluss haben diese Mechanismen auf Verletzungen des Gehirns oder auch auf
natürliche Alterungsprozesse des Menschen?
Altern ist zentraler Bestandteil jeglichen Lebens. Viele Theorien versuchen das Altern
zu erklären, allerdings ohne wirklich Einsicht in die Hintergründe zu geben. Neben
der Bedeutung für das Individuum selbst hat das Altern auch eine gesellschaftliche
Dimension: Mit dem Geburtenrückgang und der zunehmenden Lebenserwartung der
Menschen in den modernen Industrieländern hat sich die „Alterspyramide“
umgekehrt. Die Konsequenzen sind heute noch nicht absehbar.
Im Zuge dieser Entwicklung wird die sog. Alltagskompetenz alter Menschen immer
wichtiger. Sie charakterisiert die sensomotorischen Fähigkeiten, die notwendig sind,
um alltägliche Arbeiten zu verrichten. Doch sind altersbedingte Veränderungen
degenerativen Ursprungs und damit weitgehend irreversibel, oder handelt es sich um
plastische Veränderungen im Sinne einer kompensatorischen Anpassung an die
Anforderungen des täglichen Lebens?
Ratten stellen ein optimales Untersuchungsmodell für diese Fragestellung dar, da sie
mit zwei bis drei Jahren schon „in hohem Alter“ sind. Als einen Aspekt der
Alltagskompetenz wählten wir für unsere Untersuchungen das Laufverhalten der
Ratten aus. Wie die Pfotenabdrücke zeigen (Abb. 2), sind Ratten im Alter - wie
Menschen auch - im Laufen stark eingeschränkt. Sie schlurfen und humpeln mit den
Hinterbeinen, während die Vorderextremitäten weitgehend unbeeinträchtigt bleiben.
Doch führt dieses Laufverhalten auch zu Veränderungen im Gehirn? Bei der Klärung
dieser Frage kam uns die Art der Gehirnorganisation zugute, die die
Körperoberfläche wie eine Landkarte kartiert: Benachbarte Punkte auf der Haut
korrespondieren mit nebeneinander liegenden Bereichen des Gehirns (s. Abb. 3).
Reizt man zum Beispiel zwei Punkte auf der Handfläche, so werden auch im Gehirn
nah beieinander liegende Stellen aktiviert. Liegen die Reizpunkte weit voneinander
entfernt, so ist auch der Abstand der aktivierten Gehirnbereiche größer. Das in der
Hirnrinde des Menschen entstehende Bild, die sog. kortikale Karte der gesamten
Körperoberfläche, wird deshalb auch als Homunculus („Menschlein“) bezeichnet.
Abb. 4 zeigt eine kortikale Karte, die anhand von elektrophysiologischen Messungen
der Nervenzellaktivität in den Hirnregionen erstellt wurde, die die Extremitäten
repräsentieren: Im Bereich der Hinterextremitäten sind dramatische
Aktivitätsstörungen zu erkennen. Diese Ergebnisse konnten wir auch mit einer neuen
Methodik, der „optischen Registrierung“, bestätigen (s. Abb. 4). Dabei messen wir die
Veränderungen des Blutflusses in bestimmten Bereichen des Gehirns nach Reizung
der Haut. Es konnte experimentell nachgewiesen werden, dass Nervenzellaktivität
mit einer Änderung des Blutflusses verbunden ist.
Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass sich die kortikalen Karten altersbedingt
verändern. Sie verlieren ihren Ordnungsgrad und schrumpfen, was auf einen
veränderten Tastsinn und damit auf eine veränderte Wahrnehmungsfähigkeit im
betroffenen Körperteil schließen lässt. Die Veränderungen bleiben auf die kortikalen
Karten der Hinterextremitäten beschränkt, obwohl diese nur wenige Millimeter von
denen der Vorderextremitäten entfernt liegen. Wir vermuten deshalb, dass das
altersbedingt veränderte Laufverhalten nicht auf degenerative Veränderungen im
Sinne eines „Zusammenbruchs von Gehirnfunktionen“ zurückzuführen ist. In diesem
Fall müssten die kortikalen Karten beider Extremitäten betroffen sein.
Wir erklären diese Ergebnisse im Sinne der „gebrauchsabhängigen Plastizität“. Bis
etwa 1980 ging man davon aus, dass plastische Anpassungsprozesse des Gehirns
auf die sog. „kritische Entwicklungsphase“ eines Individuums beschränkt bleiben.
Das erwachsene Hirn hielt man dagegen für weitgehend unveränderlich,
Lernprozesse bezögen sich lediglich auf Veränderungen der Synapsen und damit auf
mikroskopische Vorgänge. Heute besteht kein Zweifel mehr daran, dass auch im
erwachsenen Gehirn weitreichende Reorganisationsprozesse in makroskopischer
Größenordnung im Millimeter- oder sogar Zentimeterbereich stattfinden. Man nimmt
an, dass die synaptische Plastizität mikroskopische Veränderungen auslöst, die dann
zu den makroskopischen Veränderungen führen, die sich wiederum in der kortikalen
Karte widerspiegeln.
Unsere Hypothese lautet daher, dass die beobachteten Altersveränderungen kein
Ausdruck des Absterbens und Untergangs von Nervenzellen sind, sondern dass es
sich dabei um aktive Adaptationsprozesse handelt. So können z.B. äußere Faktoren
wie altersbedingter Muskelschwund oder Gelenkschmerzen dazu führen, dass
bestimmte Körperteile weniger „benutzt“ werden. Über Mechanismen der
gebrauchsabhängigen Plastizität führt dies wiederum zu Veränderungen der sensomotorischen Karten im Gehirn. Für die zentrale Rolle des Cortex beim Auftreten von
Altersveränderungen spricht auch, dass die peripheren Nerven der
Hinterextremitäten alter Ratten unbeeinflusst bleiben.
Wodurch lässt sich diese Hypothese stützen? Zumindest gibt es Hinweise dafür,
dass ein erhöhter oder verringerter Gebrauch von Körperfunktionen zu kortikaler
Reorganisationen führen kann: So benutzen Musiker Hände und Finger wesentlich
häufiger als der Durchschnitt der Bevölkerung.
Gipsverband schränkt Bewegung und damit kortikale Karte ein
Die erhöhte sensomotorische Fähigkeit von Geigen- und Klavierspielern ist auch
tatsächlich mit einer spezifischen Vergrößerung ihrer kortikalen Karten verbunden.
Dagegen haben Patienten, die für mehrere Wochen einen Gipsverband tragen und
damit in ihren Bewegungen eingeschränkt sind, spezifisch verkleinerte kortikale
Karten. Auch bei unseren Ratten führen geringfügige Einschränkungen des
Laufverhaltens zu schnellen Änderungen der kortikalen Karten. Dass diese Prozesse
reversibel sind und sich je nach „Lebensumständen“ und verändertem Verhalten
modifizieren und beeinflussen lassen, spricht dafür, dass es sich dabei um aktive
Plastizitätsprozesse handelt.
Wir haben deshalb den Einfluss einer „anregenden Umgebung“ (enriched
environment) auf die Alterungsprozesse anhand der kortikalen Karten, der
Antworteigenschaften kortikaler Nervenzellen sowie verschiedener
Verhaltensparameter für die Laufeigenschaften von Ratten überprüft. Im „enriched
environment“ können die Tiere Gänge und Höhlen bauen, erhalten ihr Futter an
jeweils anderen Orten und werden so zu einem aktiven Explorationsverhalten und
zum Klettern motiviert, was ihre körperliche und mentale Leistungsfähigkeit und ihre
Fitness stärkt. Sie blieben im Durchschnitt ein halbes Jahr in dieser Umgebung und
hatten dann mit fast drei Jahren ein für Ratten hohes Alter erreicht.
Die Haltung im „enriched environment“ zeigte einen sehr positiven Einfluss auf das
Laufverhalten der Ratten: Auf den ersten Blick liefen die Tiere fast so gut wie junge
Ratten (s. Abb. 5 u. 6). Erst bei näherem Hinschauen, entdeckten wir, dass sie dafür
aber neue Laufstrategien entwickelt hatten, mit denen sie die typischen
Altersbeeinträchtigungen, wie Unsicherheit, Verlangsamung oder Muskelabbau,
weitgehend ausgleichen konnten. So hielten die alten Ratten z. B. durch viele kleine
Schritte die Beine mehr am Boden und erreichten damit eine bessere
Standsicherheit. Die „enriched-Ratten“ entwickeln eine neue Form der
Alltagskompetenz, die sich wesentlich von der alter, aber auch von jungen Ratten
unterscheidet. Der Zerfall der kortikalen Karten der Hinterextremitäten wurde durch
das „enriched environment“ ebenfalls verhindert - auch hier fanden wir dafür andere
neuronale Strategien als bei jungen Ratten.
Weit über die Funktionsbeeinträchtigung bei normalen Alterungsvorgängen hinaus
gehen Blutmangelzustände, Blutungen oder mechanische Verletzungen des Gehirns.
Mit dem Untergang größerer Zellverbände fallen ganze Funktionsbereiche aus. Da
keine Regeneration eintritt, steht das Funktionssystem Gehirn damit vor einer ganz
neuen Aufgabe: Zellen, die Jahre oder Jahrzehnte eine bestimmte Funktion inne
hatten, müssen neue Aufgaben übernehmen, wenn das Gesamtsystem überleben
soll. Ähnlich dem Altern, stellen auch Schädigungen des Gehirns, insbesondere der
Schlaganfall und die nachfolgende Rehabilitation, ein bedeutendes medizinisches
und ökonomisches Problem dar.
Unser experimentelles Modell geht von winzigen Läsionen in der Sehrinde von
Katzen und Ratten (Abb. 8) aus, die zu Gesichtsfeldausfällen führen. Die Folge sind
kleine blinde Bereiche, die sich anhand von Mikroelektrodenableitungen
demonstrieren lassen. Zellen in der Umgebung dieser Läsionen antworten auf
Lichtreize (s. Abb. 7). Die Bereiche der Läsionen selbst aber bleiben unerregt - als
wäre ein kleines Loch in ein Bild gestanzt worden (Abb. 7c, Lücke zwischen den
weißen Feldern).
In einer weiteren Untersuchung 76 Tage später stellten wir fest, dass sich die
Gesichtsfeldbereiche (rezeptive Felder) vergrößert hatten (Abb. 7c, mattgrüne
Felder), die von einzelnen Zellen am Rand der Läsion „gesehen“ werden. Sie
überdecken wieder den gesamten Bereich des Gesichtsfeldes - der zuvor blinde
Bereich war verschwunden und kleine Objekte, die sich hier befinden, konnten
wieder wahrgenommen werden. Die Zellen am Läsionsrand hatten die Funktion ihrer
ausgefallenen Nachbarzellen übernommen.
Wir haben festgestellt, dass sich die rezeptiven Felder bei vermehrter und gezielter
Benutzung schon bei kurzer Übungszeit (ca. 1 Stunde) innerhalb von 48 Stunden
nach Eintreten einer Läsion vergrößern. Werden sie nicht trainiert, sondern z.B. in
völliger Dunkelheit gehalten, dann bleibt die Umprogrammierung der Zellen aus.
Diese Umprogrammierung von Zellfunktionen lässt sich am besten durch die sog.
Langzeitpotenzierung (LTP), eine Form zellulären Lernens, erklären. Dabei führt die
wiederholte und hochfrequente Nutzung von Zellkontakten zu deren dauerhafter
Verstärkung. Wir lösen die LTP durch eine spezielle Stimulation aus (Theta-BurstStimulation, TBS), bei der innerhalb einer Minute drei Salven von je 20 hochfrequent
wiederholten erregenden Antwortpotenzialen an der Synapse ausgelöst werden
(Abb. 9a).
In Hirnschnitten von Ratten mit kleinen Laserläsionen konnten wir zeigen, dass bei
Zellen des Läsionsrandes eine hochsignifikant verstärkte Langzeitpotenzierung
auftritt (Abb. 9b). Während im gesunden, erwachsenen Gehirn weniger als die Hälfte
der Zellen eine schwache LTP zeigt (Amplitudensteigerung auf 137% der
Ausgangsamplitude), fanden wir am Läsionsrand bereits in der ersten Woche nach
der Verletzung bei zwei Dritteln aller Zellen eine deutlich stärkere
Langzeitpotenzierung (Amplitudensteigerung auf 190%). Diese verstärkte Plastizität
des Gehirns geht mit einem erhöhten Calciumspiegel in den Zellen um die Läsion
einher.
Die veränderte synaptische Plastizität unmittelbar nach Eintreten der Verletzung
deutet auf ein erhöhtes Potenzial des Gehirns hin, sich umprogrammieren zu
können. Dieses Phänomen scheint der frühkindlichen Plastizität des Gehirns
vergleichbar und hat offenbar auch ähnliche molekulare Ursachen. Es stellt eine
interessante biologische Anpassung der Hirnrinde dar, durch Selbstreparatur und
Umprogrammierung überleben zu können. Bereits heute sind Trainingsprogramme
erfolgreich, die das Zeitfenster der verstärkten Plastizität nach der Schädigung
nutzen.
Wie unsere Ergebnisse zeigen, sind plastische Anpassungsprozesse des Gehirns
ebenso Teil des Alterns, wie auch Grundlage von Reparaturstrategien nach einer
Hirnschädigung. Daraus ergeben sich erhebliche Konsequenzen für mögliche
Therapien: Während sich immer deutlicher zeigt, dass das menschliche Gehirn das
Potenzial besitzt, Alterungsvorgänge durch Training, Fitness und Lernen nicht nur zu
stoppen, sondern auch umzukehren, lassen sich Hirnfunktionen selbst bei
Verletzungen und Zelluntergang durch frühzeitiges Training wieder zurückgewinnen.
In beiden Fällen deuten erste Untersuchungen am Menschen darauf hin, dass sich
die im Tierversuch gewonnenen Daten auf klinisch-medizinische Anwendungen
übertragen lassen könnten.
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