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rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung
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http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...
Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung
Das Spektrum der Religionen
Quelle: http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-titel.html
Manfred Kremser und Veronica Futterknecht
Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien
Kapitelübersicht
1
1.1
1.2
1.3
1.4
1.4.1
1.4.2
1.4.3
1.4.4
1.4.5
1.4.6
1.4.6.1
1.4.6.2
1.4.6.3
1.4.6.4
1.4.6.4.1
1.4.6.4.2
1.4.6.5
1.4.7
1.4.8
1.4.9
1.5
1.6
1.7
2
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2.1.1
2.1.1.1
2.1.1.2
2.1.1.3
2.1.2
2.1.3
2.1.4
2.1.4.1
2.1.4.1.1
2.1.4.1.2
2.1.4.2
2.1.4.3
2.1.5
3
3.1
3.1.1
3.1.2
3.1.3
Ethnographisches Fallbeispiel - Das Spektrum religiöser Kultur in St. Lucia / Karibik
Christliche Konfessionen
Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite
Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz
Kélé
"ngai bai an kélé" — einen Kélé "geben"
Die Vorbereitungen einer Kélé-Zeremonie
Der Ort der Opferhandlungen
Die Opfergaben und Ritualobjekte
Das Opfertier und seine Reinigung
"Feeding Shangó" — Die Opferhandlungen
Die Lieder und Gebete
Libationen mit Rum und Wasser
Das Speiseopfer
Das Blutopfer
Die Köpfung des Opfertieres
Die Annahme des Opfers
Die „zweite Fütterung von Shangó“
Der Spruch des Kalebassen-Orakels
Die kreative Kommunion mit den Ahnen
Das Festmahl der Ritualgemeinschaft
Rastafari
Traditionelle Medizin
Landwirtschaftliche Arbeit und Mondmythen
Ethnische Religionen
Bön in Tibet
Das Studium des Bön in der KSA
Entwicklung des Bön nach Hoffmann
Einteilung nach Kvaerne
Die drei Bedeutungen des Begriffs Bön
Entwicklung des Bön nach Christoph Baumer
Einteilung des Bön nach Tenzin Namdak
Vorstellungen des Kosmos im Bön: "Die drei kosmischen Welten"
Die obere Welt Lhayül
Die friedfertigen Gottheiten
Die zornvollen Gottheiten
Die mittlere Welt Miyül
Die Unterwelt Ogyül
Literatur
Weltreligionen
Sikhismus
Gründung und wesentliche Glaubensinhalte
Verhältnis zu Hinduismus und Islam
Äussere Merkmale seiner Anhänger
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rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung
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3.1.4
3.1.5
3.2
3.2.1
3.2.1.1
3.2.1.2
3.2.1.3
3.2.2
3.2.2.1
3.2.2.2
3.2.3
3.2.3.1
3.2.3.2
3.2.4
4
4.1
4.1.1
4.1.2
4.1.3
4.2
4.2.1
4.2.1.1
4.2.1.2
4.2.2
4.2.2.1
4.2.2.2
4.2.3
4.2.3.1
4.3
4.3.1
4.3.1.1
4.3.1.2
4.3.1.3
4.3.1.4
4.3.1.5
4.3.1.5.1
4.3.1.5.2
4.3.1.5.3
4.3.1.5.4
4.3.1.6
4.3.2
4.3.2.1
4.3.2.2
4.3.2.3
4.3.2.4
4.3.2.4.1
4.3.2.4.2
4.3.2.5
4.3.2.6
4.3.3
4.3.4
4.3.5
5
5.1
5.2
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Körperliche und geistige Ideale
Literatur
Buddhismus
Die Fahrzeuge des Buddhismus
Hinayana oder Theravada
Mahayana
Vajrayana
Grundlagen der buddhistischen Lehre
Die Vier Edlen Wahrheiten
Die Drei Gifte des Geistes
Tibetischer Buddhismus
Nyingma-Tradition
Dzogchen
Literatur
Neue religöse Bewegungen
Hinduistischer Hintergrund
Sri Ramana Maharishi
Mata Amritanandamayi/Amma
Bhagvan/Osho
Weitere
A Course in Miracles
Entstehungsgeschichte
Philosophie und Praxis
Avatar/Harry Palmer
Entstehungsgeschichte
Philosophie und Praxis
Samarpan
Philosophie und Praxis
Buddhistischer Hintergrund
Thich Nhat Hanh
Tiep
Hien
Die Rechte Achtsamkeit
Die Sieben Wunder der Achtsamkeit
Vier Objekte zum Praktizieren von Achtsamkeit
Körper
Empfindungen/Gefühle
Geist
Objekte des Geistes
Literatur
Chögyam Trungpa (Shambhala)
Das Leben Chögyam Trungpa Rinpoches
Die Shambhala-Vision
Geschichte eines Mythos
Die Lehre nach Chögyam Trungpa
Der ursprüngliche Punkt - Die fundamentale Gutheit
Die Praxis der Sitzmeditation
Die Shambhala-Zentren
Literatur
Sogyal Rinpoche
Dzogchen-Community
Vipassana / S.N. Goenka
Transformationen in afrikanischen Religionen
Afrikanische Traditionelle Religionen (ATR)
Afrikanische Diaspora Religionen (ADR)
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5.2.4.4
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5.2.5.1
5.2.5.2
5.2.5.3
5.3
5.3.1
5.3.2
5.3.3
5.3.4
5.4
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Kontinuitäten und Diskontinuitäten
Die Metapher der Vase
Afrikanischer Ursprung — amerikanisches Amalgam
Die Vielfalt religiöser Kultur in Afroamerika
Die 5 Kategorien nach Sipmson
Die gemeinsamen Charakteristika
Himmel und Erde
Spirituelle Arbeit und rituelle Inszenierung
Der initiatorische Prozess
Possession — Die Dynamik der Verkörperung
Die unterschiedlichen lokalen Traditionen
Vodou in Haiti
Santería in Kuba
Orisha (Shangó) in Trinidad und Tobago
Afrikas Digitale Diaspora Religionen (ADDR)
Die ontologische Ebene
Die sozio-kulturelle Ebene
Information und Kommunikation
Das Ringen um religiöse Kultur und Identität im Cyberspace
Literatur
1 Ethnographisches Fallbeispiel - Das Spektrum religiöser Kultur in St. Lucia / Karibik
Als
konkretes
Anschauungsbeispiel
für
die
Gleichzeitigkeit
und
Parallelität
religiöser
Traditionen innerhalb eines geographisch äußerst
begrenzten
Raumes
dient
die
folgende
ethnographische Momentaufnahme aus den 1980-er
Jahren. Sie soll das Spektrum gelebter religiöser
Kultur auf einer kleinen karibischen Insel beleuchten.
Das religiöse Profil der Karibik und damit auch St.
Lucias wird durch die Tatsache, daß mehrere religiöse
Traditionen gleichzeitig sowohl nebeneinander als oft
auch ineinander verwoben existieren, äußerst komplex.
Die offizielle Religion in St. Lucia ist das katholische
Christentum. Daneben gibt es aber starke Einflüsse
und Elemente afrikanischer Religionen, sowie auch
Spuren indischer Religionen. Seit Mitte der 1970er
Jahre hat die Ausbreitung der Rastafari-Bewegung ein
weiteres Element hinzugefügt.
Foto: Die Piton, das Wahrzeichen St. Lucias.
(Manfred Kremser © 1988)
Um die Beziehung von Religion und spiritueller
Macht in St. Lucia zu kontextualisieren, wird im
Folgenden kurz auf jede dieser religiösen Traditionen in
ihren verschiedensten Facetten verwiesen — auf ihre
grundsätzlichen
Glaubensinhalte,
einige
ihrer
wichtigsten Praktiken, aber auch, wie diese das tägliche
Leben beeinflussen. Was jedoch weit komplexer und
daher auch in diesem Rahmen kaum beschreibbar ist,
ist die Art und Weise, in der viele St. Lucianer im
täglichen Leben Glaubensinhalte wie auch Praktiken
aus
verschiedenen
religiösen
Traditionen
miteinander verbinden.
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Abbildung: Landkarte der Karibikinsel St.
Lucia
Abbildung: Die karibische Inselgruppe der Kleinen Antillen
1.1 Christliche Konfessionen
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Die weitaus überwiegende Mehrzahl der St. Lucianer gehört heute christlichen Konfessionen an, wobei seit der
französischen Vorherrschaft im 18. Jahrhundert der Katholizismus bei weitem dominiert. Im Laufe der letzten
dreißig Jahre hat jedoch die Anzahl der Katholiken abgenommen. War St. Lucia vor 30 Jahren noch zu 97 %
römisch-katholisch, so belaufen sich heute vorsichtige Schätzungen auf maximal 80 Prozent. Dieser Trend ist
im wesentlichen auf das Anwachsen protestantischer Kirchen aus den USA zurückzuführen. Protestanten
waren seit langem durch die anglikanische (lt. Census von 1980 ca. 2,7%) und methodistische (0,8%) Kirche
vertreten, wenn auch nur in vergleichsweise kleiner Anzahl. Trotzdem war ihr Einfluß vor allem auf dem Gebiet
der Erziehung deutlich spürbar. Jedoch seit 1960 haben andere Konfessionen wie Sieben-Tage-Adventisten
(4,3%), Baptisten (1,4%), Pentecostalisten (1,3%) und Zeugen Jehovahs ihre Mitgliederzahlen deutlich erhöht.
Daneben werben u.a. Presbyterianer, Kongregationalisten, Bretheren, die Heilsarmee, Moravianer, Menoniten,
A.M.E. (Zion) und die Church of God verstärkt um neue Mitglieder.
Foto: Das Altarbild von Dunstan St. Omer in der katholischen Kirche von Roseau /
St. Lucia
(Manfred Kremser © 1982)
Ein anderer Trend war durch Veränderungen innerhalb der römisch-katholischen Kirche selbst gekennzeichnet.
Veränderungen, die dazu führten, die Messfeier in Englisch anstatt in Latein zu zelebrieren, mehr Rollen für
Laien innerhalb der Kirche zu schaffen, die Entwicklung des lokalen Klerus zu fördern und das Engagement
der Kirche in sozialen und weltlichen Angelegenheiten der Gesellschaft wahrzunehmen, sind alle als Teil
dieses Trends anzusehen, die römisch-katholische Kirche für die St. Lucianische Bevölkerung relevanter zu
machen. Die meisten dieser Veränderungen, die nach dem 2. Vatikanum (1962-1965) eingeführt wurden, sind
als Antwort auf die stark anwachsende öffentliche Meinung zustande gekommen.
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Foto: Beim Kreuz eines katholischen Friedhofs mit "afrikanischen" Trommeln
(Manfred Kremser © 1985)
Eine andere interessante Entwicklung im religiösen Bild St. Lucias war die Zunahme der Anzahl von
individuellen Straßenpredigern, die nicht unbedingt einer spezifischen Konfession zuzuordnen sind.
Ausgerüstet mit der Bibel, ihrer Stimme und ihrem Charisma, verkünden diese Prediger das Wort Gottes zu
jeder gegebenen Zeit und an jedem beliebigen Ort, wo immer gerade die Leute vorbeikommen. Einige von
ihnen wurden aufgrund der Unterhaltung, die sie während des Predigens lieferten, überaus bekannt. Ihre
Orientierung ist jedoch grundsätzlich christlich.
Es gab auch Bemühungen, die unterschiedlichen Kirchen zusammenzubringen, um in gemeinsamen Fragen
zusammenzuarbeiten. Die ökumenische Bewegung ist nach einem Anwachsen in den letzten Jahren wieder
versiegt. Aber im allgemeinen gibt es heute zwischen den Kirchen mehr offizielle Toleranz und Akzeptanz als in
der Vergangenheit.
1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite
Eine wichtige Rolle im Prozeß der Herausbildung neuer
sozio-religiöser Gruppierungen seit den Zeiten der
Sklaverei spielte die katholische Kirche. Unter ihrer Obhut
entsprangen eine Reihe von religiösen Bruderschaften,
die auch den Charakter von Selbsthilfeorganisationen
aufwiesen. Vielleicht am bekanntesten wurden die
brasilianischen
„Confrarias"
mit
ihren
üppigen
Festlichkeiten, den sogenannten „Congadas". Unter
französischem Kolonialeinfluß und im Umfeld der
katholischen Kirche entwickelten sich auf mehreren
karibischen
Inseln
sogenannte
„SchutzpatronGesellschaften". Sie stellten für die Sklaven die einzige
legale Form der Selbstorganisation dar.
Heute finden sich die derartige „Gesellschaften" nur noch
auf der kleinen karibischen Insel St. Lucia. Unter dem
Namen „La Rose" und „La Marguerite" bilden diese
„Flower Societies" mit ihren Blumenfestivals ein Symbol
kreolischer Kultur und gelten als Ausdruck nationaler
Identität dieses erst seit 1979 unabhängig gewordenen
Kleinstaates. Vor allem die „La Rose Festivals" zeugen
von der Vitalität der kreolischen Kultur, die eine vielfältige
Mischung aus afrikanischen, französischen und
britischen Traditionen darstellt.
Erste Berichte dieser Blumenfestivals stammen bereits
aus der Mitte des 18. Jahrhunderts — also aus einer Zeit,
in der die Insel St. Lucia heftigst von Franzosen und
Engländern umkämpft war und allein in diesem
Jahrhundert 14 Mal den Besitz zwischen ihnen wechselte. Foto: La Rose Prozession nach der Festmesse
Erst am Wiener Kongress 1814/1815 wurde St. Lucia der (Manfred Kremser © 1985)
britischen Krone endgültig übertragen bzw. zuerkannt. So
war es auch nicht verwunderlich, daß diese politische Rivalität in der expressiven Kultur der
Blumengesellschaften ihren Ausdruck fand.
Bei ihren Seancen und großen Festlichkeiten imitierten sie zunächst ihre weißen Herren und deren
monarchische Hofstaaten, was schließlich zur Persiflage der kolonialen Machtstrukturen führte. Die
Blumengesellschaften, die wichtige Segmente in der Sozialstruktur der Insel bildeten, waren hierarchisch
strukturiert:
An ihrer Spitze standen ein König und eine Königin, gefolgt von anderen Würdenträgern nach dem Muster
der sozio-ökonomischen Struktur der kolonialen Gesellschaft — meist nach englischem Vorbild.
Nach der Königinmutter, den Prinzen und Prinzessinnen, Präsident oder Generalgouverneur kam eine
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große Anzahl von pseudo-legalem, militärischem und professionellem Personal. Darunter waren z. B.
Magistrat, Sekretär, Rechtsanwälte, Richter, Polizisten, Soldaten, Doktor, Krankenschwestern, Matronen,
Blumenfrauen und -mädchen verschiedenster Rangordnungen, Vorsänger, und nicht zuletzt die Musiker mit
ihren Instrumenten: Trommeln, Geigen, Gitarren, Banjos, Quartros, Rasseln und Horn.
Beeindrucken heutzutage die prunkvollen Kostüme der
Blumengesellschaften vor allem an ihrem großen Festtag
— für „La Rose" am 30. August, dem Tag der heiligen
Rosa von Lima; für „La Marguerite" am 17. Oktober,
dem Tag der heiligen Maria Marguerita von Alacoque
— so zeichnet die Erinnerung an die Anfänge dieser
Schicksalsgemeinschaften ein anderes Bild:
Die aus Afrika gewaltsam verschleppten und versklavten
Menschen wurden nicht nur ihrer materiellen Existenz
beraubt. Sogar das Trommeln und Tanzen auf
afrikanische Art wurde ihnen verboten, denn die
Sklavenherren sahen darin eine ernsthafte Gefahr von
Revolten. Um diesen Verboten zu entgehen, mußten die
Sklaven in die äußere Hülle des weißen Mannes
schlüpfen. Durch Imitation versuchten sie ihren Herren
zu gefallen; den Schritt von der Parodie zur Persiflage
gönnten sie sich selbst.
Zwischen den „La-Rose"- und den „La-Marguerite"Gesellschaften
entwickelte
sich
alsbald
diese
charakteristische Rivalität, die bis zum heutigen Tage
das Verhältnis zwischen ihnen bestimmt und in fast allen
ihren Liedern besungen wird.
Leitet sich diese Rivalität ursprünglich aus den
feindlichen Positionen zwischen Engländern und
Franzosen, später zwischen Bonapartisten und
Republikanern sowie deren jeweiligen Sympathisanten
und Gegnern unter den Sklaven ab, so entwickelte sie
Foto: La Rose Blumenfrauen in Festtagskleidung
sich schließlich zu einer sozialen und kulturellen
(Manfred Kremser © 1985)
Rivalität. Diese kennzeichnet sich nun durch die
jeweilige Herkunft aus unterschiedlichen sozialen
Schichten innerhalb der kreolischen Gesellschaft, an deren Basis auch jeweils unterschiedliche
Geschmäcker bezüglich der Produktion expressiver Kultur standen. Während „La Rose" das heiße Element in
der Kultur verkörpert und daher die Farbe „Rot" und „Rosa" für ihre Kostüme, Dekoration, Fahnen,
Transparente usw. auserkoren hat, so repräsentiert „La Marguerite" das kalte Element der Kultur;
dementsprechend ist ihre Farbe „blau".
Die Mitglieder der „La-Rose"- Blumengesellschaft lieben nichts mehr als Bewegung und sinnliche
Stimulation. Sie bauen ihre ganze Reputation auf ihre spektakuläre Performance auf: reden, musizieren,
tanzen, singen und trinken. Wenige von ihnen besitzen viel Geld. Als Arbeiter verdienen sie nur niedrige
Löhne. Viele sprechen nur Kreolisch, und die meisten können weder lesen noch schreiben.
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Foto: Ehrentanz des Präsidenten beim La Rose Festival in Babonneau
(Manfred Kremser © 1982)
„La Marguerite" hingegen zieht solche Leute an, die sozial reserviert sind — etwa praktizierende Katholiken
und „ernsthafte" Eltern, die ihren Kindern eine solide und konventionelle Erziehung zu geben versuchen.
Viele von ihnen besitzen kleine Unternehmen oder sind ganzzeitig beschäftigte Angestellte. Sie sprechen
sowohl Kreolisch als auch Englisch und können immer lesen und schreiben. Man kann sagen, daß die
Mitglieder der „La-Marguerite"- Gesellschaften der Mittelklasse von St. Lucia angehören.
„La-Rose"- und „La-Marguerite"- Organisationen polarisieren ihre Gesellschaft in zwei repräsentative
Hälften . Egal, ob man Mitglied der einen oder der anderen Vereinigung ist, wird man in St. Lucia auf Grund
von Verhalten, Glauben und Sittenkodex entweder als „La Rose" oder als „La Marguerite" identifiziert. Dieser
Gegensatz läßt sich auf die Formel „Oralkultur versus Schriftkultur" reduzieren — sowohl im Hinblick auf
deren jeweils spezifischen Modus kultureller Produktion als auch bezüglich ihrer sozialen Konnotationen .
Historisch gesehen waren diejenigen, die nach dem schriftkulturlichen Modus funktionieren, die weißen
Herren, also die dominante Klasse in St. Lucia. Folglich wird dieser Modus immer mit dem Begriff der Macht
und des hohen Ansehens assoziiert.
Der orale Modus hingegen, wie auch die Einstellungen und Konventionen, die er verkörpert, wurde abgewertet
und mit der Unterschicht assoziiert. Aus diesen Gründen ist es nicht überraschend, daß diese beiden
Organisationen in der Geschichte immer antagonistisch waren.
Während die „Marguerites" den Primat ihres Kodex durchsetzten, war die Reaktion der „Roses" darauf
bedacht, den Wert ihrer eigenen Tradition mit Nachdruck zu behaupten.
1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz
Die andere religiöse Tradition, die in St. Lucia durch mehrere Jahrhunderte hindurch Seite an Seite mit dem
Christentum existiert, ist weit schwieriger zu definieren. Dennoch ist in vielerlei Hinsicht ihr Einfluß genauso
mächtig als der des Christentums. Diese Tradition kann weder mit einem einzigen Namen bezeichnet werden,
noch weist sie eine repräsentative Organisation oder ähnliches auf. Sie wurzelt in den verschiedenen
ethnischen Religionen Afrikas, welche die afrikanischen Vorfahren der heutigen afroamerikanischen
Inselbevölkerung während der Zeit der Sklaverei mitbrachten und in unterschiedlicher Art und Weise weiter
tradierten. In der Kolonialzeit wurde diese Tradition für illegal und subversiv gehalten. Deshalb war sie von
Anbeginn an eine Untergrundtradition in St. Lucia. Es ist teilweise diesem Umstand zuzuschreiben, daß diese
religiöse Tradition vielmehr in Fragmenten denn als integriertes System überlebt hat.
Wir wollen nun einige dieser Fragmente betrachten, und zwar diejenigen, die halbwegs intakt überlebt haben.
Der die meisten Lebensbereiche durchdringendste Korpus von Glaubensvorstellungen und Praktiken bezieht
sich auf die spirituelle Welt. Die meisten St. Lucianer glauben auf irgend eine Weise, daß es — zusätzlich zur
materiellen Welt des Menschen und der Natur — eine unsichtbare Welt gibt, die von unterschiedlichen
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Wesenheiten mit übernatürlichen Mächten bewohnt wird.
Diese Mächte können sowohl zum Guten als auch zum Bösen hin verwendet werden, und die Wesenheiten
manifestieren sich unter bestimmten Bedingungen in ganz bestimmten Formen. Sie alle haben ihre
spezifischen Funktionen und Namen: bolòm, soukouyan, djab lamè, usw. Wie auch im Christentum ist die
spirituelle Welt das Schlachtfeld eines andauernden Krieges zwischen Gut und Böse. Es wird
angenommen, daß sich eine Person durch bestimmte Praktiken mit den Kräften des Bösen verbinden kann.
Dies kann dem Zweck dienen, um entweder selbst Wohlstand zu erlangen, oder auch um Anderen zu
schaden, über sie Macht zu gewinnen, und vieles andere mehr.
Solch eine Person wird jan gajé genannt (aus dem Französischen "gens engagé", d.h. jemand, der „mit dem
Teufel verlobt“ ist oder mit ihm im Bunde steht). Ein jan gagé wird überaus gefürchtet. Er/Sie kann nicht alleine
bekämpft werden. Man ist auf Hilfe angewiesen: entweder durch die Kraft christlicher Gebete, oder durch
einen gadè, oder auch durch beides.
Ein gadè ist eine Person — ähnlich wie ein Wahrsager — die bestimmte Kräfte hat. So z.B. kann er/sie in die
Zukunft sehen, Heilmittel gegen diabolische Krankheiten zusammenbrauen, Erfolg bei Prüfungen oder beim
Jobsuchen sicherzustellen, usw. Vom gadè wird angenommen, daß er seine Kraft für gute Zwecke benützt.
Doch kann natürlich auch er bestochen werden und sich zum Bösen verwenden.
Im allgemeinen werden diese spirituellen Kräfte und ihre menschlichen Agenten mit der Nacht in Verbindung
gebracht. Ihre Manifestationen und ihre Stärke sind dann am heftigsten, wenn die Dunkelheit hereinbricht.
Angeblich verlieren einige ihre Macht, sobald die Sonne wieder aufgeht. Tatsächlich hängt dies nicht nur mit der
Natur solcher rund um die Welt verbreiteten Glaubensvorstellungen zusammen, sondern vor allem auch mit der
„Untergrund“-Natur dieser Tradition, welche nur geheim weitergegeben werden konnte. „Obeah“ gilt in
den Landesgesetzen St. Lucias und der meisten karibischen Territorien nach wie vor als Verbrechen .
Die Geheimhaltung und offizielle Feindseligkeit, die viele der Ideen und Praktiken dieser Fragmente der
Religion umgibt, machen es äußerst schwierig, das Gute vom Schlechten oder Wertlosen zu trennen. So z.B.
ist ein gadè oft eine wertvolle Quelle, was das Wissen über medizinische Heilpflanzen betrifft — denn in
traditionellen Wissensystemen wird Heilung im allgemeinen als Teil der Religion betrachtet. Aber offizielle
Einstellungen über den gadè machen es in der Regel eher schwierig, dieses Wissen zu erlangen und zu
prüfen.
Im allgemeinen kann behauptet werden, daß die weitaus überwiegende Mehrheit der St. Lucianer —
wissentlich oder unwissentlich — ein bestimmtes Maß an Glauben an die spirituelle Welt afrikanischer
Religionen in sich tragen, während sie gleichzeitig auch dem christlichen Glaubenssystem anhängen. Dieser
Glaube kann sich zum Beispiel in Fällen von Krankheit manifestieren, bei denen westliche medizinische
Praktiken nicht effektiv waren, so daß man sich dann an den gadè wendet. In anderen Fällen wird der Patient
von allem Anfang an die Heilmittel vermischen. Oder in wieder einem andern Fall wird jemand, der in einer
dunklen Nacht allein nach Hause geht, ein christliches Gebet sprechen. Gleichzeitig wird er aber auch sein
Hemd umgekrempelt tragen , und — sobald er zu Hause ankommt — rückwärts eintreten.
Bei genauerer Betrachtung kann man bei den meisten St. Lucianern die eine oder andere Vorstellung oder
Praxis vorfinden, die sie aus der fragmentierten afrikanischen religiösen Tradition beziehen — ganz gleich,
ob es der betreffenden Person bewußt ist oder nicht.
1.4 Kélé
Die lokale Shangó-Tradition namens „Kélé“
Kélé ist ein afrikanisches Ritual zur Anrufung afrikanischer Ahnen und Gottheiten, dessen Höhepunkt die
Opferung eines unbefleckten Schafes bildet.
Dieses Ritual wird von Zeit zu Zeit in der nordöstlichen Region der Insel durchgeführt, vor allem in den Orten
Babonneau, Fond Assau und Umgebung. Es ist genau diese Region St. Lucias, in welche die letzten noch in
Afrika geborenen und aufgewachsenen Einwanderer als Kontraktarbeiter ("Indentured Labourers")
geschickt wurden. In diesem Gebiet haben sich bis heute ganz bestimmte afrikanische Traditionen unter den
sogenannten „Djiné“, also den Leuten von „Guinea“ (= Afrika) fast ungebrochen erhalten.
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Foto: Das Kélé-Opferritual im April 1988 geleitet von Hohepriester Etienne Wells
Joseph
(Manfred Kremser © 1988)
Die Kélé- Zeremonie beinhaltet die Verehrung der Gottheiten Shangó, Ogun und Eshu. Diese religiösen
Konzepte gehen auf die Yoruba-„Orisa“ zurück und haben durch ihren Transfer nach St. Lucia vielerlei
Reinterpretationen erfahren:
• Shangó zählt unbestritten zu den populärsten afrikanischen Orisas in der Neuen Welt. In St. Lucia tritt uns
der Name Shangó nicht nur in Form so genannter Donnersteine entgegen, die auch das Zentrum des Kélé
-Altars bilden, sondern Kélé selbst wird oft als Shangó- bzw. Chango bezeichnet. Für die Djiné stellen die
Shangó -Steine die physische Repräsentation des Donnergottes dar. Durch sie wird in der rituellen
Handlung die Verbindung zwischen Mensch und Gott hergestellt. Daher werden in allen Häusern von Djiné
-Familien mit Kraft geladene Shangó -Steine aufbewahrt. Ihnen werden sowohl beschützende als auch
heilende Eigenschaften zugeschrieben.
• Ogun wird als göttlicher Repräsentant des Eisens wahrgenommen, weswegen von den Djiné alle Arten von
eisernen Geräten an den Altar bei der Kélé -Zeremonie gelegt werden. In der Moderne gilt Ogun vor allem als
Beschützer der Autofahrer und anderer Berufe, deren Arbeit an das Eisen bzw. Eisengeräte gebunden ist.
Viele Indizien aus neuesten ethnographischen uns ethnohistorischen Untersuchungen lassen vermuten, daß
der Ursprung des Kélé in St. Lucia auf das Ogun -Festival in Ado-Ekiti/Nigeria zurückreicht.
In St. Lucia kam es dann zu einer Synkretisierung der beiden religiösen Yoruba-Traditionen für Shangó und
Ogun, aus deren Verschmelzung sich der Kélé -Kult in der Diaspora entwickelte, dies vor allem auf den kleinen
karibischen Inseln, wo zu wenige Repräsentanten einer spezifischen afrikanischen Religion lebten, um die
Tradition unbeeinflußt von den benachbarten Traditionen aufrecht zu erhalten.
• Neben Shangó und Ogun finden wir in der auf diese Weise neu entstandenen Kélé-Tradition noch eine dritte
personifizierte Gestalt vor, die von den Djiné mit dem Namen Eshu bzw. Akeshew bezeichnet wird und als
Widersacher der beiden Ersteren auftritt.
Die Assoziation von Eshu mit dem gefährlichen Inhalt der Kalebasse, die am Ende jeder Kélé -Zeremonie
orakelhaft zerschmettert wird, führte in den Augen christlich-klerikaler Kritiker oft irrtümlicherweise zur
Gleichsetztung von Akeshew mit dem Teufel, sowie der Hohepriester des Kélé mit Schwarzmagiern.
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Foto: Das Kélé-Opferritual im April 1983 geleitet von Hohepriester Noah Delaire
(Manfred Kremser © 1983)
Die Riten der Kélé-Zeremonie wurden von Familien weitergegeben, die sich selbst als „Nèg Djiné“
identifizierten. Es gibt einen Hohepriester, der seine Rolle an einen anderen weitergibt, bevor er stirbt. Alle
Teilnehmer, inklusive des Hohepriesters, sind auch praktizierende Christen, die keine Schwierigkeit damit
haben, die beiden Traditionen in ihrem persönlichen Leben miteinander zu verschmelzen.
Im südlichen Teil von St. Lucia, in einem Dorf namens Piaye, wird von einer weiteren „Djiné“-Gruppe die
Abhaltung eines Koutoumba — und anderswo in St. Lucia eines Kont — anläßlich des Todes einer Person
von den Praktiken der afrikanischen Religionen und nicht vom traditionellen europäischen Christentum
hergeleitet.
1.4.1 "ngai bai an kélé" — einen Kélé "geben"
Im Rahmen der afroamerikanischen Religionen der Gegenwart nimmt der Kélé in St. Lucia in vielerlei Hinsicht
eine Sonderstellung ein. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kulten Afro-Amerikas, wie z.B. Voodoo,
Candomblé, Umbanda, Macumba und Santería ist dieser fast rein afrikanisch erhaltene Minderheitskult der
Djiné keinerlei Synkretisierung mit christlichen Religionen eingegangen. Im Zentrum der kultischen
Handlungen eines Kélé -Rituals steht das blutige Opfer eines Schafbockes, welches in Verbindung mit
Gaben von Speise und Trank für die afrikanischen Götter Shangó, Ógùn und Eshu dargebracht wird. Vor allem
wegen der Praxis dieses „heidnischen“ Blutopfers zählt der Kélé zu den umstrittensten kulturellen
Traditionen der kleinen karibischen Insel St. Lucia. Vor dem Hintergrund dieses Spannungsverhältnisses
zwischen afrikanischem Erbe und westlich orientierter religiöser wie kultureller Wertungen konzentriert
sich die folgende Dokumentation auf die Beschreibung der Opferhandlungen und Opfergaben dieses
afrikanischen Ritual in der Diaspora, sowie der sie beeinflussenden neuen gesellschaftlichen und ökologischen
Bedingungen.
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Foto: Msgr. Patrick A.B. Anthony im Interview mit den Hohepriestern
des Kélé
(Manfred Kremser © 1983)
Ein Djiné , der sich an seinen Hohepriester wendet, um ihn mit der Abhaltung einer Kélé -Zeremonie für ein
aktuelles Anliegen zu betrauen, sagt, daß er einen Kélé „geben“ möchte („ngay bay an Kélé“) . Diese
Formulierung, wie auch die bei einem Kélé tatsächlich in großen Mengen veräußerten Opfergaben,
Nahrungsmittel und Getränke, erinnern an den Charakter von Verdienstfesten, der den Kélé -Zeremonien in
der Vergangenheit tatsächlich zukam.
Traditionellerweise wurden Kélé -Zeremonien von den Hohepriestern oder anderer führender Oberhäupter der
Djiné-Familien mehrmals jährlich „gegeben“, wobei sämtliche Djiné dazu geladen wurden. In diesen Fällen
galten sie entweder der Danksagung, oder auch um „die afrikanischen Ahnen der gegenwärtigen
Ritualgemeinschaft um Schutz in allen wichtigen Angelegenheiten zu bitten — gute Ernte, Gesundheit
und Erfolg im Leben.“ Es sind auch Fälle bekannt, in denen ein Kélé „gegeben“ wurde, um die Ahnen um
Beistand für eine bevorstehende Gerichtsverhandlung zu bitten.
In anderen Fällen wurde in Erinnerung an einen kürzlich verstorbenen Vorfahren zum Jahrestag seines
Ablebens von dessen Familie ein Kélé „gegeben“; ebenso nachdem der Verstorbene einem hinterbliebenen
Familienmitglied im Traum erschienen war und um Nahrung gebeten hatte. Die Verweigerung von Nahrung
für das verstorbene Familienmitglied konnte eine Krankheit oder ein anderes Unglück mit sich bringen. Aus
diesem Grunde wurden von den Djiné früher zu den verschiedensten Zeiten des Jahres — mit Ausnahme der
Fastenzeit — Kélé-Zeremonien abgehalten.
In den letzten Jahrzehnten jedoch kam es — bedingt durch die rasch voranschreitende Verwestlichung
zahlreicher Lebensformen, sowie durch das Aussterben der alten traditionsbewussten Djiné — zu einem
Rückgang dieser Tradition, so daß gegenwärtig nur ein- bis zweimal im Jahr eine Kélé -Zeremonie stattfindet.
Diese wird in der Regel vom Hohepriester alljährlich am Sonntag nach Ostern und zum Jahreswechsel
„gegeben“ .
1.4.2 Die Vorbereitungen einer Kélé-Zeremonie
Wenn ein Djiné aus einem der oben erwähnten Motive einen Kélé „geben“ möchte, wendet er sich zunächst an
den Hohepriester, dem er sein Anliegen persönlich vorbringt. Traditionellerweise war es üblich, alle übrigen
Mitglieder der erweiterten Großfamilie, sowie insbesondere die mit speziellen Funktionen an der Kélé Zeremonie ausgestatteten Djiné persönlich einzuladen, sobald der Termin und die Lokalität für die Abhaltung
des Opfer-Rituals fixiert war. Dies galt vor allem für die Assistenten des Hohepriesters, die Trommler und
Tänzer, die Köchinnen für die Verarbeitung des geopferten Schafbocks, sowie für diejenige Person, der die
Köpfung des Opfertieres anvertraut wurde — zumeist ein Fleischhauer.
Handelte es sich beim bevorstehenden Kélé um ein wichtiges Anliegen der gesamten erweiterten Großfamilie,
so wurden alle Familienmitglieder gebeten, einen bestimmten Anteil an den erforderlichen Nahrungsmitteln
und Getränken bereitzustellen. Es ist unbestritten, daß in der Vergangenheit diese reziproken
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Hilfeleistungen wie vor allem die sie begleitenden kommunikatorischen Prozesse zur Stärkung der Solidarität
innerhalb der Djiné-Familien beitrugen.
In jüngster Zeit wird die Ankündigung jedoch über die
Medien vorgenommen, vor allem via Radio im
„community diary“, wie auch über die lokale Presse.
Aus diesem Grunde finden sich neben den geladenen
Djiné auch zahlreiche Interessenten ein, die nie zuvor
einer Kélé -Zeremonie beigewohnt hatten. Als
unvermeidliche Folge dieses „clash of culture“
betrachten einige von ihnen das Ritual als ein Stück
afrikanischer Exotik in der eigenen Heimat; andere
treten dem Blutopfer mit gemischten Gefühlen
entgegen; und auch solche Stimmen, die mit
Verachtung auf dieses „heidnische“ Blutopfer
herabblicken, halten nicht mit ihren abwertenden
Kommentaren zurück.
Die Tage vor der Zeremonie werden von derjenigen
Familie, welche den Kélé „gibt“, zur Bereitstellung der
Nahrungsmittel und Getränke verwendet. Zunächst
wird ein geeigneter Schafbock entweder unter den
eigenen Beständen ausgesucht, oder auch käuflich
erworben. Sodann werden größere Mengen von Yams,
Cassava, Plantanen und Blattsalat aus den eigenen
Gärten herbeigeschafft; die übrigen Nahrungsmittel,
sowie
auch
die
alkoholischen
und
nicht
alkoholischen Getränke, werden am Markt in der
Hauptstadt Castries eingekauft. Die Gesamtausgaben
für das Opfertier, Nahrungsmittel und Getränke beliefen
sich im Jahre 1983 auf zirka EC$ 800,00 (= € 300,—).
Die für den Altar bestimmten Ritualobjekte und Foto: Die Zubereitung des Yams in Breiform
Opfergaben müssen vom Hohepriester persönlich (Manfred Kremser © 1985)
beschafft werden, da es sich — wie im Falle des Inhalts
der Kalebasse — um geheimzuhaltende Substanzen handelt.
1.4.3 Der Ort der Opferhandlungen
Die Abhaltung einer Kélé -Zeremonie mit den damit verbundenen Opferhandlungen ist nicht an einen
bestimmten Ort gebunden. Es gibt — im Gegensatz zu den anderen afro-amerikanischen Kulten wie z.B.
Voodoo — keine Kulthäuser oder feststehenden Opferplätze. Vielmehr hängt die Wahl des Ortes der
Durchführung der Kélé-Zeremonie jeweils von der Person ab, die einen Kélé „gibt“. In den meisten Fällen ist
dies ein genügend großer Platz im Gehöft dieser Person, der zirka 80 Personen rund um den zu errichtenden
Altar fassen kann. Andernfalls wird die Opferzeremonie im Gehöft des Hohepriesters abgehalten, welches vor
allem aufgrund seiner vielfältigen juridischen wie auch medizinischen Funktionen innerhalb der DjinéGemeinschaft zu einem vielfrequentierten Treffpunkt wurde.
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Foto: Der Hohepriester Noah Delaire bei der Opferhandlung am Altar
(Manfred Kremser © 1983)
In jüngster Zeit ist man dazu übergegangen, die Kélé -Zeremonie bei solchen Djiné abzuhalten, deren Gehöft
ein Rum-Shop miteinschließt, um auch die Versorgung derjenigen Gäste, die sich als Ergebnis der
Ankündigungen in den Medien als Zuschauer einfinden, vor allem mit alkoholischen Getränken und
zunehmend auch mit Fleischspeisen zu gewährleisten. Damit wird die ursprüngliche Idee einer Kommunion
aller Anwesenden — unter Einbeziehung der Ahnen sowie der afrikanischen Gottheiten — über Bord geworfen
und einer Kommerzialisierung der Weg geebnet. Ursprünglich wurde nämlich das Fleisch des Opfertieres
unter allen Mitgliedern der Kultgemeinde sowie unter allen anderen Personen, die sich zum Kélé eingefunden
hatten, verteilt. Dieses mußte zur Gänze am gleichen Tag konsumiert werden.
1.4.4 Die Opfergaben und Ritualobjekte
Am Morgen desjenigen Tages, an dem die Kélé-Zeremonie stattfindet, errichtet der Hohepriester gemeinsam
mit seinen Assistenten den Altar, der oft auch Ógùn bezeichnet wird. Dabei wird vor allem darauf geachtet, daß
er so ausgerichtet wird, daß die Teilnehmer während ihrer Opferhandlungen nach Osten blicken — denn „es
ist immer weise, zur aufgehenden Sonne zu blicken“. Dementsprechend werden auch die Ritualobjekte und
Opfergaben , die in den vorangegangenen Tagen vorbereitet wurden, in folgender Reihenfolge angeordnet:
• Zunächst wird eine Anzahl von Shangó -Steinen halbkreisförmig aneinander gereiht. Dabei handelt es sich
teilweise um amerindische Stein-Äxte, teilweise um nicht eindeutig identifizierbare „Donnersteine“ bis zu
einer Größe von ca. 45 cm Länge. Von einigen dieser Shangó -Steine wird behauptet, daß sie von den ersten
Djiné aus Afrika mitgebracht worden wären; andere wiederum wurden oft Jahre nach einem Blitzschlag bei
hohen Bäumen gefunden.
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Foto: Shangó-Steine bilden das Zentrum des Kélé-Altars
(Manfred Kremser © 1988)
• Daneben wird ein balanmin, eine dünne Eisenstange, die bei der Feldarbeit als Grabstock verwendet wird,
fest in den Boden gerammt. Diese Eisenstange repräsentiert Ógùn , den Gott des Eisens .
• An diesen wird ein Schößling einer Kokosnußpalme angebunden. Die Kokosnuß zählt angeblich zu den
Lieblingsgerichten von Ógùn, das Palmblatt wird von den Yoruba als „Kleidung Ógùn s“ bezeichnet.
• Ein „medizinischer Farn“ namens pat makak wird an der Basis der Eisenstange und rund um die Shangó
-Steine herum ausgebreitet.
Foto: Von allen Opfergaben wird Eshu, repräsentiert durch die Kalebasse, als
Erstem gegeben
(Manfred Kremser © 1985)
• Von den einzelnen Teilnehmern an der Kélé -Zeremonie werden Ackerbaugeräte und Werkzeuge aus Eisen
zu beiden Seiten der Shangó -Steine aufgelegt, wie z.B. Spaten, Gabeln, Buschmesser, Sägen und Äxte —
sie gelten als die Insignien von Ógùn .
• Ein Gewehr, welches als einziges der Eisengegenstände bereits während der Zeremonie zweimal
aufgenommen wird, um genau zu den beiden Höhepunkten der Kélé-Zeremonie abgefeuert zu werden —
einmal im Moment der Köpfung der Opfertieres, das zweite Mal im Moment des Zerschlagens der Kalebasse
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am Ende der Opferhandlungen.
• Eine Kalebasse mit geheimgehaltenem Inhalt, den magischen Substanzen der Djiné, oft auch als
djinéfication bezeichnet — angeblich ein Gemisch aus den zu Asche verbrannten verdorbenen Kräutern mawi
und mannmetamann — wird neben dem Schößling der Kokosnußpalme plaziert. Mit dieser Kalebasse wird
Eshu assoziiert, der Widersacher von Shangó und Ógùn. Um zu verhindern, daß er seinen
schadenbringenden Einfluß auf die Kultgemeinde überträgt, muß er von allen Opfergaben ebenfalls etwas
abbekommen — und zwar als Erster.
Foto: Kélé-Altar mit Kalebasse (=Eshu), Donnersteinen (=Shangó) und Eisengabel
(=Ogun)
(Manfred Kremser © 1985)
• Mehrere Knollen rohen Yams der Sorte der Sorte yam potijé. Yams, in Breiform zubereitet, gilt neben dem
Fleisch des Schafbocks als eine der Lieblingsspeisen von Shangó.
• Zirka sieben Kerzen, die am äußeren Rand der halbkreisförmig angeordneten Shangó -Steine leicht in den
Boden verankert aufgestellt werden.
• Je eine Flasche mit weißem Rum und mit Olivenöl. Es wird gesagt, daß Ógùn weiße Getränke bevorzugt —
in Nigeria wird ihm daher auch weißer Palmwein geopfert; für Shangó hingegen, dessen Farbe rot ist,
verwendet man in Nigeria das rötliche Palmöl.
• Ein Krug gefüllt mit reinem Trinkwasser.
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Foto: Die Getränke Rum und Wasser inmitten von Yams und Shangó-Steinen
(Manfred Kremser © 1985)
• Ein Glas, ein Teller und ein Messer, welches zum Zerschneiden des rohen Yams verwendet wird.
• Das Opfertier, ein weißer Schafbock, wird mit einem Strick an den Grabstock gebunden.
1.4.5 Das Opfertier und seine Reinigung
Während in den meisten afro-amerikanischen Religionen Kleintiere wie Hühner als Opfertiere Verwendung
finden, ist es im Kélé ausschließlich ein weißer Schafbock, der gleichermaßen am Höhepunkt der Zeremonie
geopfert wird.
Bei der Auswahl dieses männlichen Opfertieres wird größte Sorgfalt darauf verwendet, daß der Schafbock, der
älter als ein Jahr sein muß, in freier Natur aufgewachsen ist — denn Shangó liebt weder geknechtete
Menschen, noch unfreie Tiere. Deshalb wurden in der Vergangenheit von den Hohepriestern des Kélé sowie
von solchen Djiné-Familien, die regelmäßig Kélé-Zeremonien abhielten, an den Hängen des La SorcièreBergmassivs makellose weiße Schafböcke gezogen, um sie nach vollendeter Reife als Opfertiere zu
verwenden.
Die Wahl eines Opfertieres der Farbe weiß, der
Lieblingsfarbe von Ógùn, der wir auch bei anderen
Opfergaben im Kélé begegnen, ist ein symbolischer
Ausdruck für die durch das Ritual herbeizuführende
Reinigung. Im therapeutischen Kontext traditioneller
afrikanischer Medizin gilt dementsprechend die Farbe
weiß — im Zyklus der Triade schwarz-rot-weiß, analog
dem kosmischen Kreislauf von der Nacht (= Dunkelheit,
Krankheit) über die Morgenröte (= Übergang, Gefahr)
zum Tag (= Helligkeit, Gesundheit) — als letzter Schritt
der Gesundung im Sinne der Reintegration des
Patienten in die göttliche Ordnung. Ebenso
begegnen wir in den afro-amerikanischen Kulten der
Farbe weiß als religiöser Erfahrungsqualität im Sinne
der Gottesnähe des Heilsuchenden (es sei in diesem
Zusammenhang auf die etymologische Verwandtschaft
der Worte „Heil“ und „heilen“ bzw. „heil werden“ selbst
in der deutschen Sprache verwiesen).
Erst in jüngster Zeit wird das Opfertier auch von
anderen Kleinbauern angekauft, wobei der Preis eines
mittelgroßen Schafbockes 1985 zirka EC$ 240,— (= €
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100,—) betrug. Die Kosten werden von derjenigen
Person getragen, welche den Kélé „gibt“. Bei der
Auswahl spielt auch die Größe des Opfertieres eine
wichtige Rolle. Laut den Regeln der Tradition soll es nämlich alle Personen ernähren, die an der Zeremonie
teilnehmen: Djiné, die aktiv partizipieren, geladene Gäste und sonstige Anwesende — im Durchschnitt sind dies
zwischen 50 und 100 Personen .
Foto: Die Reinigung des Opfertiers im Bach.
(Manfred Kremser © 1985)
Bevor das Opfertier an den Altar geführt wird, muß es einer Reinigung unterzogen werden. Als Auftakt der
Zeremonie erscheint der Hohepriester, gekleidet in einem langen weißen Mantel aus dünner Baumwolle und
einer schwarzen Fell-Mütze, und bindet das Opfertier vom Grabstock los. Sodann schneidet er mit einem
Messer einige Haare von den Enden des Schweifes und der Ohren des Schafbockes ab und wirft sie in die
Kalebasse . Anschließend marschiert die gesamte Kultgemeinde unter Trommelbegleitung zu einem
nahegelegenen Fluß oder Bach. Dort wird das Opfertier vom Hohepriester oder seinem Stellvertreter einer
Reinigung unterzogen, wobei zunächst jedes der vier Beine einzeln gewaschen wird. Anschließend erfolgt die
Waschung des gesamten Körpers, beginnend vom Kopf, über den Rücken hinweg, bis einschließlich des
Schweifes — denn es wird gesagt, daß den afrikanischen Gottheiten Shangó und Ógùn nur reine Gaben
dargebracht werden dürfen .
1.4.6 "Feeding Shangó" — Die Opferhandlungen
Nachdem die Ritualgemeinschaft an den Altar zurückgekehrt ist, wird das nunmehr gereinigte Opfertier wieder
am Grabstock festgebunden. Es werden die Kerzen angezündet. Sodann teilt der Hohepriester allen
anwesenden Personen in kreolischer Sprache mit großer Ernsthaftigkeit den Anlaß der bevorstehenden
Opferhandlungen mit. Ebenso ladet er alle Djiné sowie auch die übrigen Personen, die daran teilnehmen
wollen, ein, irgendeinen persönlichen Gegenstand auf den Boden zwischen die Ritualobjekte zu legen, falls
Glück oder besonderer Erfolg erwünscht sind. Sodann wird ein Kreis rund um den Altar gezogen, in den
außer den aktiven Ritualteilnehmern niemand eintreten darf. Frauen sind zur Gänze von der Teilnahme am
Opferritual ausgeschlossen.
Die
"Feeding
Shangó"-Opferhandlungen im
Kélé-Ritual inkludieren:
• Danksagungen und Bitten,
Gebete
und
Lieder
in
afrikanischer Sprache,
• Libationen mit Rum und
Wasser,
• Opfergaben
Speisen,
von
rohen
• das Köpfen des Schafes und
das Trinken seines Blutes,
• Opfergaben von gekochten
Speisen.
1.4.6.1 Die
Gebete
Lieder
und
Foto: Der Hohepriester Etienne Wells Joseph vorm Kélé-Altar mit den Opfergaben
(Manfred Kremser © 1985)
Das Opferritual beginnt damit, daß sich der Hohepriester vor dem Altar niederkniet und einen Gesang in
afrikanischer Sprache anstimmt. Die Lieder werden zu verschiedenen spezifischen Kélé -Trommelrhythmen
gesungen, namentlich Adan, Kere, Gbudu, Kugbu und Ere. Zu den am häufigsten gesungenen Liedern
gehören:
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Abbildung: Liedtext
Bei jeder Strophe, der ein Trommelwirbel folgt, beugt sich der Hohepriester so weit nach vorne, bis er mit
seiner Stirne den Boden berührt. Dem schließen sich Gebete an, die ebenfalls in afrikanischer Sprache
gesprochen werden:
Abbildung: Gebet
Dieses Idiom konnte im Verlaufe unserer Forschungen teilweise als Ekiti-Dialekt des Yoruba aus dem
süd-westlichen Teil Nigerias identifiziert werden. Mit Ausnahme einiger weniger älterer Djiné wird es von
keinem der Anwesenden mehr verstanden.
Die Gebete beginnen immer mit den Anrufungen von Ógùn. Daran schließen sich die vorgetragenen Anliegen
an, weswegen der Kélé gegeben wird. Es sind dies oft der Wunsch nach Gesundheit und Reichtum, sowie
die Bitte um Schutz der Kinder vor Krieg und anderem Unheil.
1.4.6.2 Libationen mit Rum und Wasser
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Noch während der Hohepriester vor dem Altar kniet und Ógùn anruft, nimmt er die Flasche mit weißem
Rum, gießt etwas davon in das Glas und besprengt damit dreimal die Gegenstände, die rund um den Altar
liegen. Anschließend gießt er einen Schluck weißen Rums in die Kalebasse. Schließlich trinkt er selbst den
Rest aus dem Glas. Dann gießt er etwas Wasser aus dem Krug in das Glas und wiederholt die gleiche
Prozedur des Besprengens und Trinkens, wobei jedesmal, wenn das Glas geleert wird, die Trommeln wirbeln.
Diese Libationen mit weißem Rum und Wasser werden sodann von seinem Stellvertreter, und schließlich von
allen anderen Mitgliedern der Ritualgemeinschaft, die um Glück und Erfolg bitten wollen, in der gleichen
Art durchgeführt.
Foto: Francois, der Sohn des verstorbenen Hohepriesters Noah Delaire, bei der
Libation
(Manfred Kremser © 1985)
1.4.6.3 Das Speiseopfer
Diesem Libationsopfer folgt die „erste Fütterung von Shangó “ mit rohen Nahrungsmitteln: Unter Begleitung
von heftiger Trommelmusik und Gesang gießt der Hohepriester etwas Olivenöl in den Teller. Dann nimmt er
mehrere Knollen des rohen Yams der Sorte yam potijé (portugiesischer Yams), macht mit dem Messer mehrere
Kreuzzeichen hinein und schneidet sie in kleine Würfel, die er in das Olivenöl eintaucht. Anschließend wirft er
einige dieser eingeweichten Yams-Stücke auf den Altar mit den Ritual-Objekten, andere wirft er in die
Kalebasse. Nach wie vor kniend wirft er weitere Yams-Würfel nach allen vier Himmelsrichtungen, bevor er
schließlich nochmals den Altar dreimal mit etwas weißem Rum besprengt. Sodann verstummen die Trommeln
und der Gesang. Der Höhepunkt steht bevor.
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Foto: Die Fütterung von Shangó mit rohem Yams der Sorte "Yam Potigé"
(Manfred Kremser © 1985)
1.4.6.4 Das Blutopfer
Die Etablierung des Kontaktes mit der Welt der göttlichen Wesen, Ógùn und Shangó, sowie mit der Welt
der afrikanischen Ahnen, welche als Bindeglieder zwischen den Menschen und diesen göttlichen Wesen
fungieren, wird im Ritual des Kélé nach der Darbringung von Libations- und Speiseopfern endgültig durch das
Blutopfer vollzogen.
Foto: Auf die Schärfung der Machete wird peinlichst geachtet
(Manfred Kremser © 1985)
Der Übergang von der menschlichen Ordnung zur göttlichen Ordnung wird durch die Farbe rot, der Farbe
des Blutes des Opfertieres, markiert.
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Foto: Der Kopf des Schafbocks nach der Köpfung
(Manfred Kremser © 1985)
Die Anerkennung des Blutes als die heilige Lebenskraft, sowohl im Menschen als auch im Tier, bildet auch
im Kélé die Basis des Blutopfers. Durch dieses Opfer — also durch das Zurückgeben des heiligen Lebens,
welches im Opfertier zum Vorschein kommt — leben die göttlichen Wesen und die Ahnen; folglich leben
auch die Menschen und die Natur. Durch das Blutopfer wird die mächtige Potenz des Blutes in vielerlei
Hinsicht nutzbar gemacht, vor allem zum Zwecke der Fruchtbarkeit und der Heilung.
Das Vergießen des Blutes ist also nicht Endzweck, sondern Voraussetzung für die Nutzbarmachung der
göttlichen Kraft im menschlichen Leben.
1.4.6.4.1 Die Köpfung des Opfertieres
Der Hohepriester führt die Köpfung des Opfertieres nicht selbst durch. Er gibt lediglich die Anweisungen an
seine Assistenten, die den Schafbock zunächst vom Grabstock losbinden und an die westliche Seite des
Altares bringen. Laut Aussage einiger Informanten führte der Hohepriester in der Vergangenheit das Opfertier
dreimal bzw. siebenmal entgegengesetzt zum Uhrzeigersinn rund um den Altar herum, ehe die Köpfung
vollzogen wurde. Heute entfällt diese Praxis. Geblieben ist jedoch die ungeheure Spannung in der
Atmosphäre, die sich unmittelbar vor der Köpfung aufbaut. Während einer der Assistenten des Hohepriesters
ein Gewehr von den um den Alter herum angeordneten Ritualobjekten aufhebt, dieses lädt und sich für den
Salut-Schuß bereitmacht, den er genau im Augenblick der Köpfung abzufeuern hat, plazieren sich die beiden
Trommler an der Seite des Hohepriesters, um sich für den Trommelwirbel vorzubereiten, der der Köpfung
unmittelbar zu folgen hat.
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Foto: Hochspannung unmittelbar vor der Köpfung des Opfertiers
(Manfred Kremser © 1985)
Wenn alle bereitstehen, wird der Schafbock von drei Assistenten vom Boden gehoben. Einer zieht an dem Seil,
welches um den Hals des Opfertieres herumgebunden ist, die beiden anderen Assistenten halten je ein
Hinterbein des Schafbockes, wobei sie heftig in die entgegengesetzte Richtung ziehen, so daß der Hals des
Tieres straff gespannt wird. Ein weiterer Assistent — zumeist ein Fleischhauer — steht mit einer neuen zuvor
bestens geschärften Machete bereit, um auf Kommando des Hohepriesters mit einem einzigen
wohlgezielten Hieb die Köpfung zu vollziehen. Im selben Moment, indem die Machette den Hals des
Opfertieres durchtrennt, wird der Salut-Schuß abgefeuert und die triumphierenden Zurufe der umstehenden
Menschenmenge mischen sich mit dem Trommelwirbel, dem sogleich auch Gesang in afrikanischer Sprache
hinzugefügt wird. Der Kopf des Schafbockes rollt zu Boden und wird im nächsten Moment vom Hohepriester
ergriffen, der das herausspritzende Blut in seiner anderen Hand auffängt und zum Mund führt, um es
schlürfend zu trinken. Während die übrigen aktiven Teilnehmer an der Kélé-Zeremonie das von einem
Assistenten aus der Halsschlagader aufgefangene Blut des Opfertieres aus einem Glas oder einer Kalebasse
trinken, besprengt der Hohepriester mit dem restlichen Blut des Tierkopfes die Shangó - Steine sowie
sämtliche an den Altar gelegten Ritualobjekte und Opfergaben. Anschließend tanzt der Hohepriester barfuß
auf dem zu Boden geronnenen Blut des Schafbockes.
1.4.6.4.2 Die Annahme des Opfers
Für die Annahme des Opfers durch Shangó und Ógùn ist entscheidend, daß die Köpfung des weißen
Schafbockes mit einem einzigen Hieb gelingt. Ist dies nicht der Fall, so wird gesagt, daß das Opfer wegen
irgendwelcher Unregelmäßigkeiten während der Kélé-Zeremonie von den Göttern bzw. den Ahnen nicht
akzeptiert wurde. In diesem Fall muß von der für das Mißlingen des Opfers verantwortlichen Person in nächster
Zeit ein weiterer Kélé „gegeben“ werden, ansonsten wird ihr irgendein Unheil zustoßen. Aus diesen Gründen
wird allergrößte Sorgfalt bei der Köpfung des Schafbockes angewandt.
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Foto: Der Augenblick der Köpfung mit einem einzigen Machetenhieb
(Manfred Kremser © 1985)
Im Falle der Annahme des Opfers durch Shangó und Ógùn — wenn also die Köpfung mit einem Hieb gelingt
— gelten die mit dem Blut des Opfertieres besprengten Gegenstände als gesegnet . Die positiven Folgen
können zum Beispiel sein, daß der Arbeit mit den gesegneten, meist eisernen Geräten und Werkzeugen mehr
Erfolg beschieden sein wird; oder auch, daß ihre Besitzer bei deren Gebrauch nicht in Arbeitsunfälle verstrickt
werden. Aus demselben Grunde legt der gegenwärtige Hohepriester des Kélé, der hauptberuflich ein Chauffeur
bei einer Möbelfirma ist, immer seinen Autoschlüssel an den Altar. Nach dessen Segnung durch das Blut des
von Ógùn angenommenen Opfertieres wird er nach eigenen Aussagen davor geschützt, in Verkehrsunfälle
verwickelt zu werden. In anderen Fällen wird berichtet, daß die am Altar zu kleinen Würfeln zerschnittenen und
anschließend zum Zwecke des Aussetzens verteilten Yams-Knollen später ertragreicher sein sollen, als
gewöhnliche Yams-Pflanzen.
Foto: Die Ritualobjekte und Opfergaben besprengt (=gesegnet) mit Blut
(Manfred Kremser © 1985)
Der Zeitpunkt der Schlachtung des Opfertieres am Ende des ersten Teils der Kélé-Zeremonie, der „ersten
Fütterung von Shangó“ mit rohen Speisen, symbolisiert den durch das Blutopfer vollzogenen Übergang im
Sinne einer Wandlung zum nunmehr sakralisierten zweiten Teil der Kélé-Zeremonie, der „zweiten Fütterung
von Shangó“ mit gekochten Speisen.
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1.4.6.5 Die „zweite Fütterung von Shangó“
Der Köpfung des Opfertieres folgt eine längere Pause in
der Kélé-Zeremonie, während der verschiedene
Volkstänze wie zum Beispiel Solo, Kont, Bélé und
Debotte aufgeführt werden. In der Zwischenzeit wird
der Körper des Schafbocks entfellt und tranchiert.
Das Fleisch wird zum Kochen in die Küche gebracht, in
der mehrere Djiné-Frauen beschäftigt sind, die Speisen
zuzubereiten. Das Herz, die Leber und die Genitalien
(inklusive Hoden) des Opfertieres werden separat
gekocht und sind als Opfergaben für Shangó und
Ógùn bestimmt. Der Rest des Schafbockes wird für die
Mitglieder der Kultgemeinde sowie für die übrigen
Anwesenden nach kreolischer Küche zubereitet,
ebenso die Beilagen. Für Shangó und Ógùn jedoch
werden die Beilagen nicht nach kreolischen Rezepten
gekocht, sondern im Mörser nach afrikanischer Art zu
Brei zerstampft — denn die afrikanischen Gottheiten
und Ahnen ziehen das Essen in Breiform der
kreolischen Küche vor.
Foto: Das Zerlegen des Opfertiers
(Manfred Kremser © 1985)
Nachdem die Speisen fertig zubereitet sind, werden je
ein Teller mit separat gekochtem Fleisch, Yams und
Reis an den Altar gebracht. Dort werden sie in
ähnlicher Form wie bei der „ersten Fütterung von
Shangó “ geopfert — mit dem wesentlichen
Unterschied, daß es sich nun um gekochte Speisen
handelt. Bevor der Hohepriester und anschließend die
übrigen Kultteilnehmer von den Speisen essen, werfen
sie mehrere Bissen auf die Ritualobjekte am Altar
und nach den vier Himmelsrichtungen; denn auch
Eshu, der im Westen sitzt, muß gestillt werden, damit er
nicht übelbringend interveniert.
Foto: Die Fütterung Shangos mit gekochten Speisen
(Manfred Kremser © 1985)
Weitere Libationsopfer schließen sich dem an. Zusätzlich werfen der Hohepriester und sein Stellvertreter die
nicht aufgebrauchten Speisen des Altars in die umstehende Menschenmenge und rufen mit ihrem Lied die
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jungen Knaben auf, mitzumachen und all das zu tun, was die Djiné schon immer gemacht hätten. Auf
diese Weise soll die Tradition auch in Zukunft fortgesetzt werden.
1.4.7 Der Spruch des Kalebassen-Orakels
Das formale Ende des Kélé-Rituals wird von einem der Assistenten des Hohepriesters mit einem Tanz
eingeleitet, den er mit zuerst langsamen und majestätisch anmutenden Schritten beginnt. In der rechten
Hand führt er eine Machete akrobatisch durch die Luft; in seiner Linken hält er die mit „schwarzer Magie“
gefüllte Kalebasse.
Foto: Der Tanz mit Kalebasse (Eshu) und Machete
(Ogun)
(Manfred Kremser © 1985)
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Foto:
Kurz
vor
der
Kalebassenorakels
(Manfred Kremser © 1985)
Entscheidung
des
Während sich die Trommeln wie auch der Tanz zu fast ekstatischer Leidenschaft steigern, zerschmettert der
Tänzer mit einer abrupten Bewegung die Kalebasse am Boden, indem er sich nach Westen wirft, dorthin, wo
der Tod angesiedelt ist. Im Augenblick des Aufberstens der Kalebasse auf dem Boden wird ein weiterer
Salut-Schuß abgefeuert, der das formale Ende der Zeremonie markiert.
Keiner der Anwesenden darf auch nur einen Tropfen des gefährlichen Inhalts der Kalebasse abbekommen,
da ihm ansonsten Krankheit oder ein noch schwerwiegenderes Übel droht. Geschieht dies trotzdem, so hat er
in nächster Zeit einen Kélé zu „geben“, um sich von diesen schädigenden Einflüssen zu reinigen.
Foto: Diese Lage der Kalebassenteile verkündet die Annahme des Opfers
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(Manfred Kremser © 1985)
Außerdem läßt sich an der Art und Weise, wie die zerbrochenen Kalebassenteile am Boden liegenbleiben,
ablesen, ob das Opfer angenommen wurde oder nicht: Kommen die Teile so zu liegen, daß die Außenseite
der Kalebasse am Boden aufliegt und die Innenseite frei nach oben schaut, ist dies ein gutes Zeichen; im
anderen Falle, wenn ein oder mehrere Kalebassenscherben mit ihrer gekrümmten Seite nach oben
liegenbleiben, so bedeutet dies, daß das Opfer wegen irgendwelcher Unregelmäßigkeiten von den
afrikanischen Gottheiten Shangó und Ógùn zurückgewiesen wurde. Als Konsequenz droht bevorstehendes
Unglück. Um dieses abzuwenden, müssen die dafür Verantworlichen in naher Zukunft einen Kélé „geben“.
1.4.8 Die kreative Kommunion mit den Ahnen
Wird eine Kélé -Zeremonie anläßlich des Gedenkens an einen jüngst verstorbenen Hohepriester oder ein
führendes Mitglied der Djiné-Familien abgehalten, so begibt sich die Kultgemeinde im Anschluß an das Ritual,
welches vom späten Morgen bis knapp vor Sonnenuntergang dauert, ans Grab des Verstorbenen, um ihm
dort — in ähnlicher Weise wie es zuvor am Altar des Kélé -Ritualplatzes für die afrikanischen Götter Shangó
und Ógùn geschah — die Opfergaben darzubringen.
Foto: „Feeding the ancestors“ am Familiengrab des Hohepriesters Noah Delaire
(Manfred Kremser © 1985)
In diesem Falle nimmt der Hohepriester die bei der „zweiten Fütterung von Shangó “ für den Ahnen
reservierten Speisen und Getränke vom Altar auf und gibt sie in einen speziell dafür bereitgehaltenen
Holzteller. Anschließend begeben sich die Familienmitglieder sowie die gesamte Kultgemeinde im Rahmen
einer feierlichen Prozession unter Begleitung von Kélé-Trommeln und -Gesängen an das zuvor gereinigte
Grab des Ahnen, welches sich in den meisten Fällen im katholischen Ortsfriedhof befindet. Dieses wird
zunächst am Kopfende mit einigen Büscheln des „medizinischen Farnes“ pat makak vom Altar dekoriert.
Darin werden mehrere Kerzen aufgestellt und angezündet. Am Fußende des Grabes werden die Opfergaben
abgestellt.
Sodann tritt unter den Anwesenden andächtige Stille
ein. Der Hohepriester, die Trommler und die männlichen
Familienmitglieder treten hintereinander an das Grab
heran, adressieren stille Gebete an den Ahnen,
nehmen von den gekochten Opferspeisen, werfen
einige Bissen auf das Grab und essen dann selbst
davon, greifen anschließend zum Rum, geben dem
Ahnen durch Sprühen zu trinken und trinken dann
selbst davon. Ein leiser Trommelwirbel beendet die
Kommunion jedes einzelnen Nachkommen mit dem
Ahnen.
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Die Wirksamkeit des Ahnenkults als eines spirituellen Foto: Gebete und Libationen für den verstorbenen
Prinzips der Einheit manifestiert sich hier in der Hohepriester
Kontinuität der lebenden und toten Generationen. (Manfred Kremser © 1985)
Das Verhältnis zu den Ahnen beruht auf einem Prinzip
des Austausches und der wechselseitigen Anteilnahme. Durch das Opfer für die Ahnen werden ihre Kräfte
erneuert, und so können sich die Lebenden wieder unter ihren Schutz stellen.
Sobald diese Opferhandlungen abgeschlossen sind, stimmen die Trommeln wieder die afrikanischen
Kélé-Gesänge an. In kollektiver Erinnerung an die verstorbenen Djiné und ihre afrikanischen Ahnen tanzt dazu
die gesamte Kultgemeinde, die sich rund um das Grab versammelt hat.
1.4.9 Das Festmahl der Ritualgemeinschaft
Noch vor Sonnenuntergang kehrt die Kultgemeinde wieder an den Ort der Kélé-Zeremonie zurück. Inzwischen
wurden von einigen weiblichen Djiné, die sich als Köchinnen zur Verfügung gestellt hatten und daher nicht an
das Grab mitgekommen waren, die Speisen für die gesamte Kultgemeinde nach kreolischer Küche zubereitet.
In der Reihenfolge der Rangordnung der Mitglieder der Kélé-Ritualgemeinschaft erhalten sie alle je einen Teller
mit mehreren Fleischstücken des geopferten Schafbockes garniert mit verschiedenen Vegetabilien wie Yams,
Plantanen, Brotfrucht, Reis und Salat. Dazu gibt es alkoholische wie auch nicht alkoholische Getränke.
Foto: Kreolische Speisen für die alle Teilnehmer am Kélé-Ritual
(Manfred Kremser © 1983)
Traditionellerweise wurde von demjenigen Djiné, der den Kélé „gab“, streng darauf geachtet, daß alle
Anwesenden vom Fleisch des Opfertieres zu essen bekamen. Der Schafbock mußte zur Gänze noch am
selben Tag verspeiset werden. Nichts von den zubereiteten Speisen durfte übrigbleiben. Ebenfalls mußte
sichergestellt werden, daß alle, die sich zur Kélé -Zeremonie eingefunden hatten, ausreichend mit Nahrung
und Getränken versorgt wurden. Da die Kélé -Zeremonien abwechselnd jeweils bei einem anderen Djiné
stattfanden, wurde langfristig das Prinzip der Gruppenreziprozität eingehalten.
Im Anschluß an das Festessen rufen die Trommeln wieder zum Tanz zu den afrikanischen Kélé-Rhythmen
auf. Nur mehr von wenigen Tänzerinnen und Tänzern können die dazugehörigen Tanzbewegungen richtig
ausgeführt werden. Unter dem Applaus der Umstehenden geben die Alten ihr Repertoire wieder. Die
Kélé-Trommeln suggerieren mit dem Gesang jeje modi moli moje, mode aiyos („kommt Ihr jungen
Menschen und tut, was wir schon immer getan haben“) die Aufforderung an die Jugend, mitzumachen.
Spontan treten jüngere Tänzer hervor und versuchen — zuweilen unter dem Gelächter der Zuschauer — die
Tanzbewegungen der Alten zu imitieren. Und alsbald formieren sie sich in rivalisierenden Gruppen zum
Tanz-Wettbewerb.
Bis in die Nachtstunden hinein währt das Fest, welches nunmehr
nach der Erfüllung der religiösen Verpflichtungen gegenüber
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Foto: Trommel, Tanz und
fröhlichen Ausklang
(Manfred Kremser © 1983)
Gesang
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zum den afrikanischen Göttern und Ahnen in erster Linie einem
sozialen, kommunikativen und künstlerisch-expressiven
Zweck innerhalb der anwesenden Djiné-Familien dient. Bevor
sich die Mitglieder der Kultgemeinde nach Hause begeben,
nimmt jeder seinen am Beginn der Kélé-Zeremonie an den Altar gelegten und nunmehr durch das Blut des
Opfertieres gesegneten (Eisen)-Gegenstand wieder zu sich.
Lediglich die Shangó-Steine müssen noch eine ganze Woche lang unberührt am selben Ort liegen bleiben,
ehe sie am darauffolgenden Sonntag nur vom Hohepriester selbst im Rahmen einer kleinen Zeremonie
entfernt werden dürfen. Denn im Augenblick der Darbringung des Blutopfers wurden sie angeblich von Shangó
mit solch geballter Energie geladen, daß eine vorzeitige Berührung verhängnisvolle Folgen haben könnte.
Erst wenn sie wieder etwas „abgekühlt“ sind, werden sie vom Hohepriester ihren Besitzern zurückgegeben.
Dann allerdings besitzen sie heilkräftige Wirkungen — sie sind nun frisch aufgeladen — und werden in
weiterer Folge auch für therapeutische Zwecke eingesetzt.
In regelmäßigen Intervallen bedürfen sie aber der neuerlichen „Aufladung“ — und dies geschieht erst
wieder beim nächsten Kélé.
1.5 Rastafari
Der jüngste weit verbreitete religiöse Einfluß in St. Lucia
ist die Rastafari Philosophie und Religion. Während es
— wie bei allen Glaubenssystemen — dogmatische und
andere Unterschiede unter ihren Anhängern gibt, können
die
Grundsätze
von
Rastafari
wie
folgt
zusammengefasst werden:
• Haile Selassie von Äthiopien — aus der Linie von
König Salomon — ist die höchste menschliche
Manifestation von Gott auf Erden.
• Die Afrikaner sind das auserwählte Volk, auf welches
in der Bibel Bezug genommen wird; sie wurden in
Gefangenschaft genommen und überallhin verstreut.
• Der Westen ist Babylon und ist zur Zerstörung
verdammt, soferne er nicht seinen Kurs ändert.
• Afrika ist das spirituelle und natürliche Heimatland der
Schwarzen. Deshalb ist die „Repatriation“, also die
Rückkehr in die Heimat — spirituell und schließlich auch
physisch — eine Notwendigkeit.
• Marihuana ist ein heiliges Kraut, gegeben zum
Zwecke der Heilung der Nation ("for the healing of the
Nation"); es wird in der Meditation wie in der
gemeinschaftlichen Verehrung verwendet.
Neben diesen Grundsätzen gibt es noch eine Reihe
anderer Glaubenssätze, wie z.B. die Bedeutung von
Marcus Garvey — ähnlich in der Position wie Johannes Foto: Chikalot, ein Roots Rasta beim Trocknen von
der Täufer — im Sinne eines Vorläufers von Haile Erdnüssen
Selassie. Aber der Interpretationsrahmen ist in vielen (Manfred Kremser © 1985)
Fällen sehr breit. So werden viele Anhänger als Rastafari
betrachtet, ohne notwendigerweise zu glauben, daß z.B. die Königin von England „die Hure von Babylon“ ist,
von der im Buch der Offenbarung die Rede ist. Selbst die „Dreadlocks“-Haartracht (Löwen-Mähne, König
von Juda), das am deutlichsten zur Schau getragene Symbol, welches mit Rastafari assoziiert wird, wird nicht
notwendigerweise als eine absolute Notwendigkeit für jemand betrachtet, der ein überzeugter Rastafari ist.
Die Präsenz von Rastafari geht in St. Lucia auf die frühen 1970er Jahre zurück. Die Bewegung hat sich sowohl
im urbanen als auch im ländlichen Bereich der Insel sehr rasch ausgebreitet. Ihre Anhänger waren vor allem
junge Leute, besonders junge Männer, welche die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten der St.
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Lucianischen Gesellschaft in allen Bereichen — Wirtschaft, Politik, Erziehung, Rechtssystem — in Frage
stellten und dagegen protestierten. Sie wiesen auf die Klassen- und Rassenvorurteile in der St. Lucianischen
Gesellschaft hin und forderten diese in der Tat heraus, ihren erklärten christlichen Prinzipien gerecht zu
werden.
Aus diesen Gründen, wie auch wegen ihrer kompromißlosen Einstellung was den Gebrauch von Marihuana
betrifft (der nach der Rechtslage St. Lucias illegal ist), kamen Rastafari permanent in Konflikt mit dem Gesetz.
Zusätzlich gab es die unvermeidlichen Probleme aufgrund unseriöser Personen, die die Bewegung für ihre
eigenen Zwecke mißbrauchten und damit Rastafari als Ganzes in Verruf brachten. Selbst der Ausdruck
„Dread“, dem im Bewusstsein der Rastafari philosophische und moralische Bedeutung zukommt, wurde auf
diese Weise mit kriminellem Verhalten assoziiert.
Die Bewegung erhielt die größte Aufmerksamheit in der Mitte der 1970er Jahre, als von vielen Leuten
grundlegende Fragen über die Natur und die weitere Entwicklung von Gesellschaften weltweit gestellt
wurden. Die zunächst kompromisslose Moral der Rastas trug dazu bei, die Aufmerksamkeit auf die Heucheleien
und die Ungerechtigkeiten der St. Lucianischen Gesellschaft zu richten.
Der Rastafari-Einfluß machte sich auch in einem breiter angelegten Bewusstsein eines natürlichen
Lebensstils bemerkbar, der mehr im Einklang mit der Umwelt steht; ebenso in einer Betonung, die eigenen
Resourcen zu nutzen; wie auch darin, daß ein besonderer Wert auf Kreativität gelegt wurde, besonders was
das Handwerk betrifft. Ihr Einfluß trug dazu bei, eine allgemeine Neubewertung der Traditionen des
ländlichen St. Lucia zu stimulieren und zu unterstützen. So wurde z.B. die Tradition der kooperativen Arbeit
(„koudmen“) vor allem unter der Jugend wieder sehr verbreitet, die sie ansonsten vielleicht nicht
kennengelernt hätte.
Foto: Mitglieder der Zimbabwe Roots Farm bei der kooperativen Arbeit "koudmen"
(Manfred Kremser © 1985)
In den 1980er Jahren verlor die Bewegung wieder einige ihrer Anhänger und auch etwas von ihrer starken
öffentlichen Präsenz. Das war teilweise auf eine größere Akzeptanz der Tatsache zurückzuführen, daß weder
Rastafari noch die Gesellschaft über Nacht verschwinden werden; teilweise aber auch auf die Tatsache, daß
sich einige Rastas in Bereiche der Gesellschaft integriert hatten, ohne ihre Glaubensüberzeugungen
aufzugeben. Auf diese Weise demonstrierten sie, daß eine friedliche Koexistenz möglich ist.
Heute liegt die Betonung weniger auf offener Konfrontation, sondern vielmehr auf internen
Organisationsformen, die sicherstellen sollen, daß ihren Kindern eine Zukunft ermöglicht wird, in der sie an
ihren Glaubenshaltungen festhalten und dennoch innnerhalb der Gesellschaft leben können.
Es bleibt abzuwarten, wie sich auf lange Sicht gesehen die breitere Gesellschaft St. Lucia’s und Rastafari
einander anpassen werden; aber in den 40 Jahren ihrer Präsenz in St. Lucia hatte die Rastafari-Bewegung
einen ungeheuren Einfluß auf die Meinung aller Menschen, die mit ihr in Berührung gekommen sind — sei
es Freund oder Feind.
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1.6 Traditionelle Medizin
In den Kommunitäten überall in St. Lucia gibt es zahlreiche traditionelle Heiler, auf die mit verschiedenen
Namen Bezug genommen wird:
• "bushdoctor" bzw. "African bushdoctor",
• "doktè wazyé",
• "obeahman" oder
• "gadè".
Diese Männer oder Frauen betätigen sich im
Wahrsagen, Heilen, Beraten und in der Behandlung
vieler Krankheiten, die das menschliche Gemüt, den
Körper und den Geist beeinflussen. Sie erhalten ihre
Ausbildung
nicht
von
irgendeiner
formalen
Erziehungsinstitution. Vielmehr repräsentieren sie die
Fortsetzung eines alten Erbes von Wissen, Weisheit
und Fertigkeiten über das menschliche Leben und die
Umwelt, welches mündlich von Generation zu
Generation weitergegeben wurde.
Innerhalb
dieses
allgemeinen
Bereiches
der
traditionellen Medizin können wir die Arbeit der
traditionellen Hebamme nicht hoch genug einschätzen.
Sie wird in den Kommunitäten als „fanm chay“ oder
„chas fanm“ bezeichnet. Diese lokalen Hebammen
haben seit Generationen Babies zur Welt gebracht und
postnatale Behandlung für Mütter und ihre Babies
bereitgestellt. Bedingt durch die Ausdehnung der
schulmedizinischen Versorgung auf entlegene Gebiete
und den leichteren Zugang zu den Spitälern werden
heute die Dienste der traditionellen Hebamme oder „chas
fanm“ nicht mehr so viel beansprucht wie früher.
Dennoch sind noch viele von ihnen in den Dörfern tätig
und stellen vor allem in Notfällen ihre wertvollen Dienste
zur Verfügung.
Der gute Buschdoktor besitzt in der Regel ein breites
Wissens über pflanzliche Heilmittel, Basisversorgung
und pharmazeutische Medizinen. Er oder sie können Foto: Der "African bushdoctor" Norris Lionell mit
konsultiert werden, um Buschmedizin "wimèd wazyé" Buschmedizin
für verschiedene gesundheitliche Beschwerden zu (Manfred Kremser © 1982)
verabreichen,
wie
zum
Beispiel
Erkältungen,
Gelenksschmerzen, Magenverstimmungen, etc., oder
auch einen Trank zu mischen, der das System von Unreinheiten reinigt und abführend bzw. ausscheidend
wirkt. Klienten, die mit der Wirksamkeit von Medikamenten, die von einem konzessionierten Arzt verschrieben
wurden, nicht zufrieden sind, mögen zuweilen auch den Buschdoktor für zusätzliche medizinische
Behandlungen aufsuchen.
Es gibt eine sehr weit verbreitete Meinung in St. Lucia, dass westlich ausgebildete Ärtze nicht alles wissen,
was mit Krankheiten zusammenhängt, und dass einige Krankheiten tatsächlich jenseits ihres
Verstehensbereiches liegen. Daher bleibt die Popularität des Buschdoktors bei Leuten aus allen
gesellschaftlichen Schichten erhalten, trotzdem sich die schulmedizinische Versorgung bis in entlegene Teile
der Insel ausbreitet. Die Heilmittel des Buschdoktors werden auch in Bereichen jenseits des rein
Medizinischen für wirkungsvoll gehalten. So zum Beispiel mag er/sie in der Lage sein, Schutz gegen das
Böse zur Verfügung zu stellen, menschliche Angelegenheiten zu beeinflussen wie z.B. den Erfolg in der
Liebe sicherzustellen oder auf den Geliebten einzuwirken. Auch vermag er/sie, eine Unglückssträhne
umzukehren, oder einfach in verschiedenen Schwierigkeiten Rat anzubieten.
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Foto: Medizinische Farne am Kélé-Altar zwischen den Shangó-Steinen
(Manfred Kremser © 1985)
Buschdoktoren hatten sehr viel unter sozialen wie anderen Vorurteilen der Gesellschaft zu leiden und wurden
in ihrer Aktivität eingeschränkt. Die seit der Sklaverei und dem Kolonialismus vererbten Vorurteile gegen die
indigene Kultur afrikanischer Menschen wurde in vielen negativen offiziellen Einstellungen der Kirche und
des Staates gegenüber der Arbeit des Buschdoktors zum Ausdruck gebracht. Sie wurde geächtet und als
anti-religiös gebrandmarkt, als das Werk des Bösen, als Hexerei und Zauberei. Selbst die etablierten Ärzte
versuchten tatkräftig die Buschdoktoren zu diskreditieren, wahrscheinlich weil sie in ihnen eine unwillkommene
Konkurrenz erblickten. Dennoch haben Untersuchungen gezeigt, dass der Einfluss des Buschdoktors sehr
tief in der Gesellschaft verankert ist, dass sogar diejenigen Leute, deren Stimmen in der Öffentlichkeit so
negativ sind, unter privaten Umständen den Buschdoktor selbst konsultieren.
Die Buschdoktoren in St. Lucia sind alles andere als anti-religiös. Tatsächlich sind sie gewöhnlich sehr eifrig
praktizierende Christen, für die Gott und ihr christlicher Glaube eine zentrale Rolle in ihrer Arbeit spielt. Viele
unter ihnen akzeptieren keinerlei Bezahlung für ihre Arbeit von ihren Klienten, da sie ihre Arbeit nicht wirklich
als die ihrige, sondern als die von Gott oder einer Gottheit selbst betrachten. Ihre Talente und Fertigkeiten
wurden ihnen von Gott verliehen, um seine Arbeit fortzusetzen. Folglich sind Gebete und Rituale gewöhnlich
sehr zentrale Aspekte ihrer Arbeit. Ein anderes wichtiges Element ist ihr Glaube. Diejenige Person, die
Behandlung oder Beistand sucht, muss an den Heiler und seine Arbeit glauben, andernfalls würde alles viel
schwieriger sein, und eine erfolgreiche Behandlung seitens dieses Heilers wäre beinahe unmöglich.
Traditionelle Medizin und die Heiler, die damit arbeiten, sind ein sehr wichtiges Betätigungsfeld in den
Kommunitäten St. Lucias. Fast jeder einzelne St. Lucianer hat daraus bereits Nutzen gezogen.
1.7 Landwirtschaftliche Arbeit und Mondmythen
Die landwirtschaftlichen Tätigkeiten des ländlichen Volkes sind heute noch von vielen Mythen und
populären Glaubenskonzepten gekennzeichnet, die diese Praktiken beeinflussen. Dabei könne drei
Hauptkategorien solcher Glaubensvorstellungen identifiziert werden:
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Foto: Organischer Landbau als Projekt der Zimbabwe Roots Farm
(Manfred Kremser © 1985)
• Diejenigen, bei denen der Mond eine Rolle spielt. Dabei scheinen die Mondphasen sehr wichtig zu sein, um
Entscheidungen bezüglich des Auspflanzens und der allgemeinen Handhabung von Pflanzen und Tieren zu
machen. Die Größe des Mondes, seine Position, und selbst seine Bewegung können entscheidende Faktoren
in der landwirtschaftlichen Arbeit sein. Der Umstand, daß die Dinge während der richtigen Mondphase
gemacht werden, mag die Größe des Ernteertrages des Farmers bestimmen, das Ausmaß des Erfolges bei
der Unkrautbekämpfung, die Größe der Bäume und selbst das Geschlecht eines Baumes oder eines Tieres.
• Glaubensvorstellungen, die mit bösen Geistern assoziiert werden. In den ländlichen Bereichen St. Lucias
existieren noch viele abergläubische Vorstellungen, die landwirtschaftlichen Praktiken beeinflussen können. Die
Leute glauben an die Existenz des Bösen und an die Fähigkeit bestimmter Menschen, es zu bändigen und
für destruktive Zwecke gegen Andere einzusetzen. Daher enthält die Arbeit der Farmer Maßnahmen, die auf
den Schutz vor dem Bösen abzielen, oder auch darauf, die Wirkungen des wahrgenommenen Bösen zu heilen.
Viele von ihnen mögen unter den Instruktionen eines "gadè" oder Buschdoktors handeln und bestimmte
Gegenstände an spezifischen Stellen im Garten anbringen, oder ein bestimmtes Ritual als Teil der Arbeit
durchführen. Es gibt sogar verschiedenartige Pflanzen, die — wenn man sie entsprechend dem Volksglauben
an strategischen Stellen im Garten pflanzt — böse Geister fernhalten können. Tatsächlich glauben die
Menschen auch an die Existenz von guten Geistern, die zum Schutz und für Glück nutzbar gemacht werden
können.
• Es gibt auch allgemeine Mythen, die in keine der obigen Kategorien fallen. So glauben Farmer, daß
bestimmte seltsame Verhaltensweisen die Produktion beeinflussen können. So z.B. kann ein bestimmtes
Zurückschneiden eines männlichen Obstbaums ihn zum Tragen veranlassen, das Fingerzeigen auf eine
Kürbisblüte kann diese abfallen lassen, und das Anbrennen von Baumstämmen kann die Produktion erneuern.
Es gibt Dutzende solcher bislang wissenschaftlich unbestätigter Theorien in ganz St. Lucia, an die die Farmer
glauben und die sie bei ihren täglichen landwirtschaftlichen Arbeiten befolgen, trotz der häufig vorgebrachten
Skepsis junger Landwirte, die vom formalen Erziehungssystem her kommen.
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Foto: Organischer Landbau
bevorzugt
(Manfred Kremser © 1986)
wird
von
Rastafari
Die moderne Erforschung traditioneller Mythen, die in der landwirtschaftlichen Arbeit im Überfluß vorhanden
sind, wächst ständig. Tatsächlich wird durch diese Forschungen mehr und mehr die wissenschaftliche Basis
für viele dieser Glaubensvorstellungen enthüllt. Trotz der Tatsache, daß viele von ihnen unbewiesen und durch
keinerlei Indizien erhärtet sind, herrscht heute dennoch die öffentliche Meinung vor, daß die moderne
landwirtschaftliche Planung diese tief verwurzelten kulturellen Überzeugungen von St. Lucianischen
Farmern nicht ignorieren darf, da in ihnen Generationen von wissenschaftlich fundiertem Wissen über die
Umwelt begründet liegen mögen.
2 Ethnische Religionen
2.1 Bön in Tibet
Im Folgenden soll die prä-buddhistische[1] Religion des Bön in Tibet in seinen unterschiedlichen Aspekten
beleuchtet werden.
Bön war die vorherrschende Religion Tibets als im 8. Jahrhundert der Buddhismus ins Land gelangte. Bön
war und ist geprägt von starken schamanischen und animistischen Elementen, hat jedoch im Laufe der
Jahrhunderte eine Vermischung mit buddhistischen Glaubensinhalten erfahren.
Seit 1977 ist die Bön-Religion als fünfte Weisheitsschule, neben den vier Schulen des tibetischen
Buddhismus[2], offiziell vom Dalai Lama anerkannt.
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.2
[2] Siehe Kapitel 3.2.3
2.1.1 Das Studium des Bön in der KSA
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Der Artikel “The Study of Bon in the West: Past, Present and Future” des norwegsichen Anthropologen Per
Kvaerne, die Einleitung zu dem Buch “New Horizons in Bon Studies“ (2000: S. 7ff), befaßt sich mit den
verschiedenen Forschern und Wissenschaftern sowie deren Arbeit und Erkenntnissen, die maßgeblich an der
Erforschung des Bön in Tibet beteiligt waren und sind.
Die Hauptfragen, die man sich hier stellte, lauten:
Was ist die Verbindung zwischen dem frühen, prä-buddhistischen Bön und den gegenwärtigen,
organisierten religiösen Schulen des Bön?
Was ist die Beziehung zwischen Bön und Buddhismus?
Des Weiteren muß David L. Snellgrove erwähnt werden, der als einer der ersten westlichen Wissenschafter
ausgedehnte Forschungsreisen in die Himalayaregionen unternommen hat und immer wieder mit
Bön-Gemeinschaften zusammentraf. Er entdeckte, daß die Bönpos eine umfangreiche und unerforschte
Literatur besaßen. 1960 traf Snellgrove einige gelehrte Bönpo- Mönche aus Tibet und er begann mit ihnen
zusammen zu arbeiten. Das erste und sichtbarste Resultat dieser Zusammenarbeit war die Publikation „The
Nine Ways of Bon“ (1967), welche zum ersten Mal eine systematische Präsentation der Lehren des Bön für den
Westen zur Verfügung stellte. Es war dies die Zusammenarbeit mit dem Bön-Gelehrten und Abt des Klosters
Menri in Dolanji, Nordindien, Löpon Tenzin Namdak. Die Hauptaussage deren gemeinsamer Theorien war die
Feststellung, daß der post- 11. Jhd.- Bön keine unheimliche Perversion des Buddhismus darstellt, sondern
eher eine eklektische Tradition ist, die gerade ihre buddhistischen Elemente betont statt sie zu negieren.
Nichtsdestotrotz betonte Snellgrove immer wieder, daß der wirkliche Hintergrund des Bön in der buddhistischen
Mahayana Tradition Nordindiens vermutet werden muß. Grundsätzlich hat Snellgrove den Bön als eine Form
des Mahayana Buddhismus betrachtet.
Geoffrey Samuel ist Professor für Anthropologie der Universität Newcastle, Australien, und seine
Hauptforschungsgebiete sind die Religionen Tibets. Er hat ein Modell für die frühe historische Entwicklung der
Tibetischen Religion vorgeschlagen. Die erste Etappe (vor dem 7.Jhd.) ist gekennzeichnet von der
ursprünglichen schamanischen Religion der Tibeter, zuerst in ihrer lockeren, staatenlosen Form und später in
einer Proto-Staaten Prägung. Diese wird gefolgt von einer Periode der „Hofreligion“; Bönpo-Priester waren hier
sowohl von der schamanischen Religion wie auch der frühen Religion Zhang Zhungs beeinflusst.
2.1.1.1 Entwicklung des Bön nach Hoffmann
Helmut Hoffmann, deutscher Indologe und Tibetologe, war der erste, der sich selbst die Aufgabe setzte, die
Thematik des Bön in einem umfassenden Werk zu bearbeiten: „Quellen zu Geschichte der tibetischen
Bön-Religion, 1950“.
Seine Arbeit ist eindrucksvoll und fundamental. Hoffmann behauptete, daß die ursprüngliche Bön-Religion
charakterisiert war von einer totalen Abhängigkeit der Tibeter von ihrem natürlichen Umfeld. Um mit dieser
Angst und Ehrfurcht, die die Natur und ihre Erscheinungen in ihrem Bewußtsein hervorgerufen hatte, umgehen
zu können, verehrten die Tibeter Naturgeister und bedienten sich der Magie und Divination. Ihre komplett Naturverwurzelten und Natur-dominierten religiösen Ideen drehten sich um die Mächte und Kräfte des unwirtlichen
Hochlandes und begründeten so den Glauben an zahllose Götter, Geister und Dämonen. Hoffmann bediente
sich in diesem Zusammenhang zweier Termini: Animismus und Schamanismus. Er ging davon aus, daß die
ursprüngliche Bön-Religion die nationale tibetische Ausformung einer alten animistisch-schamanischen Religion
war, die anfänglich nicht nur in Sibirien, sondern auch in Innerasien, Ost- und Westturkistan, der Mongolei,
Mandschurei und in China vorherrschend war.
Der zweite wichtige Punkt in Hoffmanns Theorie war eine konkrete chronologische Abfolge der Entwicklung des
Bön: Gemäß Hoffmann kann die Geschichte des Bön in drei Perioden gegliedert werden:
1.) Die prä-buddhistische Periode, die von einer animistisch-schamanischen Kultur und Auffassungsweise
geprägt war.
2.) Diese Zeit war gekennzeichnet von dem Entstehen einer organisierten Priesterschaft und einer konkreten
Doktrin, unter dem Einfluss von West-Tibet. So spielten die Einflüsse von Shivaismus, Gnostizismus und
buddhistischem Tantra hier eine Rolle.
3.) Diese Etappe ereignete sich nach dem Triumph des Buddhismus. Anhänger des Bön waren nun
gezwungen sich in entlegenere Gebiete Tibets zurückzuziehen und haben, um das Überleben ihrer Religion zu
sichern, essentielle Elemente des Buddhismus kopiert.
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2.1.1.2 Einteilung nach Kvaerne
Per Kvaerne schlägt in diesem Zusammenhang eine leicht unterschiedliche Einteilung vor:
1.) Die autochthone, prä-buddhistische Religion, die mit Samuels ursprünglich schamanischer Religion
korrespondiert.
2.) Ein organisierter Kult, der möglicherweise die Person des Königs im Fokus hatte, beeinflusst von
benachbarten Religionen wie Indien oder Iran und der sich sowohl in Tibet wie auch im Reich Zhang Zhung
etablierte.
3.) Eine gegenwärtige Volksreligion oder „Religion ohne Namen“, die oftmals in der westlichen Literatur als
Bön bezeichnet wurde.
4.) Die post-11. Jhd. organisierte, monastische Bön-Religion, die sich Yungdrung-Bön, unveränderlicher Bön,
nennt. Diese Strömung stellte den Hauptforschungsschwerpunkt der letzten 50 Jahre dar.
Per Kvaerne plädiert in jedem Fall dafür, den Bön, trotz all seiner Gemeinsamkeiten mit dem Buddhismus, als
eine eigenständige, separate Religion zu betrachten. Die gegenwärtige Mystifizierung des Bön betrachtet
Kvaerne sehr kritisch und erwähnt hier die westlichen Projektionen in Bezug auf Tibet und seine Religionen.
Nachdem sich die Begegnungen zwischen dem Westen und Tibet vervielfachen, wächst auch die Gefahr der
Missinterpretationen. Bön ist ein Gebrauchsartikel im globalen Supermarkt der Religionen geworden, ein Objekt
der New Age ökonomischen und ideologischen Ausbeutung. Es bleibt, diese kritischen Gedanken während des
Studiums des Bön zu reflektieren.
Per Kvaerne plädiert in jedem Fall dafür drei Bedeutungen des Begriffs „Bön“ abzustecken und zu
definieren um ein Studium und ein vergleichendes Arbeiten zu ermöglichen. Als Professor für Geschichte und
Tibetologie der Universität Oslo gilt er als herausragend auf dem Gebiet der systematischen, wissenschaftlichen
Erforschung Tibets und seiner religiösen und kulturellen Vielfalt. Seine Publikationen umfassen: An Anthology
of Buddhist Tantric Songs: A Study of the Caryāgīti. Tibet: Bon Religion. A Death Ritual of the Tibetan Bonpos.
The Bon Religion of Tibet: Iconography of a Living Faith.
2.1.1.3 Die drei Bedeutungen des Begriffs Bön
Die drei Bedeutungen des Begriffs Bön nach Per Kvaerne sind:
1.)
Bön bezeichnet die prä-buddhistische Religion Tibets, die schrittweise vom Buddhismus im 8. und 9.
Jahrhundert verdrängt wurde. Diese Religion, die nur unperfekt auf der Basis alter Dokumente rekonstruiert
werden konnte, scheint die Person des Königs, der als heiliges Wesen mit übernatürlichen Fähigkeiten erachtet
wurde, ins Zentrum zu rücken. Ausführliche Rituale wurden von professionellen Priestern, genannt Bönpos,
ausgeführt. Es ist möglich, daß hier die religiöse Doktrin und Praxis Bön genannt wurde. In jedem Fall war
dieses religiöse System essentiell verschieden vom Buddhismus.
Die Rituale, die die Bönpo-Priester ausführten, waren vor allem darauf ausgerichtet, die Seele einer toten
Person sicher in ein glückseliges Land zu befördern. Hier wurden Tieropfer angewandt, ein Yak, Pferd oder
Schaf wurde stellvertretend geopfert. Diese Zeremonien hatten zweierlei Sinn: einerseits sollten sie das Glück
der Verstorbenen im Land der Toten garantieren, andererseits sollte ihr nützlicher und wohlwollender Einfluß
und das Wohlergehen und die Fruchtbarkeit der Lebenden gesichert werden.
2.)
Bön kann sich darüber hinaus auch auf eine Religion Tibets beziehen, die im 10. und 11. Jahrhundert in
Tibet in Erscheinung trat, zur selben Zeit als sich gerade der aus Indien kommende Buddhismus im Erstarken
befand. Diese Religion, die in einer ungebrochenen Tradition bis zum heutigen Tag fortbesteht, hat viele
offensichtliche Gemeinsamkeiten mit dem Buddhismus, im Besonderen was Doktrin und Praxis betrifft, und
zwar soviel, daß ihr Status als unabhängige, individuelle Religion zu bezweifeln wäre. Manche Forscher
behaupten, Bön könnte als eine unorthodoxe Form des Buddhismus bezeichnet werden. Tibetische Buddhisten
betrachten den Bön in jedem Fall als eine eingeständige Religion. Oftmals wurde die Tatsache, daß die
Anhänger dieser Religion, die Bönpos, davon überzeugt sind, daß ihr Glauben älter als der Buddhismus ist,
von westlichen Wissenschaftlern ignoriert oder geleugnet.
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3.)
Der Begriff Bön wird weiters dazu verwendet, ein weites und umfangreiches Feld des „Volksglaubens“ zu
bezeichnen, das von Divination (Prophezeiung) über den Kult der Lokal-Gottheiten bis hin zu Konzeptionen
über die Seele reicht. Die tibetische Verwendung bezieht sich bei solchen Praktiken im Allgemeinen nicht auf
den Begriff Bön, und nachdem sie weder einen essentiellen Teil des Buddhismus noch des Bön (wie in 2.))
darstellen, wäre der Begriff „nameless religion“ von V.R. Stein hier angebracht.
2.1.2 Entwicklung des Bön nach Christoph Baumer
- Urtümlicher oder Ursprünglicher Bön (Dö-Bön)
Dieser so benannte Bön dauerte hinein bis ins 1. Jahrhundert n. Chr. und bezeichnet eine namenlose
Volksreligion, die sich mittels Zaubersprüchen und Opferritualen um die Besänftigung meist feindseliger
Geister und Dämonen bemüht. Da die archaischen Gottheiten und Rituale lokaler Art waren, gab es keine
einheitliche Lehre. Diese Epoche läßt sich deshalb auch als Lha-Bön, Bön der Gottheiten, bezeichnen.
- Irrender Bön (Kyar-Bön)
Die zweite Phase dauert bis zum 9. Jahrhundert n. Chr. Vermutlich wurden zu dieser Zeit die ersten
Anstrengungen unternommen, die vielen verschiedenen lokalen Zeremonien zu vereinheitlichen und eine
entsprechende Religionslehre zu entwickeln. Da es noch keine angemessenen Bestattungsrituale für die
Könige gab, wurden Bönpo aus westlichen Nachbarländern eingeladen um neue Totenrituale einzuführen.
Diese Epoche wird auch Dur- Bön, Bön der Gräber, genannt.
- Angepaßter oder Systematischer Bön (Gyur-Bön)
Diese Epoche beginnt im 11. Jahrhundert und ist durch vollständige Systematisierung des Bön zu einer
einheitlichen Heilslehre geprägt. Obwohl diese letzte Entwicklung zur Assimilierung vieler buddhistischer
Glaubensvorstellungen geführt hat, hat der Bön auf seinen Anspruch, die erste Religion Tibets zu sein, nie
verzichtet.
Literatur:
Baumer, Christoph: Bön-Die lebendige Ur-Religion Tibets. Graz 1999.
2.1.3 Einteilung des Bön nach Tenzin Namdak
Tenzin Nadmak, der als der führende Theologe der Bönpo gilt, teilt die Geschichte des Bön folgendermaßen
ein:
- Primitiver Bön
Er wies als Naturreligion viele Ähnlichkeiten mit dem Schamanismus der zentralasiatischen Völker auf. (Siehe
ursprünglicher Bön)
- Alter oder Ewiger Bön (Yungdrung Bön)
Vom erleuchteten Meister Tönpa Shenrab gegründet, hat der ewige Bön gewisse schamanische Vorstellungen
aus dem primitiven Bön übernommen. Nach einer Phase des Niedergangs im 8. Jhd. erfährt er eine
Wiederbelebung im 9.Jhd. und gelangte so in Zentral-und Osttibet im 11.Jhd. zu neuer Blüte.
- Neuer Bön
Verbreitete sich im 19. Jahrhundert von den östlichen Provinzen Kham und Amdo ausgehend und übernahm
viele Elemente der buddhistischen Schule der Nyingmapa[1].
Obwohl sich die Bönpo bis heute in Anhänger des Alten oder Neuen Bön aufteilen, bleiben die beiden Gruppen
eng miteinander verbunden.
Verweise in diesem Kapitel:
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[1] Siehe Kapitel 3.2.3.1
2.1.4 Vorstellungen des Kosmos im Bön: "Die drei kosmischen Welten"
Basis der Vorstellungen des Kosmos bildet die Annahme,
daß Götter und Geister die bedrohlichen Naturkräfte lenken, und sich durch Opfer besänftigen und
günstig stimmen lassen
.
Es gibt keine einzelne, übermächtige Gottheit, die den Kosmos lenkt, vielmehr besteht dieser aus einem
dynamischen Gleichgewicht göttlicher und dämonischer Kräfte, die sich gegenseitig beeinflussen. Zu diesen
Einflußfaktoren gehört auch der Mensch, der die Welt zeitlich gesehen nach den Geistern und Göttern betreten
hat und sich ihnen deshalb anpassen muß. Hat er einmal eine solche übersinnliche Kraft aktiviert –
beispielsweise durch das Übertreten eines Tabus – gerät die bisherige Harmonie aus dem Gleichgewicht. Der
betreffende Mensch wird krank. Erst die Besänftigung der erzürnten Macht kann den vorangegangenen
Zustand wieder herstellen bzw. den Kranken genesen lassen.
Gemäß dieser holistischen Weltanschauung ist der Mensch stets auf das engste mit der ihn umgebenden
Umwelt verbunden. Deshalb besteht die Aufgabe des Bönpo- Priesters darin, zwischen den unsichtbaren
Mächten und den Menschen zu vermitteln, damit das ursprüngliche Gleichgewicht wieder hergestellt wird.
So entstand eine unübersehbare Anzahl an lokalen Göttern und Geistern, denen allen ihr menschlicher
Charakter gemeinsam ist: sie können wohlwollend oder bösartig sein, sind häufig launisch und leicht beleidigt,
worauf sie die Menschen rasch mit einem Unglück oder einer Krankheit bestrafen.
Das Universum der Götter und Geister des Bön läßt sich in drei Sphären gliedern:
Lhayül, Miyül, Ogyül, entsprechend der himmlischen, der mittleren und der unteren Welt.
Das Zentrum bildet der heilige Berg Kailash, die Spitze des Kailash ragt wie eine kosmische Zeltstange durch
ein Loch in die neun himmlischen Zonen hinauf und verbindet so Himmel und Erde. Durch die Öffnung dringt
das ewige Licht, das Sonne, Mond und Sterne sowie die Erde erleuchtet. Zwischen dem Himmelszelt und der
lotusförmigen Erde befindet sich die Mittelwelt, zu der auch unser Luftraum gehört. Die Bönpo nennen den
Kailash Yungdrung Gutse, was soviel wie „neun übereinandergestapelte Swastiken“ bedeutet. Unter der Erde
breitet sich die ebenfalls neun-stufige Unterwelt aus.
2.1.4.1 Die obere Welt Lhayül
Die himmlische Welt Lhayül
Lhayül ist die Heimat der weißen, friedfertigen Lha-Gottheiten. Grundsätzlich den Menschen gegenüber
positiv eingestellt, können sie, bei Mißachtung von Geboten oder einem fehlerhaft ausgeführten Ritual,
dennoch bestrafen. (Der Name Lhasa (Götter-Ort) leitet sich von hier ab.)
Neben den Lha werden aber auch die Gestirne, Sonne, Mond und Sterne, verehrt. Sonne und Mond gelten
noch heute als Glückszeichen und werden in den Dörfern sowohl von Bönpo als auch von Buddhisten oft auf
die Haustüre gemalt.
Grundsätzlich wird zwischen friedfertigen und zornvollen Gottheiten unterschieden. Darüber hinaus wird im
Bön die weitere Unterteilung getroffen zwischen erleuchteten Gottheiten, die den karmischen Kreislauf und
Geburt und Tod verlassen haben und Gottheiten, die von dieser Welt sind, den Gesetzen von Karma
unterliegen und noch keine vollständige Erleuchtung erlangt haben.
2.1.4.1.1 Die friedfertigen Gottheiten
Die Gruppe der „Vier Grossen Seligen“, „the Four Transcendent Lords“, (P. Kvaerne) umfaßt die wichtigsten
und beliebtesten friedfertigen Götter und besteht aus einer weiblichen und drei männlichen Gottheiten. Diese
göttliche Tetrade ist ewig, manifestiert sich aber in jedem kosmischen Weltzyklus unter einem anderen Namen.
Es sind dies die Mutter aller Wesen Satrig Ersang, der Gott der Weisheit Shenlha Wökar, der Weltgott Sangpo
Bumtri sowie der Lehrmeister Tönpa Shenrab.
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Satrig Ersang steht an der Spitze, ihr Name bedeutet etwa „erleuchtete Weisheit“, ihre beliebteste
Erscheinungsform ist die der Chamma, der „liebenden Mutter“. Sartig Ersang wird gerne mit dem
buddhistischen Bodhisattva Prajnaparamita verglichen, eine weibliche Gottheit der Weisheit und des
Mitgefühls, doch haben wir es hier mit einem eigenständigen Konzept des Bön zu tun. Ihr essentieller
Charakter ist die Weisheit, ihre Farbe ist Gelb, ihr Thron von Löwen umgeben, sie ist dem Osten zugeordnet.
Shenlha Wökar ist der erste Gott der männlichen Triade; er herrscht über den Norden. Sein Name läßt sich als
„Priester-Gott des weißen Lichts“ übersetzen. Er gilt als Gott der Weisheit, als das ruhende göttliche Prinzip.
Per Kvarene bezeichnet ihn als „unconditional being“ oder „supreme being“, als „body of Bon“ und zieht eine
Verbindung zu Buddha Amithaba. Seine Farbe ist weiß, sein Thron wird von zwei Elephanten getragen.
Sangpo Bumtri ist der zweite Gott der Triade, ihm wird große Verehrung zuteil, er gilt als der Lenker des
aktuellen Weltzeitalters. Per Kvaerne zieht hier eine Verbindung zum Hindu-Gott Brahma, doch besteht kein
Zweifel, daß Sangpo Bumtri eine authentische tibetische Gottheit ist. Er tritt als Schöpfer des Universums, als
Weltgott, auf. Sein Name reflektiert seine Bedeutung: sangs meint soviel wie „erleuchtet“, bum hunderttausend.
Er ist also der erleuchtete Herr der unzähligen Lebewesen. Zwei kleine Khyung- Vögel stützen seinen Thron, er
ist dem Westen zugeordnet.
Tönpa Shenrab wird als die dritte männliche Gottheit verehrt. Er ist der vergöttlichte Lehrer in unserem
Zeitalter, wird oftmals mit Buddha Shakyamuni verglichen, doch die linksdrehende Swastika auf seiner Brust
macht eine Verwechslung unmöglich. Geboren wurde Shenrab im Jahre 16016 v. Chr. im unvergänglichen
Reich Olmolungring, welches als Zentrum der Zivilisation gilt und vom Berg Yungdrung Gutse beherrscht wird.
Dieses Land soll ein Teil von Tazig (Persien) gewesen sein (vgl. M.A. Nicolazzi: Mönche, Geister und
Schamanen, 1995). Die Beschreibung dieses Landes paßt aber auch um das Gebiet um den heiligen Berg Tise
(Kailash), das einst den zentralen Teil des Landes Zhang Zhung bildete. Tönpa Shenrab ist die
Himmelsrichtung des Südens zugeordnet. Die heiligen Lehren empfing er vom Weisheitsgott Shenlha Wökar.
Shenrab war in seinem ersten Lebensabschnitt ein weltlicher Fürst, der frommen Königen half und feindliche
Dämonen bekämpfte. Zeit seines Lebens war Shenrab ein Prediger des Bön, er hielt nicht nur den Menschen,
sondern auch den Geistwesen Vorträge und erörterte mit ihnen eine Vielzahl an philosophischen und religiösen
Fragen.
Zu den Gottheiten des Himmels zählt auch der Khyung -Vogel, der häufig als schützender Begleiter des
Lehrers Shenrab Miwoche auftritt. Laut Per Kvaerne stellt dieser mythische Vogel ein altes tibetisches Konzept
dar, ursprünglich unabhängig vom indischen Garuda, mit dem es erst später identifiziert wurde.
Dem Khyung – einem Wesen, halb Mensch, halb Vogel – kommt in der Bon-Religion eine große Bedeutung zu.
Er diente bereits dem Bon-Stifter Tenpa Sherab, der ihn gegen das Schloß seiner Feinde anfliegen ließ, und er
war Schützer der Shang-Shung-Dynastie. Westlich des Kailash soll ihm ein ganzes Tal gewidmet sein, so geht
aus der Bon-Überlieferung hervor, in dem sich Khyunglung Ngulkar Karpo, das sagenhafte Silberschloß
befand. In allen Bon-Litaneien wird dieser Ort als das heilige Land des Bon beschworen und alle Spuren
deuten darauf hin, daß es im Sutley-Tal liegt. (Vgl. Bruno Baumann: Auf der Suche nach Shangri-La)
Khyung ist der unerbittliche Feind der Schlangen, sein Sieg über sie symbolisiert den Triumph der himmlischen
Mächte über die bedrohlichen Kräfte der Dunkelheit. Laut Christoph Baumer ist der Raubvogel Khyung eine
alttibetische Gottheit und weist keine Parallelen mit dem indischen Garuda auf.
2.1.4.1.2 Die zornvollen Gottheiten
Dazu gehören die Dü und die Mu. Es soll 360 Dü geben, dessen König in einem neunstöckigen schwarzen
Palast wohnt. Sie sind Dämonen himmlischer Sphären und stehen auf der Erde mit Krähen und schwarzen
Schweinen in Verbindung. Die Macht dieser Dämonen wirkt auf die Menschen sehr beängstigend, weil sie auf
Orte, Körper und Taten schädigend einwirken können. Die Mu hingegen haben die Gewohnheit die Menschen
zu erschrecken und sie mit Durst oder Wassersucht zu plagen. Auch werden die Mu mit den Geistern von
Verstorbenen in Verbindung gebracht. Dort, wo sie leben gibt es einen See aus geschmolzenem Metall, der als
der Aufenthaltsort der Verstorbenen gilt.
Zu den zornvollen Gottheiten werden auch die Tutelargötter (Schutzgottheiten) oder Meditationsgottheiten
(Yidam) gezählt. In der Auffassung des Bön werden innerhalb der erleuchteten Gottheiten jene, die in
friedvoller Manifestation, von jenen, die in zornvoller Verkörperung erscheinen, unterschieden. Tantrische
Praktiken, Rituale und Meditation entfalten sich rund um diese Gottheiten. (P. Kvaerne) Wie im tantrischen
Buddhismus wird auch im Bön unter Tantra ein Lehrsystem verstanden, das dem Lernenden aufzeigt mit
welchen Meditationspraktiken und Ritualen er sich der Erleuchtung annähern kann. Die Tutelargottheiten
lassen sich auch als persönliche Schutzgottheiten verstehen, die sich in einem bestimmten Lehrzyklus dem
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Meditierenden offenbaren. Auf der höchsten Stufe erkennt der Meditierende, daß die Götter letztendlich über
keine eigene Existenz verfügen, sondern Schöpfungen der karmischen Kräfte sind, die sich in seiner Person
bündeln. Diese Erfahrung entspricht derjenigen des Verstorbenen im Zustand des Bardos, wenn er die
wohlwollenden und furchterregenden Gottheiten als Projektionen karmischer Energien erkennt. Mit ihren vielen
Armen schwingen die Yidam schreckliche Waffen, ihre Gesichter drücken Zorn und Kampfeslust aus. Umgeben
von einem Feuerkranz, treten sie mit den Füssen die Feinde des Bön nieder. Sie werden nicht in sitzender
Haltung dargestellt, sondern in einem dynamischen Tanzschritt. Dieser Tanz, der das Gleichgewicht der Kräfte
im Kosmos aufrecht erhält, wird in jedem Kulttanz von den Trägern der furchterregenden Masken symbolisch
wiederholt.
Auch wenn diese Yidam des Bön auf den ersten Blick ähnlich aussehen wie die buddhistischen
Tutelargottheiten, besitzen sie ihre eigene Charakteristik und eine unverwechselbare Ikonographie.
2.1.4.2 Die mittlere Welt Miyül
Der Name zeigt an, daß diese Welt die unsere ist, Mi bedeutet Mensch und Yül Welt. Die in der
vorbuddhistischen Zeit mächtigen Tsen-Geister halten sich vor allem in dieser mittlern Welt auf, sie hausen am
liebsten in Felsen, Schluchten, Gletschern und Bäumen. Sie sind ortsgebunden und werden als Herrscher
über einen bestimmten Bezirk und dessen Einwohner verehrt. Sie sind kriegerische Gottheiten, treten meist
gepanzert und beritten auf und haben eine rote Körperfarbe. Sie gelten als überaus mächtig und leben in der
buddhistischen Tradition als Beschützer der Lehre weiter. Sie sind die Beherrscher der unzähligen Nyen.
Gerade die Tsen waren es, die sich häufig eines Menschen bedienten, um zukünftige Ereignisse kundzutun.
Ein Gutteil der im alten Tibet so zahlreichen Besessenheitsmedien, deren Rat und Weissagung in allen
Angelegenheiten so gerne in Anspruch genommen wurde, waren Sprachrohr der Tsen. Wurden die Tsen
mißachtet oder beleidigt, so rächten sie sich durch das Abschießen unsichtbarer Pfeile, die Krankheit und
Verderben brachten. Die Verehrung der Tsen ist in der tibetischen Volksreligion bis heute lebendig geblieben.
Neben den Tsen gehören auch die untergeordneten Astralgeister der Nyen zur Miyül-Mittelwelt. Sie wohnen in
der Sonne, im Mond und in den Sternen und können Pest, Pocken und Lähmungen verursachen. Sie gelten
als überaus bösartig. Manchmal steigen sie sogar ins Wasser, was darauf schließen läßt, das sie
möglicherweise mit den Klu verwandt sind.
Mit den Tsen und Nyen eng verwandt sind die lokalen Berggottheiten, die oftmals keine eigene Bezeichnung
haben, sondern bloß Yül-Lha „Lokalgottheit“ genannt werden. Sie vermitteln zwischen Himmel und Erde und
tragen so zur universellen Harmonie bei. Die Berggeister sind launenhaft und unberechenbar, genauso wie das
Wetter, das sie kontrollieren. Sie herrschen über das umliegende Gebiet, sind sehr sensibel und reagieren
empfindlich auf Fehlleistungen des Menschen, indem sie Hagel- oder Schneestürme auslösen, Dürre bewirken
oder Erdbeben veranlassen können. Deshalb genießen sie bei allen Tibetern - Bönpo wie Buddhisten besondere Verehrung. (Auf jedem Paß und manchem Gipfel findet sich ein „Lhatse“, ein der Gottheit geweihter
Steinhaufen, den jeder Reisende mit einem kleinen Stein erhöht.) Jeder Berg hat seinen eigenen Charakter,
seine spezifische energetische Ausstrahlung und beeinflußte wesentlich nicht nur das Klima und die
Wetterverhältnisse seiner Umgebung, sondern auch die Lebensweise der in seinem Umfeld lebenden
Menschen. Der Berg wachte auch als Schutzgottheit über die Einhaltung der gesellschaftlichen Normen
zwischen all jenen Menschen, die in seinem Einflußbereich lebten. Verstieß auch nur ein Einzelner gegen die
religiöse oder soziale Ordnung der Gemeinschaft, so konnte der Berg bzw. seine Gottheit dem Dorf seinen
Schutz entziehen.
Einige besonders auffällige Berge wurden als Sitz bedeutender Berggottheiten verehrt. Der heiligste Berg
Tibets ist der Yungdrung Gutse (Kailash, 6714m), er ist die Residenz des wichtigen Bön-Schutzgottes Ku-Lha
Gekhö. Der Berg ist Ursprung vier großer Flüsse (Sutlej, Indus, Brahmaputra, Karnali), bildet zusammen mit
diesen vier Quellen ein riesiges Mandala, der Berg repräsentiert den zentralen Weltenbaum, die vier Quellen
die vier äußeren Tore. Der Kailash wird sowohl von Buddhisten, Bönpo, Hindus und Jainas verehrt.
Die ursprünglich animistische Verehrung der tibetischen Berg-Gottheiten fand, ihrer großen Bedeutung wegen,
auch in den Buddhismus Eingang. Als Schutzgottheiten der buddhistischen Lehre wurden sie in die
Kosmologie und das Pantheon der tibetischen Buddhismus integriert, und die Rituale wurden zu einem
wichtigen Aufgabenbereich der buddhistischen Mönche und Lamas.
2.1.4.3 Die Unterwelt Ogyül
Die wichtigsten Bewohner der Unterwelt („Og“ bedeutet unten) sind die Klu-Wassergeister und die SadagErdgeister.
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Die Klu, die als Schlangengeister später den indischen Nagas zugeordnet wurden, herrschen über die
verschiedenen Gewässer. Viele Klu sind weiblichen Geschlechts und heißen dann Lumo. Diese Geister leben
sowohl in der Unterwelt als auch in der mittleren Welt der Menschen und symbolisieren so die Verbindung
zwischen den beiden Daseinsbereichen. (So wie der Khyung-Vogel die mittlere und die obere Welt verknüpft.)
Die Klu werden sehr geschätzt und gefürchtet, einerseits können sie Regen bringen, andererseits gelten sie als
Verursacher von Lepra und Geschwüren. Der natürliche Feind der Klu-Schlangen ist der Khyung-Vogel, der in
seinem Schnabel eine Schlange hält und so als Besieger der unberechenbaren Lu-Geister verehrt wird.
Die Sadag-Erdgeister konfrontieren in erster Linie den seßhaften Ackerbauern mit ihrer Macht. Da sie die
Erdoberfläche bewohnen, kann kein Feld gepflügt, keine Ernte eingebracht oder kein Haus gebaut werden,
ohne daß sie vorher durch Gebet und Opfer beschwichtigt werden, das sie sonst mit Krankheiten bestrafen
würden.
(Kloster Samye, das erste buddhistische Kloster in Tibet: Dessen Mauern wurden von Sadags und andern
Bön-Gottheiten immer wieder zum Einsturz gebracht. Erst Padmasambhava war in der Lage; die Macht der
Erdherren zu brechen und den Klosterbau zu Ende zu bringen.)
In gewissem Sinne haben die Sadag und die Klu eine ökologische Funktion, da sie mit Argusaugen darüber
wachen, daß das natürliche Gleichgewicht des Lebensraumes durch die Eingriffe der Menschen nicht
unüberlegt gestört wird. Diese bewahrende Rolle zeigt sich besonders bei Tabus wie denjenigen des
übermäßigen Jagens oder Rodens, der Ausbeutung von Erzen oder der Verunreinigung von Quellen und
Gewässern.
Die Bönpo-Priester gelten als die Vermittler zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Geister.
(Luftbestattung der Tibeter: Angst; die Geister könnten durch das Ausheben eines Grabes gestört werden.)
Diese Traditionen gründen auf einem ganzheitlichen Weltbild, wonach die Mißachtung eines Tabus in der Welt
der Menschen automatisch eine entsprechende Auswirkung in der Welt der Geister nach sich zieht. Das
eintretende Unheil, wie z.B. eine Krankheit, wird als Symptom für eine gestörte moralische Ordnung gedeutet.
Genesung wird als Ausdruck einer wiederhergestellten kosmischen Ordnung betrachtet.
Sowohl Bön wie auch buddhistischer Lamaismus binden durch ihr pantheistisches Weltbild den Menschen in
ein engmaschiges aber weitverzweigtes horizontales Netz von Glaubenssätzen und Ritualen ein, das auch die
Natur und deren Mächte und die Tiere umfaßt.
Nur ein beständiger Austausch - die Aufrechterhaltung einer sensiblen Balance zwischen Geben und Nehmen konnte die Lebensgrundlage der Menschen sichern und ein glückliches Leben gewährleisten. Achtsamer und
respektvoller Umgang mit der Natur und Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse ihrer Wesenheiten bildeten für
die Tibeter die Basis für ein harmonisches Zusammenleben zwischen Götter, Naturgeistern und Menschen.
(Das war ein kurzer Ausschnitt des Pantheons der Götter und Geister des Bön.)
2.1.5 Literatur
Hoffmann, Helmut. 1950. Quellen zur Geschichte der tibetischen Bön-Religion. Wiesbaden
Kvaerne, Per. 1995. The Bon Religion of Tibet. London: Serindia Publ.
Baumer, Christoph. 1999. Bön: Die lebendige Ur-Religion Tibets. Graz: Akad.Dr.-u.Verl.-Anst.
Karmay Samten Gyaltsen. 2000. New Horizons in Bon Studies. Osaka: National Museum of Ethnology
Samuel, Geoffrey. 2005. Tantric Revisionings: New understandings of Tibetan Buddhism and Indian religion.
Aldershot: Ashgate
Tenzin Wangyal Rinpoche. 2004. Wonders of the natural Mind: The essence of Dzogchen in the native Bon
tradition of Tibet. Delhi: New Age Books
Schuster, Gerhard. 2000. Das Alte Tibet: Geheimnisse und Mysterien. Wien: NP-Buchverl.
Nicolazzi, Michael Albrecht. 1995. Mönche, Geister und Schamanen: Die Bön- Religion Tibets. Solothurn:
Walter
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http://www.bonfoundation.org/[1]
http://www.yungdrung-bon.net/[2]
http://www.ligmincha.org/[3]
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.bonfoundation.org/
[2] http://www.yungdrung-bon.net/
[3] http://www.ligmincha.org/
3 Weltreligionen
In den folgenden Kapiteln wird ein Überblick über die grossen Weltreligionen gegeben, sowie ihre Philosophien
und ihre praktischen Zugänge zu religiöser Praxis vergleichend besprochen.
Im speziellen wird hier auf den Buddhismus und den Sikhismus eingegangen, die beide in meinen eigenen
Feldforschungen in Süd- und Südostasien eine Rolle gespielt haben und spielen.
3.1 Sikhismus
In den folgenden Kapiteln wird die Religion der Sikhs, Sikhismus, die sich vor etwa 500 Jahren in Nordindien
entwickelt hat, besprochen.
Foto: Gläubige Sikhs beim heiligen Bad nahe des Goldenen
Tempels in Amritsar, Nordindien
(http://news.bbc.co.uk/1/hi/in_pictures/4470894.stm )
3.1.1 Gründung und wesentliche Glaubensinhalte
Mit einem Alter von etwa 500 Jahren ist die Religion der Sikhs eine der jüngsten Religion weltweit.
Geographisch hat sie ihre Wurzeln im Bundesstaat Punjab im westlichen Nordindien und kann als eine
Stifter- wie Erlösungsreligion betrachtet werden. Ihr Begründer ist Guru Nanak, der 1469 in einem Dorf in der
Nähe von Lahore im heutigen Pakistan in eine streng vom hinduistischen Glauben geprägte Familie
hineingeboren wird.
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Am
Beginn
des
Sikhismus
steht
ein
mystisches
Offenbarungserlebnis, in dem Nanak eine göttliche Stimme
vernimmt, die ihn anweist, an einen einzigen Gott zu glauben,
der in vollständiger Formlosigkeit nur im Inneren, nur im Herzen
eines jeden Menschen wahrnehmbar und erfahrbar sei. Die
Inhalte dieses Erlebnisses stehen in starkem Kontrast zu der
Religion seines Elternhauses. Dennoch wendet sich Nanak vom
Hinduismus ab und setzt sich intensiv für die Ideen und
Glaubensinhalte des Sikhismus sowie deren Verbreitung ein.
Als Essenz der Botschaft Guru Nanks kann die schlichte
Glaubensformel „Nam, Dan, Isnan“ angesehen werden, was ein
Meditieren über den Namen Gottes, ein Verteilen von Almosen,
sowie eine reine Lebensweise impliziert.
Bis
heute
existiert
im
Sikhismus
keine
genaue
Gottesvorstellung, verehrt werden insgesamt zehn Gurus,
sowie das Heilige Buch „Granth Sahib“.
3.1.2 Verhältnis zu Hinduismus und Islam
Foto: Guru Nanak, der Begründer
Sikhsimus
(http://www.singhsabha.com/ )
des
Im Unterschied zum Hinduismus, wo ja die Verehrung von einer
Vielzahl (auch bildlich dargestellter) Götter ein wesentliches
Element der Religion ausmacht, soll sich ein Sikh kein
bestimmtes Bild von Gott machen, da ein allzu genaues Bild die persönliche, subjektive, innere Erfahrung
von Gott trübt und unscharf werden lässt. Auch wendet sich Guru Nanak gegen äußerliche religiöse Rituale
und Zeremonien, in dem Glauben, sie könnten dem wahren religiösen Erleben im Weg stehen und von einer
wahren Konzentration auf Gott ablenken. Stattdessen soll man äußere Rituale in eine innere Sphäre der
Andacht übertragen. Weiters spricht er sich gegen alle Praktiken, die auf Trennung, Unterscheidung und
Dualität beruhen aus, da sie dem Konzept von Gott als dem Einen, dem Zeit- und Formlosen widersprechen.
Die Religion der Sikhs lehnt das indische Kastensystem zwar prinzipiell ab, trotzdem wird es als Regelsystem in
bestimmten Fragen des sozialen Lebens immer wieder anerkannt. Demzufolge steht auch das Frauenbild der
Sikhs in großem Widerspruch zu jenem der Hindus und Muslime: man verurteilt die in Indien verbreitete
Witwenverbrennung (sati) scharf, doch ist im Alltag der Sikhs bedauerlicherweise dennoch keine Verwirklichung
von Gleichberechtigung erkennbar, das hinduistische Modell der ergebenen Ehefrau scheint weithin sehr
verbreitet zu sein.
Seit Jahrhunderten stehen sich Muslime und Hindus im Punjab feindlich gegenüber, es war der Sikhismus, der
die Befriedung und Versöhnung zwischen diesen beiden Religionsgemeinschaften propagiert. Guru Nanak gilt
bis heute als ein Symbol der Versöhnung zwischen Hinduismus und Islam.
Nicht nur hat er hinduistische und muslimische Glaubenselemente in der Religion der Sikhs vereint, auch ist er
dafür eingetreten, dass Gott abwechselnd mit muslimischen oder hinduistischen Namen benannt wird.
Aus diesem Gedanken entwickelt er auch die Idee so genannten Langars, der Freiküchen, in denen Mensche,
egal welcher Religion- und Glaubenszugehörigkeit, gemeinsam, in einem neutralen Umfeld, eine Mahlzeit zu
sich nehmen können. Diese Langars sind von Anfang an von der Absicht getragen,Verständnis und Toleranz
zwischen den Religionen zu schaffen und zu unterstützen.
3.1.3 Äussere Merkmale seiner Anhänger
Unter dem vierten Guru Ram Das fällt die
Gründung
von
Amritsar
als
Hauptpilgerzentrum der Sikhs. Die Stadt
Amritsar liegt ideal an der Route zwischen Kabul
und Delhi, ihr Goldener Tempel gilt als das
Hauptheiligtum der Sikhs, der von Guru Arjun
Dev erbaut worden ist.
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Foto: Gläubige Sikhs bei einer religiösen Prozession, Punjab, Im Laufe der Zeit gewinnt der Sikhismus immer
mehr an Popularität. Einen großen Zulauf erfährt
Nordindinen
die Glaubensgemeinschaft vor allem aus den
(http://news.bbc.co.uk/2/hi/in_pictures/5298402.stm )
Reihen der Muslime. Der Mogul-Kaiser Jehangir
lässt als Reaktion auf diese Bewegung Guru
Arjun Dev zu Tode foltern. Der sechste Guru, der Sohn von Arjun Dev, hat daraufhin die Bewaffnung der Sikhs
angeordnet, und dieser Religion, als Antwort auf die Anfeindungen, die sie während ihrer gesamten Geschichte
erfahren haben, die militärische Komponente verliehen.
Der neunte Guru Tegh Bahadur wird von Muslimen zu Tode verurteilt, als er sich weigert, zum Islam
überzutreten. Vor seiner Hinrichtung beschwört er seinen Sohn, den zehnten und letzten Guru Gobindh Singh,
seinen Tod zu rächen. Nun vollendet sich die Umwandlung der Sikhs in eine Kriegergemeinschaft mit
festgelegten Riten und Eiden.
Gobindh Singh erlässt eine Kleiderordnung, weiters die Verordnung, sich im Laufe seines Lebens
-- niemals die Haare zu schneiden,
-- das Haar mit einem Eisenkamm zu befestigen und unter einem Turban zu tragen,
-- einen Eisenarmreif am Handgelenk,
-- einen Säbel,
-- sowie knielange Hosen zu tragen.
Diese Vorschriften basieren auf der religiösen Überzeugung, wonach der Mensch in perfekter Form von Gott
geschaffen ist, und es deshalb keine Legitimation für den Menschen gibt, sein Äußeres, wie auch immer
geartet, zu verändern.
Nachdem der zehnte Guru Gobindh Singh ohne Kinder geblieben ist und sich auch sonst kein geeigneter
Nachfolger gefunden hat, wird bis heute das Heilige Buch „Granth Sahib“, die vollständige Sammlung der
Glaubens-, Lebens- und Wertvorstellungen der Sikhs, als göttlich anerkannt, und als lebender Guru verehrt.
3.1.4 Körperliche und geistige Ideale
Das Leben im Diesseits
Innerhalb des Sikhismus kann eine starke Betonung des Diesseits und der Gegenwart festgestellt werden.
Ziel des Lebens ist nicht das Streben nach Erlösung oder das Eingehen in ein Paradies, sondern das Ideal
einer physischen und spirituellen Ganzheit in der Gegenwart. Es gilt das Ideal der physischen
Unversehrtheit, um im Hier und Jetzt in bester Voraussetzung seinen Körper wie auch seinen Geist einsetzen,
die Aufgaben und Herausforderungen des Alltags bestmöglich meistern zu können. Gesundheit und
körperliche Fitness sind die Grundlage, sein Leben im Diesseits bestmöglich zu gestalten, wie auch die
Garantie für die ständige Verteidigungsbereitschaft seiner Religion. Bedeutend ist, dass Angehörige des
Sikhismus in keiner Weise dazu neigen, Verantwortung über ihr Leben auf Gott abzuwälzen, sondern jeder
einzelne sich als Schmied seines eigenes Glückes erkennt, und so für sich, sein Leben und seine Taten vollste
Verantwortung übernimmt.
Militanz und Kampf
Militanz und militärische Verteidigungsideen sind, wie unschwer zu erkennen ist, aus der
Entstehungsgeschichte des Sikhismus gewachsen, und bis heute untrennbar mit politischen wie religiösen
Idealen und Vorstellungen vereint. Militante Politik und Religion sind in einen Synkretismus zur Erhaltung
und Verteidigung des Sikhismus getreten, einer Religion, die seit ihres Entstehens außerordentlicher
Feindschaft ausgesetzt gewesen ist. Bis in die Gegenwart ist die Doktrin der Untrennbarkeit von religiöser und
politischer, von geistiger und von weltlicher Macht wesentliches Element im Glaubens der Sikhs.
3.1.5 Literatur
Stukenberg, Marla. 1995. Der Sikh-Konflikt: Eine Fallstudie zur Politisierung ethnischer Identität. Stuttgart:
Steiner
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Stukenberg, Marla. 1995. Die Sikhs: Religion, Geschichte, Politik. München: Beck
Delhi Sikh Gurdwara Management Committee. 1999. What is Sikhism. New Delhi: Gurupdesh Printers
Delhi Sikh Gurdwara Management Committee. 1997. The Sikh Religion: An Outline of its Doctrines. New Delhi:
Gurupdesh Printers
http://religion.orf.at/projekt02/tvradio/orientierung/or_011111.htm[1]
http://www.wien-vienna.at/buntezeitung/alltag3.htm[2]
http://www.amnesty.at/cont/presse/2001/usa9-11_5.html[3]
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://religion.orf.at/projekt02/tvradio/orientierung/or_011111.htm
[2] http://www.wien-vienna.at/buntezeitung/alltag3.htm
[3] http://www.amnesty.at/cont/presse/2001/usa9-11_5.html
3.2 Buddhismus
"Die noch immer revolutionäre Einsicht des Buddhismus lautet: Leben und Tod sind im Geist, und nirgendwo
sonst. Der Geist ist die universelle Basis jeder Erfahrung - der Schöpfer von Glück und Unglück, der Schöpfer
auch dessen, was wir Leben und Tod nennen."
(Rinpoche, 2004: 66)
In den folgenden Kapitel wird ein Überblick über die Schulen des Buddhismus und den ihnen zu Grunde
liegenden Philosophien gegeben.
3.2.1 Die Fahrzeuge des Buddhismus
Alle Fahrzeuge oder Schulen des Buddhismus gehen
auf den historischen Buddha Shakyamuni, den
Prinzen Gautama Siddharta aus dem Geschlecht der
Shakya zurück, der etwa zwischen 623 v. Chr. und.
450 v. Chr. in der Stadt Lumbini im heutigen Nepal
geboren wurde. Sein Vater war Suddhodana, der
Herrscher des Königreiches Shakya im heutigen
Nepal. Die Bezeichnung Buddha Shakyamuni leitet
sich von hier ab und bedeutet soviel wie „Der Weise
aus dem Geschlecht der Shakya“. Die Geburt
Buddhas wurde genauso phantasiereich ausgemalt,
wie viele weitere Stationen seines Lebens, so daß es
häufig schwierig ist zwischen Historie und Legende
zu unterscheiden. Der vietnamesische Zen-Meister
Thich Nhat Hanh hat in seinem Buch „Wie Siddharta
zum Buddha wurde“ das Leben und Wirken des
Foto: Betender Mönch, Ladakh, Nordindien
Buddha in lebendiger, poetischer und doch historisch
sehr fundiert belegter Art und Weise nachgezeigt und
(Veronica Futterknecht © 2005)
gibt so nicht nur einen Überblick über Buddhas
Leben, sondern gleichzeitig eine hervorragende Einführung in die geistige Welt des Buddhismus.
Im Allgemeinen unterscheidet man Drei Grundlegende Fahrzeuge im Buddhismus: Hinayana oder
Theravada, Mahayana und Vajrayana. Das Hinayana (sanskrit: >kleines Fahrzeug<) geht zeitlich dem
Mahayana (sanskrit: >großes Fahrzeug<) voraus, und bildet in gewisser Weise die Grundlage oder den
Ausgangspunkt für den Weg und hat die individuelle Befreiung zum Ziel.
3.2.1.1 Hinayana oder Theravada
Die essentielle Praxis im Theravada besteht in der Erkenntnis und Verwirklichung der Vier Edlen Wahrheiten:
Der Wahrheit des Leidens, der Ursache des Leidens, der Beendigung des Leidens und der Weg, mit Hilfe
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dessen das Leid beendet werden kann. Wer diese Motivation für sich entwickelt, auch als "Entsagung"
bezeichnet, wird zum Theravada gezählt. Dies deshalb, da der Wunsch sich nur auf ein Lebewesen bezieht
und somit im Vergleich zum Leid der vielen Lebewesen auf der Welt eine kleinere Motivation ist. Drei Übungen,
die das Ziel haben Glück zu schaffen und Leid zu beenden, haben einen besonderen Stellenwert im Hinayana:
Disziplin (Pali: shila), meditative Konzentration (Pali: samadhi) und unterscheidendes Gewahrsein (Pali:
panna). Ein Praktizierender legt die Gelübde zur persönlichen Befreiung ab (Sanskrit: pratimoksha) und begibt
sich so auf den Weg, konzentriert und gezielt den Geist vor Umständen, die zu emotionaler Zerstreuung und
Negativität führen, zu schützen. Dazu gibt es innerhalb der buddhistischen Meditation sowohl analytische wie
auch konzentrative Techniken, mit deren Hilfe ein eingerichteter Geist, der aus der Meditation des Shamatha
erwächst und durch die klare Einsicht der Vipashayana-Meditation vertieft, das unterscheidende Gewahrsein
der Selbstlosigkeit oder Ego-losigkeit verwirklicht werden kann.
Die Unwissenheit, die der eigentliche Ursprung aller Leidenschaften und Anhaftungen ist, kann nur durch die
Weisheit, die aus der Vereinigung von Geistiger Ruhe (Shamatha) und Klarer Einsicht (Vipashyana) entsteht,
überwunden werden. Durch eine konzentrierte und disziplinierte Anwendung dieser Übungen, sowohl während
der Meditations-Sitzungen wie auch im Alltag, kann man geistige Negativität, die die Basis aller
leidverursachenden Handlungen ist, Stück für Stück erkennen und auflösen.
3.2.1.2 Mahayana
Das Grosse Fahrzeug oder Mahayana strebt nicht nur die eigene, individuelle, sondern die Befreiung aller
Wesen aus dem leidvollen Daseinskreislauf an. Heute sind Richtungen des Mahayana besonders in Japan,
Tibet, Bhutan, der Volksrepublik China und Korea, teilweise auch in Vietnam, der Mongolei und dem asiatischen
Osten Rußlands verbreitet.
Die Essenz des Mahayana-Buddhismus ist die grundlegende Motivation Befreiung zum Wohle aller Wesen zu
erlangen, nachdem erkannt wurde, daß es auf einer absoluten Ebene schlußendlich keine Trennung zwischen
dem eigenem Geist und der Welt der Phänomene gibt. Der zentrale Gedanke ist hier das Streben nach
Buddhaschaft als dem einzig wirksamen Mittel, um allen Wesen helfen zu können, sich von den Ursachen des
Leidens zu befreien. Dies wird Bodhicitta oder das Herz des erleuchtenden Geistes genannt, und wird sowohl
auf relativer wie auf absoluter Ebene verwirklicht. Etymologisch setzt sich das Wort Bodhicitta aus den Wörtern
Bodhi (Erleuchtung) und Citta (Geist, Emotion, Gedanke) zusammen, und kann daher als Erleuchtungsgeist
übersetzt werden. Absolutes Bodhicitta ist die Erkenntnis und Erfahrung der Leerheit (Sanskrit: Shunyata), die
Realisation der Tatsache, daß schlußendlich alle Phänomene in Abhängigkeit entstehen und keine
eigenständigen, unveränderlichen, unabhängigen Charakteristika besitzen und nicht aus eigener Kraft
entspringen können. Auf die Philosophie und Praxis von Bodhicitta wird in einem späteren Kapitel noch genau
und detailliert eingegangen.
3.2.1.3 Vajrayana
Das Vajrayana (sanskrit: vajrayāna, »Diamantfahrzeug«, tibetisch: Dorje Tegpa), auch geheimes Mantrayana
genannt, ist an sich kein eigenständiges Fahrzeug, sondern ein spezielles Gefährt der geschickten Mittel
innerhalb des Mahayana, doch wird es als dritte große Hauptrichtung des Buddhismus verstanden. Seine
Verbreitung findet der Vajrayana vor allem im ehemaligen Tibet, in Bhutan, in Teilen Nordindiens (Ladakh) sowie
der Mongolei.
Zentral für das Vajrayana ist die Lehre und Philosophie des Madhyamaka (Sanskrit m., mādhyamaka, »der
mittlere Weg« zwischen Bejahung und Verneinung). Die Lehren, die hier dazu gehören, werden mittels der
Aspekte Grund, Pfad und Frucht erklärt. Für die Madhyamaka-Lehren ist der - Grund die Untrennbarkeit der
beiden Wahrheiten, der relativen und der absoluten Wahrheit. Der - Pfad bezeichnet die stufenweise,
essentielle Ansammlung von Verdienst und Weisheit und die - Frucht ist die Untrennbarkeit der beiden Aspekte
des Buddhas, der Verwirklichung von Dharamakaya, der Ansammlung von Weisheit und Rupakaya, der
Ansammlung von Verdienst.
3.2.2 Grundlagen der buddhistischen Lehre
Grundlagen der buddhistischen Lehre sind die Vier Edlen Wahrheiten und die Drei Gifte des Geistes.
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Foto: Ladakh, Nordindien
(Veronica Futterknecht © 2005)
Vor rund 2500 Jahren entdeckte der Buddha, Siddharta Gautama, gequält und zutiefst berührt von Krankheit,
Alter und Tod, einen Weg auf dem das Leiden, welches des menschliche Dasein unausweichlich begleitet,
aufgehoben wird und seine Hauptursache, das Verhaftet- Sein mit einem Ich-Gefühl, in Gleichmut und
Mitgefühl verwandelt werden kann.
3.2.2.1 Die Vier Edlen Wahrheiten
Buddhas gesamte Lehre dreht sich um die zentrale Frage, wie das Leiden, das untrennbar mit dem
menschlichen Leben verbunden ist, erkannt und nachhaltig gelöst und transformiert werden kann. Das ist die
erste Edle Wahrheit, die Wahrheit vom Leiden, die Wahrheit, daß jedes menschliche Leben grundsätzlich mit
Leid verbunden ist. Geburt, Alter, Krankheit und Tod sind Leiden, Trauer, Zorn, Eifersucht, Sorge, Unruhe,
Angst und Verzweiflung sind Leiden. Nach den Worten Buddhas leiden wir primär an der natürlichen
Unzulänglichkeit unserer bedingten Existenz. Die Hauptursache für alles menschliche Leiden bildet die
Annahme einer Beständigkeit allen Seins und unser irrtümlicher Glaube an ein selbstständiges, solides,
unabhängig existierendes Ich, der die Grundlage für all unser selbstsüchtiges Streben bildet. Das ist die zweite
Edle Wahrheit, die Wahrheit von der Ursache allen Leidens, die unsere geistige Verblendung bildet, die uns
dazu führt, alle Erscheinungen, insbesondere unseren eigenen Geist, als dauerhaft, beständig und aus sich
selbst heraus eigenständig existierend anzunehmen. Die dritte Edle Wahrheit ist die Wahrheit von der
Aufhebung des Leids, das bedeutet zu erkennen, daß das Leiden in unserem Leben grundsätzlich als solches
wahrgenommen und transzendiert werden kann. Die vierte Edle Wahrheit ist die Wahrheit vom Pfad, der zur
Aufhebung des Leidens führt. Es ist dies der Edle Achtfache Pfad, der durch ein Leben in Achtsamkeit, das die
Basis für Konzentration und Verstehen bildet, unterstützt wird, und schließlich zu Friede, Freude und
Verwirklichung führt. Die Medizin, die der Buddha demnach verordnete, ist das Dharma, seine Lehre, die zum
Ziel hat, den Geist oder das Bewußtsein als Basis aller Phänomene zu erkennen. Geist erschafft die Materie,
und Geist ist der Schöpfer von Gesundheit und Krankheit. Deshalb betont die Lehre des Buddha die
Notwendigkeit den Geist zu zähmen und negative, emotionale Energien umzuwandeln: dies ist die
Grundannahme jeglicher buddhistischen Medizin.
3.2.2.2 Die Drei Gifte des Geistes
Die drei Gifte des Geistes bilden in diesem Zusammenhang das Fundament, das dafür verantwortlich ist, daß
Menschen wieder und wieder im Kreislauf von Geburt und Tod wandern. Unsere gesamte bedingte Existenz,
unser bedingtes Sein wird von diesen drei Geistesgiften gesteuert. Diese drei Gifte sind zum einen die Gier, im
buddhistischen Lebensrad symbolisch als roter Hahn dargestellt, Hass, der seinen Ausdruck als grüne
Schlange im Lebensrad nimmt, und Unwissenheit oder Verblendung, die Wurzel der beiden ersten
Geistesgifte, wie auch der Ursprung alles Leiden, die als schwarzes Schwein repräsentiert wird. Der Hahn steht
also für Gier, neurotische Begierde, für das Verlangen, Dinge zu besitzen, von denen man sich Glück und
Sicherheit erhofft, für das Anhaften und die Abhängigkeit von geliebten Menschen, positiven, emotionalen
Geisteszuständen, für das Bedürfnis nach Anerkennung und Bewunderung. Die Schlange symbolisiert in
gewisser Weise das Gegenteil davon, die Ablehnung, Aversion gegenüber ungeliebten, unerwünschten
Menschen, Dingen oder Geisteszuständen, der Hass gegenüber allem, was wir als Bedrohung unserer
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Ich-Gefühle wahrnehmen. Und schließlich repräsentiert das Schwein die fundamentale Unwissenheit, die
Unfähigkeit, die wahre Natur der Dinge zu erkennen, die Schwierigkeit, das universale Grundgesetz der
Vergänglichkeit zu akzeptieren und zu integrieren. Unsere Unwissenheit, unsere geistige Verblendung läßt uns
fälschlicherweise an die Beständigkeit eines scheinbar unabhängigen Ich glauben, läßt uns die Welt als real
existierende und letztlich nicht weiter auflösbare Wahrheit erscheinen und hindert uns daran, die wahre Natur
unseres Geistes, die in gleicher Weise die wahre Natur aller Dinge ist, zu realisieren. Auf diese Weise wird die
Unwissenheit als Wurzel allen Leidens akzeptiert.
Die tibetische Medizin ordnet schließlich diese Drei Gifte den Säften Wind, Galle und Schleim zu, welche die
physiologische Grundlage des menschlichen Körpers bilden. Das harmonische Gleichgewicht dieser Säfte
wiederum ist für Gesundheit oder Krankheit verantwortlich. In diesem Zusammenhang wird das Wort Saft nicht
als etwas konkret Fließendes betrachtet, vielmehr sind darunter sehr subtile, komplexe, geistige Prozesse zu
verstehen, die nur durch ihre Dynamik erfahrbar werden. Die Drei Gifte sind demnach die wichtigsten
Krankheitsursachen, obgleich sie im Grunde metaphysische Gründe sind.
3.2.3 Tibetischer Buddhismus
Ab dem 9. Jahrhundert wurde mit der Übertragung
des Mahayana und Vajrayana nach Tibet die
Madhyamaka-Lehre philosophische Grundlage des
tibetischen Buddhismus. Die Unterschiede zwischen
dem allgemeinen Mahayana und dem Vajrayana
beziehen sich nicht auf das zu erreichende Ziel, die
Buddhaschaft, die Verwirklichung der allen Wesen
inhärent innewohnenden Buddhanatur, sondern auf
die Art und Weise wie dieses Ziel erlangt wird.
Deshalb wird das Vajrayana auch Pfad des
Resultats genannt, während das Sutra-System des
Mahayana als Pfad der Ansammlung bezeichnet
wird und Theravada als Pfad der Entsagung. Der
tibetische Vajrayana-Buddhismus gliedert sich in
unterschiedliche
Schulen,
Traditionen
und
Übertragungslinien, von denen die vier Schulen der
Abb. 1.: Tibetisch-buddhistisches Kloster Thikse, Ladakh, Nyingma-, Kagyü-, Sakya- und Gelug-Schule die
Nordindien
wichtigsten sind.
(Veronica Futterknecht © 2005)
Der
natürliche
Ausdruck
von
Buddhas[1]
umfassendem, großem Mitgefühl äußerte sich dahingehend ganz unmittelbar den unterschiedlichen
Voraussetzungen und Fähigkeiten der Individuen gerecht zu werden und gemäß dessen zu lehren. Auf diese
Weise entstand eine große Zahl an verschiedenen Unterweisungen für Menschen mit einem unterschiedlichen
Erfahrungshintergrund und unterschiedlichen Fähigkeiten für eine spirituelle Entwicklung. Da es Praktizierende
auf sehr verschiedenen Ebenen geistiger Entwicklung gibt, lehrte der Buddha verschiedene Pfade und
Herangehensweisen, in denen jeweils bestimmte, auf der entsprechenden Stufe wichtige Übungen betont
werden. Alle diese Wege sind jedoch gleich wertvoll und wichtig und verfolgen schlußendlich alle dasselbe
Ziel, nämlich Erleuchtung zu erlangen und den erwachten Geist eines Buddhas, der das fundamentale
Potential eines jeden Menschen darstellt, zu verwirklichen.
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.2.1
3.2.3.1 Nyingma-Tradition
Die älteste Schule des tibetischen Buddhismus bildet
die Nyingma-Tradition, die auf den tantrischen
Meister Padmasambhava, auch bekannt als Guru
Rinpoche, zurückgeht, der im 8.- 9. Jahrhundert
erstmals den Buddhismus in Tibet einführte.
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Innerhalb der Nyingma-Tradition wird die Fülle der Foto: Buddha Maitreya, der Buddha der Zukunft
spirituellen Wege in weitere neun yanas oder (Veronica Futterknecht © 2005)
Fahrzeuge gegliedert, einem einheitlichen Lehr- und
Praxisgebäude, das sämtliche Lehransätze des Buddhas zu einem einzigen, umfassenden Pfad zur
Erleuchtung vereint. Die drei Fahrzeuge des Hinayana, Mahayana und Vajrayana werden demnach noch weiter
unterteilt in die drei Ursachenfahrzeuge des Sutra: Shravaka- und Pratyekabuddhayana, die zusammen das
Hinayana bilden, sowie Bodhisattva- oder Mahayana und die sechs erfüllenden Fahrzeuge des Tantra, welche
sich in die drei Äußeren Tantras Kriyayoga, Charyayoga und Yogatantra, sowie in den drei Inneren Tantras
Mahayoga, Anuyoga und Atiyoga oder Dzogchen aufgliedern.
3.2.3.2 Dzogchen
Die Lehren des Dzogchen (tibetisch: "rDzogs pa
Chen po" oder kurz "rDzogs Chen") "Die Große
Vollkommenheit", auch Atiyoga oder Mahasandhi
genannt, gelten als die höchsten Lehren der
tibetischen Tradition. Dzogchen gilt als die Essenz
aller buddhistischen Lehre und beschreibt den Weg
der Selbstbefreiung, der zum Ziel hat das wahre
Wesen jenseits aller illusions-gleichen Dualität zu
erkennen. Im Dzogchen geht es folglich nicht darum,
dass eine erleuchtete, wahre Natur des Geistes
existiert, die zu erreichen man sich bemühen oder
anstrengen müßte, sondern es ist das Erkennen und
Stabilisieren der ursprünglich reinen, klaren,
vollkommenen Natur des Menschen, die aufgrund
temporärer, mentaler Verschleierung bislang nicht als
solche erkannt werden konnte.
Foto: Seine Heiligkeit der XIV. Dalai Lama, Ladakh,
Nordindien
(Veronica Futterknecht © 2005)
3.2.4 Literatur
Assauer, Egbert, 2005. Tantrisches Heilen und
tibetische Medizin. Grafing: Aquamarin Verlag
Assauer, Egbert, 1997. Tibets sanfte Medizin. Freiburg: Verlag Herder
Baker, Ian A, 1999. Das große Buch der tibetischen Heilkunst. Bergisch Gladbach: Lübbe
Bechert, Heinz, 2000 Buddhismus, Staat und Gesellschaft, Band 2. Göttingen: Kinzel
Clifford, Terry, 1989. Tibetische Heilkunst. Bern, Wien: Barth
Dalai Lama, 2001. Ohne Anfang- Ohne Ende. Bern; München; Wien: O.W. Barth
Kenpo, Nyoshul, 1995. Der Buddha im Inneren. Freiamt: Arbor Verlag
Thich Nhat Hanh, 1999. Das Herz von Buddhas Lehre. Freiburg im Breisgau ; Wien [u.a.] Herder
Thich Nhat Hanh, 1998. Wie Siddhartha zum Buddha wurde: Eine Einführung in den Buddhismus. Berlin:
Verlag Theseus
4 Neue religöse Bewegungen
In den folgenden Kapiteln werden "Neue religiöse Bewegungen" besprochen.
"Neureligion", "Neue Religion" oder "Neue religiöse Bewegung" sind Begriffe, die erst in den letzten
Jahrzehnten in Gebrauch gekommen sind, und zwar für Phänomene, die scheinbar neueren Ursprungs sind.
Bei genauerem Hinschauen stellt man jedoch fest, dass es sich um Phänomene des religiösen Wandels
handelt, wie es sie schon immer in allen Teilen der Welt gegeben hat.
Literatur:
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Baer, Harald. Gasper, Hannes. Müller, Joachim. Sinabell, Johannes (Hg.). 2005. Lexikon neureligiöser
Gruppen, Szenen und Weltanschauungen. Orientierungen im religiösen Pluralismus. Freiburg: Herder
4.1 Hinduistischer Hintergrund
In den folgenden Kapitel werden exemplarisch einige "Neue religiöse Bewegungen" besprochen, die ihre
Philosphie und Praxis aus dem Hinduismus ableiten.
4.1.1 Sri Ramana Maharishi
"As all living beings desire to be happy always, without misery, as
in the case of everyone there is observed supreme love for one’s
self, and as happiness alone is the cause for love, in order to gain
that happiness which is one’s nature and which is experienced in
the state of deep sleep where there is no mind, one should know
one’s self. For that, the path of knowledge, the inquiry of the form
“Who am I?”, is the principal means." (Mahadevan, 1982: 3)
Leben und Lehre
Sri Ramana Maharshi (1879-1950) war ein südindischer
Advaita-Meister, der unter anderem Satsang-Lehrer wie
Samarpan, Gangaji, OM C.Parkin, Karl Renz oder Eckhart Tolle
mit seinem Sein und seinen Belehrungen inspirierte. Er lehrte
die Selbsterforschung durch die Frage "Wer bin Ich?" und gilt
als einer der bekanntesten Weisen und Vertreter des AdvaitaVedanta im 20. Jahrhunderts. In ständigem Gewahrsein seiner
Identität mit dem Absoluten (Atman) lebte der Maharshi in
selbstauferlegter Abgeschiedenheit und Armut am Fusse des
Berges Arunachala in Tamil Nadu, Südindien. Tausende
Menschen
pilgern
bis
heute
nach
Tiruvanamallai,
gleichermassen westliche Besucher wie Inder. Schon allein in
der Gegenwart des Maharshi verweilen zu dürfen, galt den
Menschen als spirituelle Gipfelerfahrung.
Foto: Sri Ramana Maharshi
(http://www.meditationsworkshop.org
)
Ramana lehrte, dass das reine, ursprungslose
Gewahrsein der eigentliche Wachzustand sei. Geht man
dagegen seinen Gedanken nach, dann wird man von
ihnen davongetragen und befindet sich in einem Labyrinth
ohne Ausgang. Essentiell ist in der Meditation, die Spur
der Gedanken zurückzuverfolgen bis zu deren Usrsprung.
Auf diese Weise verschwinden die Gedanken und allein
das Selbst bleibt übrig, ein Selbst für das es weder Innen
noch Außen gibt, ein Selbst das rein und absolut ist.
(Maharshi, 2006: 14)
"Happiness is the very nature of the Self; happiness and
the Self are not different. There is no happiness in any
object of the world. We imagine through our ignorance that
we derive happiness from objects. When the mind goes
Foto: Tiruvannamalai in Südindien, die Heimat Sri out, it experiences misery. In truth, when its desires are
Ramana Maharshis
fulfilled, it returns to its own place and enjoys the
(Veronica Futterknecht © 2008)
happiness that is the Self." (Mahadevan, 1982: 8)
Literatur:
http://www.sriramanamaharshi.org/[1]
http://www.arunachala-ramana.org/[2]
http://de.wikipedia.org/wiki/Ramana_Maharshi[3]
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http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...
http://www.paranormal.de/yoga/weg/ramana.htm[4]
Ebert, Gabriele. 2003. Ramana Maharshi: Sein Leben. Lüchow: Kreuz Verlag
Mahadevan, T.M.P. 1982. Who am I ? The Teachings of Ramana Maharshi. India: Ramanan, Tiruvannamalai
Maharshi, Ramana. 2003. "Nan Yar? Wer bin Ich?" India: Sri Ramana Ashram
Maharshi, Ramana. 2006. Gespräche des Weisen vom Berge Arunachala. München: Ludwig
Maharshi, Ramana. 2003. Die Botschaft des Ramana Maharshi. Antworten von Sri Ramana Maharshi an seine
Schüler. Lüchow: Kreuz Verlag
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.sriramanamaharshi.org/
[2] http://www.arunachala-ramana.org/
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Ramana_Maharshi/
[4] http://www.paranormal.de/yoga/weg/ramana.htm/
4.1.2 Mata Amritanandamayi/Amma
Leben und Lehre
Amma ist ein Guru aus Kerala, Südindien, mit einer weltweiten großen
Anhängerschaft. Sie wurde am 27. September 1953 in Kerala als Kind
einer armen Fischerfamilie geboren. Sie besuchte nur drei Jahre die
Schule und absolvierte eine Ausbildung zur Näherin. Im Alter von 22
Jahren hatte sie ihre erste Verschmelzungs-Erfahrung mit der Gottheit
Krishna, den sie seitdem sehr verehrt. Amma war bewußt, daß es hinter
der offensichtlichen, physischen Welt der Namen und Formen eine
höhere Realität gibt, was sie dazu veranlaßte, stets allen Menschen in
Liebe und Mitgefühl zu begegnen. Von frühester Kindheit an fragte sie
sich, warum die Menschen in dieser Welt leiden müssen, warum sie arm
sind und hungern müssen. Seit frühester Kindheit wußte sie, daß nur
Gott - das Selbst, die Höchste Energie - die Wahrheit ist und daß der
Welt keine eigenständige, absolute Realität zukommt. Die grundlegende
Erfahrung, die sie schon in sehr jungen Jahren machte, mit der Welt eins
zu sein, mit der gesamten Schöpfung zu verschmelzen, machte ihre
Lebensaufgabe klar: Sie wollte der leidenden Menschheit helfen. Dies
war der Beginn ihrer spirituellen Bestimmung.
Foto: Sri Mata Amritanandamayi
(http://www.holisticnetwork.com )
Heute verbringt Amma den größten Teil des Jahres auf Reisen, um mit
ihren Worten und der tröstenden Umarmung, die sie jedem, der es wünscht, zukommen läßt, zu helfen.
In ihrem Ashram in Amritapuri, Kerala, Südindien,
leben konstant etwa 3000 Menschen und täglich
kommen viele mehr um mehrere Wochen oder Tage
hier zu verbringen. Im Rahmen von Ammas weitem
Netzwerk karitativer Projekte bauen ihre Schüler
Häuser für Obdachlose, zahlen Renten an Bedürftige
und ermöglichen Kranken medizinische Versorgung.
Zahllose Menschen auf der ganzen Welt wirken an
diesen liebevollen Bemühungen mit.
„Schlußendlich“, sagt Amma, „ist Liebe die einzige
Medizin, welche die Wunden der Welt heilen kann. Es
ist die Liebe, die in diesem Universum alles
zusammenhält. Wenn dieses Bewußtsein in uns
erwacht, verschwindet alle Disharmonie, und es wird
nur noch Frieden herrschen." (Amma 2005: 11)
Foto: Amritapuri Ashram, Kerala, Südindien
(http://www.amma-europe.org/ )
Literatur:
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Amma. 2005. Die Kraft der Liebe. Berlin: Theseus
Mata Amritanandamayi. 2001. Der Weg der Weisheit und Liebe. Berlin: Theseus
Cornell, Judith. 2002. Amma- das Leben umarmen. Berlin: Theseus
Darshan, die göttliche Umarmung. Frankreich 2005. Dokumentarfilm. Regie: Jan Kounen
www.amritapuri.org[1]
www.amma.de[2]
www.amma.org[3]
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.amritapuri.org
[2] http://www.amma.de
[3] http://www.amma.org
4.1.3 Bhagvan/Osho
Leben und Lehre
Bhagwan Shree Rajneesh war ein indischer Philosophieprofessor
und spiritueller Lehrer, er wurde 1931 in Madhya Pradesh, Indien
geboren und starb 1991 in Puna, Maharashtra. Seine Familie gehörte
zur Religionsgemeinschaft der Jainas. Er wurde bereits sehr früh mit
dem Tod konfrontiert, sein geliebter Großvater, bei dem er auch
aufwuchs, starb als er sieben Jahre alt war, seine Freundin und
Cousine als er fünfzehn Jahre alt war. Beide Verluste trafen ihn tief
und bereits seine Jugend war von Depression, Melancholie und
chronischen Kopfschmerzen geprägt. Im Alter von neunzehn Jahren
begann Rajneesh sein Studium der Philosophie in Jabalbur. Noch
während des Studiums hatte er in einem Park in Jabalpur während
einer Vollmondnacht in Meditation versunken eine außergewöhnliche
Erfahrung, in der er sich von Glückseligkeit überwältigt fühlte – eine
Erfahrung, die er später als seine spirituelle Erleuchtung beschrieb.
Ab 1958 war Rajneesh zuerst als Lektor und später als Professor für
Philosophie an der Universität Jabalpur tätig. Ab den 1960er Jahren
unternahm Rajneesh, neben seiner Lehrtätigkeit, erste ausgedehnte
Vortragsreisen durch Indien.
Foto: Bhagwan Shree Rajneesh
Bei einer öffentlichen Meditationsveranstaltung in Bombay in Frühling (http://www.yoga-vidya.de/ )
1970 präsentierte Rajneesh erstmals die von ihm entwickelte
„Dynamische Meditation“, die wie die Kundalini-Meditation zu den
aktiven Meditationstechniken zählt, bei der körperliche Arbeit eine zentrale Rolle spielt. Durch Bewegung und
schnelles vertieftes Atmen soll diese Technik zu einer intensiven Katharsis führen. Schreien, Weinen, Lachen
und Wutausbrüche sind Erscheinungsformen dieser Katharsis, die eine Befreiung darstellt und das Ziel hat, zu
innerer Stille und Ruhe zu finden.
Im März 1974 zogen Rajneesh, der sich mittlerweile Bhagwan (Sanskrit „der Gesegnete“) nannte, mit seinen
Anhängern in den neuen Ashram in Puna, Maharashtra, um. Die nächsten Jahre waren geprägt von einer
ständigen Expansion und einer starke Zunahme der Anhängerschaft, besonders aus Ländern aus dem Westen.
Eine wesentliche Rolle spielte die eklektische Kombination von östlichen Meditations- und westlichen
Therapietechniken. Bhagwan vertrat ein Konzept der holistischen Psychologie und Therapiegruppen
wurden bald ein wesentlicher Bestandteil des Ashram-Angebots.
Im Grunde war Bhagwan gegen jedes Glaubenssystem und betonte den Wert der authentischen religiösen
Erfahrung gegenüber der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion. Der Weg zur authentischen religiösen
Erfahrung liegt in seiner Lehre darin, das Leben als Ganzes anzunehmen, es in allen Aspekten zu lieben und
zu verehren und täglich zu feiern. Der Meditation kommt dabei eine wichtige und zentrale Rolle zu:
„Normalerweise ist unser Bewußtsein von einem Schutthaufen zugedeckt. Und im Kopf geht es zu wie zur
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Hauptverkehrszeit: Da verkehren Gedanken, Sehnsüchte, Erinnerungen, ehrgeizige Vorstellungen, da herrscht
ständiger Verkehr! … Dies ist der Zustand ohne Meditation. Meditation ist genau das Gegenteil. Wenn Funkstille
im Kopf ist, wenn alles Denken aufhört, kein Gedanke sich regt, kein Verlangen auftaucht, wenn du absolut still
bist, diese Stille ist Meditation. In dieser Stille erkennt man die Wahrheit, und nur in dieser Stille.„ (Osho, 1999:
382)
Obwohl Osho zu seinen Lebzeiten als eine hochumstrittene Persönlichkeit galt, hat er bis zum heutigen Tag
Hunderttausende AnhängerInnen auf der ganzen Welt. Seine Bücher wurden in zahllose Sprachen übersetzt
und die von ihm gegründete Bewegung hat heute etwa 300 Meditationszentren in 45 Ländern. Oshos Werke
erfreuen sich internationaler Popularität, seine aktiven Meditationstechniken sind weit über seine Bewegung
hinaus bekannt geworden.
Oshos Ashram in Poona hat sich zum Osho International Meditation Resort, einem der beliebtesten Reiseziele
Indiens, entwickelt.
Literatur:
www.osho.com[1]
www.oshotimes.de[2]
http://www.youtube.com/user/OSHOInternational[3]
www.sannyas.net[4]
http://de.wikipedia.org/wiki/Osho[5]
http://en.wikipedia.org/wiki/Osho[6]
http://www.relinfo.ch/osho/ashram.html[7]
http://www.swami.de/archivmain.htm[8]
Auswahl:
Rajneesh, Bhagwan.1979. Sprengt den Fels der Unbewußtheit. Ein Darshan-Tagebuch. Osho-Verlag.
Rajneesh, Bhagwan.2001. Tod: Höhepunkt des Lebens. Osho-Verlag.
Rajneesh, Bhagwan.2003. Heilung: Von der Medizin zur Meditation. Heyne.
Osho. 1998. The Book of secrets. The Key to Love and Meditation. St. Martin’s. Griffin.
Osho. 2004. Das Buch vom Ego. Von der Illusion des Ichs zur Freiheit des Seins. Heyne.
Osho. 2004. Mut. Lebe wild und gefährlich. Ullstein Tb.
Osho. 2004. Meditation: The first and last freedom. St. Martin’s. Griffin.
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.osho.com
[2] http://www.oshotimes.de
[3] http://www.youtube.com/user/OSHOInternational
[4] http://www.sannyas.net
[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Osho
[6] http://en.wikipedia.org/wiki/Osho
[7] http://www.relinfo.ch/osho/ashram.html
[8] http://www.swami.de/archivmain.htm
4.2 Weitere
Im folgenden werden "Neue religiöse Bewegungen" besprochen, die sich während der letzten beiden
Jahrzehnte im Westen entwickelt haben und deren Philosphie und Praxis nicht eindeutig einer der grossen
Weltreligionen zugeordnet werden kann.
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A Course in Miracles könnte jedoch am ehesten als eine neue religiöse Bewegung mit christlichem
Hintergrund beschrieben werden. Der Kurs bedient sich christlicher Termini und schlägt einen mytischen Heilsund Erlösungsweg vor, der auf die unio mystica, die Verschmelzung mit Gott und dem Erkennen der Natur
Gottes im eigenen Geist abzielt.
Das Avatar-Training nach Harry Palmer findet seinen Ursprung in den Lehren und der Philosophie von
Scientology, der Palmer viele Jahre angehörte. Die Idee von Gott oder von einem höheres Bewusstsein findet
in diesem Kontext keine Verwendung. Jedem einzelnen Individuum wird uneingeschränktes Schöpferpotential
zugedacht, nichts Göttliches oder Vollkommenes kann außerhalb des Menschen selbst gefunden werden.
Der amerikanische Meister Samarpan schließlich vertritt eine Lehre, die sich am ehesten mit dem indischen
Advaita vergleichen lässt und im Kernpunkt die These vertritt, dass es einzig und allein darum geht, durch den
Dschungel des diskursiven, rationalen Verstands den Weg zurück in die Gegenwart zu finden um dort in Stille,
Freude und Einsicht das Leben da wahrzunehmen, wo es nun mal passiert - in der Gegenwart.
4.2.1 A Course in Miracles
4.2.1.1 Entstehungsgeschichte
Entstehung
Helen Schucman (1909-1981) war eine US-amerikanische Psychologin, die das spirituelle Werk Ein Kurs in
Wundern ihren eigenen Angaben zufolge nach de Durchsage einer inneren Stimme niederschrieb. Helen, das
Kind halbjüdischer Eltern, begann bereits in früher Jugend sich intensiv mit der christlichen Mystik und der
Suche nach Gott als dem transzendenten Absoluten, auseinanderzusetzen. Der Niederschrift des Ein Kurs in
Wundern gingen demzufolge zahlreiche mystische Erlebnisse und Licht-Einheits-Erfahrungen voraus. Helen
arbeitete an der medizinischen Fakultät der Columbia University in New York, doch war das Arbeitsklima,
speziell das Verhältnis mit ihrem nächsten Vorgesetzten stets geprägt von Ärger und beiderseitigen aggressiven
Gefühlen.
Eines Tages kam es zu einem Eklat, Helens Chef, William Thetford, verkündete unmissverständlich, dass er
nicht mehr gewillt war in einer Atmosphäre der Ungeduld und Aggression weiterzuarbeiten. Dieses Stichwort
initiierte die inspirative Schöpferkraft Helens und markierte den Beginn der Niederschrift des Buches.
Schucman begann nach ihren Angaben eine innere Stimme zu hören, die ihr in den folgenden sieben Jahren
insgesamt drei Bände des Ein Kurs in Wundern diktierte. Schucman bezeichnete sich selbst stets als
"Schreiberin" und postuliert damit, dass sie während des Schreib-Prozesses stets gewahr und niemals in einen
Trancezustand oder veränderten Bewusstseinszustand fiel.
Organisation
Eine der Hauptdachorganisationen des Ein Kurs in Wundern ist die Foundation for Inner Peace, die 1983
gegründet, ihr Hauptquartier seit 2001 in Temecula, Kalifornien hat. Der Hauptzweck der Foundation besteht
darin, SchülerInnen von Ein Kurs in Wundern zu helfen, das Verständnis des Denksystems sowohl theoretisch
als auch praktisch zu vertiefen, damit sie wirkungsvollere Instrumente der Lehren Jesu in ihrem eigenen Leben
werden können.
Literatur:
A Course in Miracles. 2007. Foundation for Inner Peace.
Ein Kurs in Wundern. 7.Auflage 2006. Gutach i. Br.: Verlag Greuthof.
Dawson, Michael.1997. Im Ursprung liegt die Heilung: Der KURS, die Vergebung und die Praxis. 1.Auflage.
Verlag Greuthof.
Wapnick, Kenneth. 2006. Wunder als Weg: Die 50 Grundsätze der Wunder in EIN KURS IN WUNDERN.
4.Auflage. Verlag Greuthof.
http://www.relinfo.ch/acim/info.html[1]
http://en.wikipedia.org/wiki/Helen_Schucman[2]
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http://www.acim.org[3]
http://www.facim.org[4]
http://de.spiritualwiki.org/Wiki/EinKursInWundern[5]
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.relinfo.ch/acim/info.html
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Helen_Schucman
[3] http://www.acim.org
[4] http://www.facim.org
[5] http://de.spiritualwiki.org/Wiki/EinKursInWundern
4.2.1.2 Philosophie und Praxis
Philosophie
"Nichts Wirkliches kann bedroht werden.
Nichts Unwirkliches existiert.
Hierin liegt der Friede Gottes."
Der Kurs trifft eine grundlegende Unterscheidung zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen, zwischen
Erkenntnis und Wahrnehmung. Erkenntnis ist Wahrheit - unter einem einzigen Gesetz, dem Gesetz der Liebe
oder Gottes. Die Wahrheit ist unveränderlich, ewig und unzweideutig. Sie kann unerkannt sein, aber sie kann
nicht verändert werden. Sie gilt für alles, was Gott erschaffen hat, und nur das, was er erschaffen hat, ist wirklich.
Sie liegt jenseits des Lernens, weil sie jenseits von Zeit und Prozess liegt. Sie hat kein Gegenteil, keinen Anfang
und kein Ende. Sie ist einfach. Die Welt der Wahrnehmung andererseits ist die Welt der Zeit, der Veränderung,
der Anfänge und der Enden. Sie beruht auf Deutung, nicht auf Tatsachen. Sie ist die Welt der Geburt und des
Todes, gegründet auf dem Glauben an Mangel, Verlust, Trennung und Tod. Sie wird gelernt statt gegeben, ist
selektiv in ihren Wahrnehmungsschwerpunkten, instabil in ihrer Funktionsweise und falsch in ihren Deutungen.
(aus: Ein Kurs in Wundern, S.XVIII)
Gottes-Definition des Ein Kurs in Wundern
Gott ist das ewig wahre, unveränderbare, schöpferische Prinzip. Gott ist nicht getrennt von seiner Schöpfung und
wir nicht von ihm. Sich selbst zu erkennen bedeutet Gott zu erkennen, Gott zu erkennen bedeutet sich selbst zu
erkennen.
Praxis
Die Praxis des Kurs in Wundern ist ein konsequentes Geistestraining mit 365 Lektionen, für jeden Tag des
Jahres. Im Laufe dieses Prozesses verwandelt sich die gespaltene und mit Urteilen behaftetete Wahrnehmung
in eine reine und liebevolle Gegenwärtigkeit. Man wird gebeten die vorgegebenen Lektionen kontinuierlich und
spezifisch auf alles anzuwenden, was sich in seinem Leben konkret ereignet.
Beispiel:
Lektion 99
"Erlösung ist die einzige Funktion, die ich hier habe."
Erläuterung: Erlösung und Vergebung sind dasselbe. Beide setzen voraus, dass etwas falsch gelaufen ist;
etwas, von dem man erlöst oder das vergeben werden muss; etwas verkehrtes, etwas, das losgelöst oder
verschieden ist vom Willen Gottes. So setzen beide Begriffe etwas voraus, das unmöglich und doch geschehen
ist, was einen Zustand des Konflikts zur Folge hat, der zwischen dem gesehen wird, was ist, und dem, was nie
sein konnte.
4.2.2 Avatar/Harry Palmer
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Foto:
Avatar-Begründer
Harry
Palmer
(http://www.avatar-london.co.uk )
4.2.2.1 Entstehungsgeschichte
Entstehung
Die Gründung des Avatar-Netzwerkes geht auf den amerikanischen Autor und Gründer sowie Inhaber der Firma
Star’s Edge International, Harry Palmer, zurück und wurde im Jahr 1986 in Orlando, USA ins Leben gerufen.
Harry Palmer war zuvor seit 1972 für die Scientology-Kirche tätig und betrieb eine unabhängige Mission in
Elmira, New York. Palmer trennte sich im Jahr 1985 von Scientology und gründetet sein eigenes, unabhängiges
geistiges Trainingsprogramm und Netzwerk.
Organisation
Palmers Bücher und Kursunterlagen wurden in 20 Sprachen übersetzt und seit 1986 haben etwa 65.000
Menschen weltweit einen Avatar-Kurs absolviert.
Literatur:
Palmer, Harry.7.Auflage 2005. Avatar: Die Kunst befreit zu leben. Bielefeld: Verlag Kamphausen.
Palmer, Harry.1994. Living Deliberately: The Discovery and Development of Avatar. Star’s Edge International.
Palmer, Harry. 1995. Resurfacing: Wiederauftauchen. Techniken zur Erforschung des Bewusstseins. Bielefeld:
Verlag Kamphausen.
Palmer, Harry.1997. Resurfacing: Techniques for Exploring Consciousness. Star’s Edge Creations.
Palmer, Harry.2000. Das Thoughtstorm Handbuch. Eine Evolution des menschlichen Denkens. Bielefeld: Verlag
Kamphausen.
http://de.wikipedia.org/wiki/Harry_Palmer[1]
http://www.avatarepc.de[2]
http://www.avatarepc.com[3]
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Harry_Palmer
[2] http://www.avatarepc.de
[3] http://www.avatarepc.com
4.2.2.2 Philosophie und Praxis
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Philosophie
Um es auf den Punkt zu bringen, kann die Grund-Idee von Avatar folgendermassen ausgedrückt werden:
Jedes Wesen ist Ursprung seiner eigenen Realität, welche durch Überzeugungen erschaffen wird.
"Überzeugung definiert Realitäten, Erfahrung löst sie auf. Dies ist der Kreislauf der Schöpfung. Die Realität ist
das Jetzt, und sie beginnt und endet bei einem selbst! Eine Schöpfung beginnt mit einer Aussage (ursprüngliche
Überzeugung), die eine Realität definiert. Anschließend (oder später) wird sie von dem Schöpfer erfahren. Zeit ist
definiert durch das Intervall zwischen der Äußerung der ursprünglichen Überzeugung und der Schlussfolgerung
aus der Erfahrung.(...) Im Zuge der Auflösung unserer Urteile und Widerstände und der Vertiefung unserer
geistigen Ruhe gewinnen wir die Fähigkeit zurück die grundlegenden Überzeugungen zu erfahren welche die
gesamte Wirklichkeit erschaffen. Wenn wir jeden Zustand, in dem wir uns wieder finden, erfahren, zeigt sich uns
die nächste Ebene der Überzeugungen. Haben wir dann diese Ebene erfahren, erscheint die nächste, und so
weiter. Überzeugungen tauchen in dieser Reihenfolge auf:
Überzeugungen,
Überzeugungen,
Überzeugungen,
Überzeugungen,
Überzeugungen,
Überzeugungen,
Überzeugungen,
Überzeugungen,
welche die Umstände unseres Lebens erschaffen
von Bedürfnissen und Verpflichtungen
von Verantwortung und Inbesitznahme
die Identitäten schaffen
die Zeit entstehen lassen
welche die Natur der Materie definieren
welche die Verhaltensweise von Energie definieren
die Raum entstehen lassen" (aus: Die Kunst befreit zu leben, S. 107-110. 2005).
"Angst ist die Überzeugung von unserer Unzulänglichkeit mit etwas klar zu kommen." (aus: Die Kunst befreit zu
leben, S.92. 2005)
Was ist Avatar?
Avatar befasst sich mit geistigen Schöpfungen, die ihre Grundlage in Überzeugungen haben (Kreationen).
Hierzu zu zählen wären: alles, was Begrenzungen oder Grenzen in Raum, Zeit oder Bewusstsein hat.
Das Avatar-Training befasst sich im Konkreten mit dem Erkennen, Identifizieren und optionalem Auflösen von
Glaubenssystemen und geistigen Begrenzungen. Das Ziel ist eine größere Verbindung und differenziertere
Wahrnehmung der persönlichen Realität. Durch Entwickeln von Fähigkeiten, die die verborgenen
Überzeugungen erkennen lassen, soll eine Wahrnehmung, unverzerrt und frei von Werturteilen, etabliert
werden. Dadurch entsteht die Möglichkeit, die persönliche Realität dauerhaft zu verändern und gleichzeitig im
Frieden mit sich selbst und anderen zu weilen.
Avatar ist demnach ein geistiges Trainingsprogramm, dessen Grundkonzept in einem 9-Tage-Basis Kurs
vermittelt werden kann.
"Die Mission von Avatar in der Welt ist es, die Integration von Glaubenssystemen zu beschleunigen. Wenn wir
wahrnehmen, dass wir uns allein durch unsere Überzeugungen voneinander unterscheiden und dass diese mit
Leichtigkeit erschaffen und ent-schaffen werden können, dann kommt das Spiel von Richtig und Falsch zum
Ende, und der Weltfrieden wird daraus folgen." (Zitat: Harry Palmer: http://www.avatarepc.de[1])
Praxis
Die Praxis des Avatar-Trainings wird in Form von drei aufeinanderfolgenden Kursen vermittelt. Der erste Kurs
besteht aus drei Teilen, dem Resurfacing-Workshop, den Übungen und den Techniken. Der Workshop bietet
allgemeine Vor-Informationen und philosophische Hintergründe von Avatar. In den Übungen bekommt man
Einblicke in die Schöpfungsprozesse und die Fähigkeit, selbst Realitäten zu erschaffen. In den Techniken
sollen die Prinzipien hinter der Auflösung von geistigen Vorstellungen und Glaubensmustern demonstriert und
geübt werden.
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.avatarepc.de
4.2.3 Samarpan
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Foto:
Samarpan
(http://www.wikipedia.org )
"Was auch immer für ein Gefühl der Verstand einsetzt, um dich unter Kontrolle zu halten – solange du bereit bist,
das Gefühl zu fühlen, hat der Verstand keine Chance."
"Wenn du weißt, dass du nicht weißt, ist das Leben ein Abenteuer."
(http://www.samarpan.de/zitate_d.htm[1])
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.samarpan.de/zitate_d.htm
4.2.3.1 Philosophie und Praxis
Samarpan wurde 1941 in San Francisco geboren und lehrt vorwiegend in Deutschland, Österrreich und der
Schweiz als Advaita-Meister. Er wuchs in einer religiösen Familie auf, besuchte ein Priesterseminar und
studierte anschliessend Psychologie. 1981 fand er zum indischen Mytiker Osho[1] und lebte fortan in seinem
Zentrum in Oregon. Von Osho erhielt er auch den Namen Samarpan, was soviel wie Hingabe bedeutet.
Während eines Retreats mit Gangaji realisierte Samarpan mit absoluter Klarheit, dass da niemand ist, keine
Person, kein Ich, niemand, der erleuchtet oder nicht erleuchtet sein könnte, und dass seine individuelle
Persönlichkeit nur aus Konzepten, Meinungen und Vorstellungen besteht, aber in Wirklichkeit nie existiert hat.
Er erkannte, dass diese Abwesenheit einer Person der Frieden ist, nachdem er so lange gesucht hatte. (Vgl.:
http://www.samarpan.de/samarpan_d.htm[2])
Samarpans Belehrungen sind von Klarheit und Humor geprägt. Mit Sensibilität begleitet er die Menschen
durch ihre persönlichen, manchmal leidvollen, Prozesse und erinnert daran, dass es vorwiegend darum geht,
dem rationalen Verstand die Aufmerksamkeit zu entziehen, damit sich die dahinterliegende Wahrheit offenbaren
kann. Hinter der Fassade des dualen, intellektuellen Geistes liegt ein natürlicher, grosser Friede, der in der
Stille und Gegenwart der Meditation erfahren werden kann.
Foto: Satsang mit Samarpan
(http://www.samarpan.de/satsang_d.htm
)
Literatur:
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http://www.samarpan.de/satsang_d.htm[3]
http://de.wikipedia.org/wiki/Samarpan[4]
Samarpan. 2003. Glücklichsein in jedem Moment. Bielefeld: Verlag Kamphausen
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 4.1.3
[2] http://www.samarpan.de/samarpan_d.htm
[3] http://www.samarpan.de/satsang_d.htm
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Samarpan
4.3 Buddhistischer Hintergrund
In den folgenden Kapiteln werden "Neue religiöse Bewegungen"[1] besprochen, die ihre philosophischen
und praktischen Zugänge aus den buddhistischen Lehren beziehen.
Die folgenden buddhistischen neuen religiöse Bewegungen sind überwiegend in Europa entstanden, was
darauf zurückzuführen ist, dass der jeweilige Begründer und Meister aus Asien, im speziellen aus Tibet, fliehen
musste und in einem europäischen Land eine neue Heimat und die Mehrheit seiner SchülerInnen fand. Von
den hier aufgeführten Bewegungen lebt einzig S.N. Goenka, der Begründer und Erneuerer der VipassanaMeditation nach wie vor in Indien. Die Gründer der anderen hier erwähnten religiösen Bewegungen haben ihre
Zentren in Europa und vermitteln die buddhistischen Lehren fast ausschliesslich an eine westliche Zuhörerund SchülerInnenschaft.
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 4
4.3.1 Thich Nhat Hanh
Thich Nhat Hanh gehört zu den bekanntesten und einflußreichsten spirituellen
Lehrern der Gegenwart. Er wurde 1926 in Süd-Vietnam geboren und trat im Alter
von 16 als Novize in den Tu-Hieu Tempel in Hue ein.
Während des Vietnam-Krieges (1964-1975) engagierte er sich für dessen Opfer,
trat gegen die Verletzung der Menschenrechte in aller Welt auf und verurteilte das
atomare Wettrüsten. Thich Nhat Hanh zählt zu den profiliertesten Vertretern der
buddhistischen Friedensbewegung. Seinen Wohnsitz hat er im westlichen Exil, in
Frankreich, wo er das Zentrum "Plum Village" gründete, und in den USA. Von dort
ausgehend ist er besonders in der westlichen Welt bekannt.
4.3.1.1 Tiep
Ein wichtiger Schritt im Leben Thich Nhat Hanhs war 1966 die Gründung des Foto: Thich Nhat Hanh
„Orden des Interseins“. Im Vietnamesischen lautet der Name des Ordens Tiep (http://www.plumvillage.org )
Hien. Das Wort Tiep bedeutet „in Berührung sein mit“ und „fortsetzen,
weiterführen“. Hien bedeutet „verwirklichen“ und “etwas hier und jetzt tun“. Um den Geist des Ordens wie auch
Thich Nhat Hanhs besser verstehen zu können, ist es sehr hilfreich, sich näher mit diesen beiden Begriffen
auseinanderzusetzen.
Tiep bedeutet also in Berührung sein, in Berührung sein mit der Wirklichkeit der Welt und der Wirklichkeit
unseres Geistes.
Mit der Wirklichkeit des Geistes in Berührung sein bedeutet, sich der Vorgänge in unserem Inneren bewußt zu
sein, unserer Gedanken, Emotionen, Wahrnehmungen und geistigen Formationen. Es bedeutet, auch die
wahre Natur unseres Geistes, unseren wahren Geist, den Urquell unseres Verstehens und Mitgefühl
wiederzuentdecken und zu realisieren, daß wir letztendlich niemals von ihm getrennt waren und es nie sein
werden. Sind wir mit unserem wahren Geist in Berührung, ruhen wir in der wahren Natur unseres Geistes, so
werden wir mit Verständnis und Lebenskraft, Weisheit und Mitgefühl erfüllt. Laut Thich Nhat Hanh sind wir dann
in Verbindung mit allen Buddhas, Bodhisattvas und erleuchteten Wesen, die uns den Weg weisen zu
Verstehen, Frieden und Glück.
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Mit der Wirklichkeit der Welt in Berührung sein bedeutet, in Berührung sein mit allen Erscheinungen, allen
Phänomenen der Welt, den menschlichen, tierischen, pflanzlichen und mineralischen. Um wirklich in
Berührung sein zu wollen, müssen wir unsere Überzeugungen, daß wir, unser Ego, das Zentrum sei,
verlassen, um so in der Lage sein zu können allen Menschen, Tieren, Pflanzen, Mineralien, allem was lebt und
existiert, aus einem gesammelten, präsenten, gegenwärtigen und achtsamen Inneren heraus begegnen zu
können.
Tiep, im Sinne Thich Nhat Hanhs, bedeutet also einerseits „in Berührung sein mit unserem Geist und der Welt“,
andererseits auch „etwas fortsetzen oder weiterführen“. Damit meint Thich Nhat Hanh den Erleuchtungsweg
der Buddhas und aller Bodhisattvas, der erwachten und erleuchteten Wesen.
4.3.1.2 Hien
Schließlich bedeutet hien „etwas verwirklichen“, nicht in der Welt der starren Lehrmeinungen und
Vorstellungen zu verharren, sondern die erfahrenen Einsichten im realen, wirklichen Leben Tag für Tag zum
Einsatz zu bringen. Verstehen und Mitgefühl werden so zu einer Wirklichkeit, einer Tatsache in unserem Leben,
man kann sie sehen und fühlen. Doch ist mit Verwirklichung nicht allein unser Handeln gemeint. Zuallererst
muß jede/r Einzelne sich um persönliche und authentische Transformation bemühen, eine Transformation, die
uns schließlich erlaubt, mit der Natur und den Menschen in Harmonie zu sein. Sind wir erst einmal mit der
Quelle des Verstehens und Mitgefühl verbunden, mit der wahren Natur des Geistes, werden sich aller unser
Tun und Handeln ganz selbstverständlich darauf ausrichten, Leben zu schützen, Gerechtigkeit zu leben und
die Lebensqualität zu erhöhen.
Wollen wir Freude und Glück mit anderen teilen, so müssen Freude und Glück zuallererst in uns selbst
vorhanden sein. Wollen wir inneren Frieden, geistige Klarheit, Vertrauen und Hingabe mit anderen teilen,
müssen wir sie zuerst in uns selbst verwirklichen.
Hien bedeutet auch noch „etwas hier und jetzt tun“ und erinnert uns daran, daß nur der gegenwärtige
Augenblick zur Gänze für uns verfügbar ist. Der Frieden und das Glück, nach denen wir alle streben, existiert
nicht in ferner Zukunft irgendwann einmal, sondern wir haben jeden Augenblick ständig die Gelegenheit,
Frieden und Zufriedenheit wirklich zu erfahren. Es ist also die Erkenntnis, daß der Weg das Ziel ist, eine
Erkenntnis, die uns erlaubt, alle Aktivitäten, alles Tun und Denken achtsam und friedlich anzugehen.
Das Verständnis des buddhistischen, spirituellen und geistigen Hintergrunds des von Thich Nhat Hanhs
gegründeten Tiep Hien-Ordens, des Ordens des Interseins, ist maßgeblich und wichtig für ein Verstehen
seiner Lehren und der besonderen Art und Weise, wie er die Lehren Buddhas der westlichen Welt vermittelt
und zu Herzen bringt.
4.3.1.3 Die Rechte Achtsamkeit
In seinem Schaffen verknüpft er in origineller Weise Elemente des Zen-Buddhismus mit solchen des
Theravada-Buddhismus (Vipassana). Der Begriff der Achtsamkeit nimmt in seinen Werken eine zentrale
Stellung ein und meint ein bewußtes Erleben jedes gegenwärtigen Augenblicks, ein Verweilen im Jetzt, eine
klare Bewußtheit bei allen Handlungen. Achtsamkeit ist in diesem Sinne sowohl Mittel als auch Ziel,
gleichzeitig Same und Frucht. Wenn wir Achtsamkeit üben, um zu besserer Konzentration zu gelangen, dann
ist Achtsamkeit der Same. Achtsamkeit ist jedoch das Leben selbst, wo Achtsamkeit herrscht, ist Leben, somit
ist Achtsamkeit auch die Frucht.
Um zu einem grundlegenderen Verständnis der Achtsamkeit im Sinne Thich Nhat Hanhs zu gelangen, wurden
in diesem Zusammenhang zwei seiner Texte genauer untersucht, Das Herz von Buddhas Lehre, Leiden
verwandeln – die Praxis des glücklichen Lebens, sowie Lebendiger Buddha, lebendiger Christus, Verbindende
Elemente der christlichen und buddhistischen Lehren. Als Grundlage verwenden wir das Sattipatthana Sutra
über die vier grundlegenden Aspekte der Achtsamkeit.
Die im Sattipatthana Sutra vermittelte Meditationstechnik war ursprünglich eine spirituelle Technik, bei der die
rein formale und inhaltsneutrale Fähigkeit zum bewußten Beobachten geschult werden sollte. Demnach war sie
eine äußerst nüchterne, für den Geist des älteren Buddhismus sehr typische Übung, die jedoch auch auf
nichtbuddhistische Kontexte leicht übertragbar ist.
Im Laufe der buddhistischen Geistesgeschichte hat die Praxis der vier Konzentrationen der Aufmerksamkeit
jedoch erhebliche Umgestaltungen erfahren, spirituelle Techniken wie die Atembeobachtung oder
Leichenbetrachtung sind miteinbezogen worden.
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In den Hinayana -Schulen beziehen sich die vier Konzentrationen der Aufmerksamkeit in erster Linie auf eine
Betrachtung von Körper, Rede und Geist, alle Gegebenheiten werden als leidvoll, vergänglich und nichtselbsthaft angesehen.
Im Mahayana werden die vier Konzentrationen der Aufmerksamkeit dann zu Betrachtungen der Leerheit und
Unwirklichkeit der Betrachtungsgegenstände weiterentwickelt.
Die Lehre über die vier Konzentrationen der Aufmerksamkeit erweist sich also als ein Spiegel eines großen
Stückes buddhistischer Ideengeschichte, in welchem sich fast alle wichtigen Theorien der verschiedenen
Richtungen des Buddhismus widerspiegeln.
4.3.1.4 Die Sieben Wunder der Achtsamkeit
In seinem Buch „Das Herz von Buddhas Lehre“ vermittelt Thich Nhat Hanh anhand der Sieben Wunder der
Achtsamkeit eine eingehende und grundlegende Perspektive über eine praktische Anwendung der Inhalte des
Sattipatthana Sutras.
Das 1. Wunder der Achtsamkeit ist, daß Achtsamkeit uns zu wirklicher Präsenz verhilft. Auf diese Weise können
wir den blauen Himmel, das Lachen eines Menschen wirklich wahrnehmen und davon berührt werden. Wenn
wir mit wachem, klaren Bewußtsein im Hier und Jetzt verweilen, ist es uns möglich, das jeweilige Phänomen in
seiner Totalität zu erfassen und wirklich zu spüren.
Das 2. Wunder der Achtsamkeit ist, daß Achtsamkeit unser Gegenüber gleichsam präsent machen kann. Nur
wenn wir in Achtsamkeit einem Menschen begegnen, sind wir in der Lage ihn wirklich wahrzunehmen und sein
Wesen zu erfassen. Wenn es uns also gelingt, mit freiem, offenem Geist und Herzen einem Menschen zu
begegnen, so wird es uns auch gelingen, unterschiedliche Aspekte seiner Persönlichkeit wahrzunehmen.
Gleichsam kann unsere uneingeschränkte Präsenz einem Menschen helfen das wache, klare Bewußtsein, das
hinter allen Dingen ruht, auf diese Weise auch in sich selbst zu entdecken und zu empfinden.
Das 3. Wunder der Achtsamkeit ist, daß Achtsamkeit dem Objekt unserer Achtsamkeit Lebenskraft schenkt, ein
Mensch kann Kraft erfahren durch unsere Achtsamkeit ihm gegenüber. Sind wir wirklich achtsam, so werden
wir viele neue und wunderbare Dinge an geliebten Menschen entdecken, seine verborgenen Talente oder
Wünsche.
Das 4. Wunder der Achtsamkeit ist, daß mit Hilfe unserer Achtsamkeit das Leiden in einem anderen Menschen
gelindert werden kann. Wenn ein Mensch leidet und wir mit unserer vollen Aufmerksamkeit für ihn da sind, so
wird ihm das helfen und sein Leid lindern. Diese vier Wunder gehören zum ersten Aspekt der Meditation:
shamatha
Samatha (Pâli, wörtlich "Sammlung") ist eine buddhistische Meditationstechnik, die mit "geistiger Sammlung"
oder "Geistesruhe" übersetzt werden kann. Zuerst muß also der Geist ruhig werden und aus den alltäglichen
Zerstreuungen heraustreten.
Die nächsten drei Wunder der Achtsamkeit gehören zum 2. Aspekt der Meditation: vipassana
Vipassanā bezeichnet eine Meditationstechnik, die einen Geisteszustand kultiviert, der eine besondere Einsicht
in innere mentale Phänomene erlaubt. Es handelt sich hierbei um eine der ältesten Meditationstechniken
Indiens. Das Wort Vipassana bedeutet soviel wie "die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind".
Das 5. Wunder der Achtsamkeit ist Tiefes Schauen. Weil unser Geist nun zur Ruhe gekommen ist, wird uns
Tiefes Schauen möglich, was bedeutet, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Wir sind nun in der Lage
sowohl Gedanken als auch Emotionen als vorübergehende, vergängliche Phänomene zu begreifen.
Das 6. Wunder der Achtsamkeit ist Verstehen. Indem wir zur Ruhe gekommen sind, und tief in die Natur der
Dinge schauen, können wir die Zusammenhänge verstehen. Wenn wir achtsam sind, den gegenwärtigen
Augenblick wirklich berühren, werden wir nun klar wahrnehmen, was wir vorher nur undeutlich gesehen haben.
Wir beginnen zu verstehen, daß wir uns unser ganzes Leben lang mit den Inhalten unseres Geistes, wie
Gedanken, Emotionen und Konzepte, identifiziert haben, und daß diese geistigen Inhalte von einer absoluten
Ebene aus betrachtet leer sind, leer von einem eigenständigen, unabhängigen, aus sich selbst heraus
existierenden Selbst.
Das 7. Wunder der Achtsamkeit ist Transformation, Verwandlung. Wenn wir Rechte Achtsamkeit praktizieren,
berühren wir die heilenden Kräfte des Lebens, und können so beginnen unser eigenes Leid und das unserer
Mitmenschen zu transformieren. Das bedeutet daß nur rechte Achtsamkeit und klares Erkennen der Tatsachen
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die Basis für wirkliche Wandlung bilden.
4.3.1.5 Vier Objekte zum Praktizieren von Achtsamkeit
Im Sutra über die Vier Grundlagen der Achtsamkeit werden Vier Objekte zum Praktizieren von Achtsamkeit
angeführt:
Körper
Empfindungen / Gefühle
Geist
Objekte des Geistes
4.3.1.5.1 Körper
Viele Menschen empfinden ihren Körper nicht als ihr Zuhause, sie vernachlässigen ihren Körper und behandeln
ihn schlecht. Zuallererst muß man deshalb seinen Körper mit Achtsamkeit als sein Heim begreifen, seinem
Körper wirkliche Aufmerksamkeit schenken. Thich Nhat Hanh empfiehlt für unsere Meditation zu Beginn
folgenden Gedanken der unsere bewußte Atmung begleiten soll.
„Ich atme ein und weiß ich bin in meinem Körper. Ich atme aus und schenke meinem Körper ein Lächeln.“
Wenn wir so praktizieren erneuern wir die Bekanntschaft mit unserem Körper und schließen Frieden mit ihm.
Unser Beobachten muß non-dual sein, wir registrieren im Geist unsere Körperhaltung und jede Veränderung in
dieser Haltung, wir üben uns im Reinen Beobachten. Wenn wir gehen, sitzen, liegen oder stehen, wissen wir
daß wir gehen, sitzen, liegen oder stehen.
Weiters versuchen wir jeden Körperteil bewußt wahrzunehmen, vom Scheitel bis zu den Fußsohlen. Hier geht
es um ein bewußtes Registrieren, um ein in Kontakt treten mit allen Körperteilen, allen Organen.
4.3.1.5.2 Empfindungen/Gefühle
In jedem Moment sind wir von Gefühlen und Empfindungen unterschiedlicher Art erfüllt. Gefühle sind
entweder angenehm, unangenehm oder neutral. Wir neigen dazu angenehme Gefühle zu bevorzugen und
sie festhalten zu wollen, unangenehme geringer zuschätzen und sie abzulehnen. Hier geht es darum das
Gefühl bewußt zu registrieren und zu beobachten, wobei es relevant ist, an Gefühlen weder zu haften noch sie
abzulehnen.
„Rechte Achtsamkeit ist wie eine Mutter. Sie liebt ihr Kind immer, egal ob es fröhlich ist oder weint.“
Egal welches Gefühl aufsteigt, begrüßen wir es freundlich, wir bewerten es nicht, kategorisieren nicht in gut
oder schlecht.
“Ich atme ein und weiß ein unangenehmes oder angenehmes Gefühl ist in mir. Ich atme aus und weiß ein
unangenehmes oder angenehmes Gefühl ist in mir.“
4.3.1.5.3 Geist
Inhalt des Geistes sind die psychologischen Phänomene, auch Geistformationen genannt. Das Sutra Über
die Vier Grundlagen der Achtsamkeit nennt 52 geistige Formationen, darunter Begehren, Wut, Nicht- Wissen,
Erregung, Trägheit, Schläfrigkeit, Ruhelosigkeit, Zweifel etc. sowie die jeweiligen Entgegengesetzten Haltungen
wie Freiheit von Begehren, Wut, Nicht-Wissen, Erregung, Trägheit, Schläfrigkeit, Ruhelosigkeit, Zweifel.
Die Übung der Achtsamkeit auf den Geist unterscheidet sich nicht von der Übung der Achtsamkeit auf den
Körper. Man beobachtet achtsam, ohne sich einzumischen, zu bewerten oder zu urteilen, gleichmütig das
Aufsteigen, Verweilen und Abklingen der geistigen Phänomene. Man erkennt sie, schaut tief in sie hinein, um
ihre Substanz, ihre Wurzeln in der Vergangenheit und ihre möglichen Früchte in der Zukunft zu sehen, und
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praktiziert während dieser Betrachtung achtsames Atmen.
4.3.1.5.4 Objekte des Geistes
Gedanken, Konzepte, Bilder, Emotionen, Gefühle, Empfindungen, alles was wir verbal benennen können
ist ein Objekt unseres Geistes. Jede unserer Geistformationen muß ein Objekt haben, auf das sie hin gerichtet
ist. Sind wir wütend, beispielsweise, sind wir auf jemanden oder über etwas wütend.
Die Meditation über die Betrachtung der Wut nach Thich Nhat Hanh gestaltet sich in Ansätzen
folgendermaßen:
„Wenn Wut in mir ist, bin ich mir bewußt: In mir ist Wut. (nicht: ich bin wütend) Wenn keine Wut in mir ist, bin ich
ebenfalls bewußt: in mir ist keine Wut. Wenn Wut in mir aufzusteigen beginnt, bin ich mir dessen bewußt, bin
mir der damit verbundenen Gedanken und des Objektes meiner Wut bewußt. Indem wir unsere Wut achtsam
identifizieren verliert sie an Destruktivität“.
4.3.1.6 Literatur
Thich Nhat Hanh. 1995. Lebendiger Buddha, Lebendiger Christus. Augsburg: Goldmann Verlag Thich Nhat
Hanh. 1988. Das Wunder der Achtsamkeit. Berlin: Theseus Verlag Thich Nhat Hanh. 1998. Vierzehn Tore des
Achtsamkeit. Berlin: Theseus Verlag Thich Nhat Hanh. 1999. Das Herz von Buddhas Lehre. Freiburg Basel
Wien: Verlag Herder
www.plumvillage.org[1]
www.intersein.de[2]
www.rothenfels.de[3]
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.plumvillage.org
[2] http://www.intersein.de
[3] http://www.rothenfels.de
4.3.2 Chögyam Trungpa (Shambhala)
Chögyam Trungpa Rinpoche wurde 1940 in der osttibetischen Provinz Kahm geboren und war ein
buddhistischer Linienhalter der tibetischen Kagyü- und Nyingma-Tradition. Er war der Elfte in der Linie der
Trungpa Tulkus.
Foto: Chögyam Trungpa
Rinpoche
(http://www.shambhala.org/...
)
Nach seiner Endeckung als Tulku wurde Chögyam Trungpa zum Mönch geweiht und erhielt umfassende
Ausbildungen sowohl in der Tradition der Kagyu- wie auch der Nyingma Schule, die die älteste der vier Schulen
des tibetischen Buddhismus ist. Im Jahre 1948 wurde er zum Mönchsnovizen ordiniert und im Alter von 18
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Jahren bekam er die volle Mönchsordination. 1959 hatte er seine grundlegende Ausbildung voll abgeschlossen
und war gezwungen vor der chinesischen Besatzung aus Tibet zu fliehen. Zu Fuß überquerte er den Himalaja
nach Indien, wo er sich in der tibetischen Exilheimat Dharamsala in Nordindien niederließ. Von 1959 bis 1963
war er der geistige Berater der Young Lamas Home School in Dalhousie in Südindien, ein Amt das ihm der 14.
Dalai Lama schon bald nach seiner Ankunft in Indien übertrug.
1963 erhielt er ein Stipendium für ein Studium in England, er verließ Indien und studierte vergleichende
Religionswissenschaften, Philosophie und Bildende Kunst an der Universität von Oxford. Bereits in England
begann er als Lehrer tätig zu werden. Zusammen mit Akong Tulku gründete er das SamyeLing-Meditationszentrum in Schottland, das erste tibetisch-buddhistische Meditationszentrum im Westen.
4.3.2.1 Das Leben Chögyam Trungpa Rinpoches
Eine Reihe verschiedener Erfahrungen, darunter ein schwerer Autounfall, der in teilweise gelähmt hatte,
haben dazu geführt, daß Trungpa Rinpoche seine monastischen Gelübde aufgab und dazu überging als
weltlicher Lehrer zu wirken. 1969 schließlich gab Chögyam Trungpa seine Mönchsrobe zurück und heiratete die
Engländerin Diana J. Pybus. Mit ihr folgte er der Einladung vieler seiner Schüler und siedelte in die USA über.
Die buddhistischen Lehren fanden in den USA großen Anklang. In den kommenden zehn Jahren reiste
Chögyam Trungpa nahezu durchgehend durch Nordamerika um zu unterrichten. In dieser Zeit hat er sechs
Bücher herausgebracht, drei große Praxis-Zentren etabliert, eine Reihe Stadt-Zentren ins Leben gerufen und
die Naropa Universität in Boulder, Colorado gegründet, die erste anerkannte buddhistische Universität in
Nordamerika.
In dieser Zeit hat Trungpa Rinpoche auch die Dachorganisation Vajradhatu gegründet, die ihren Sitz ebenfalls
in Boulder, Colorado hat, und die die Koordinationszentrale für die vielen kleineren Zentren bildet, die weltweit
in westlichen Ländern, unter Rinpoches Anleitung und Unterstützung, entstanden. Vajradhatu steht ebenfalls
in der Linie der Kagyü- und Nyingma-Tradition des tibetischen Buddhismus.
Essenz und Inhalt, sowie die wichtigsten Zielsetzungen der Vajradhatu-Organisation waren die Verbindung
von Meditations-Praxis und Unterricht der buddhistischen Lehren, die in den mehr als hundert StadtZentren angeboten wurden, während die größeren ländlichen Zentren längere, intensivere buddhistische
Retreats und Studienaufenthalte organisierten. Die Studenten lernten, wie buddhistische Meditation ins
alltägliche Leben integriert werden kann.
Chögyam Trungpa Rinpoche war von Anfang an ein hingebungsvoller, einfühlsamer Lehrer, der seine Schüler
dazu ermutigte eine kontemplative, reflektierte Herangehensweise in all ihrem täglichen Tun zu etablieren.
Um Kunst ins alltägliche Leben in
Foundation als Dachorganisation
modernen Disziplinen, die Kunst,
Disziplin bietet einen eigenen Weg,
schaffen.
einer meditativen Art und Weise zu integrieren, rief er 1974 die Nalanda
ins Leben. Nalanda umfaßt heute eine Vielzahl von traditionellen und
Körperarbeit und Wissenschaft mit Meditation zusammenbringen. Jede
Wachheit für die Welt zu entwickeln und Bewußtsein für die Gegenwart zu
4.3.2.2 Die Shambhala-Vision
Als Hintergrund für seine Darstellungen, als Basis die buddhistischen Lehren einer westlichen Welt verständlich
zu machen, entwickelte Chögyam Trungpa Rinpoche ein säkulares Meditations-Programm, das er
Shambhala-Training nannte.
Er benutzt hier die Bilderwelt und Legende des Shambhala-Königreichs, machte aber immer sehr deutlich,
daß er nicht die buddhistischeKalachakra-Lehre über Shambhala heranzog. Das Interesse Rinpoches an den
Shambhala-Lehren ging auf seine Zeit in Tibet zurück, während er der oberste Abt der Surmang-Klöster war.
Schon als junger Mönch studierte er tantrische Texte über das legendäre Shambhala-Reich, über die Wege
dorthin und über dessen innere, mentale Bedeutung.
4.3.2.3 Geschichte eines Mythos
Das Kalachakra-Tantra ist ein spezielles Praxis-System aus der Gruppe der nondualen Yogatantras des
tibetischen Buddhismus.
Kalachakra wurde nach der Überlieferung von Buddha Shakyamuni im Alter von 80 Jahren an der Stupa von
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Dhanyakataka in Südindien gelehrt. Das mit Kalachakra verbundene Praxissystem wurde aber in Indien erst im
Jahre 966 n. Chr. verbreitet und gelangte um das Jahr 1024 nach Tibet. Die Praxis des Gottheiten-Mandala im
Kalachakra-Tantra gilt als eine der höheren tantrischen Meditationpraktiken, die eine schnelle Entwicklung
des Praktizierenden bis zur Erleuchtung in einem Leben ermöglichen soll.
4.3.2.4 Die Lehre nach Chögyam Trungpa
Die Shambhala-Vision gemäß Chögyam Trungpa Rinpoche steht nur marginal mit dem historischen,
legendären Königreich, wie es im Kalachakra-Tantra Erwähnung findet, in Zusammenhang. Zwar beruft
Rinpoche sich in gewisser Weise auf die im Kalachakra enthaltenen Lehren, doch finden sie in seinen
Unterweisungen eine säkulare, non-theistische Auslegung.
Grundsätzlich geht es Rinpoche um die Idee und Realisierung einer erleuchteten Gesellschaft, die der
Würde der menschlichen Erfahrung Ausdruck verleiht. Eine „erleuchtete Gesellschaft“, welche spirituelle Vision
und meditative Übung mit den praktischen Anforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens vereint,
liefert die Grundlage für ein erfülltes persönliches Leben und eine blühende Kultur. Trungpa etablierte in
diesem Zusammenhang eine praktische, weltliche Lehre, die jenseits religiöser Vorstellungen und Dogmen in
erster Linie für Menschen aus dem Westen zugeschnitten ist. Auf diese Vision bezog sich Trungpa Rinpoche,
wenn er von „Shambhala“ sprach.
„Die Shambhala-Lehre geht davon aus, daß es eine tiefe menschliche Weisheit, mit der die Probleme der Welt
überwunden werden können, tatsächlich gibt. Und diese Weisheit gehört weder einer bestimmten menschlichen
Kultur oder Religion, noch stammt sie nur aus dem Osten, oder nur aus dem Westen: Es ist die Tradition
menschlicher Kriegerschaft, für die es aus allen Zeiten und vielen Kulturen Zeugnisse gibt.“ (Aus: Chögyam
Trungpa, Das Buch vom meditativen Leben, S.23)
4.3.2.4.1 Der ursprüngliche Punkt - Die fundamentale Gutheit
Der ursprüngliche Punkt ist die fundamentale Reinheit, das grundlegende klare Gutsein, das jedes Wesen
besitzt. Nachdem dieser Punkt keinen Bedingtheiten unterliegt, ist er weder von äußerlichen Einflüssen, noch
von psychischen oder physischen Veränderungen beeinflußbar. Er ist frei von den positiven oder negativen
Erfahrungen eines Menschen, und kann im Grunde weder von geistiger Verwirrung, negativen
Geisteszuständen oder emotionalen Verfassungen, noch aber von positiven geistigen Zuständen in irgendeiner
Weise getrübt, verdunkelt oder beeinflußt werden.
4.3.2.4.2 Die Praxis der Sitzmeditation
Die Basis für die erwähnte Einsicht in oder Erkenntnis des ursprünglichen Punktes oder der grundlegenden
Gutheit bildet eine gewisse Wertschätzung, Sanftheit und zartfühlende Nachsicht gegenüber uns selbst. Es
geht hier um die Entwicklung einer guten, sich selbst schätzenden, sich selbst liebenden Haltung, einer
grundlegenden Wertschätzung gegenüber sich selbst, die das Fundament für die Wertschätzung und den
Respekt gegenüber anderen bildet. Die Entwicklung jener Sanftheit kann in der Praxis der Sitzmeditation
erfahren werden, die grundlegende Achtsamkeits-Meditation, die der Buddha vor über 2500 Jahren lehrte. Die
Übung der Meditation dient dazu, sich seines Geisteszustandes gewahr zu werden, geistige Muster direkt zu
erfahren und bewußt zu machen.
Chögyam Trungpa Rinpoche empfiehlt in seinem Shambhala-Training diese einfache stille AchtsamkeitsMeditation, bei der der Atem das Objekt der Meditation bildet. Durch die Übung der Sitzmeditation werden
Achtsamkeit und Bewußtsein geschult, Konzentration, wie auch Disziplin werden gezielt geübt. Mit dieser
Methode kann man sich selbst schulen ganz einfach und normal zu sein, um in Weite, Toleranz und
Unvoreingenommenheit auftauchende Gedanken wahrzunehmen, ohne an angenehmen Gedanken und
Emotionen zu haften oder unangenehme Gedanken und Emotionen abzulehnen oder zu verurteilen. Beim
stillen Sitzen, indem man neutral dem Atem folgt, ist es möglich, eine Verbindung zu seinem Herzen
herzustellen. Kriegerschaft gemäß Chögyam Tungpas bedeutet direkt mit unserer Situation zu arbeiten, so wie
sie jetzt ist. Der erste Schritt zur Erfahrung des grundlegenden Gutseins besteht demnach in der Würdigung
dessen, was wir haben. Rinpoche erwähnt in diesem Kontext den buddhistischen Terminus Bodhichitta, das
Herz des erwachten Geistes, eine grundlegende Wertschätzung des menschlichen Potentials, sowie die
Bereitschaft und den Mut dieses Potential zu erkennen und zu verwirklichen. Essentiell ist eine authentische,
ehrliche Begegnung mit sich selbst, die Bereitwilligkeit sowie der Entschluß sich seine eigene Traurigkeit und
Frucht einzugestehen, um schlußendlich diese Trauer und Angst zu überwinden und zu transzendieren.
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4.3.2.5 Die Shambhala-Zentren
Basierend auf seiner Ausarbeitung und Adaptierung der Shambhala-Lehren hat Chögyam Trungpa und dann in
weiterer Folge sein Sohn Sakyong Mipham Rinpoche der 1963 in Bodhgaya, Indien, geboren wurde, weltweit
Meditationszentren gegründet, die das Ziel haben die buddhistischen Lehren in einen säkularen, weltlichen
Zusammenhang zu bringen, um sie Menschen ohne spezifisch buddhistisch-religiösem Hintergrund nahe zu
bringen. Die Shambhala-Zentren vereinen eine Gemeinschaft von Praktizierenden, die sich an den
traditionellen buddhistischen Belehrungen und den Shambhala-Lehren über eine erleuchtete Lebensführung
orientiert. In diesen Weg werden weitere kontemplative Disziplinen integriert.
Das Herzstück des Shambhala-Trainings, wie es in den Zentren gelehrt wird, ist die Praxis der Sitzmeditation.
Mit Hilfe der Achtsamkeits/Gewahrseinspraxis die in Shambhala-Trainingsprogrammen gelehrt wird, ist man
in der Lage, seinen eigenen Geisteszustand genau zu betrachten, ohne den Versuch, ihn in irgendeiner Weise
zu verändern. Diese Praxis unterstützt die Fähigkeit, sich in jedem einzelnen Moment für sich selbst und seine
Umwelt zu öffnen. Wenn man sich dieser Offenheit verpflichtet, wird das Leben eine Reise, die Wachheit und
Wahrhaftigkeit offenbart. Die Shambhala-Lehren besagen, daß keine Religion oder Doktrin einen Anspruch auf
die Menschen innewohnende Weisheit und grundlegende Gutheit erheben kann. Jeder spirituelle Pfad kann
wertgeschätzt und praktiziert werden.
4.3.2.6 Literatur
Chögyam Trungpa. 1999. Shambhala: The Sacred Path of the Warrior. Boston: Shambhala
Chögyam Trungpa. 1995. Das Buch vom meditativen Leben. Hamburg: Rowohlt
Chögyam Trungpa. 2004. Grosse Östliche Sonne: Die Weisheit von Shambhala. Freiamt: Arbor
Chögyam Trungpa. 1989. Spirituellen Materialismus durchschneiden. Berlin: Theseus
http://www.shambhala.org[1]
http://www.shambhala.com[2]
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.shambhala.org
[2] http://www.shambhala.com
4.3.3 Sogyal Rinpoche
Leben und Lehre
Sogyal Rinpoche wurde 1948 in Kham, Tibet, geboren und gilt als die
Inkarnation Tertön Sogyal Lerab Lingpa, einem Lehrer des 13. Dalai Lama. Er
ist tibetischer Meditationsmeister und Dzogchen-Lehrer[1] der NyingmaTradition[2] des tibetischen Buddhismus. Sein Meister und Lehrer war der
berühmte Jamyang Khyentse Chökyi Lödrö, der als einer der bedeutendsten
Meister des tibetischen Buddhismus im 20. Jahrhundert gilt. Bereits im Alter
von sechs Jahren kam Sogyal ins Kloster von Chökyi Lödrö in der Provinz
Kham.
1971
ging
Rinpoche
nach
England,
studierte
Vergleichende
Religionswissenschaft und begann bereits die Lehren des tibetischen
Buddhismus zu unterrichten. Mitte der siebziger Jahre wird das spirituelle
Netzwerk rigpa gegründet, 1991 der Retreat-Zentrum Lerab Ling in der
Nähe von Montpellier in Südfrankreich. 1992 wurde Rinpoches "Tibetische
Buch vom Leben und vom Sterben" veröffentlicht, das mittlerweile in mehr
als 30 Sprachen übersetzt und in annähernd 60 Ländern 2 Millionen Mal
verkauft wurde. Es wird an Hochschulen sowie in medizinischen, sozialen
Berufen und Institutionen eingesetzt und von Ärzten, Pflegepersonal und
anderen Berufstätigen im Gesundheitswesen intensiv genutzt. Im Jahre 2000
war Seine Heiligkeit der XIV. Dalai Lama zu Gast in Lerab Ling um zu
Foto: Sogyal Rinpoche
(http://www.rigpa.de )
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unterrichten und 2006 wurde der Tempel in Lerab Ling endgültig fertiggestellt und einer authentischen
tibetisch- buddhistischen Einweihung unterzogen.
Sogyal
Rinpoche versteht
es in
einleuchtender und herzlicher Klarheit die
Lehren, im besonderen der NyingmaSchule,[3] des tibetischen Buddhismus,
einer, vor allem, westlichen HörerInnenund SchülerInnenschaft zugänglich und
verständlich zu machen. Im Mittelpunkt
seiner Belehrungen steht die Praxis des
Buddhismus, praktisches Geistestraining
in Form von Meditation oder tantrischer
Praktiken soll vermittelt werden und die
Relevanz dessen im Verständnis der
Philosophie
des
Buddhismus
soll
nachvollziehbar gemacht werden.
"Rigpa ist ein tibetisches Wort, das im
Allgemeinen
‚Intelligenz‘
oder
‚Gewahrsein‘ bedeutet. Im Dzogchen
Foto: Der tibetisch-buddhistische Tempel Lerab Ling in Südfrankreich
jedoch, den höchsten Lehren der
(http://www.rigpawiki.org/index.php?title=Lerab_Ling )
buddhistischen Tradition Tibets, hat Rigpa
eine tiefer gehende Bedeutung: ‚die
innerste Natur des Geistes‘. Die gesamten Lehren des Buddha dienen dem Ziel, diese unsere letztliche Natur,
den Zustand der Allwissenheit oder der Erleuchtung, zu erkennen und zu verwirklichen – eine Wahrheit, die so
grundlegend und universell ist, dass sie über alle Begrenzungen und sogar über Religion selbst hinausgeht."
(vgl.: http://www.rigpa.de/index.php?id=3[4])
Literatur:
Rinpoche, Sogyal. 2004. Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben: Ein Schlüssel zum tieferen
Verständnis von Leben und Tod. Frankfurt am Main: Fischer Tb.
Rinpoche, Sogyal. 2006. Funken der Erleuchtung: Buddhistische Weisheit für jeden Tag des Jahres. Frankfurt
am Main: Fischer Tb.
http://www.rigpa.de/[5]
http://www.rigpa.org/Home.html[6]
http://www.lerabling.org/[7]
http://www.rigpa-zentrum-berlin.de/[8]
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.2.3.2
[2] Siehe Kapitel 3.2.3.1
[3] Siehe Kapitel 3.2.3.1
[4] http://www.rigpa.de/index.php?id=3
[5] http://www.rigpa.de/
[6] http://www.rigpa.org/Home.html
[7] http://www.lerabling.org/
[8] http://www.rigpa-zentrum-berlin.de/
4.3.4 Dzogchen-Community
Leben und Lehre
Chögyal Namkahi Norbu, geboren 1938 im Dorg Derge, Kham, Tibet, gilt als einer
der bekanntesten lebenden Dzogchen[1]-Meister und wurde bereits im Alter von
drei Jahren als Inkarnation mehrerer grosser Meister anerkannt. Nach seiner
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Foto: Namkhai Norbu vollständigen Ausbildung in Tibet und dem Abschluss mehrerer akademischer
Studien, wie Medizin und Astrologie, erhielt er umfassende Belehrungen aller vier
Rinpoche
grossen Schulen
des tibetischen Buddhismus[2]. 1958 musste er aus Tibet nach
)
(http://www.dzogchencommunity.org
Sikkim fliehen, wo er bist 1960 lebte als er schliesslich, Dank seiner fundierten
Kenntnisse aller Aspekte der tibetischen Kultur, von Prof. Tucci nach Italien einladen wurde am ISMEO Institut
(Instituto Italiano per il medio ed estremo Oriente) in Rom zu unterrichten.
1971 begann Norbu Rinpoche Yantra Yoga zu unterrichten, eine alte Form des tibetisch-buddhistischen Yogas,
welche Bewegung, Visualisation und Atmung kombiniert. Einige Jahre später begann er bereits DzogchenBelehrungen an kleine Gruppen von SchülerInnen zu geben. Das Interesse an seinen Unterweisungen wuchs
zunehmend, Rinpoche widmete sich demnach verstärkt der Verbreitung der Dzogchen[1]-Lehren und begann
sogenannteGars zu gründen, weltweit verteilten Sitzen der Dzogchen Community. Heute gibt es solche Gars
in Italien, Rumänien, den Vereinigten Staaten, Venezuela, Argentinien und Australien. Zusätzlich gründete er
das internationale Shang- Shung Institut und ASIA. Ziel des Shang-Shung Instituts ist die Bewahrung des
kulturellen Reichtums von Tibet. ASIA ist eine gemeinnützige Hilfsorganisation, deren Ziel es ist, medizinische
und schulische Versorgung vor allem für die Bevölkerung Tibets zu ermöglichen.
Dzogchen-Lehren nach Namkhai
Norbu Rinpoche
Die 6 Vajra-Verse
"Die vielfältigen Erscheinungen sind
ihrer Natur nach nicht-dual.
Dennoch, ist jede einzelne in ihrem
eigenen Zustand, jenseits jder
Beschreibung.
Der Zustand < so wie es ist > kann
mit Worten nicht erklärt werden,
dennoch, was auch immer erscheint,
ist gut.
Da alles bereits vollendet ist, lassen
wir Krankheit und Anstrengung hinter
uns
und
finden
uns
im
vollkommenen Zustand:
Kontemplation."
spontan
Das ist
Foto: Merigar Gompa, Italien
(http://www.lemacinaie.com/ )
(Norbu, 1999: 101)
Literatur:
Norbu, Namkhai. 1999. Spiegel des Bewusstseins. Die Essenz des tibetischen Buddhismus. München:
Diederichs.
Norbu, Namkhai. 1998. Traum-Yoga. Der tibetische Weg zu Klarheit und Selbsterkenntnis. München:
O.W.Barth
Norbu, Namkhai. 1999. The Supreme Source: The Fundamental Tantra of the Dzogchen Semde. Ithaca, NY:
Snow Lion Publications
http://www.dzogchen.de/popup_biografie/[4]
http://www.ssi-austria.at/[5]
http://www.asia-ngo.org/[6]
http://www.dzogchen.it/[7]
http://www.dzogchen.at/[8]
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http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...
http://www.youtube.com/watch?v=UHmaBRlmYNw[9]
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.2.3.2
[2] Siehe Kapitel 3.2.3
[3] Siehe Kapitel 3.2.3.2
[4] http://www.dzogchen.de/popup_biografie/
[5] http://www.ssi-austria.at/
[6] http://www.asia-ngo.org/
[7] http://www.dzogchen.it/
[8] http://www.dzogchen.at/
[9] http://www.youtube.com/watch?v=UHmaBRlmYNw/
4.3.5 Vipassana / S.N. Goenka
Leben und Lehre
"The only way to experience truth directly is to look within, to look inwardly, to observe
oneself. All of our lives we have been accustomed to look outside. We have always
been interested in what is happening outside, in what others are doing. ... Therefore we
remain unknown to ourselves. This inner darkness must be dispelled to apprehend the
truth. We must gain insight into our own nature in order to understand the nature of
existence. Therefore the path that the Buddha showed is a path of introspection, of
self-observation."
(Hart, 1987: 16)
Satya Narayan Goenka kam Foto: Satya Narayan
1924 in Mandalay, Nordburma, Goenka
als Kind indischer Eltern zur (http://www.dhamma.org
Welt. Er ist ein führender Lehrer
und Erneuerer des VipassanaMeditation[1] , einer der wichtigsten und bekanntesten
Meditationslehren des Buddha. Er wuchs als Hindu auf,
wurde bereits sehr früh ein erfolgreicher Geschäftsmann
und Vorsitzender der indischen Gemeinde Burmas.
Goenka litt unter heftigen, immer wieder kehrenden
Migräneanfällen und so suchte er nach einem Weg sich
davon zu befreien. Er kam in Kontakt mit Sayagyi U Ba
Khin, einem der obersten Staatsbeamten des Landes und
Foto: Dhammagiri Vipassana Pagoda, Mumbai, Indien Begründer eines Meditationszentrums in Rangun.Goenka
(http://www.indianetzone.com/ )
studierte viele Jahre unter U Ba Khin und wurde zu einem
seiner prominentesten Schüler. 1969 zog Goenka
zusammen mit seiner Frau nach Indien und eröffnete in Mumbai das erste Vipassana-Meditationszentrum,
Dhammagiri. Goenka leitete seitdem hunderte von Meditationskursen und gründete an die 130 Zentren, die
ausschliesslich der Verbreitung der Vipassana-Meditationstechnik dienen.
Literatur:
Hart, William. 1987. The Art of Living. Vipassana-Meditation as taught by S.N.Goenka. San Francisco: Harper
Collins
Hart, William. 2006. Die Kunst des Lebens. Vipassana-Meditation nach S.N.Goenka. Frankfurt: Dtv
Goldstein, Joseph. 1999. Vipassana Meditation. Die Praxis der Freiheit. Arbor-Verlag
http://www.german.dhamma.org/[2]
http://www.dhamma.org/[3]
http://www.vri.dhamma.org/general/dhammagiri.html[4]
http://www.vri.dhamma.org/general/goenka.html[5]
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Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 4.3.1.3
[2] http://www.german.dhamma.org/
[3] http://www.dhamma.org/
[4] http://www.vri.dhamma.org/general/dhammagiri.html
[5] http://www.vri.dhamma.org/general/goenka.html
5 Transformationen in afrikanischen Religionen
Am konkreten Beispiel des Òrìsà/Vodun-Komplexes sollen hier die
vielschichtigen historischen Transformationen nachgezeichnet werden:
• von einer ursprünglich ethnischen Religion Westafrikas
• über verschiedenste Ausformungen Neuer Religionen in Afroamerika
• bis hin zur neuesten Entwicklung in Richtung einer Weltreligion
• und den Cyber-Transformationen des 21. Jahrhunderts.
Aufgrund ihrer weltweiten Verbreitung spricht man jüngst auch von einer
Yoruba- Weltreligion. Tatsächlich ist seit 2005 der von der österreichischen
Künstlerin Susanne Wenger renovierte heilige Hain der Osun in
Osogbo/Nigeria zum UNESCO-Welterbe und das Ifá-Orakel des Òrìsà
Òrúnmìlà zum UNESCO-Meisterwerk der Menschheit ernannt worden.
Abbildung: Logo der
Expressions Homepage
(http://www.culturalexpressions.com/ )
Cultural
Auf diese Weise wird die dynamische Natur religiöser Kultur einer
afrikanschen Religion sichtbar gemacht, die das Transformierte immer wieder erneut transformiert —
entsprechend neuer gesellschaftlicher Kontexte und kultureller Prozesse von Globalisierung — Transforming
the Transformed!
5.1 Afrikanische Traditionelle Religionen (ATR)
Die ethnischen Religionen Afrikas werden vor allem in der englischsprachigen Welt mit dem Dachbegriff
"African Traditional Religion" (ATR) bezeichnet. Sie umfassen eine Vielzahl von religiösen Traditionen, die es
in den verschiedensten Ausprägungen im Sub-Saharischen Afrika gibt.
Unter ihnen sind wohl die westafrikanischen Religionen der Yorùbá und der Fõ am bekanntesten geworden,
da sie viele neue Religionen in Afroamerika hervorbrachten, die heute auch „Orisha/Vodou -Komplex“
genannt werden.
Dieser Ausdruck „Orisha/Vodou -Komplex“ wurde erst in jüngster Zeit als Überbegriff für die vielen regionalen
Ausformungen der afrikanischen und afroamerikanischen Religionen geprägt, deren Ursprung in den Yorùbá
-Kulturen Südwest-Nigerias (òrìsà) und Fõ -Kulturen Dahomeys und Togos (vodu) in Westafrika liegt (vgl.
Kubik 1996).
Bei den Orishas wie bei den Vodus bzw. Lwas handelt es sich um transzendent/immanente spirituelle
Wesenheiten, deren kulturspezifische Konzepte mangels adäquater Entsprechungen nur schwer in westliche
Sprachen übersetzt werden können. So wurden sie bislang auf Deutsch meist als Götter bzw. Gottheiten
übersetzt.
Über die universelle Dimension der Orisha sagt Ulli Beier (1991) in einem Interview: „Der Òrìsà ist nicht —
wie der Heilige der Katholiken — ein Mittler zwischen Gott und den Menschen. Er ist Teil Gottes, ein Aspekt
Gottes ... Die Yorùbá beherzigen die Tatsache, dass die Menschen vom Wesen her individuell verschieden sind
und folglich jeder wieder auf andere Aspekte des göttlichen Wesens anspricht. Jeder soll den Òrìsà verehren,
der zu seiner eigenen Persönlichkeit passt. Der Òrìsà ist dem Jung’schen Archetyp vergleichbar; die Anbetung
des richtigen Òrìsà verhilft dem Gläubigen zur Definition und Stärkung der eigenen Identität. Sehr komplexe
Persönlichkeiten können mehr als einem Òrìsà verbunden sein. Diese Grundauffassung geht einher mit großer
Toleranz gegenüber dem Glauben anderer, auch außerhalb der Yorùbá -Religion. Sowohl der christliche als
auch der moslemische Gott waren beide ursprünglich als weitere Òrìsà willkommen, als neu entdeckte Aspekte
Gottes.“
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Nach der Auslegung von Susanne Wenger (jener österreichischen Künstlerin, die in den 1950er Jahren die
Initiative zur Renovierung der Heiligen Haine von Oshogbo/Nigeria ergriff und selbst in die Òrìsà -Religion der
Yorùbá initiiert wurde) sind Òrìsà „exzessiv individualisierte sakral zielgerichtete Potentiale von elementar
spirituell befruchtenden Kräften,,Götter‘, die wir aus innerer Schau der Sinne kennen und begegnen ... Die
,Götter‘ leben. Auch sie sind den Dimensionen der Zeit unterworfen, dem,Formgefühl‘ der Ära des
Erkennenden entsprechend. Die spirituellen Räume des inspirierten Bewußtseins sind geprägt durch
,Modernität‘ — heilige und profane. Da das Sein der,Götter‘ Elementar-Wahrheit- Form-Individuation und als
solche intensives Leben manifestiert, repräsentieren sie die Wirklichkeit an sich“ (Wenger, in Denk 1995: 18f).
5.2 Afrikanische Diaspora Religionen (ADR)
Es gibt eine Vielzahl gegenwärtig stark an Bedeutung
gewinnender religiöser Traditionen in den Amerikas,
deren unverwechselbare Spiritualität ihre Wurzeln in
Afrika hat. Aufgrund komplexer Prozesse des Kontaktes
zwischen verschiedenen afrikanischen Religionen und
kolonialem Katholizismus wurden sie in der älteren
Literatur oft als synkretistische Kulte bezeichnet.
Dieser Begriff wurde von Melville J. Herskovits
vorgeschlagen für die von ihm in afroamerikanischen
Kulturen beobachtete und beschriebene intensive
Vermischung von afrikanischen religiösen Inhalten
mit christlichen Formen. Vor allem in katholischen
Ländern kam es dort häufig zu einer Identifizierung von
Heiligen der Kirche mit afrikanischen Gottheiten und zur
Neudeutung
der
beiden
Quellen
religiöser
Inspiration . Dadurch bildeten sich schließlich neue
Religionsformen.
Heute werden diese meist unter dem Dachbegriff
Afrikanische Diaspora Religionen oder auf englisch
African-Derived Religions (ADR) zusammengefasst.
Sie standen in der Vergangenheit in erster Linie für den
gemeinschaftlichen kulturellen Widerstand in einer
Situation der Unterdrückung durch Machtapparate
europäischer Kolonialmächte. Heute bieten sie ihren
Anhängern zusätzlich zur religiösen Inspiration und
therapeutischen Praxis auch ein afrikanisches Modell
der
Persönlichkeitsbildung
und
kosmischen
Abbildung.: Logo der Wiener Karibik-Tagung 1990 über Eingliederung an.
afrikanisch-karibische Religionen sowie der Buch-Trilogie
Dem gegenwärtigen Trend zur Re-Afrikanisierung
Kulte/Cults, Voodoo, Rastafari
afroamerikanischer Religionen steht gleichzeitig eine
(designed by Wittigo Keller © 1990)
Popularisierung durch das globale Medium des Internet
seitens führender Repräsentanten gegenüber.
Zu den bedeutendsten afroamerikanischen Religionen in Brasilien zählen heute Umbanda , Candomblé ,
Macumba , Xangô und Batuque . Im karibischen Raum Vodun in Haiti; Regla Ocha (Santería) und Palo
Monte sowie Abakuá in Kuba; Rastafari , Kumina und Revivalists in Jamaica; Shango und Spiritual Baptists
in Trinidad & Tobago; Kélé in St. Lucia; Maria Lionza in Venezuela, sowie die Maroon - Religionen in Surinam.
In den USA dominieren, neben Hoodoo in Louisiana, vor allem die Schwarzen Kirchen.
Viele dieser religiösen Traditionen erlangten im 20. Jhdt. internationale Bedeutung. Durch
Migrationsbewegungen entstehen laufend neue Zentren afrokaribischer Kultur in den Metropolen der USA
(Brown 1991) und Kanadas, wie auch in Südamerika und Europa, die zunehmend mehr Anhänger aus der
weißen Mittelschicht anziehen.
Im 21. Jahrhundert wird dieser Prozess durch den neuen virtuellen Raum des Cyberspace noch gefördert.
Insbesondere die PriesterInnen des Vodou und der Santería nutzen diesen Raum für die Präsentation ihrer
Websites, die potentiell die gesamte Weltöffentlichkeit als Publikum haben. So transformieren sie erneut die
bereits historisch transformierten afrikanischen Traditionen in eine neue Form globaler Ritualkultur. Diese
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Cybertransformationen legen den Grundstein für eine afrikanische digitale Diaspora Religion der Zukunft
(Kremser 2001b; 2003).
Im Folgenden wird ein kompakter Überblick über die afroamerikanischen Religionen, insbesondere in der
Karibik ermittelt. Dabei werden einerseits die großen Entwicklungslinien ihres historischen
Entstehungsprozesses und ihre Beziehungen zu den afrikanischen Ursprungsreligionen skizziert.
Andererseits wird die heute gelebte Praxis afrokaribischer religiöser Kultur anhand ausgewählter
??????????????????
5.2.1 Kontinuitäten und Diskontinuitäten
Im Rahmen der afroamerikanischen Kulturforschung gibt es kaum Vorgänge, die schwerer zu fassen sind als
die historischen Veränderungen in der Wahrnehmung und Interpretation verpflanzter afrikanischer
Religionen — insbesondere im Hinblick auf die komplexen Prozesse von Kontinuität und Diskontinuität in der
Neuen Welt (Mintz/Price 1976).
In der Diaspora war die Religion einer der wichtigsten Faktoren, der die institutionalisierte Neugruppierung
von afrikanischen Menschen erlaubte. Die so entstandenen Gemeinschaften wurden schließlich zu Zentren
des kulturellen Widerstandes gegen die politisch und wirtschaftlich dominanten Kolonialmächte und bildeten
fortan den sichtbarsten Ausdruck kultureller Identität auf der Basis afrikanischer Spiritualität.
Die Frage nach den afrikanischen Wurzeln in der religiösen Kultur der afrikanischen Diaspora führt uns direkt
zum Problem der Suche nach Identität als eine der brennenden Fragen afroamerikanischer Psychologie und
Ontologie. Die Identität wiederum bezieht sich auf die Tradition(en), der sich Menschen zugehörig fühlen und
auf die sie sich beim Versuch, sich in das kulturelle Mosaik der Welt einzuordnen, rückbinden.
Die afroamerikanischen Gesellschaften sind hinsichtlich ihrer Identität sehr ambivalent. Als neue
Gesellschaften können sie sich folglich nur schwer direkt an irgendeine alte kontinuierliche Tradition anbinden.
Verglichen mit der Entwicklung anderer Gesellschaften charakterisieren sie sich durch eine relativ starke
Diskontinuität — bedingt durch die historischen Prozesse des atlantischen Sklavenhandels und dessen
Auswirkungen auf seine Opfer (Alleyne 1990:107).
Diejenige Tradition, der sich der überwiegende Teil der Bevölkerung Afroamerikas gerade in existentiellen und
spirituellen Fragen am ehesten zugehörig fühlt, ist die „afrikanische“. So können z.B. viele spezifische Formen
der religiösen Kultur durch komplexe Prozesse von Kontinuität, Diskontinuität, Synkretismen,
Reinterpretationen, etc. eindeutig mit Afrika in Verbindung gebracht werden — obwohl natürlich die ebenso
massiv vorhandenen Einflüsse der abendländisch- christlichen Kulturen, bedingt durch ihre öffentliche
Dominanz, oft die Sicht darauf verstellen mögen (Kremser 1992).
5.2.1.1 Die Metapher der Vase
Es ist sicherlich kein Zufall, dass gerade im viel beachteten Amerika-Gedenkjahr 1992 der Literaturnobelpreis
einem karibischen Schriftsteller zuerkannt wurde, dessen literarisches Werk das Ringen einer ganzen Region
verdichtet, sich nach Jahrhunderten gewaltsam herbeigeführter Entfremdung von der Urheimat Afrika neu zu
definieren. Dabei wird der Ruf nach Restaurierung dieser „geborstenen Geschichte“ afrikanischer
Menschen in der Diaspora oft in einer Weise vorgetragen, welche die existentielle Tiefe des Anliegens deutlich
vor Augen führt. In seiner Nobelpreis-Rede „Die Antillen: Fragmente epischen Erinnerns“ greift Derek Walcott
(1993:10f) zu einer anthropologischen Metapher:
„Zerbrich eine Vase, und die Liebe, welche die Fragmente wieder zusammenfügt, ist stärker als jene Liebe, die
ihre Symmetrie für selbstverständlich hielt, als sie noch heil war. Der Kleber, der die Stücke wieder einpasst,
besiegelt ihre ursprüngliche Form. Solch eine Liebe ist es, die unsere afrikanischen und asiatischen Fragmente
wieder zusammenfügt, die zerbrochenen Erbstücke, deren Restaurierung ihre weißen Narben zeigt. In diesem
Einsammeln zerbrochener Stücke besteht die Sorge und der Schmerz der Antillen, und wenn die Stücke einander
unähnlich, nicht passend sind, dann enthalten sie mehr Schmerz als ihre ursprünglichen Skulpturen, jene Bilder
und heiligen Gefäße, die an den Wohnorten ihrer Vorfahren als selbstverständlich gegolten hatten. Die Kunst der
Antillen besteht in dieser Restaurierung unserer geborstenen Geschichte, der Scherben unseres Vokabulars, und
unser Archipel wird zu einem Synonym für Stücke, die vom ursprünglichen Kontinent abgebrochen worden sind.“
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5.2.2 Afrikanischer Ursprung — amerikanisches Amalgam
Die meisten afroamerikanischen Religionen sind ein Amalgam verschiedener religiöser Traditionen, die aus
drei Kontinenten stammen: Amerika, Afrika und Europa. Dieses Amalgam begann im Jahre 1492 mit der
Ankunft von Kolumbus in der „Neuen Welt“ und der Gründung der ersten europäischen Siedlungen auf
Hispaniola. Dort stießen die Siedler auf amerindische Bevölkerungsgruppen, die ursprünglich von den Taino
Südamerikas abstammten. Obwohl diese indigenen Bevölkerungsgruppen durch importierte Krankheiten und
Zwangsarbeit binnen weniger Jahrzehnte dezimiert wurden, haben viele ihrer religiösen Traditionen bis zum
heutigen Tag überlebt. So z.B. finden sich einige Mythen und Namen indianischer Schutzgeister („protector
spirits“) der Kariben, Ciboney und Arawaken in den Theologien der kubanischen Santería, der brasilianischen
Umbanda, sowie auch des puertorikanischen Espiritismo.
Der drastische Rückgang der indianischen Bevölkerung veranlasste die Europäer, nach neuen Arbeitskräften
Ausschau zu halten. Dies führte zur größten Massendeportation in der Geschichte der Menschheit, in deren
Zuge geschätzte 11,7 Millionen Menschen afrikanischer Provenienz in den Amerikas als Sklaven verkauft
wurden. Die Mehrheit der Sklaven, die in die Karibik verschleppt wurden, kam aus weitläufigen geographischen
Gebieten Westafrikas — von Benin und Nigeria bis hin zur Kongo/Angola Region Zentralafrikas. Das einzige,
was sie in die Neue Welt mitbringen konnten, waren ihre kulturellen und religiösen Traditionen. Diese ließen sie
in das Gewebe des kulturellen und religiösen Lebens in ihrer neuen Heimat einfließen. So wurde jenes
kulturelle Amalgam geformt, welches eine unauslöschliche Spur in den Religionen der Region hinterlassen hat.
Nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart wird in vielen afrokaribischen Gemeinschaften
die Rückbesinnung auf „Mutter Afrika“ wieder ins Zentrum gestellt. So kommt es zu einem erneuten
Austausch und einer wechselseitigen Beeinflussung — ein Prozess in beide Richtungen, den es laut Pierre
Verger (1968) schon zur Zeit der Sklaverei gab und den er als Flux-Reflux Bewegung bezeichnete.
5.2.3 Die Vielfalt religiöser Kultur in Afroamerika
Von den heute insgesamt über 150 Millionen Menschen afrikanischer Provenienz in den Amerikas
identifiziert sich der überwiegend größte Teil mit zumindest einer der zahlreichen religiösen Traditionen in ihren
Ländern — seien diese primär afrikanischer oder christlicher Prägung, oder auch eine spezifische Mischung
innerhalb dieses breiten Spektrums.
Wie angesichts der regionalen Verschiedenheiten und der unzähligen Variationen religiöser Kultur in der
Karibik klar ersichtlich ist, sind allzu strukturierende wissenschaftliche Einteilungskonzepte nicht geeignet, die
komplexen gelebten Realitäten zu erfassen. Dennoch gab es in der Forschungsgeschichte immer wieder
Versuche einer umfassenden Darstellung und Kategorisierung der religiösen Vielfalt der Karibik.
Aufgrund der äußerst komplexen Prozesse des Kontaktes zwischen verschiedenen afrikanischen Religionen
und kolonialem Katholizismus wurden die meisten afrokaribischen Religionen in der älteren Literatur oft als
„synkretistische Kulte“ bezeichnet (Herskovits 1941; Bastide 1971; Simpson 1980; Pollak-Eltz 1995).
Der Begriff „synkretistische Kulte“ wurde in der Anthropologie erstmals von Herskovits (1937) vorgeschlagen. Er
umfasste die von ihm in afroamerikanischen Kulturen beobachtete und beschriebene intensive Vermischung
von afrikanischen religiösen Inhalten mit christlichen Formen. Vor allem in katholischen Ländern kam es
dort häufig zu einer Identifizierung von Heiligen der Kirche mit afrikanischen Gottheiten und zur
Neudeutung der beiden Quellen religiöser Inspiration. Dadurch bildeten sich schließlich neue
Religionsformen heraus, deren bekannteste heute zum überwiegenden Teil dem Orisha/Vodou-Komplex
zuzuordnen sind (Greenfield 2001).
Vor dem Hintergrund eines verstärkten Afrika-Bewusstseins in der gesamten Karibik seit den 1990er Jahren —
in denen es auch zu einem intensiveren Austausch zwischen den afrikanischen und den Diaspora Religionen
einerseits, aber auch zwischen Christentum und ATR (=African Traditional Religion) gekommen ist — tendieren
neuere Kategorisierungen dazu, die Art und Weise wie auch die Intensität anzusprechen, in der die
afrikanische Rationalität und Ästhetik die religiösen Rituale in der Karibik beeinflussen (Kremser 2004:22-26).
So werden auf der einen Seite jene rituellen Traditionen, die sich in ihrem Wesenskern auf afrikanische
Rationalität und ATR gründen (Barnes 1997, Davis 1991, Murphy 2000, Olmos 1997), von anderen rituellen
Systemen meist christlicher Provenienz aber dennoch starker afrikanischer Prägung unterschieden. Letztere
stellen den Versuch dar, den christlichen Glauben zwar zu adaptieren, die religiöse, spirituelle und rituelle
Praxis jedoch dem afrikanischen Geschmack anzupassen. Dazu zählen vor allem die vielen afrikanisch
inspirierten christlichen Kirchen (Appiah 1999, Glazier 2001).
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5.2.3.1 Die 5 Kategorien nach Sipmson
Nachdem die anthropologische Forschung bereits ein differenzierteres Bild erbrachte, teilte Simpson (1978:14)
die afroamerikanischen Religionen in fünf Kategorien ein. Diese beruhen jedoch nicht auf emischen
Konzepten und sind daher auch keineswegs als strikte Trennungen zu verstehen:
1) Die neo-afrikanischen Religionen (Neo-African Religions) haben sich im Kontext der Sklaverei entwickelt.
In ihnen konnten viele der afrikanischen Traditionen bewahrt werden, welche auch mit römisch katholischem
Glaubensgut und Praktiken vermischt wurden. Diese inkludieren Vodou in Haiti; Santería in Kuba, der
Dominikanischen Republik und Puerto Rico; sowie Shangó in Trinidad und Grenada.
2) Die Ahnen-Religionen (Ancestral Religions), die weniger afrikanische Traditionen erhalten konnten und
von den verschiedenen protestantischen Traditionen herrühren, die von Missionaren des 19. Jhdts. importiert
wurden. Diese inkludieren Cumina und Convince in Jamaika; den Big Drum Dance in Grenada und Carriacou;
sowie Kele in St. Lucia.
3) Die Revitalisierungs-Religionen (Revivalist Religions), die ein Phänomen des 20. Jhdts. sind und mit den
Pentecostal oder charismatischen protestantischen Bewegungen der USA in Verbindung stehen. Sie umfassen
Revival Zion in Jamaika; die Shouters und Spiritual Baptists in Trinidad; die Cohortes in Haiti; sowie die Shakers
und Streams of Power in St. Vincent.
4) Religionen, deren Hauptaugenmerk auf der Divination und der Heilung durch spirituelle Medien liegt. Sie
inkludieren Espiritismo in Puerto Rico; Umbanda in Brasilien; sowie Maria Lionza in Venezuela.
5) Religiös-politische Bewegungen, die Anfang des 20. Jhdts. aus Protest gegen Neokolonialismus und
dessen wirtschaftliche und soziale Ungerechtigkeit entstanden sind. Dazu gehören die Rastafari und Dread
Bewegungen, die zwar in Jamaika entstanden sind, aber heute in der gesamten Karibik und weit darüber
hinaus verbreitet sind.
5.2.4 Die gemeinsamen Charakteristika
Ungeachtet der lokalen Unterschiede auf den einzelnen Inseln der Karibik lässt sich eine Anzahl gemeinsamer
Charakteristika feststellen, die in fast allen Religionen der Orisha/Vodou-Traditionen anzutreffen sind.
Henry (1991) stellt einige Gemeinsamkeiten der verschiedenen afrikanischen Diaspora Religionen heraus,
wobei er zwischen den afrikanischen und europäisch- christlichen Einflüssen unterscheidet:
Die afrikanischen Wurzeln erkennt er in den
• Synkretisierungen bzw. Identifizierungen afrikanischer Gottheiten mit katholischen Heiligen;
• die spirit possession, bei welcher der Körper des Gläubigen von einer Gottheit in Besitz genommen wird;
• das Abhalten von Tieropfern;
• der Gebrauch von afrikanischen Rhythmus-Mustern, Gesang und einer Ritualsprache;
• ‚African-type’ Tanzbewegungen;
• der Gebrauch von Öl, Mehl und Getreide-Produkten, welchen spirituelle Kräfte zugeschrieben werden;
• Divinationsformen, speziell für beratende und diagnostische Zwecke.
Christliche Elemente stellen für ihn die
• Rezitation von Gebeten,
• das Singen von christlichen Hymnen,
• der Gebrauch von Kerzen und
• die Identifizierung der Gottheiten innerhalb eines christlichen Rahmens dar.
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5.2.4.1 Himmel und Erde
Für Angehörige afrokaribischer Religionen findet das Leben gleichzeitig auf zwei verschiedenen Ebenen statt:
• in der Welt des physischen Universums, welches von menschlichen Wesen bewohnt wird, und
• in einer anderen Welt — abstrakt, unendlich und unbegrenzt — welche von spirituellen Wesen bewohnt
wird, wie z.B. göttliche Wesen, Ahnen, und spirituelle Doppelgänger von allem, was konkret unser Universum
bewohnt.
Zwischen diesen beiden Welten gibt es eine andauernde Beziehung, einen unablässigen Strom des
Transfers von spirituellen und materiellen Elementen. Dieser Strom wird durch den ständigen Transfer und
die Wiederverteilung von ashé symbolisiert und durch das Ritual reguliert.
Das Ethos der Orisha/Vodun-Kulturen basiert auf einer spirituellen Weltsicht, die sich auf die existentielle
Multidimensionalität des menschlichen Wesens gründet und die Aufrechterhaltung einer interdependenten
Komplementarität und Reziprozität der Welten zum obersten ethischen Handlungsprinzip erhebt. Demnach
existiert die spirituelle Welt nur so lange, wie die reale Welt existiert — et vice versa .
Charakteristisch für die Spiritualität afrokaribischer Religionen ist die Art und Weise, wie die Beziehung
zwischen menschlichen und spirituellen Wesen in gemeinschaftlichen Ritualen erarbeitet wird.
Dieser Spirit kann dabei entweder
• als göttliche Persönlichkeit,
• als Kreuzung menschlich konstruierter kosmischer Koordinaten, oder auch
• als spezifischer Bewusstseinszustand konzipiert werden.
5.2.4.2 Spirituelle Arbeit und rituelle Inszenierung
Spirituelle Arbeit bezeichnet jede Art von Arbeit oder Dienst (griechisch „leitourgia“), die von Menschen in
Verbindung mit dem Spirit für das Wohl der Gemeinschaft im weitesten Sinne geleistet wird.
So werden die religiösen Rituale in der afrikanischen Diaspora von den Praktizierenden in zweifacher Weise
gesehen:
• als Arbeit für den Spirit, und
• als Arbeit des Spirits.
Dem entsprechend wird auch die Reziprozität zwischen Gemeinschaft und Spirit durch physische Arbeit
ausgedrückt:
• Die Gemeinschaft arbeitet durch Musik, Wort und Tanz, um dem Spirit die Präsenz zu ermöglichen.
• Der Spirit wiederum arbeitet durch die physische Arbeit der Kongregation, um die menschlichen Aktionen
mit seiner Kraft aufzufüllen.
Afrokaribische Rituale sind daher:
• Dienst für den Spirit, um durch Opferhandlungen und Lobpreisungen dem Spirit zu gefallen. Und sie sind
• Dienst des Spirits, um durch Handlungen, die vom Spirit unternommen werden, die Kongregation zu
inspirieren.
Auf diese Weise wird die Reziprozität der Spiritualität in den afrokaribischen Religionen bekräftigt (Murphy
1994:7).
Das Dienen — in all seinen subtilen Bedeutungen — ist somit der zentrale Wert gemeinschaftlichen Lebens.
Dieser Gemeinschaftsbegriff des Rituals umfasst in letzter Konsequenz neben den lebenden Menschen auch
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noch alle anderen meist unsichtbaren spirituellen „Bewohner“ des Kosmos und ist zudem von einer
tiefenökologischen Erkenntnis geprägt, der zufolge letzten Endes alles in dieser Welt mit allem anderen
verbunden ist.
5.2.4.3 Der initiatorische Prozess
Der wichtigste Aspekt afrokaribischer Religionen liegt darin begründet, dass sie initiatorische Systeme
darstellen. Rituelles Wissen wird dabei in einer ganz spezifischen Weise erworben, übermittelt und
weiterentwickelt. Die Initiierten nehmen an einer Erfahrung teil, während derer sie eine mystische Kraft
empfangen und in sich aufnehmen. Diese erlaubt es ihnen in der Folge, in ein dynamisches System, welches
sie selbst mobilisieren helfen, integriert zu werden und sich damit zu identifizieren.
Diesem Prozess der „Erfüllung“ kann die Entwicklung der wertvollsten Inhalte religiöser Gemeinschaften
zugeschrieben werden. Er ist für die ureigenste Existenz der Religionen durch die mystische Allianz zwischen
der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft verantwortlich (Dos Santos & Dos Santos 1984:75).
Diese Kraft, die als ashé (Yorùbá: asé; Fõ: sé) bekannt ist, ist der Urquell aller vitalen Prozesse. Sie wird
sowohl durch materielle wie auch durch symbolische Mittel weitergegeben und ist zudem kumulativ. Sie ist
eine Kraft, die nur durch „Hereinnahme“ in den Körper und in die Psyche — durch Verkörperung und den
damit einher gehenden Individuationsprozess — erworben werden kann. Sie taucht aber nicht spontan auf,
sondern muss bewusst und gezielt übermittelt werden (Kremser 1993).
Ein gründliches Verständnis dieser Kraft ist die Voraussetzung für das Verstehen der tieferen Bedeutung des
Opfers als eine besondere und symbolische Form, ashé zu vermitteln. Ashé wird nicht erlernt, sondern es
wird aus den Händen und dem Geiste derer empfangen, die schon weiter fortgeschritten sind. Es wird von
Person zu Person durch eine lebende und dynamische Beziehung vermittelt — durch symbolische
Elemente, durch Blut, Früchte, rituelle Kräuter, Wörter, mystische Pakte und Beziehungen, die mit den
Ahnen, der Natur und mit der Gruppe als Ganzem hergestellt werden (Kremser 1987).
Je höher der hierarchische Status, desto fortgeschrittener ist die mystische Entwicklung, die eine größere
Akkumulation von ashé und von initiatorischem Wissen erlaubt. Der Grad der Initiation wird durch die Jahre
bestimmt, die seit der Initiation verstrichen sind, und nicht durch das chronologische Alter des Teilnehmers.
5.2.4.4 Possession — Die Dynamik der Verkörperung
Die Dynamik der Verkörperung hält die Welt übernatürlicher Entitäten am Leben. Die Wesenheiten
manifestieren sich durch den Körper der PriesterInnen oder der Initiierten indem sie sprechen, tanzen,
segnen, Rat geben, Embleme und Paraphernalien benützen, ihren Ursprung, ihre Geschichte und ihre
Bedeutung kommunizieren.
Während der Erfahrung der Verkörperung wird das gesamte religiöse System, seine Theogonie und
Mythologie, noch einmal durchlebt. Jeder Teilnehmer ist der Protagonist einer rituellen Aktivität, in welcher
das geschichtliche, psychologische, ethnische und kosmische Leben der Partizipierenden erneuert wird.
Die Dynamik der Verkörperung erschafft psychologisch hier und jetzt die Existenz eines Wissenssystems
wieder, welches durch die persönliche Erfahrung dramatisiert wird. Dieses System kann nur verstanden
werden, indem es die rituellen Erfahrungen, Analogien, Mythen und die nachgespielten Legenden durchlebt.
Wissen wird nur dann von Bedeutung, wenn es aktiv inkorporiert wird!
Wir berühren hier einen der wichtigsten, wenn nicht überhaupt den allerwichtigsten Aspekt des rituellen
Systems. Zumindest zwei Personen sind für die Übermittlung durch Initiation unerlässlich. Wissen geht
direkt von einem Wesen auf das andere über. Weder Lesen, Erklärungen oder logisches Denken wird auf einer
bewussten oder intellektuellen Ebene benötigt. Der Transfer des komplexen Codes von Symbolen wird durch
die reale Präsenz von Personen und ihrer dynamischen Beziehungen erreicht:
• Materielle Symbole und Gesten;
• Worte, die artikuliert, exklamiert und mit Leben erfüllt werden;
• Modulationen, Emotionen und die persönliche Geschichte dessen, der sie zum Ausdruck bringt.
All das ist Teil des Prozesses der Übertragung (Dos Santos & Dos Santos 1984:78).
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5.2.5 Die unterschiedlichen lokalen Traditionen
Der Einfluss von ATR in der Karibik variiert an Intensität von Insel zu Insel. Er war abhängig von
• der Zusammensetzung der verschiedenen afrikanischen Ethnien ,
• der historischen Situation des Landes,
• der Dauer der Kolonialisierung und
• dem Ausmaß an kultureller Präsenz und Dominanz seitens der Europäer.
Eine lang andauernde europäische Beeinflussung bewirkte eine Schwächung in der Bewahrung von ATR. In
Haiti, wo die französische Kolonialmacht und deren kultureller Einfluss schon 1804 — bedingt durch die
Sklavenrevolten und die Unabhängigkeit — endete, konnten viel mehr afrikanische Traditionen bewahrt werden,
als in den meisten anderen karibischen Nationen.
Ein aktueller tabellarischer Gesamtüberblick informiert über das breite Spektrum afrokaribischer Religionen,
der alphabetisch die lokalen religiösen Traditionen auflistet und mit der jeweils wichtigsten ethnologischen
und sozialwissenschaftlichen Standardliteratur versieht.
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5.2.5.1 Vodou in Haiti
Das Wort „Vodun “ — abgeleitet vom Fõ-Wort vo·dû (= „Hineinsehen in das Unbekannte“, Mysterium,
Geistwesen) — bezeichnet die Konzepte und Verhaltensweisen, welche in die Beziehungen zwischen den
Menschen und der nichtmateriellen Welt bestimmen.
Mit über 60 Millionen Praktizierenden ist Vodun (deutsch oft Wodu , englisch zumeist Voodoo, französisch
Vaudou, haitianisches Kreol Vodou) heute eine der bedeutendsten afroamerikanischen Religionen und
zugleich Volksreligion von Haiti (über 90%). Im Jahre 2003 kam es unter Prime Minister Jean Bertrand Aristide
zur offiziellen staatlichen Anerkennung.
Wenn die Anhänger/innen des Vodou in Haiti von den Lwas sprechen, gruppieren sie diese in Familien oder
Nationen, die nanchon heißen. Jede dieser nanchons hat seine bestimmten Zeremonien und Rituale, eigene
Grußformen, Tänze und Musikinstrumente. Im Vodou in Haiti bezeichnen diese Namen keine geographischen
Regionen mehr, sondern charakterisieren Kategorien der Lwas .
Nach Hurbon (1993) gibt es drei wichtige Rituale:
• Im Rada Ritual werden die Spirits von Dahomey verehrt, welche als prinzipiell gute Lwas angesehen werden.
Sie werden von Guinea kommend als Lwa-Ginen bezeichnet.
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• Im Kongo -Ritual wird auf die Lwas der Bantu Region Bezug genommen.
• Die Lwas der Petro-Rituale stammen meistens von der Kolonie St. Domingo selbst ab (von der
mythologischen Figur Dom Pedro, dem Anführer einer Maroon Rebellion im 18. Jhdt.) und werden Creole Lwa
genannt.
Viele der Rada Lwas haben Petro, Ibo und Kongo Gegenstücke, deren Persönlichkeit zeichnet sich durch
umgekehrte Charakterzüge aus. Die Lwas, welche sich als archetypische Figuren präsentieren, haben
niemals nur positive oder ausschließlich negative Eigenschaften.
5.2.5.2 Santería in Kuba
Kuba ist heute höchstwahrscheinlich jener Ort in den Amerikas — vielleicht mit Ausnahme von Salvador de
Bahia — wo sich die Yorùbá -Religion in ihrer reinsten Form erhalten hat. Die Santería wird zunehmend
populärer, auch außerhalb Kubas, vor allem in den USA, wobei nicht nur emigrierte Kubaner Gläubige oder
Priester sind. Von Brasilien kommen Priester nach Kuba, um sich initiieren zu lassen.
In Kuba begann 1521 der Sklavenhandel. Unter den verschleppten Menschen waren Mitglieder der Bantu
-Sprachfamilie, welche in der Literatur meist als Congos bezeichnet werden. Als sie nach Kuba kamen,
brachten sie ihren Glauben an Familienahnen, große Chefs und Gottheiten mit. Die Schaffung eines neuen
Pantheon im kubanischen Palo Monte ermöglichte ihnen, diese weiter zu verehren. Die Ritualsprache ist
Spanisch, wobei Worte von der Kongo-Region mit einfließen.
In den Jahren 1820-1860 kamen die meisten Yorùbá nach Kuba. Sie brachten ihren Glauben an verschiedene
regionale Deities, Spirits, Eguns und Orishas mit und kreierten daraus in der Santería ein neues Pantheon. Die
Bata drums sind ihre heiligen Trommeln, die Ritualsprache entspricht der Yorùbá -Sprache des 19. Jhdts. Der
Synkretismus regionaler Varianten einzelner Orisha hat wohl zu einer Verringerung ihrer Anzahl in der Regla
Ocha geführt, keineswegs jedoch zu einer Vereinfachung der mit ihnen verbundenen Vorstellungen.
Aus den Regionen von Dahomey und Benin stammen die Vodun-Deities, die sich in der Regla de Arara weiter
tradierten. In dieser Tradition trommeln auch die Frauen. Die Deities wohnen in kleinen Häusern, außerhalb des
Hauses. Es kam zur Assimilation mit der Santería.
Weiters gibt es die Geheimgesellschaften der Abakuá Bruderschaft, die seit 1825 existiert. Die von
verschiedenen Ethnien gebildeten Cabildos (Bruderschaften) waren die Hauptträger der afrikanischen
Traditionen. In ihnen und in den Familien wurde Wissen weiter tradiert. Auch für die Organisation des Karnevals
übernahmen sie eine wichtige Rolle.
5.2.5.3 Orisha (Shangó) in Trinidad und Tobago
Zur Zeit der Sklaverei wurden Menschen der Ethnien Congo, Yorùbá, Mandingo, Hausa, Rada und Ibo nach
Trinidad verschleppt. Selbst nach der Abschaffung der Sklaverei 1838 wurden noch ca. 9000 Yorùbá als
Kontraktarbeiter von den Briten nach Trinidad gebracht.
Auf Trinidad gibt es bis zu 40 Orishas, wenngleich nur die Hälfte von ihnen Bedeutung für die Gläubigen
haben. Houk (1995:145) listet 16 wichtige Orishas Trinidads auf mit ihrer zugehörigen Farbe, ihrem Tag und
Essen. Es werden ihnen Tieropfer dargebracht sowie ‘dry food’ (Pflanzen und ihre Produkte) gegeben. Die den
Orishas zugeordneten Farben variieren zwischen den einzelnen Lokalitäten, wie auch die Zuordnung zu
katholischen Heiligen.
Henry (1991) stellte in Trinidad eine Öffnung der Shangó -Religion fest — die sowohl die Klassen- wie auch
die ethnische Zugehörigkeit betrifft. Während noch in den 1950ern Shangó eine Religion der grass-rootspeople der afrikanisch- stämmigen Bevölkerung war und von der Ober- und Mittelschicht als wild und
barbarisch abgetan wurde, nehmen heute viele Mitglieder der Mittelschicht an den Zeremonien teil. Im
Gegensatz zu früher bildet sich Klassen-übergreifend ein neues Selbstbewusstsein heraus, welches —
entgegen den neokolonialen und amerikanischen Einflüssen — das afrikanische Erbe ehrt und aufwertet.
Seit den 1970ern ist es bei vielen Intellektuellen und Jugendlichen Bestandteil ihrer Identität, Shangó
-Zeremonien beizuwohnen, bzw. der Religion anzugehören. Auch die ethnische Grenzziehung löst sich ein
wenig auf. Menschen indischer Abstammung suchen Shangó -Priester auf, besonders in ihrer Funktion als
Heiler. Es kommt zu neuen Identifikationen zwischen afrikanischen und hinduistischen Gottheiten.
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In Trinidad kam es in den letzten Jahren zu einem bedeutsamen Aufschwung der Shangó-Tradition, welche im
Jahre 1993 auch staatlich offiziell als Religionsgemeinschaft anerkannt wurde. Heute spricht man vielmehr
von der Orisha-Religion (Kment 2005).
5.3 Afrikas Digitale Diaspora Religionen (ADDR)
Während der Begriff der afrikanischen Diaspora und die damit verbundenen historischen und sozio-kulturellen
Prozesse seit dem Beginn der Neuzeit vor allem in Afro-Amerika bereits auf eine jahrzehntelange
Forschungsgeschichte zurückblicken können, befindet sich die ethnologische Erforschung von Afrikas
Digitaler Diaspora (ADD) praktisch noch in den Geburtswehen.
Die Bezeichnung „Afrikas Digitale Diaspora“ verweist auf die afrikanische Besiedlung des Cyberspace und die
damit einher gehenden neuen Kulturentwicklungen. Durch die Entwicklung des Cyberspace hat auch das
Studium und die Beschäftigung mit traditionellen afrikanischen Religionen (ATR = African Traditional
Religion) und vor allem mit ihren Derivaten in der afrikanischen Diaspora (ADR = African Diaspora Religion)
eine neue Dimension dazu gewonnen, für die ich die Bezeichnung Afrikas Digitale Diaspora Religionen
(ADDR) geprägt habe.
In vielerlei Hinsicht können interessante Analogien zwischen diesen beiden unterschiedlichen Formen der
afrikanischen Diaspora gemacht werden. Während bereits in den vergangenen Jahrhunderten die historischen
diasporischen Umstände afrikanische Kultur und Religion bedeutend verändert haben, so erleben wir
momentan eine völlig neue Form kultureller und religiöser Transformationen: Afrikas Digitale Diaspora
transformiert das Transformierte auf die den Gesetzen des digitalen Zeitalters eigene Weise.
Die sich im Augenblick vollziehenden Cyber-Transformationen von ATR und ADR bringen eine Anzahl
grundlegender Veränderungen mit sich: So z.B. verlassen viele ursprünglich „indigene“ bzw. „traditionelle“
religiöse Konzepte und Praktiken ihr lokal begrenztes Setting und werden mittels digitaler
Kommunikationstechnologien potentiell der gesamten Weltöffentlichkeit zugänglich .
In diesem Prozeß der Öffnung, in dem sich afrikanische kosmologische Weltbilder und Ritualsysteme
sowohl hinsichtlich ihrer Reichweite als auch ihrer Anziehungskraft vermehrt internationalisieren und
globalisieren, werden sie zu neuen Formen von Weltkultur transformiert .
5.3.1 Die ontologische Ebene
Von spirituellen Wirklichkeiten zu physischen Computern
Als Zeitzeugen dieser afrikanischen CyberCosmoGenesis in ihrem status nascendi können wir einige äußerst
interessante Beobachtungen hinsichtlich der ontologischen Verwandtschaft bestimmter Aspekte
afrikanischer Spiritualität mit den fundamentalen Prinzipien des Cyberspace anstellen:
Der Terminus „Cyberspace“ wurde vom amerikanischen Science-Fiction Autor William Gibson in seiner
Cyberspace -Trilogie popularisiert. Dabei kreierte er eine neue Mythologie virtueller Welten, indem er
Konzepte, Metaphern und Personifikationen aus der haitianischen Vodou Religion benutzte und diese mit der
Cyberspace- Terminologie korrelierte.
Ebenfalls wichtig für das Verständnis der formal-konzeptionellen Nähe zwischen dem traditionellen Ifá
-Divinationssystem der Yoruba bzw. afrikanischer Geomantie und der modernen Computer-Sprache ist der
binäre Code — als die formale Basis beider Kommunikationssysteme. Aus diesem Grunde behaupten heute
afrikanische Babaláwos und westliche Wissenschaftler gleichermaßen, daß das Konzept des Cyberspace durch
das numerische System des Ifá wie auch der afrikanischen Geomantie vorweggenommen wurde — wenngleich
innerhalb des Kontextes der „spirituellen Technologie“. Von dieser Perspektive aus gesehen kann die
Kommunikation via Computer-Technologie lediglich als eine weitere Transformation derselben formalen
Prinzipien betrachtet werden.
Ein weiteres Beispiel für die analoge Beziehung zwischen afrikanischen Religionen und dem im Entstehen
begriffenen Cyberspace kann in der Orisha-Religion geortet werden: Als vielleicht jüngstes und
bemerkenswertestes Verwandlungs-Phänomen in einer langen Reihe von Transformationen und CyberTransformationen afrikanischer religiöser Konzepte tritt uns der Terminus „Shangócentricity“ entgegen.
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Während Shangó in der antiken Yoruba-Mythologie und religiösen Praxis als göttliche Repräsentation des
Blitzes und des Donners verehrt wurde, steht Shangó heute — in unserem postmodernen digitalen Zeitalter —
auch für den elektrischen Strom in der Qualität des exponentiell wachsenden elektronischen Blitzgewitters
innerhalb unserer Computer. Als oberster Repräsentant dieser gegenwärtig bedeutendsten Metapher für
spontane digitale Erleuchtung verwandelt Shangó die gegenwärtige Zivilisation in eine radikal neue Sphäre
des Wissens.
Aus all diesen Gründen ist es nicht verwunderlich, daß sich dutzende afroamerikanische, aber auch
holländische und deutsche Computer- und Software- Firmen für Namen wie Shangó, Ifa, Orisa, Voodoo,
etc. als ihre jeweiligen Warenzeichen entschieden haben.
5.3.2 Die sozio-kulturelle Ebene
Von der physischen zur virtuellen religiösen Praxis
Auf der sozio-kulturellen Ebene läßt sich beobachten, daß diese neuen Cyber-Welten von ATR & ADR
keineswegs die herkömmliche religiöse Praxis in afrikanischen und Diaspora-Kommunitäten ablösen oder
ersetzen werden. Vielmehr tendieren sie dazu, frühere und traditionelle Konzepte auch vor dem Hintergrund
neuer Kontexte zu interpretieren und fügen dadurch zusätzlich neue Dimensionen zu den bestehenden
Formen hinzu, durch welche Religion — auch im Sinne von Kommunikation und re-ligio = rückbinden —
erfahren werden kann. Auf diese Weise werden laufend neue parallele Welten religiöser Praxis und
Virtualität (= Spiritualität?!) geschaffen.
So sind zum Beispiel viele Babaláwos, Santeros, Houngans, Mambos, sowie religiöse Spezialisten in anderen
ADR im Augenblick gleichzeitig in drei verschiedenen sozialen Feldern in jeweils unterschiedlichen Rollen
tätig:
• In ihrer Rolle als Priester, Heiler oder Wahrsager innerhalb ihrer traditionellen lokalen full-time-face-toface-communities, mit allen Aufgaben und Verpflichtungen ihrer Profession für Ihre Klienten.
• In ihrer Rolle als Lehrer, religiöse Spezialisten und spirituelle Führer innerhalb moderner internationaler
part-time-face-to-face-communities, sei es bei wissenschaftlichen Konferenzen, praktischen Workshops,
Versammlungen von Diaspora-Kommunitäten, oder auch bei immer größer werdenden New-Age Zirkeln.
• In ihrer Rolle als spirituelle Webmasters, Computer Consultants, Digitale Divinatoren oder religiöse
Unternehmer am Cyber-Markt innerhalb der postmodernen globalen no-more-face-to-face-communities.
Vor allem für Letztere ist die entstehende Digitale Diaspora bereits jetzt zum bevorzugten Feld ihres Wirkens
geworden. Sie präsentieren sich und repräsentieren sich selbst im WorldWideWeb, vernetzen sich mit ihren
professionellen Counterparts in Afrika wie vor allem in der afrikanischen Diaspora und darüber hinaus, und
rekrutieren eine ständig wachsende internationale Klientel für Orakel- Konsultationen, Initiationen, und
andere teils sehr einträgliche religiöse Praktiken ihrer jeweiligen Tradition.
Immer mehr Menschen als Angehörige von ATR oder ADR involvieren und engagieren sich zunehmend in
mehr als nur einem dieser eben skizzierten sozio- kulturellen Felder. Ihre Aktivitäten sind es vor allem, welche
die Voraussetzung dafür bilden, daß sich ATR & ADR auch vis-à-vis einer größeren (auch nichtafrikanischen) Öffentlichkeit öffnen. Dabei absorbieren oder „synkretisieren“ sie manchmal auch Elemente
und Konzepte aus anderen religiösen Traditionen, um schließlich zu neuen Weltreligionen in unserem
postmodernen Cyber-Age zu avancieren.
5.3.3 Information und Kommunikation
Fremd- und Selbstrepräsentation im WWW
Die Fülle an Information über ATR & ADR, die in den letzten 15 Jahren über das Internet verfügbar gemacht
wurde, ist ziemlich eindrucksvoll — so ist auch die Unterschiedlichkeit ihrer Qualität. Im Jahre 2000 konnten
bereits über 50.000 Web Pages über ATR & ADR im WWW besucht werden, wobei sich diese Zahl etwa alle
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18 Monate verdoppelte. Einige der populärsten Seiten, wie z.B. das OrishaNet, erfreuten sich über 136.000
Besuche im Monat.
Je nach den spezifischen Interessen der jeweiligen User dienen diese Web Pages unterschiedlichen
Zwecken und Anforderungen:
• Viele Menschen innerhalb wie außerhalb der jeweils repräsentierten religiösen Traditionen benutzen diese
Seiten, um rasch, leicht und billig allgemeine und spezifische Informationen zu erhalten. UniversitätsStudenten in aller Welt, insbesondere EthnologInnen und KulturanthropologInnen, machen inzwischen ihre
„Feldforschungen“ über spezifische Aspekte von ATR & ADR u.a. auch im Internet — sei es entweder, um
dort bereits existierende Information lediglich zu sammeln (visuelles bzw. beobachtungsorientiertes Paradigma),
sei es vor allem aber auch, um manchmal durch direkte Kommunikation mit ihren virtuellen Gastgebern in
einen interaktiven Forschungsprozess einzutreten (diskursives bzw. befragungsorientiertes Paradigma).
• Vor allem Angehörige von ATR & ADR nutzen das Internet, um mit anderen Mitgliedern ihrer religiösen
Gemeinschaft zu kommunizieren. Dies trifft ganz besonders auf typische Diaspora Situationen zu, deren
Mitglieder manchmal durch enorme geographische Distanzen voneinander getrennt sind. Guest-Books, NewsGroups, Discussion Boards und Chat-Rooms dienen hier in erster Linie dazu, um eine kontinuierliche und
ungebrochene Integration innerhalb ihrer eigenen Kommunitäten zu fördern.
• Hohepriester, Divinatoren, Leiter religiöser Zentren und Organisationen, sowie auch Kulturaktivisten
richten meist ihre eigenen Homepages ein, einerseits um sich selbst zu präsentieren, andererseits aber auch,
um ihre eigene religiöse Tradition zu repräsentieren. Während in der Vergangenheit der Großteil der öffentlich
erhältlichen Information über ATR & ADR von Ethnologen, akademischen Forschern anderer Disziplinen oder
Journalisten recherchiert und kompiliert wurde — wobei diese in den wenigsten Fällen initiierte Mitglieder
derjenigen religiösen Traditionen waren, die sie zu repräsentieren versuchten — so stammen heute die vielleicht
besten Informationen im WWW von den Praktizierenden selbst. Es existieren bereits unzählige Web-Sites, die
von Repräsentanten ihrer jeweiligen Religionen eingerichtet und betreut werden. Das Verhältnis zwischen
Fremd- und Selbst-Repräsentation im Netz verlagert sich immer rascher zugunsten der zunehmenden
Promotion von Insider Perspektiven.
• Diverse Institutionen und deren Mitarbeiter nutzen das Internet vornehmlich zur Organisation von
Konferenzen, zum Koordinieren von Seminaren und Workshops, sowie zur Vernetzung von professionellen
Individuen und Gruppen quer durch Afrika und die Diaspora. Einige Babaláwos und Mambos bieten im Netz
periodisch Orakelbefragungen und religiöse Kurse an, führen Konsultationen mit ihren Klienten durch,
kündigen regelmäßig Plantas (divinatorische Sitzungen) an, und bereiten auf vielfältige Weise das Terrain für
neue Initiationen vor.
• Schließlich dient das Internet den kommerziellen Interessen einer wachsenden Anzahl von Unternehmern,
die mit religiösen Artikeln handeln, einschlägigen Mus
5.3.4 Das Ringen um religiöse Kultur und Identität im Cyberspace
In ähnlicher Weise wie wir als Ethnologen und Kulturanthropologen beim Studium der CyberTransformationen von ATR & ADR vor gänzlich neue theoretische und kulturkritische Fragen gestellt
werden, stehen auch die betroffenen Exponenten dieser aktuellen kulturellen Transformationsprozesse
einer Anzahl widersprüchlicher und konfliktbeladener Probleme gegenüber, deren Bewältigung neue
Strategien der Konsensfindung im Ringen um religiöse Kultur und Identität im Cyberspace erforderlich
macht.
Einige der virulentesten Fragen in diesem Zusammenhang, die inzwischen nicht nur von
CyberAnthropologen, sondern großteils auch von den Proponenten der CyberTransformationen von ATR &
ADR wie auch von ihren Widersachern thematisiert werden, lassen sich folgendermaßen umschreiben:
• Wie werden Fragen der Autorität und Legitimität, bestimmte religiöse Traditionen im Cyberspace
repräsentieren zu dürfen, beantwortet?
• Welchen Veränderungen in Form und Gehalt sind ATR & ADR im digitalen Transformationsprozeß
ausgesetzt?
• Inwieweit wird der religiöse Korpus im Übergang vom oral-kulturellen zum schrift-kulturellen Modus in
seiner Essenz beeinträchtigt?
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• Wie wirkt sich der unmittelbare Transformationsprozeß zwischen primärer Oralität und sekundärer Oralität
auf Theorie und Praxis der Religionen aus?
• Wird reserviertes Wissen respektiert, werden ontologische Wahrheiten behütet? Kann die persönliche
Initiation durch cyber-mediale Initiationsformen ersetzt werden?
• Wie definiert sich die „religiöse Gemeinschaft“, sobald durch ihre Präsenz im Internet (potentiell) die ganze
Welt das Publikum darstellt?
• Welche Argumente sprechen für eine religiöse Besiedlung des Cyberspace, und welche Argumente
sprechen dagegen?
Vor dem Hintergrund der historischen Tatsache, daß viele afrikanische Religionen — insbesondere in der
Diaspora — ursprünglich entweder als Familientraditionen mündlich von Generation zu Generation weiter
tradiert wurden oder nur in bestimmten verwandtschaftlichen Linien überlebten, die ihrerseits selbst
wiederum signifikanten Veränderungen in den vergangenen Jahrhunderten ausgesetzt waren, gewinnen
obige Fragen umso mehr an Brisanz.
Im Falle der mannigfaltigen Orisha Traditionen in den Amerikas, die bekanntlich durch die historischen
Prozesse des Sklavenhandels und die sich daran anschließenden Immigrationsbewegungen
(Kontraktarbeiter) von Yoruba- Deszendenten eine ungeahnte Vielfalt an religiösen Ausformungen in allen
Teilen der Neuen Welt entwickelten, läßt sich deutlich das Dilemma ablesen, in welches diejenigen ihrer
Repräsentanten geraten, die mit dem Anspruch der Wiedervereinigung aller in der afrikanischen Diaspora
verstreuten Orisha-Gläubigen antreten.
Einige ihrer eher kosmopolitisch orientierten Repräsentanten mögen zwar unter Rücksichtnahme auf die
historischen Bedingungen der Diaspora für alle neuen Einflüsse offen sein, denen ihre Religion als
Konsequenz der Sklaverei, der anschließenden kolonialien Umarmung und der bis heute nachwirkenden
westlichen Dominanz ausgesetzt war. Andere hingegen, die oft in afrikanischen Bewußtseins- Bewegungen
aktiv involviert sind, mögen mit der gleichen Selbstverständlichkeit jegliche Art fremder Einflüsse auf ihre
Religion aufs Entschiedenste zurückweisen und für eine Re-Afrikanisierung ihres religiösen Erbes plädieren.
In den einschlägigen Diskussions-Foren des Internet werden eine große Anzahl manchmal höchst
kontroversieller Diskurse zum Thema der ATR ausgefochten. Diese berühren meist so sensitive Fragen wie
Rass
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