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Fachbereich Musik
Herbert Fiedler
Kann Musik erzählen? – Nein!
oder
Die narrativen Momente in der Musik
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Achtung: Ein interaktiver Artikel. Bitte beim Lesen auf YouTube die Musikbeispiele eingeben oder in der auf der
Homepage vorliegende pdf-Datei anklicken.
Frage:
„Kann Musik erzählen?“
Antwort:
Frage:
„Nein!“
„Aber warum tut sie es dann?“
Antwort:
„Tut sie es?“
Kann Musik erzählen? Zu dieser Frage möchte ich beginnend Daniel Barenboim zitieren, der in
seinem Buch „Klang ist Leben – Die Macht der Musik“ (Siedler Verlag, München 2008) eingangs
schreibt:
„ICH BIN DER FESTEN ÜBERZEUGUNG, dass man über Musik nicht sprechen kann. Es gibt
viele Definitionen von Musik, die aber in Wirklichkeit versuchen, eine subjektive Reaktion auf sie in
Worte zu fassen. Für mich ist die einzig präzise und objektive Definition die des großen
italienischen Pianisten und Komponisten Ferruccio Busoni, der Musik als „klingende Luft“
bezeichnet hat. Das sagt alles und lässt gleichzeitig viel Raum zum Weiterdenken. (...)“
Im Jahrbuch Kulturpädagogik der Akademie Remscheid von 2011 stellte ich in meinem Artikel
„Das Lehren der Musik – Ihre Bedeutung und Wirkung im Dialog der Vermittlung“ folgende These
auf:
„Viele Menschen die Musik hören, denken in Geschichten oder erleben Geschichten, welche die
gehörte Musik ausgelöst hat oder sie sehen und sprechen in Bildern und Farben. Ich glaube
jedoch, um der Musik pur begegnen zu können, müssen wir dies „verlernen“. Wir können der
Musik erst wirklich in ihrer Tiefe, in ihrer ganz eigenen emotionalen Sprache begegnen, wenn wir
uns nur auf sie selbst einlassen ohne dass wir weitere Assoziationen oder Ähnliches brauchen.
Wenn sie einfach in uns strömen und sich ausbreiten kann, sie uns tief berührt als das was sie ist
– Musik.“
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Warum ist mir diese These erneut für diesen Artikel wichtig? Ich glaube, dass erst wenn wir der
Musik pur begegnen können, wir ihre Wirkung, ihr „Wesen“ sprechen und verstehen lernen, wir sie
erst dann bewusst in neue Kontexte stellen können. In Kontexte von Wort und Geschichte, Farbe
und Malerei, Bewegung und Tanz – auch wenn sie dabei das bleiben wird was sie ist – „klingende
Luft“.
Bevor ich im Folgenden auf den Zusammenhang von Musik und Geschichte eingehen und
versuchen werde diesen und auch das Zusammenspiel von Musik und Geschichten auszuloten,
möchte ich zum besseren Verständnis des Eingangdialoges: „Kann Musik erzählen? – Nein! –
Aber warum tut sie es dann? – Tut sie es?“, wie im Jahrbuch 2011 nochmals Leonard Bernstein zu
Wort kommen lassen.
Leonard Bernstein befasste sich ebenfalls mit der Definition von Musik und stellte in seinem Buch
„Konzert für junge Leute – Die Welt der Musik in 15 Kapiteln“ (C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag,
München 1993) beginnend die Frage: „Was bedeutet Musik?“ Zum klären dieser Frage wählte er
verschiedene Musikbeispiele. (Im folgenden Text zitiere ich Bernstein aus seinem ersten Kapitel
„Was bedeutet Musik?“ oder fasse seine Aussagen zusammen.)
Beginnend ein Ausschnitt aus der Ouvertüre zur Oper Wilhelm Tell von G. Rossini:
http://www.youtube.com/watch?v=V4PS8-_5UFw (den Cursor bitte auf 2`57“ stellen.)
Bernstein:
„Ihr versteht bestimmt, dass meine kleine Tochter Jamie, als ich ihr das Stück vorspielte, sagte:
„Das ist der The Lone Ranger-Song: Cowboys und Räuber, Pferde und wilder Westen ...“ Nun will
ich zwar weder meine Tochter noch euch enttäuschen, aber es handelt sich keineswegs um dieses
Lied. Es geht um Noten wie C und A und F, (...). Ganz gleich, was für Geschichten die Leute euch
über die Musik erzählen, vergesst sie. Geschichten können Musik nicht erklären. (...) Die
„Bedeutung“ der Musik ist eine sonderbare Sache. Wenn ihr sagt: „Was bedeutet das?“ dann meint
ihr in Wirklichkeit: „Was versucht es mir zu sagen?“ oder „Was fällt mir dabei ein?“ Genau so ist es
mit Worten. Wenn ihr Worte hört, stellt ihr euch dabei etwas vor. (...) Wort-Gedanken. Wenn ich
aber ein paar Töne auf dem Klavier spiele (...) Was heißt das? Nichts. Alle diese Musik bedeutet
nichts, aber es macht Freude, sie zu hören. (...) Der Klang ist verschieden, wenn ich den Ton auf
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dem Klavier spiele oder ihn singe, wenn eine Oboe ihn spielt oder ein Xylophon oder eine
Posaune. Es ist immer dieselbe Note, doch sie klingt immer wieder anders.
Nun, jede Musik ist eine geplante Zusammenstellung solcher Klänge. (...) Aber es ist ein
musikalischer Plan, der nur eine musikalische Bedeutung und nichts mit irgendwelchen
Geschichten, Bildern oder ähnlichen Dingen zu tun hat. Wenn natürlich einmal eine Geschichte mit
einem Musikstück zusammenhängt, dann hat auch das seine Richtigkeit. In gewisser Beziehung
verleiht sie der Musik eine besondere Bedeutung; aber die Erzählung ist nicht ein Teil der Musik.
Was auch immer die Musik wirklich meint, es ist nicht die Geschichte – auch wenn eine
Geschichte mit ihr verbunden ist.“
Bernstein erklärt weiterhin, dass viele Komponisten ihren Kompositionen Namen geben. So heißt
beispielsweise ein Werk von Paul Abraham Dukas: „Der Zauberlehrling“. Solche und andere
Namen entstehen oft, so Bernstein, weil Künstler durch ihre Umwelt oder durch etwas, was sie
gelesen, erlebt oder gesehen haben angeregt werden sich auszudrücken. Fortfahrend erzählt
Bernstein zu der Musik „Don Quixote“ von Richard Strauss, der eine Geschichte zugrunde liegt,
eine andere selbsterfundene „falsche“ Geschichte. Anschließend stellen er und das Publikum fest,
dass auch diese Geschichte zu der Musik passen würde, also nicht nur die Originalgeschichte. Ein
weiteres Beispiel von Bernstein ist Beethovens Sechste Symphonie – eine wunderbare
stimmungsvolle Musik (fröhlich, mitreißend und friedlich zugleich) mit herrlichen Melodien,
großartigen Rhythmen – mit dem Namen „Pastorale“. Beethoven verband mit dieser Symphonie
die Vorstellung vom Landleben. Bernstein:
„Angenommen, Beethoven hätte in die Partitur geschrieben: „Glückliche Gefühle, weil mein Onkel
mir eine Million Dollar hinterlassen hat“ – er hätte ebenso diese heitere Musik komponieren
können, und sie klänge ebenso gut und ebenso glücklich. (...).“
Hier zeigt sich für mich die „Gleichheit der Emotionalität in der Musik“. Fröhlich, mitreißend und
friedlich zugleich, kann es emotional sowohl auf dem Lande, im Urlaub oder ... sein.
Dies trifft auch auf die Verbindung von Musik und Farben, das Malen oder Bilder zu.
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Das große Tor von Kiew aus dem Zyklus „Bilder einer Ausstellung“ von Mussorgsky:
http://youtu.be/mzIVO0DQHc4 (Cursor bitte ab 59“)
Bernstein:
„Natürlich kann man mit Musiknoten nicht dasselbe schaffen wie mit Farben. Man kann mit Tönen
keine Nase malen, kein Gebäude, kein Sonnenuntergang. Aber man kann so tun als ob. (...) Wenn
ihr die vollen schweren Akkorde hört, vom ganzen Orchester gespielt – sie sind wie Säulen, auf
denen diese Steinmassen ruhen. Ihr denkt jetzt an ein großes Tor, aber nur, weil man es euch
gesagt hat. Wenn man euch statt dessen gesagt hätte, ihr sollt an den Mississippi denken, wie er
majestätisch durch Nordamerika fließt, dann würde euch dieses Bild vorschweben. Wieder stehen
wir vor dem alten Problem: Ein Bild wird durch Musik nur deswegen hervorgerufen, weil der
Komponist es sagt, aber es gehört nicht wirklich zur Musik. Es wird hinzugefügt. (...)“
Als letztes Musikbeispiel zur Beantwortung seiner Frage wählt Bernstein Tschaikowskys
Symphonie Nr. 5 e-moll, op. 64 und sagt:
„Denken wir nicht mehr an jene Musik, die Geschichten erzählt oder Bilder malt, sondern an die
Musik, die Gemütsbewegungen ausdrückt, Gefühle – wie Schmerz, Glück, Zorn, Einsamkeit,
Aufregung oder Liebe. Ich glaube, so ist jede Musik beschaffen, und je besser sie ist, desto mehr
spürt man, welche Gefühle den Komponisten bewegten, als er sie schrieb. (...) Nun können wir
wirklich verstehen, was Musik ausdrücken will: Es kommt darauf an, was ihr empfindet, wenn ihr
die Musik hört. (...) Wenn sie uns etwas sagt – nicht etwas erzählt oder ein Bild beschreibt,
sondern ein Gefühl erweckt –, wenn sie eine Veränderung in uns bewirkt, dann verstehen wir
Musik. Das ist alles. Denn diese Gefühle gehören zur Musik. Sie stehen nicht selbständig da wie
die Geschichten und Bilder, über die wir vorher gesprochen haben. (...) Das wunderbarste aber ist,
daß die Gefühle, welche Musik in uns hervorruft, unendlich vielfältig sind. Manche kann man mit
Worten gar nicht beschreiben. (...) Ihr seht also, der Sinn der Musik liegt in der Musik, in ihren
Melodien und Harmonien, in den Rhythmen, in der Farbe des Orchesters und ganz besonders
darin, wie sie sich entwickelt. (...)“
Wenn wir den Gedanken von Bernstein folgen und Musik in diesem Sinne auf uns wirken lassen,
können wir spüren, wie wichtig diese Basis für die Lehre und das Lernen von Musik ist. Wir
müssen uns die Frage stellen, inwieweit wir der Musik begegnen, in ihr leben, sie fühlen und
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atmen. Wenn wir sie umschreiben mit Bildern und Geschichten, können diese uns von der Musik
entfernen, wir können die Musik „verlieren“.
Eingangs erwähnte ich bereits dass, erst wenn wir der Musik pur begegnen können, wir ihre
Wirkung, ihr „Wesen“ sprechen und verstehen lernen, wir auch erst dann sie in neue Kontexte
stellen können. In Kontexte von Wort und Geschichte, Farbe und Malerei, Bewegung und Tanz
und vielem mehr. Stellen wir nun die Musik in den Kontext des Erzählens. Ist das nach diesen
ganzen Ausführungen über Musik jetzt paradox? Nein! Aber es stellt sich die Frage: Was sind die
narrativen Momente der Musik?
Sobald Musik erklingt, verändert sich unser Bewusstsein und das unmittelbar und unbewusst.
Nehmen wir dieses Phänomen bewusst wahr, können wir mit Musik uns, aber auch andere
Menschen steuern. Ein Beispiel der Selbststeuerung. In unserem Alltag lassen wir gerne Musik
laufen, wenn wir putzen, abspülen oder ähnliche Dinge tun. Oder wir hören gerne Musik, wenn wir
ein wenig abschalten und relaxen möchten. Warum? Und welche Musik? Störend kann Musik aber
auch werden, wenn wir beispielsweise ein Buch lesen und wir sie unbemerkt im Hintergrund laufen
lassen. Manchmal ist sie dann so störend, dass wir dem Gedankengang des Buches nicht mehr
folgen können, wir erst dann die Musik „bemerken“ und sie abschalten.
Musik selbst erzählt nicht. Aber – sie löst aus. Sei es Emotionen, Sehnsüchte, Farben,
Erinnerungen, Geschichten, ... , sie verbindet sich mit unseren Gedanken, führt diese weiter, lässt
Neue entstehen. Es geht um ihren tiefen emotionalen Gehalt und im Kontext von Geschichten und
Musik um die unterschiedlichen steuerbaren narrativen Momente von ihr. Diese sind teilweise sehr
naheliegend wie beispielsweise bei der Oper, beim Lied oder Song oder bei dem musikalischen
Märchen von Prokofjew „Peter und der Wolf“. Entfernter sind sie bei Kompositionen wie zum
Beispiel
beim
Zyklus
„Kinderszenen“
op.
15
von
Robert
Schumann
oder
bei
der
durchkomponierten sinfonischen Dichtung „Ein Heldenleben“ op. 40 von Richard Strauss.
Was aber sind nun diese naheliegenden oder entfernter liegenden narrativen Momente der Musik?
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Vorweg; wichtig für die Betrachtung ist die Erkenntnis, dass Musik eine völlig eigene Sprache ist,
eine Ton- und Klangsprache für die es weder eine Übersetzung noch ein Fremdwörterduden gibt.
Und ebenso wichtig ist es zu wissen, dass wir Musik völlig subjektiv wahrnehmen. Es gibt keine
Chance der objektiven Wahrnehmung!
Nun aber ein Versuch der Erklärung.
Nehmen wir beginnend ein Lied von Franz Schubert: „Der Lindenbaum“ aus dem Liederzyklus
Winterreise D 911 nach Gedichten von Wilhelm Müller
Ein idyllisches Lied? Hierfür wird es oft zitiert. Hörend kennt man meist nur die erste Strophe. Als
Satz für Männerchor gesetzt von Silcher ist es wohl eines der bekanntesten Lieder von Franz
Schubert. Hören Sie es sich doch einfach mal an: http://youtu.be/WDqg16P-q-Q
Der Lindenbaum
Am Brunnen vor dem Tore,
Da steht ein Lindenbaum:
Ich träumt’ in seinem Schatten
So manchen süßen Traum.
Ich schnitt in seine Rinde
so manches liebe Wort;
Es zog in Freud und Leide
Zu ihm mich immer fort.
Ich mußt’ auch heute wandern
Vorbei in tiefer Nacht,
Da hab ich noch im Dunkel
Die Augen zugemacht.
Und seine Zweige rauschten,
Als riefen sie mir zu:
Komm her zu mir, Geselle,
Hier find’st Du Deine Ruh!
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Die kalten Winde bliesen
Mir grad in’s Angesicht;
Der Hut flog mir vom Kopfe,
Ich wendete mich nicht.
Nun bin ich manche Stunde
Entfernt von jenem Ort,
Und immer hör ich’s rauschen:
Du fändest Ruhe dort!
Jetzt im Original von Franz Schubert (Dietrich Fischer Dieskau, Gesang und Alfred Brendel,
Piano): http://youtu.be/jyxMMg6bxrg
Lied 5: „Der Lindenbaum“ – oder: Wie verdrängt man eine böse Erinnerung
(aus Wolfgang Hufschmidt: „Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?“, Pfau-Verlag, 1993,
Seite 85/86)
Wolfgang Hufschmidt bespricht in seinem Werk „Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?“
sowohl den Text als auch die Musik von Franz Schubert. Dies in der Zeitstruktur, in der
Interpretation des Inhalts aber auch in der Form, der musikalischen Architektur. Ich zitiere W.
Hufschmidt:
„Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum Da steht ein Lindenbaum; ein Zustand der
zeitlich gesprochen die Gegenwart mit der Vergangenheit (Ich träumt` ...) verbindet.“
Vielleicht die Jugendzeit mit so manchen süßen Träumen?
„Ich schnitt in seine Rinde ein: Dein ist mein Herz! – mit Herz und Pfeil dadurch.“
(Ein alter Brauch dessen Spuren auch heute noch an Bäumen zu sehen sind.)
„Ich schnitt in seine Rinde so manches liebe Wort – es ist klar, welche Wörter da gemeint sind:
Franz liebt Paula und ähnliches. Es zog in Freud und Leide zu ihm mich immer fort. Das ist wie
aus der Klamottenkiste des kleinbürgerlichen Gefühlsrepertoires gegriffen: Freud und Leid.“
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Freud und Leid in einem Atemzug oft genannt, das Leben ist eben kein Zuckerschlecken aber
wenn wir Glück haben, schaffen wir das schon alles in allem. Das ist die erste Strophe,
musikalisch der erste Teil, so Hufschmidt und weiter:
Ich mußt’ auch heute wandern
Die zweite Strophe transportiert die erste Strophe durch das Wort HEUTE in eine lang
abgeschlossene Vergangenheit und wörtlich genommen bedeutet sie:
„(...) auch was jetzt kommt ist Vergangenheit, aber eine unmittelbar erlebte – so unmittelbar, als
geschähe noch einmal – in der lebendigen Erinnerung – was da heut ... in tiefer Nacht geschehen
ist. Das ist das minore und steht – wie wir wissen – für die Realität. Da hab ich noch im Dunkel die
Augen zugemacht.“
Gleichwohl der Dunkelheit, macht der Wandernde die Augen zu, warum? Er möchte diesen
idyllischen Lindenbaum der ersten Strophe nicht sehen, so Hufschmidt.
„Und wenn er die Augen zu macht, dann ist es ja auch schön, dann rauschen seine Zweige in EDur. Das ist die Erinnerung: seine Zweige rauschten, als riefen sie mir zu: komm her zu mir,
Geselle. Dieses E-Dur (ab Takt 37) ist wie ein Schutz – ist das Augenzumachen vor der bösen
Erinnerung (wie heißt es bei Friederike Kempner unnachahmlich kleinbürgerlich ausgedrückt: „seh
ich das Böse, denk ich nicht hin“). Takt 41 ist die Mitte des Stückes (Gesamtlänge 82 Takte) – und
genau hier wird die böse Erinnerung genannt: komm her zu mir, Geselle. HIER FINDST DU DEINE
RUH`! Das ist eine Aufforderung, lyrisch umschrieben, sich an diesem Lindenbaum aufzuhängen,
Selbstmord zu begehen. Und nun kommt die dritte Strophe – nennen wir also Takt 45 Teil III, Takt
25 war Teil II. In diesem zweiten Teil schneidet die Musik durch den moll-Dur-Wechsel in den Text
hinein. Der dritte Teil steht musikalisch für die unmittelbare Gegenwart, ist die eigentliche
dramatische Handlung: plötzlich das forte und plötzlich eine rasche affektgeladene Bewegung –
wie in einer unheimlich-dramatischen Opernszene. Die kalten Winde bliesen mir grad in’s
Angesicht, der Hut flog mir vom Kopfe, ich wendete mich nicht. Und diesen ganzen musikalisch
inszenierten emotional-dramatischen Aufwand versteht man nur, wenn man begriffen hat, was mit
dem hier findst du deine Ruh` gemeint ist. Das Ganze verklingt rasch, beruhigt sich – wie man sich
allmählich beruhigt, wenn einen eine böse Erinnerung überfallen hat und man merkt, dass alles ja
längst vorbei ist.“
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Folgt man den Ausführungen und der Analyse von Hufschmidt, erkennt man die geniale
musikalische Umsetzung von Franz Schubert. Sowohl in der kontrapunktischen Architektur zum
Text, als auch in der rhythmischen (Zeit-)Schichtung. Schuberts feinsinnigen Einsatz der beiden
Tongeschlechter Dur und Moll, der im Wechsel als Höhepunkt innerhalb von zwei gleichlangen
achttaktigen Abschnitten die zweite Strophe trennt: die Musik „schneidet“ in den Text, so
Hufschmidt, ist ein genialer musikalischer Plan.
Am Beispiel von Schuberts Vertonung des Gedichtes „Der Lindenbaum“ erkennen wir, dass
naheliegende narrative Momente oder Ideen in der Musik nicht zwingend naheliegend leicht zu
verstehen sind. Wir erleben ihre Wirkung, können diese von Seiten der Musik aber erst dann für
uns greifbar machen, wenn wir die musikalische Sprache durchdringen und die Bausteine der
Musik verstehen. Diese sind Rhythmus, Melodie und Harmonie. Wir erleben beim Hören von „Der
Lindenbaum“ sowohl die gesungene und damit Text transportierende Melodie, wir hören die
rhythmische Gestaltung der Melodie als auch der harmonischen Wendungen und erleben vor
allem die harmonische Gestaltung durch die beiden Tongeschlechter Dur und Moll. Gleichzeitig
erklingen aber auch immer wieder erkennbare Motive und Wiederholungen die in verschiedenen
Registern liegen. Schubert hat hier eine hochkomplexe Komposition, eine in ihrer „Schlichtheit“
geniale Vertonung des Textes entwickelt. Er hat das Gedicht und dessen Aussage durchdrungen
und eine Verbindung mit Musik gefunden – eine musikalische Interpretation des Textes und damit
einen musikalischen Subtext!
Franz Liszt der diese Idee von Franz Schubert bestens erkannte, formte diesen musikalischen
Weg weiter indem er den Liedern von Schubert den Text entzog. Es entstand eine Ton- und
Klangsprache fast wie bei einer sinfonischen Dichtung.
Schubert-Liszt: Der Lindenbaum http://youtu.be/yp5rYkEpdvM
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An diesen Beispielen können wir erkennen, dass ausgelöst durch einen Text und dessen
Durchdringung, eine musikalische Verbindung gesucht und gefunden wurde. Eine Verbindung die
durch Liszt weitergeführt sogar zur Ablösung des ausschlaggebenden Textes und damit zum
Loslösen des Mediums Sprache führte. Eine Verbindung die – wenn auch in meinen Augen sowohl
von Schubert als auch von Liszt als genial zu bezeichnen ist – rein subjektiv in der menschlichen
Wahrnehmung ist und bleibt – aber aus Text eine narrative Musik entstehen ließ.
Wie würden Sie für sich die Unterschiede benennen, wenn Sie das Gedicht zuerst lesen, dann
rezitierend und anschließend im Original von Franz Schubert und in der Bearbeitung von Franz
Liszt hören? Wie beeinflussen sich Text und Musik, Musik und Text? Nehmen Sie sich einen
Moment die Ruhe und die Zeit und probieren Sie es doch einfach mal aus:
Lesen
Der Lindenbaum
Rezitation
http://youtu.be/edRrP3o1yCY
Müller/Schubert
http://youtu.be/jyxMMg6bxrg
Schubert/Liszt
http://youtu.be/yp5rYkEpdvM
Betrachten wir die Oper werden wir in wesentlichen Punkten den gleichen Phänomen wie bei
Schuberts Lied begegnen. Nehmen wir „Don Giovanni“ von Wolfgang Amadeus Mozart, ein
Meisterwerk der Operngeschichte. Das Libretto ist von Lorenzo da Ponte.
Eindringlich und in ihrer Instrumentierung äußerst raffiniert gesetzt, beherrschte Mozart eine
Klangsprache von extremer dramaturgischer Energie, voller Leidenschaft und musikalischer
Rhetorik. Seine Oper Don Giovanni eröffnet er mit einer sehr düsteren und dramatischen, fast
schon dämonischen Stimmung, in d-Moll.
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Ouvertüre zu Don Giovanni:
http://youtu.be/nemAKvtXL8w
Diese Ouvertüre soll angeblich erst in der Nacht vor der Premiere entstanden sein. Für mich
durchaus denkbar, denn sie beherbergt die entscheidenden musikalischen Momente der Oper und
erzählt so quasi im „Voraus“ die Geschichte der Oper in Form einer musikalischen Einleitung.
Vergleichen sie doch einfach kurz die Eröffnung der Ouvertüre mit Szene XV des Werkes:
„Don Giovanni, a cenar teco m`invitasti“
http://youtu.be/7cb1QmTkOAI
In der Musikgeschichte wurde schon zu Zeiten Bachs mit Affekten in der Tonsprache hantiert; sei
es für Freude eine Dur-Tonart oder für Trauer eine Moll-Tonart. Sehr schön hörbar u. a. in den
Motetten von Bach. Im Laufe der Musikgeschichte wurden die verschiedenen Affekte erweitert
oder auch „neu-modifiziert“ und so in neue Klangsprachen gedeutet. Beispielsweise Rache und
Vergeltung. Für diese wurde in der Zeit von Mozart gerne die Tonart d-Moll gewählt. Damit
erkennen wir, wenn auch für jeden Menschen subjektiv anders wahrnehmbar, dass Tonarten
unterschiedliche Emotionalitäten auslösen können. Emotionen, die uns natürlich in Verbindung von
und zum Text beeinflussen, uns unter Umständen den Text anders, ja manchmal gar neu
interpretieren lassen.
Die Idee Mozarts einen chromatischen Quartfall einzubauen, war in der damaligen Zeit in der
musikalischen Sprache, in der musikalischen Rhetorik, Ausdruck einer absoluten Verzweiflung.
Auffallend sind auch die insgesamt 40 verschiedenen Tempi die Mozart dieser Oper gab, Tempi
die entscheidend die Dramaturgie des Werkes unterstützen. Auch ein wesentliches Merkmal für
die Verbindung von Musik und Text. Und interessanterweise erklingen im Finale des ersten Aktes
drei verschieden taktige Tänze gleichzeitig. Polyrhythmische kompositionstechnische Züge die erst
sehr viel später in der Musik wieder auftauchen.
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Ein weiteres Phänomen dieser Oper ist das Zitieren von damals drei populären Opern in der
Tafelmusik des zweiten Aktes, Szene XIII. Eine für mich typisch ironische und auch selbstironische
Haltung von Mozart, denn das dritte Zitat ist seine eigene Oper Die Hochzeit des Figaro mit dem
doppeltsinnigen Ausspruch von Leporello: „Questa poi la conosco pur troppo ...“ übersetzt „Dies
Stück jetzt kenn ich nur zu gut ...“.
Kommen wir bei den nächsten Beispielen zu einem Song von Hermann van Veen:
Edith Piaf 1983 http://youtu.be/Xs7a78LjpH8
Hier erleben wir eine völlig andere verbindende Form von Text und Musik im Gegenzug zu
Schuberts Kunstlied. Einen Songaufbau mit Strophe, Refrain, Bridge stärker atmosphärisch
gesetzt, aber auch mit Musikandeutungen und einer Instrumentierung die uns ein Stück über die
Grenze nach Frankreich bringt.
Auch bei dem Song Der Weg von Herbert Grönemeyer haben wir einen klaren Songaufbau, der
nicht den Text interpretiert sondern ihn unterstützend transportiert und ihm dabei atmosphärisch
eine eigene Stimmung verleiht.
http://youtu.be/UC81i2M30Bc
Musikalisch raffiniert ist der Beginn. Achtet man auf die Taktart ein 4er und dessen
Taktschwerpunkt auf der Eins, wird man nach einigen Takten ins „schleudern“ geraten; es gibt eine
Takt-Verschiebung. Ein 2er-Takt „mogelt“ sich kurz dazwischen und danach läuft alles wieder ganz
„normal“ im 4er weiter. Doch wann ist das geschehen? Musikalisch und harmonisch würde ich
sagen bei der Textstelle: Kann kaum noch glauben, Gefühle haben sich gedreht! Eine interessante
musikalische Verbindung zum Text.
Gehen wir einen weiteren Schritt. Kommen wir zu dem musikalischen Märchen von Prokofjew
Peter und der Wolf, das vermutlich bekannteste Beispiel in der Verbindung von Sprache und
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Musik.
Jeder
Charakter
in
diesem
Märchen
wird
durch
ein
Instrument
oder
einer
Instrumentengruppe (Peter beispielsweise durch die Streicher) und einem jeweils eigenen Thema
klanglich dar- und beginnend vorgestellt.
Deutsche Fassung:
http://youtu.be/C64R_efKzLU
und eine schöne Fassung auf Englisch:
http://youtu.be/MfM7Y9Pcdzw
In diesem musikalischen Märchen werden die entscheidenden Informationen erzählt und die Musik
malt diese weiter aus, beispielsweise als Peter morgens auf die große grüne Wiese geht. Geht er
oder ist er hüpfend und federnd unterwegs und was erlebt er schon alles, bevor er seinen Freund
den kleinen Vogel trifft? Wir erleben durch die Information „Peter auf einer grünen Wiese“ und dem
anschließenden Einsatz der Musik weiterführende musikalische Informationen, wir erleben eine
erzählende Musik. Diese führt wiederum in den gesprochen Text zurück oder beide erklingen zum
Teil gleichzeitig. Dies wirft die Frage auf, wer beginnt? Die Sprache oder die Musik? Oder starten
beide gleichzeitig? So erschreckt beispielsweise die Musik den Zuhörer noch bevor der Text –
eigentlich ja der Sprecher - ihn auf dieses Ereignis vorbereiten kann.
Fassen wir das Bisherige zusammen:
Die Bausteine der Musik sind Rhythmus, Melodie und Harmonie. Diese können in
unterschiedlichen Konstellationen einzeln oder gleichzeitig auftauchen. Die Beeinflussung dieser
Bausteine findet mit Hilfe der Parameter – ich nenne diese gerne die Gewürze der Musik – Tempo,
Dynamik und Artikulation statt. Über das Tempo wurde kurz bei Mozart gesprochen. Jeder
sprachliche oder musikalische Ausdruck hat natürlicherweise ein Tempo. Dies wird bewusst oder
unbewusst gewählt, ist aber für eine Interpretation von enormer Wichtigkeit. Denn wenn eine
Geschichte oder eine Musik zu langsam für den zu transportierenden Inhalt ist, kommt dieser leicht
ins stocken und umgekehrt, sind beide zu schnell, können wir die Informationen nicht mehr
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verarbeiten. Es kann aber auch sehr spannend werden wenn Geschichte und Musik zwei
kontrapunktische Tempi haben. Mit Hilfe der Dynamik und der Artikulation ergeben sich weitere
dramaturgische Werkzeuge bei einer musikalischen Gestaltung, ähnlich wie beim Tempo.
Taktarten verführen uns tänzerischer, spazierender, marschierender oder auch hinkend unterwegs
zu sein oder auch auf unserem Weg musikalische „Stolpersteine“ zu hinterlassen, wie bei
Grönemeyer „Gefühle haben sich gedreht“.
Wir haben festgestellt, dass Tonarten und Tongeschlechter uns emotional beeinflussen, so bei
dem Einsatz für gezielte Affekte. Die Wahl der Instrumentierung verleiht Figuren, Tieren,
Gegenständen etc. einen sehr eigenen Charakter.
Durch musikalische Anlehnungen an andere Kulturen oder beispielsweise durch Einbeziehung
französischer, spanischer, etc., Songs, kann unsere Geschichte plötzlich in ein anderes Land
fliegen oder den Ort an dem die Geschichte spielt beeinflussen. Stellen Sie sich vor, es erklingt
das Stück gesungen oder rein instrumental:
„Les Champs-Elysées“ http://youtu.be/uA4KihbsISU
Und dann beginnt die Geschichte mit: „Eines Tages als ich ...“, spielt dann in unserem Kopf nicht
ganz schnell die Geschichte in Paris oder Frankreich? Natürlich könnte es auch ein französisches
Café in Berlin sein. Wir bekommen eine musikalische Information die uns verändert unsere
Gedanken beeinflusst und uns „reisen“ lässt.
Das musikalische Einführen von Motiven oder Themen birgt die Möglichkeit Figuren, Tiere,
Gegenstände etc. wenn sie einmal eingeführt sind wiederholend auftauchen zu lassen, ohne dass
sie erneut textlich genannt werden müssen, ein Beispiel hierfür war Peter und der Wolf. Auch das
Zitieren von Bekanntem beispielsweise innerhalb Mozarts Oper Don Giovanni, seine Oper Figaro
mit Leporellos Ausspruch, bringt erzählende musikalische Momente die keinen weiteren
Kommentar benötigen. Kleine bekannte musikalische Zitate werden sofort in Verbindung zu der
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Erzählung gesetzt, geben ihr eine Ironie oder erweitern und führen sie fort. Ein weiteres Beispiel
hierfür wäre die Träumerei von Robert Schumann.
http://youtu.be/QiMFICjD5Hg
(Cursor bitte auf 6.58 min. stellen oder den Titel in der Liste unten anklicken)
Dieses Stück hat mit seinem Titel einen solchen Bekanntheitsgrad, dass es eine wunderbare ZitatWirkung und damit ein auslösendes Gedankenspiel bei einer Geschichte mit Musik haben würde.
Diese kleine Auswahl von Aspekten musikalischer Ideen, zeigen das was ich meine, wenn ich von
naheliegenden narrativen Momenten der Musik spreche. Naheliegende narrative Momente der
Musik, werden durch direkte Verbindungen in diesem Fall von gesprochenem oder gesungenem
Text ausgelöst. Die Musik ist oftmals ein entscheidender Subtext, wie beispielsweise bei Schuberts
Lied Der Lindenbaum oder Mozarts Oper Don Giovanni oder sie bietet eine starke atmosphärische
Unterstützung beispielsweise bei Popsongs. Anders ist es bei Prokofjews Peter und der Wolf denn
hier erzählt gleichberechtigt zum gesprochenen Wort die Musik ebenfalls die Geschichte. Als
Klangsprache führt sie diese weiter oder schmückt sie aus; in uns entstehen Bilder oder
umschreibende bzw. fortführende Gedanken die wir innerlich mit unserer Sprache füllen.
Das von mir benutzte Wort gleichberechtigt sehe ich aber auch bei Schuberts Lied oder Mozarts
Oper. Jedoch folgen viele Menschen mehr dem gesprochenen oder gesungenen Wort und
verstehen die Musik als „reine“ Begleitung. Wie groß ihr Anteil wirklich ist fällt spätestens auf, wenn
wir beispielsweise bei einem Hitchcock-Film die Musik weglassen würden. Hier kommt in der
Verknüpfung von Musik und Sprache natürlich noch das Bild, das fortlaufende Bild mit seinen
Farben oder in schwarzweiß hinzu. Bleiben wir aber bei Geschichten mit Musik. Ich habe versucht
naheliegende narrative Momente der Musik zu beschreiben, ausgelöst durch oder in Verbindung
unserer Sprache. Dabei spielt die emotionale Wirkung der Musik eine wichtige Rolle. Die Zitat-,
Motiv- oder Themenwirkung ist entscheidend an die Definition durch die Sprache – die oft im
Vorfeld stattgefunden hat – oder den Bekanntheitsgrad eines Stückes/Werkes gekoppelt. Oder
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würden Sie Peter über die grüne Wiese gehen sehen, wenn Sie die Musik hören und keiner hätte
es Ihnen erzählt? Damit sind wir wieder bei Bernstein gelandet, der sagte:
„Ihr seht also, der Sinn der Musik liegt in der Musik, in ihren Melodien und Harmonien, in den
Rhythmen, in der Farbe des Orchesters und ganz besonders darin, wie sie sich entwickelt.“
Die Sprache braucht keine Musik und umgekehrt, denn beide sind jeweils eigene wundervolle
Medien. In ihrer Verbindung aber können sie sich ergänzen, bereichern, erweitern und neu
formulieren. Stehen sie in keiner guten Verbindung können sie sich aber auch stören.
Was sind jetzt aber entfernter liegende narrative Momente der Musik?
Darunter verstehe ich eine Art „Wort-Bedeutung“ in Verbindung mit Musik, die jedoch eine
„Gedanken-Suche“ durch die Musik selbst auslöst. Ein Beispiel; wir hören aus dem Zyklus
„Kinderszenen“ op. 15 von Robert Schumann Bittendes Kind.
http://youtu.be/QiMFICjD5Hg
(Cursor bitte auf 3.14 min. stellen oder den Titel in der Liste unten anklicken)
Der Zyklus Kinderszenen der laut Schumann nicht für Kinder, sondern als „Rückspiegelung eines
Älteren für Ältere“ komponiert wurde, besteht aus 13 Stücken die alle einen Titel haben. Einer der
bekanntesten Titel ist wohl Die Träumerei (siehe oben). Die Musik zu diesen Titeln ist äußerst
romantisch und dabei forschend, klärend aber auch suchend. Die Titel in Verbindung mit der Musik
lösen oftmals eine gedankliche Suche in uns aus, die in der Musik gefunden und umgesetzt, also
komponiert wurde. Bittendes Kind was kann eine größere Bitte sein als nach einem Zuhause, eine
Bitte nach einer sicheren Bleibe?
Bittendes Kind löst genau diese Suche aus. Eine Suche in diesem Fall in der Musik nach einem
musikalischen Zuhause. Eine Suche die nicht erfüllt wird, sondern als verzweifelnde Bitte am Ende
des Stückes im Raum steht; musikalisch auf einem Dominantseptakkord in A-Dur. Dabei ist der
tiefste Ton ein a und der Höchste das g! Eine kleine Septime die weit auseinander gespreizt
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wurde! Welch eine Bitte nach Auflösung in die Grundtonart und damit Erlösung in ein tonales
Zuhause! Die ganze Suchbewegung des Stückes beruht auf dieser tonalen Suche des Zuhauses,
des endlich Ankommens. Bittendes Kind wird auf der Dominant-Tonart eröffnet, verirrt sich eine
Schein-Lösung findend in die parallele Moll-Tonart und endet mit dem größten Fragezeichen einer
musikalischen Bitte, der kleinen Septime! Die rhythmische Gestaltung ist eine permanente
Vorwärtsbewegung und in Verbindung mit den Harmonien wirkt die Musik wie ein sich ständig
drehen und wenden. Die Wiederholungen ergeben ein sich erneutes Zuwenden; die Bitte wird
ständig ausgesprochen.
Aber wie schon bei Schubert, es folgt ein schnelles Vergessen oder Verdrängen. Wieder einmal
liegen Glück und Leid dicht beisammen, denn es folgt das Stück Glückes genug.
Was erzählen uns also die einzelnen Stücke und damit auch dieser gesamte Zyklus?
Ähnliche Phänomene erleben wir bei der durchkomponierten sinfonischen Dichtung. Eine
sinfonische Dichtung oder auch eine Tondichtung sind musikalische Werke die für unterschiedliche
Besetzungen bis hin zu Orchestern komponiert wurden und werden. Sie versuchen beispielsweise
Menschen, Sagengestalten oder auch Tiere, Landschaften, Bilder, Gemälde mit musikalischen
Mitteln zu beschreiben. Aber auch Literatur kann Vorlage für eine sinfonische Dichtung oder auch
Tondichtung sein. Eine der bekanntesten Tondichtungen des 20. Jahrhundert ist das Streichsextett
Verklärte Nacht von Arnold Schönberg.
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Weitere bekannte sinfonische Dichtungen oder auch Tondichtungen sind u. a.:
Friedrich Smetana: Mein Vaterland (hieraus wohl am Bekanntesten: Die Moldau)
Paul Dukas: Der Zauberlehrling
Claude Debussy: La Mer oder auch Prélude à l`après-midi d`un faune
Jean Sibelius: Finlandia
Hector Berlioz: Symphonie Fantastique
Franz Liszt: Faust-Sinfonie
Richard Wagner: Siegfried-Idyll
Richard Strauss: Don Juan oder auch Till Eulenspiegels lustige Streiche, Don Quixote
Die sinfonische Dichtung „Ein Heldenleben“ op. 40 von Richard Strauss, hatte ursprünglich fünf
Überschriften oder Satzbezeichnungen u. a. „Der Held“, „Des Helden Widersacher“, „Des Helden
Gefährtin“, usw. die auf Wunsch von Strauss bei späteren Auflagen aus der Partitur entfernt
wurden. (Wir finden sie aber in aller Regel wieder auf dem CD-Cover.)
Hören Sie sich doch einfach mal dieses Werk an, nehmen Sie sich 40 Minuten Zeit und lassen sie
Ihren Gedanken freien Lauf:
http://youtu.be/lUEHH1x0tXY
Wir hören und erleben viele narrative Momente in der Musik, wenngleich vermutlich alle Zuhörer
eine völlig unterschiedliche Situation bzw. Geschichte, vor allem wenn keine Titel vorhanden
wären, beschreiben oder erzählen würden. Entfernter liegende narrative Momente entstehen also
aus der Musik selbst und bekommen eine sich sehr weit entfernende subjektive Beschreibung
durch den Zuhörer. Der Zuhörer entscheidet selbst, lässt seine Gedanken völlig losgelöst von
vorgegebenen Inhalten entstehen – wird höchstens noch durch einen Titel beeinflusst – und
verbindet so seine gedankliche Welt mit einer rein Musikalischen. Wie oben bereits erwähnt: eine
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Art „Wort-Bedeutung“ in Verbindung mit Musik, die eine „Gedanken-Suche“ durch die Musik selbst
auslöst. Es gibt keine so nahen Verbindungen wie beim Lied Der Lindenbaum oder Peter und der
Wolf.
Könnte in der Reduktion beispielsweise auch ein im Raum stehender Klang oder ein einzelner Ton
„erzählen“? In Verbindung mit einem Wort oder einem Satz: ja. Aber völlig „nackt“? Oder würde
dabei der Ort, der Raum eine entscheidende Rolle bekommen? Da wir immer einen Raum um uns
haben, vergessen wir ihn häufig und erleben ihn von daher oft unbewusst. Wie können also im
Umkehrschluss Geschichten durch Musik – im erweiterten Werksbegriff des letzten Jahrhunderts
auch durch Klänge und Geräusche – ausgelöst werden? Und was erzählt die Stille (Pause) in der
Musik?
Ein Beispiel für das Auslösen von Geschichten mit Hilfe von Geräusch, Klang und Musik aus der
Praxis an der Akademie Remscheid:
Die Teilnehmenden sitzen mit geschlossenen Augen und erleben folgende Klang, Geräusch und
Musik-Szene: eine Tür fällt laut ins Schloss, unruhige Schritte im Raum, jemand setzt sich auf
einen Stuhl – hat unruhige Füße, Blattgeräusche – öffnen eines Briefes, dieser wird nach einer
kurzen Zeit zerrissen, weggeworfen und es erklingt eine Musik:
http://youtu.be/c8FUZ-saANQ
(hörend von Beginn bis ca. 1`44“)
Eine zweite Teilnehmergruppe erlebt den gleichen Vorspann, aber hört eine andere Musik:
http://youtu.be/ttXb80Avp5w
(hörend von Beginn bis ca. 2`37“)
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Wir hören beide Male ein Werk von Robert Schumann, ersteres waren die Geistervariationen und
das zweite Werk Kreisleriana. Wie man sich unschwer vorstellen kann, entstanden innerhalb der
jeweiligen Gruppe mit der gleichen Musik sehr unterschiedliche Geschichten, die aber gewisse
durch die Musik geprägte Gemeinsamkeiten hatten. Jedoch die ausgelösten Geschichten im
Vergleich der beiden Musikstücke waren trotz gleicher Introduktion völlig gegensätzlich.
Frage:
Antwort:
Frage:
Antwort:
„Dann kann also Musik erzählen?“
„Nein!“
„Aber wie wir hören, tut sie es doch, oder?“
„Tut sie es wirklich?“
Ja, sie tut es! Aber nur in Verbindung von Rahmenbedingungen. Diese können gezielt gesetzt
werden oder völlig unbewusst sein, ein „Gedankenblitz“ beim Musik hören und schon kann eine
Geschichte entstehen. Aber sie entsteht auf musikalischer Weise. Ein Rhythmus und voller
Orchesterklang kann beispielsweise seine Entsprechung durch eine Horde galoppierender
Wildpferde bekommen, würde in uns die Weite Nordamerikas aufblitzen und wir hörten dabei E.
Grieg „Aus Holbergs Zeit“, op. 40, Praeludium: http://youtu.be/KNc5z2nu4MQ
Würde man bei der gleichen Musik aber als Rahmenbedingung sagen: „Was glaubt ihr, was erlebt
bei dieser Musik ein Regenschirm oder ein alter kochender Teekessel?“ Es würden völlig andere
Geschichten entstehen und doch hätten sie viele Gemeinsamkeiten. Denn sie entstehen eben
durch die Art der Musik, ihrer Wirkung und ihrer Emotionalität. Wir verbinden uns mit einem
anderen Kontext und lassen in diesem die Musik zur Sprache kommen. Wir brauchen einen
Anhaltspunkt oder eben einen im weitesten Sinne gedachten Rahmen.
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Literatur:
Barenboim, Daniel: „Klang ist Leben – Die Macht der Musik“, Siedler Verlag, München, 2008
Fiedler, Herbert: „Das Lehren der Musik – Ihre Bedeutung und Wirkung im Dialog der Vermittlung“,
Jahrbuch Kulturpädagogik der Akademie Remscheid, 2011
Bernstein, Leonard: „Konzert für junge Leute – Die Welt der Musik in 15 Kapiteln“, C. Bertelsmann
Jugendbuch Verlag, München, 1993
Hufschmidt, Wolfgang: „Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?“, Pfau-Verlag, Saarbrücken,
1993
Linkliste für YouTube:
Ouvertüre zur Oper „Wilhelm Tell“ von G. Rossini:
http://www.youtube.com/watch?v=V4PS8-_5UFw
„Das große Tor von Kiew“ aus dem Zyklus „Bilder einer Ausstellung“ von Mussorgsky:
http://youtu.be/mzIVO0DQHc4
„Der Lindenbaum“ aus dem Zyklus „Die Winterreise“ D 911, von Franz Schubert, Satz für
Männerchor gesetzt von Silcher:
http://youtu.be/WDqg16P-q-Q
„Der Lindenbaum“ aus dem Zyklus „Die Winterreise“ D 911, von Franz Schubert:
http://youtu.be/jyxMMg6bxrg
„Der Lindenbaum“ (Schubert-Liszt) aus dem Zyklus „Die Winterreise“ D 911, von Franz Schubert in
der Fassung von Franz Liszt:
http://youtu.be/yp5rYkEpdvM
„Der Lindenbaum“ Rezitation:
http://youtu.be/edRrP3o1yCY
Ouvertüre zur Oper „Don Giovanni“ von W. A. Mozart:
http://youtu.be/nemAKvtXL8w
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„Don Giovanni, a cenar teco m`invitasti“ aus der Oper „Don Giovanni“ von W. A. Mozart:
http://youtu.be/7cb1QmTkOAI
„Edith Piaf 1983“, Song von Hermann van Veen:
http://youtu.be/Xs7a78LjpH8
„Der Weg“, Song von Herbert Grönemeyer:
http://youtu.be/UC81i2M30Bc
„Peter und der Wolf“, op. 67 von S. Prokofjew:
Deutsche Fassung:
http://youtu.be/C64R_efKzLU
Englische Fassung:
http://youtu.be/MfM7Y9Pcdzw
„Les Champs-Elysées“, Song von Joe Dassin:
http://youtu.be/uA4KihbsISU
„Träumerei“ aus Kinderszenen, op. 15 von Robert Schumann:
http://youtu.be/QiMFICjD5Hg
„Bittendes Kind“ aus Kinderszenen, op. 15 von Robert Schumann:
http://youtu.be/QiMFICjD5Hg
„Ein Heldenleben“, Sinfonische Dichtung op. 40 von Richard Strauss:
http://youtu.be/lUEHH1x0tXY
„Geistervariationen“, WoO 24 von Robert Schumann:
http://youtu.be/c8FUZ-saANQ
„Kreisleriana“, op. 16 von Robert Schumann:
http://youtu.be/ttXb80Avp5w
„Praeludium“ aus „Aus Holbergs Zeit“, op. 40 von E. Grieg:
http://youtu.be/KNc5z2nu4MQ
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