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titel
I
m Jahre 1866 veröffentlichte der Brünner Augustinermönch Gregor Mendel ein kleines Buch
mit Forschungsergebnissen aus Erbsenkreuzungsversuchen, die er über einen Zeitraum von
zehn Jahren im Garten der Abtei durchgeführt hatte. 40 Exemplare der Schrift schickte er an führende Wissenschafter in verschiedenen Ländern. Er bekam keine einzige Antwort. Niemand goutierte die
Arbeit, fragte nach oder bot an, darüber zu diskutieren. Mendel war enttäuscht, aber nicht verunsichert.
„Meine Zeit wird schon noch kommen“, soll er gesagt
haben. Er hatte recht: Heute kennen nicht nur Wissenschafter den 1822 in Heinzendorf in Österreich-Schlesien geborenen Bauernsohn als den „Vater der Genetik“.
In den 150 Jahren, die seit der zunächst verkannten Publikation vergangen sind, ist so viel Wissen
dazugekommen wie in vermutlich keiner anderen
Disziplin, und die Auswirkungen der Genetik auf
unseren Alltag sind enorm. Vor allem konnten neue
Diagnosemöglichkeiten und Therapien für ganz unterschiedliche Krankheiten entwickelt werden. Zum
Beispiel brachten Forscher Mikroben dazu, das für
Zuckerkranke so wichtige Insulin herzustellen; es
muss nicht mehr mühselig aus den Bauchspeicheldrüsen von Rindern und Schweinen extrahiert werden. Man versucht teilweise sogar, „Krankheitsgene“ mittels Gentherapie durch gesunde zu ersetzen.
Die Agrarwissenschafter wiederum haben gelernt,
welche Gene Nahrungsmittelpflanzen besitzen müssen, um resistent gegen Trockenheit und Schädlinge zu sein oder einen höheren Ertrag zu liefern. Diese können sie mittels der in Europa umstrittenen
Gentechnik in Kulturpflanzen schleusen oder durch
konventionelle Züchtung gezielt einkreuzen. Es gibt
auch kaum mehr ein Waschmittel, in dem nicht gentechnisch hergestellte Enzyme Fett-, Gras- und Blutflecken von unserer Kleidung knabbern. Genetisch
optimierte Mikroben stellen Biotreibstoff her und
zerlegen Holz in seine Bestandteile, woraus Papier
gemacht wird. Freilich spielt die Erbforschung auch
in der Tierzucht eine große Rolle. So gibt es etwa
Gentests für Fellfarbe und Gesundheit von Pferden
und Hunden oder die Hornlosigkeit bei Rindern.
Erbrecht
Vor 150 Jahren entdeckte Gregor Mendel die
Grundlagen der Genetik. Seine Regeln gelten bis
heute, wenngleich enorm viel neues Wissen
hinzugekommen ist: über unser Aussehen, die
Ursachen von Krankheiten, Merkmale von
Nutzpflanzen – und die große Frage, wie Gene und
die Umwelt zusammenwirken.
Von Jochen Stadler
Während Mendel als Pionier erstmals einen Teil des
genetischen Regelwerks entzifferte, können wir
heutzutage praktisch jeden Buchstaben des Erbguts
nicht nur lesen, sondern sogar verändern. Mendel
glaubte, dass die Merkmalsträger einzelne Teilchen
sind, die an die Nachkommen verteilt werden. Heute weiß man, dass die Erbinformation kompakt zusammengefasst ist, wie in einer Enzyklopädie von
ein paar Dutzend Büchern. Nach und nach entdeckten die Wissenschafter, wie der Träger des Erbguts
funktioniert und aussieht. Sie erkannten, dass die
DNA der Stoff ist, aus dem diese Bücher gemacht
sind. James Watson und Francis Crick klärten ihre
Struktur 1953 auf. Kurz darauf fanden Matthew Meselson und Frank Stahl heraus, wie sie vervielfältigt
wird, damit sie an die Abkömmlinge weitergegeben
werden kann.
74 profil 23 • 6. Juni 2016
AMERICAN PHILOSOPHICAL SOCIETY/Science Photo Library/picturedesk.com
Das genetische Regelwerk wird entblöSSt
6. Juni 2016 • profil 23 75
Gefleckte Rinder und ein
blutender Zarewitsch
Die „Pustertaler Sprinzen“
kommen durch ein spezielles
Erbmuster zu ihren
charakteristischen Fellmustern.
Alexei Nikolajewitsch Romanow
war der letzte Zarensohn und
litt an der Bluterkrankheit, die
er von seiner Urgroßmutter,
Königin Viktoria von England,
geerbt hatte.
76 profil 23 • 6. Juni 2016
shutterstock (2); getty images; CORBIS/Getty Images
titel
1963 knackte Marshall Nirenberg den Code der
DNA, und zehn Jahre später wurde der erste gentechnisch veränderte Organismus hergestellt. Noch
einmal so lange dauerte es, bis Kary Mullis die DNA
im Labor praktisch unbegrenzt vervielfältigen konnte. 1986 entdeckte man das erste Gen, das für eine
Erbkrankheit verantwortlich ist, und 1996 erblickte das Klonschaf Dolly das Licht der Welt. Seitdem
wurden auch Mäuse, Rinder, Ziegen, Schweine,
Mufflons, Gaurs, Kaninchen, Katzen, Ratten, Maultiere, Pferde, Hirsche, Frettchen, Wasserbüffel, Hunde, Wölfe, Rhesusaffen und Dromedare solcherart
vermehrt. Manche Forscher wollen nicht einmal vor
Lipizzaner und
dem Menschen haltmachen. Vor 15 Jahren wurde
Vergissmeinnicht
Die „Schimmelmutation“
dessen Erbgut entziffert, und derzeit sorgt eine „Genbei den berühmten
schere“ für Aufmerksamkeit, mit der man jeden einösterreichischen Pferden
zelnen
Buchstaben in praktisch jedem lebenden Orwird genauso nach Mendels
ganismus umschreiben kann (siehe Kasten Seite 82).
Regeln vererbt wie die
Obwohl so viel Wissen dazugekommen ist, sind
Blütenfarbe bei der
zierlichen Pflanze, die sich
die Regeln des erbsenzählenden Mönchs gültig wie
laut Sage fürchtete, von Gott eh und je. „Er hat quasi ein Naturgesetz aufgedeckt“,
vergessen zu werden.
erklärt Heinz Himmelbauer vom Department für
Biotechnologie der Wiener Universität für Bodenkultur (BOKU). Das Erbgut der Erbse, also jener
Pflanze, mit welcher der Vater der Genetik arbeitete, ist skurrilerweise aber noch nicht vollständig bekannt, während nahe Verwandte wie Fisolen, Kichererbsen und Sojabohnen schon vor Längerem
sequenziert wurden. Um einiges interessanter als
ein einzelnes Erbgut von Menschen oder Sojabohnen zu kennen, sei es aber, die Variation innerhalb
der Arten zu kennen, meint Himmelbauer. Denn
dadurch könne man bei Pflanzen zum Beispiel viel
besser lernen, wie sie mit Stressfaktoren wie Hitze,
Trockenheit, Salz und Krankheitserreger umgehen
können – und sie so zusammenkreuzen, dass sie all
dies vertragen.
„Auch in der Tierzucht erleben wir eine wahre
Blüte der Genetik Mendelscher Merkmale“, sagt Johann Sölkner vom Institut für Nutztierwissenschaften der BOKU. Mit Kollegen fand er kürzlich heraus,
wie Lipizzaner weiß und Kühe gefleckt werden.
„Schimmel sind bei der Geburt dunkel, ergrauen in
den ersten Lebensjahren und werden schließlich
weiß“, erklärt Sölkner. Die Forscher entdeckten, dass
die „Schimmel-Mutation“ in einem Gen-Regulator-Element liegt, das nach den Mendelschen Regeln vererbt wird, und Pferde mit zwei solchen Genvarianten schneller ergrauen als jene mit nur einem.
Wie eine gefährdete österreichische Rinderrasse, die
Pustertaler Sprinzen, zu ihren Flecken kommen, war
mittels Mendelscher Regeln ebenfalls herauszufinden. „Wir fanden ein ganz besonderes Erbmuster,
bei dem ein Teil des KIT-Gens, das auch in Katzen
und Pferden für die Färbung verantwortlich ist, auf
eine andere Stelle im Erbgut verdoppelt wurde“, so
der Genetiker. Bei der Zucht von Nutztieren wie Rindern, Schweinen und Pferden können Gentests auch
Hinweise liefern, wie gut das Fleisch und die
Milchleistung der Nachkommen ist und wie fit sie
sind. Bei Hunden und Katzen geben sie etwa Auskunft über die Fellfarbe und mögliche Gesundheitsprobleme.
Freilich ist auch den Menschen vom Aussehen
über das Krankheitsrisiko bis zum Verhalten vieles
von der Genetik in die Wiege gelegt. Doch wie viel
genau? Wie groß ist nach heutigem Wissen, eineinhalb Jahrhunderte nach der Begründung der Lehre vom Erbgut, der Beitrag der Genetik zum Erscheinungsbild und Wohlergehen des Menschen tatsächlich? Die Antwort lautet: Es kommt darauf an.
Die Gene von Vater und Mutter bestimmen zum
Beispiel die Haar- und Augenfarbe, doch schon bei
der Körpergröße wirken auch Umwelt und Ernährung mit. Weiters ist zwar teilweise in den Erbanlagen verankert, wie leicht man Übergewicht erwirbt,
doch Verhalten und Umweltfaktoren machen letztlich die Dimension des Problems aus: im konkreten
Fall vor allem, wie leidenschaftlich man fettigen und
süßen Speisen zuspricht.
Ein anschauliches Beispiel sind auch Allergien:
Man kennt heute eine ganze Reihe von Genen, die
mitbestimmen, ob wir bereits mit einer grundsätzlichen Neigung zu Allergien zur Welt kommen. Doch
erst die Lebensverhältnisse in früher Kindheit entscheiden darüber, ob wir auch an Symptomen wie
Heuschnupfen leiden oder nicht.
Auch beim Verhalten redet die Genetik mit, vor
allem über die Produktion von Hormonen im Körper. Sie spielen etwa für die Konzentrationsfähigkeit oder die Risikobereitschaft eine Rolle. Dennoch
kann man nicht aus der genetischen Grundausstattung eines Menschen ableiten, ob er zum Nobelpreisträger, Manager oder Verbrecher wird. Einzelne Gene dafür gibt es, wie inzwischen evident ist,
schon gar nicht – ebenso wenig wie für Glück oder
Gottesgläubigkeit.
Aus der Humanmedizin ist die Mendel-Genetik
kaum wegzudenken, erklärt Christine Mannhalter,
Professorin für Molekulare Diagnostik an der Medizinischen Universität Wien: „Vor allem bei seltenen Erkrankungen ist sie oft der einzige Weg, um
die verantwortlichen Gendefekte zu finden oder
eine genetische Beratung vorzunehmen.“ Allerdings
sind für menschliche Erbkrankheiten oft mehrere
Gene gleichzeitig verantwortlich, und selbst wenn
sich diese zuverlässig jeweils nach den Mendelschen
Regeln vererben, wird es rasch kompliziert. Natürlich ist auch hier enorm viel neues Wissen dazugekommen. So versucht man zurzeit, nicht nur die
Wirkung einzelner Gene zu verstehen, sondern den
Einfluss ganzer Netzwerke.
Die Genetik revolutionierte die Medizin
In den vergangenen Jahrzehnten wurden bei vielen Erberkrankungen die verantwortlichen Genveränderungen gefunden, zum Beispiel bei der Hämophilie (Bluterkrankheit). Da es in der britischen Königs- und in der russischen Zarenfamilie viele
Bluter gab, hatte man hier länger sehr gute Aufzeichnungen und medizinische Daten und lernte
einiges über die Vererbung. So war rasch klar, dass
Frauen nur sehr selten betroffen sind und Generationen übersprungen werden können, die Mendelschen Regeln also nicht unmittelbar anwendbar
sind. Schon in den 1980er-Jahren entdeckte man
6. Juni 2016 • profil 23 77
titel
den verantwortlichen Eiweißstoff (Gerinnungsfaktor-VIII) und das Hämophilie-Gen, erklärt Mannhalter.
Heute ist freilich viel mehr über die Krankheit
bekannt – zum Beispiel, dass es selbst bei dieser monogenetischen Erbkrankheit Modulatoren gibt, die
beeinflussen, ob und wie stark jemand erkrankt. Die
Blutgruppe spielt beispielsweise eine Rolle und der
Zustand der Blutplättchen, die bei manchen Betroffenen rascher aktiviert werden können, um den
Schaden in Grenzen zu halten. Auch wenn eine Person zusätzlich ein erhöhtes Risiko für Thrombosen
(Blutgerinnsel) geerbt hat, kann das die Symptome
mildern. „Außer solchen genetischen Faktoren spielen natürlich auch Umwelteinflüsse eine Rolle“, erklärt Mannhalter.
Bei überwiegend erblich bedingten Krankheiten
wie Hämophilie, Cystischer Fibrose und Chorea
Huntington (Betroffene leiden dabei an fortschreitender Zerstörung eines Gehirnbereichs durch einen fehlerhaften Eiweißstoff) beeinflussen die Umwelt und Lebensweise in der Regel nur, wie stark
und früh die Symptome auftreten. Lungen- und
Hautkrebs sind hingegen vor allem durch den Lebensstil bedingt: Ob und wie viel jemand raucht respektive sich ungeschützt der UV-Strahlung aussetzt,
ist hier viel entscheidender als die Erbanlagen. In
der Mitte angesiedelt sind häufige Erkrankungen
wie Schlaganfall, Herzinfarkt, Bluthochdruck, Diabetes und Übergewicht, bei denen neben einer klaren genetischen Basis, der Prädisposition, Umwelt
und Lebensweise sehr bedeutend sind.
Vererbung jenseits Mendels Regeln
Allerdings kennt man mittlerweile auch andere Vererbungswege, die nicht in Mendels Schema passen.
Manche Merkmale und auch Erbkrankheiten werden nicht „regulär“ über die Chromosomen vererbt,
sondern durch zusätzliche DNA in den Zellorganellen, also den Mitochondrien und den pflanzlichen
Chloroplasten. Beide werden nur in den Eizellen
und nicht durch die Spermien weitergegeben und
daher ausschließlich mütterlich vererbt. Außerdem
kann es einen Unterschied machen, ob die jeweilige Merkmalsform vom Vater oder der Mutter
stammt. Dieses Phänomen nennt man Imprinting,
erklärt Ortrun Mittelsten-Scheid vom Gregor Mendel Institut (GMI) der Österreichischen Akademie
der Wissenschaften in Wien.
Ein ebenso spannendes wie kontrovers debattiertes Thema der jüngsten Zeit ist die Epigenetik.
Im Wesentlichen geht es hier um die Verflechtung
von Genetik und Umwelt, und die zentrale Frage
lautet: Wirkt die Umwelt womöglich ihrerseits auf
das Erbgut ein und verändert unsere genetische
Ausstattung? Es wird etwa darüber spekuliert, dass
die Nachfolger von „Hungergenerationen“ kränklicher sind oder seelische Traumata der Eltern „Narben“ im Erbgut der Nachkommen hinterlassen. Dabei bleiben die Gene selbst zwar unverändert, aber
deren Aktivitäten werden längerfristig umgestellt.
Das geschieht, indem die „Verpackung“ der DNA,
das Chromatin, modifiziert wird. Das Erbgut ist säu78 profil 23 • 6. Juni 2016
UNIFORMITÄTSREGEL
Die Grundlagen der Genetik
dominant-rezessiver Erbgang
intermediärer Erbgang
Was Gregor Mendels weltberühmte Kreuzungsversuche bedeuten.
H
inter jedem Merkmal steckt ein Genpaar, denn Erbsen
besitzen wie Menschen zwei Kopien
ihres Erbguts. An die Nachkommen geben sie nach dem Zufallsprinzip jeweils nur eine davon weiter. Erbsen- oder Menschenkinder
erben also von jedem Elternteil eine Kopie und tragen wieder zwei
davon. Die beiden Kopien können
exakt die gleiche Information haben (reinerbig) oder sich unterscheiden (mischerbig).
1. Uniformitätsregel
Wenn man zwei reinerbige Eltern
kreuzt, die sich bei einem Merkmal
unterscheiden, sieht dieses Merkmal bei allen Kindern gleich aus.
Befruchtet man zum Beispiel mit
dem Pollen einer Vaterpflanze, die
rote Blüten trägt und zwei „Rot-Gene“ trägt, die Narbe der Mutterpflanze mit weißen Blüten, die
zwei „Weiß-Gene“ trägt, sind die
Blüten aller Pflanzen der Kindergeneration je nach dem Wechselspiel
der beiden Genversionen (Allele)
rot, rosa oder gestreift.
• Beim „dominant-rezessiven Erbgang“ setzt sich das Erbe eines Elternteils durch. Das passiert zum
Beispiel, wenn das „Rot-Gen“ Vorlage für einen intakten Farbstoff ist
und das „Weiß-Gen“ bloß ein defektes „Rot-Gen“. Bei Erbsen ist die
rote Blütenfarbe gegenüber der
weißen dominant, das heißt, alle
Sprösslinge blühen wie die Vaterpflanze rot.
• Beim „intermediären Erbgang“ ist
das Merkmal eine Mischform. Hier
kodieren sowohl das „Rot-Gen“ wie
auch das „Weiß-Gen“ jeweils für intakte rote und weiße Farbstoffe, die
sich wie beim Malen vermischen
können. Bei der Wunderblume
(Mirabilis jalapa) haben die Nach-
kommen roter und weißer Blütlinge allesamt rosa Blüten.
• Beim „kodominanten Erbgang“
gibt es beide Merkmalsformen unverfälscht nebeneinander, zum
Beispiel, wenn zwei intakte
Farbstoffe entstehen, die nicht vermengt werden können. So sind etwa die Blüten von Vergissmeinnicht in den Elternfarben gestreift.
2. Spaltungsregel
In der nächsten Generation zeigen
die Nachkommen der äußerlich
uniformen Eltern wieder unterschiedliche Merkmale. 50 Prozent
der Kinder aus dem oberen Beispiel sind „mischerbig“ (heterozygot), haben also jeweils unterschiedliche Gen-Versionen auf den
beiden Chromosomen. Ihre Nachkommen sind recht unterschiedlich, denn die Merkmale „spalten“
sich auf. Dadurch kommt etwa das
Merkmal des rezessiven „WeißGens“ der Mutter, das in der ersten
Generation verborgen weitergegeben wurde, wieder zum Vorschein.
• Bei der „dominant-rezessiven“
Vererbung würden mischerbige Vater- und Muttererbsenpflanzen
zum Beispiel jeweils ein dominantes „Rot-Gen“ und ein rezessives
„Weiß-Gen“ für die Blütenfarbe tragen. Weil sich das Rot-Gen durchgesetzt hat, blühen die Eltern alle
rot. Sie geben ihr „Weiß-Gen“ trotzdem ebenso häufig weiter wie das
„Rot-Gen“. Ein Viertel der Nachkommen bekommt von beiden das zurückhaltende (rezessive) „WeißGen“ und hat daher weiße Blüten.
Ein Viertel bekommt zwei Mal das
dominante „Rot-Gen“ ab und blüht
rot. Ein Viertel bekommt vom Vater das „Rot-Gen“, von der Mutter
das „Weiß-Gen“ und blüht nach der
Farbe des dominanten Gens rot.
Beim restlichen Viertel ist es genau
umgekehrt, die Mutter spendet das
X
(P)
ELTERNGENERATION
X
RR
2 Rot-Gene
(dominant)
ww
2 Weiß-Gene
(rezessiv)
rr
ww
wR
F1
GENERATION
wr
SPALTUNGSREGEL
X
R
X
w
R
r
F2
GENERATION
w
r
RR
wR
wR
ww
w
rr
wr
wr
ww
w
„Rot-Gen“, der Vater das „Weiß-Gen“,
auch sie blühen rot. Insgesamt haben also von den mischerbigen Eltern ein Viertel der Nachkommen
weiße Blüten, drei Viertel rote.
• Beim „intermediären Erbgang“
passiert Ähnliches. Jeweils ein
Viertel der Wunderblumen wäre
hier reinerbig weiß oder rot, aber
die zwei mischerbigen Viertel der
Nachkommen blühen nicht rot,
sondern rosa, weil sich nicht eine
Farbe durchsetzt, sondern sich die
Farben gleichwertig mischen.
• Auch bei der „kodominanten“
Vererbung spalten sich die Merkmale in diesem Verhältnis (1:2:1)
auf. Ein Viertel der Vergissmeinnicht hätten also weiße, ein Viertel
blaue Blüten, und zwei Viertel
blau-weiß gestreifte.
3. Unabhängigkeitsregel
Sie besagt, dass zwei unterschiedliche Merkmale wie die Blütenfarbe
und Fruchtform unabhängig voneinander vererbt werden. Wenn
man zum Beispiel rot blühende
Erbsen mit gewellten Schoten und
weiß blühende Erbsen mit glatten
Schoten miteinander kreuzt, gibt es
sowohl Rot-Blütler mit gewellten
als auch mit glatten Schoten als
auch Weiß-Blütler mit glatten und
gewellten Schoten als Nachkommen.
Mendel-Regeln
Alle Kinder von
reinerbigen Pflanzen blühen in der
gleichen Farbe, in
der Folgegeneration
zeigen sich wieder
Unterschiede.
berlich um bestimmte Eiweißstoffe gewickelt, und
diese können mal loser, mal enger gepackt und zusätzlich verändert werden, sodass sie das Ablesen
der Gene erleichtern oder erschweren. All dies kann
durch Umweltfaktoren und Stress beeinflusst werden, bleibt aber im Gegensatz zu konventionellen
vorübergehenden Stressantworten auch dann bestehen, wenn der auslösende Faktor wieder verschwunden ist. Der neue Status kann sicherlich von
einer Zelle an ihre Tochterzellen weitergegeben werden, wenn ein Organismus wächst. Ob das auch
beim Übergang von einer Generation auf die nächste geschieht, ist derzeit hoch umforscht und umstritten. Möglicherweise werden diese Veränderungen in den Geschlechtzellen mehr oder weniger auf
den Ursprungsstatus zurückgesetzt, sodass gleichsam ein neues Spiel beginnt.
Unumstritten ist jedoch, dass die Epigenetik bei
Pflanzen und Tieren, aber auch beim Menschen in
fast in jedem Lebensstadium wichtig ist. Die früher
oft aufgeworfene Debatte, ob etwas genetisch oder
umweltbedingt ist, wird damit zunehmend obsolet.
Die Epigenetik macht es zum Beispiel auch möglich,
dass mit dem gleichen Erbgut ganz unterschiedliche Zellen entstehen können, etwa Blut-, Geschlechts-, Hirn-, Darm- und Hautzellen. Die Information in der „Betriebsanleitung“ DNA ist bei ihnen überall die gleiche, es werden aber jeweils
andere Kapitel berücksichtigt.
Gene wandern von Bakterien zu Uns
Auch der „horizontale Gentransfer“ umgeht die Mendelschen Regeln. Dabei werden Teile des Erbguts
nicht entlang einer Abstammungslinie von Generation zu Generation weitergegeben, sondern von
einem fertigen Organismus in einen anderen. Meist
spielen dabei Artgrenzen keine Rolle. Kürzlich wurde etwa gezeigt, dass Stabschrecken Verdauungsen-
Der Einfluss der Gene gegenüber Umweltfaktoren
UMWELT
GENE
•Hämophilie/
Bluterkrankheit
•Cystische
Fibrose
•Darmkrebs •Alzheimer
•Brustkrebs
•Schlaganfall
•Diabetes
•Asthma
•Herz-Kreis- •Lungenkrebs •Verkehrsunfall
lauferkran- •Hautkrebs
kungen
zyme von Darmbakterien geklaut haben. Und laut
einer Studie haben Menschen sogar mehr als 100
Gene von Mikroorganismen übernommen, die zum
Beispiel im Fettstoffwechsel und für das Immunsystem wichtig sind. Die Forscher nehmen an, dass diese Art von Genaustausch in der Evolution eine viel
größere Rolle gespielt hat als bisher angenommen.
Dennoch: All die teils verblüffenden neuen Erkentnnise setzen Mendels Regeln nicht außer Kraft,
sondern ergänzen sie, erklärt Mittelsten-Scheid.
Wenn man weiß, dass die Voraussetzungen dafür
gegeben sind, kann man sich mit den Grundregeln
des Brünner Mönchs auch nach 150 Jahren in der
Botanik, Tierzucht und Medizin noch uneinge
6. Juni 2016 • profil 23 79
titel
Allele Varianten eines Gens. Sie entste-
hen durch Mutation und können zu unterschiedlichen Erscheinungsbildern innerhalb einer Art führen.
Dominant Solche beherrschenden Allele
setzen sich immer durch, ihre Merkmale
werden vollständig ausgeprägt.
Rezessiv Ein solches „zurückhaltendes“
Allel kommt nur zum Tragen, wenn auf
dem anderen Chromosom kein dominantes ist.
Homozygot: Beide Schwesternchromosomen tragen dieselbe Erbinformation,
also idente Allele, der Organismus ist in
Bezug auf ein Merkmal „reinerbig“.
Heterozygot Die beiden Allele auf den
Schwesternchromosomen unterscheiden
sich, der Organismus ist „mischerbig“.
DANN: Enthält die gesamte Erbinformation lebender Zellen und Organismen und
wird über Generationen hinweg stabil
weitergegeben. Dadurch wird der Bestand
einer Art gesichert. Der chemische Aufbau und die Struktur der DNA sind in allen Lebewesen gleich, egal ob es sich um
Mensch, Pflanze, Pilz oder Bakterium
handelt.
RNA wird als Botenmolekül, Regulator
und Werkzeug zur Übersetzung der DNA
in Eiweißstoffe gebraucht, ist bei manchen Viren sogar Träger der Erbinformation und kann auch teilweise ähnliche Funkionen übernehmen wie Eiweißstoffe.
Chromosomen Sozusagen die einzelnen
Bücher, in denen die Erbinformation nie-
dergeschrieben ist.
Genotyp Die genetische Information, die
in einem Organismus steckt.
Phänotyp Die äußerlichen Merkmale
und inneren Werte eines Organismus, deren Ausprägung teils vom Genotyp, teils
von der Umwelt bestimmt wird.
80 profil 23 • 6. Juni 2016
schränkt ausrechnen, was die nächste Generation
bringt. Doch wie war es eigentlich dazu gekommen,
dass der als Johann Mendel geborene Bauernsohn
die Grundlagen der Vererbung entdeckte und damit zum ersten echten Genetiker wurde?
Vom Bauernsohn zum Abt und Genetiker
Der kleine Johann war wissbegierig und ein hervorragender Schüler, er durfte ins Gymnasium gehen
und ein Studium beginnen. Seine Schwester schenkte ihm dazu sogar einen Teil ihrer Aussteuer, doch
bald reichte das Geld nicht mehr. Wegen „bitterer
Nahrungssorgen“ musste er das Studium abbrechen.
Einer seiner Mentoren am Gymnasium hatte aber
eine Idee: Wenn Johann Mönch werde und zur
Theologie wechsle, zahle der Konvent die Studiengebühren. 1843 trat Mendel in Brünn den Augustinern bei und nahm den Ordensnahmen Gregorius
an. Neben der Religionslehre inskribierte er bald in
der Landwirtschaft, wo er Kreuzungstechniken lernte. Mendel wollte Lehrer werden, hatte aber Wissenslücken und scheiterte bei der Zulassungsprüfung. Sein Abt schickte ihn daraufhin an die Universität Wien, wo er seine Defizite ausbügeln sollte.
Dort lernte er Christian Doppler kennen und sah
bei dem Physiker, wie wichtig das Jonglieren mit
Zahlen sein kann. Als Lehrer kehrte er ins Kloster
zurück und startete dort 1856 im Garten als Hobby
Kreuzungsversuche mit Erbsen.
Mehr als zwei Jahre verbrachte er im Klostergarten damit, reinerbiges Saatgut auszusuchen und zu
prüfen, ob die Nachkommen noch die gleichen
Merkmale wie die Eltern tragen. Die Erbsen bestäubte er, indem er mit einem Tuschepinsel Pollen aus
der Blüte nahm und sie auf die Narbe einer noch
ungeöffneten Blüte einer anderen Pflanze übertrug.
Dann entfernte er deren Staubblätter, um eine
Selbstbefruchtung auszuschließen. Mendel beschränkte sich auf sieben gut unterscheidbare Merkmale, wie Gestalt und Farben der Samen, Stellung
der Blüten und Hülsenform. Damit wurde für ihn
das Geschehen überschaubar, und er konnte trotz
der komplizierten Vererbungsmuster Regeln daraus
ableiten, die heute als Naturgesetze gelten.
Zwischen 1856 und 1863 kultivierte Mendel nach
Schätzungen 28.000 Erbsenpflanzen und wertete
die Merkmale der verschiedenen Generationen statistisch aus. Er erkannte, dass nicht die Merkmale
selbst vererbt werden, sondern dahinter verborgene Merkmalsträger. Ähnlich den Atomen in der Physik sah er sie als „teilchenartige Elemente“, die an
die Nachkommen übertragen werden und deren
Aussehen bestimmen. Seine drei Vererbungsregeln
gelten für Merkmale, die jeweils von einem einzigen Gen festgelegt werden. Jedes davon liegt in zwei
Kopien vor, wobei eines immer vom Vater und eines von der Mutter stammt. Von welchem Elternteil ein Merkmalsträger stammt, ist unerheblich.
In der akademischen Welt wurden Mendels Ergebnisse ignoriert, vermutlich hatten sie die meisten der 40 Heftempfänger gar nicht gelesen oder die
Statistik nicht verstanden. Bei den praktisch arbeitenden Züchtern, die damals sehr erpicht waren, die
Mendels Vermächtnis
Eine Seite aus Mendels
Herbarium (links).
Ein Kreuzungsschema bei
dominanter Vererbung
(Bild rechts).
ullstein bild/getty images (2); getty images (2)
Kleines Lexikon
der Genetik
Erbsenblüten
Die Farbe der Blüten war
eines von sieben Merkmalen
bei Erbsenpflanzen, deren
Vererbung Gregor Mendel
mittels Kreuzungsversuchen
studierte.
6. Juni 2016 • profil 23 81
titel
Die molekulare Schere
Was hinter dem kryptischen Kürzel CrispR/Cas steckt: eine Vielfalt neuer genetischer Methoden, die teils fast unheimlich wirken.
A
ls „mächtiges Werkzeug, um praktisch in allen Organismen das
Erbgut zu verändern“, stellte die französische Biochemikerin
Emmanuelle Charpentier ihre Entdeckung kürzlich in Wien an der
Akademie der Wissenschaften vor. Mit dem CRISPR/Cas9 System,
das sie gemeinsam mit ihrer US-Kollegin Jennifer Doudna erstmals
2012 im Fachmagazin „Science“ beschrieb, verfüge man über ein
neues Präzisionsinstrument, um etwa Krankheitsgene auszuschalten.
Das sperrige Kürzel bezeichnet eine Art Gen-Schere, die den Eiweißstoff Cas9 hochpräzise an eine beliebige Stelle im Erbgut führt,
wo dieser einen Schnitt durchführt. Dort kann die DNA nun verändert werden. Man kann Gene einfügen oder ausschalten, defekte
Erbgutteile korrigieren und einzelne DNA-Buchstaben austauschen.
Die beiden Forscherinnen wandelten ein Abwehrsystem von Bakterien gegen Viren ab, mit dem die Mikroben das Erbmaterial der Eindringlinge erkennen, um es anschließend zu zerschneiden und dadurch unschädlich zu machen.
Das CRISPR/Cas-System funktioniert nicht nur in Bakterien, sondern auch in anderen Einzellern, Pilzen, Pflanzen, Tieren und Menschen. Seine Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig, und wohl gerade deshalb ist es teils umstritten. In der Grundlagenforschung wurde es viel einfacher, Gene auszuschalten, um ihre Funktion zu
erkunden. Die Humanmediziner wollen damit zum Beispiel weiße
Blutzellen von HIV-infizierten Patienten immun gegen das Virus machen. Als Gentherapie könnte die Präzisionsmethode angewendet
werden, um Erbkrankheiten wie die Sichelzellenanämie zu behandeln. Auch Eingriffe in die menschliche Keimbahn und Embryonen
sind möglich.
Weiters könnte man ein manipuliertes Gen rasch in einer ganzen
Populationen verbreiten. Damit wäre es denkbar, Krankheitsüberträger wie Zecken oder Malariamücken steril zu machen. Ökologen
warnen freilich vor unvorhersehbaren Folgen. Forscher haben in
den vergangenen Jahren mit der Gen-Schere schon krankheitsresistenten Weizen und Reis hergestellt, auch hornlose Rinder sollen derart entstehen. Weil sich die DNA-Sequenzen damit exakt verändern
lassen, hinterlassen solche Manipulationen praktisch keine Spuren
auf dem Erbgut. Diese veränderten Ackerpflanzen und Nutztiere
können daher nicht identifiziert werden, wie es bei jenen aus herkömmlicher Gentechnik leicht möglich ist. Die entsprechenden
RNA-Stücke mit den Leitsequenzen sowie Cas9 kann man über das
Internet bestellen, der Rest gehört in den einschlägigen Labors zur
Grundausrüstung. Das System kann etwa mit Mikroinjektionen in
die Zellen eingeführt werden. Die Gesamtkosten für einen solchen
Eingriff liegen unter 30 Euro.
Mechanismen der Vererbung zu verstehen, wurden
sie durchaus beachtet. Nach etwa zehn Jahren, in
denen der Mönch ausreichend Zeit für seine Experimente im Klostergarten und die darauf folgenden
Analysen gefunden hatte, passierte jedoch etwas, mit
dem der ruhige und zurückhaltende Gregorius wohl
nicht gerechnet hatte: Nach dem Tod des alten Abtes wurde er von seinen Mitbrüdern einstimmig
zum Nachfolger gewählt. Aufgaben und Ämter brachen über ihn herein, und er fand nie wieder Gelegenheit, sich ernsthaft wissenschaftlicher Arbeit zu
widmen. Mendel starb 1884 in Brünn und erlebte
nicht mehr, wie seine Regeln um 1900 von der akademischen Welt wiederentdeckt wurden.
die Wissenschaft entdeckt Mendel
Meist wird kolportiert, dass dafür der Wiener Botaniker Erich von Tschermak, der Niederländer Hugo
de Vries und Carl Correns aus Deutschland unabhängig voneinander verantwortlich waren. Der
Biohistoriker Uwe Hoßfeld von der Universität Jena
fand aber anhand eines kürzlich aufgetauchten
Briefwechsels von Tschermak und seinem Bruder
Armin heraus, dass diese Version korrekturbedürftig ist.
Armin war Physiologe in Wien und ebenfalls an
der Neuentdeckung beteiligt, vor allem mit Mendels Mathematik kam er am besten zurecht. Der
Briefwechsel verrät, dass die Wiederentdecker zusammenarbeiteten, aber auch ihre Spielchen miteinander trieben. So informierten die Brüder nur
de Vries über Änderungen in einer Publikation zur
Mendel-Genetik. „Der Streithansel (Correns, Anm.)
soll angesichts der späteren Correctur hereinfallen!“,
schrieb Armin an Erich von Tschermak. Außerdem
gehöre der britische Genetiker William Bateson zu
dem Kreis der Wiederentdecker.
Bis Mendels Ergebnisse in der wissenschaftlichen
Welt Anklang fanden, dauerte es jedenfalls fast ein
halbes Jahrhundert. Seine wegweisenden Erkenntnisse setzten – zusammen mit jenen von Charles
Darwin, von dem übrigens nicht ganz klar ist, ob er
auch zu den Empfängern von Mendels Büchlein
zählte – jedoch eine unglaubliche Aufwärtsspirale
in Gang, welche die Genetik zur Schlüsseltechnologie der vergangenen Jahrzehnte erhob. Sie hat über
die Medizin die Lebenserwartung der Menschen in
die Höhe getrieben, hilft dabei, eine wachsende Bevölkerung zu ernähren und macht ihr in vielen Dingen das Leben leichter. Sie bringt die Wissenschafter aber teilweise auch an Grenzen und führt sie an
heikle ethische Fragestellungen. Denn in Zukunft
wird es wohl weniger darum gehen, was man alles
über den Bauplan des Lebens weiß, sondern ob man
damit wirklich alles tun sollte, was man theoretisch
und praktisch könnte.n
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