Das Konzept der materiellen Verdichtung von Kräfteverhältnissen in

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Das Konzept der materiellen Verdichtung von Kräfteverhältnissen in der
Reproduktionsproblematik bei Nicos Poulantzas und in formanalytischen
Staatstheorien
von Armin Puller
Paper für die gemeinsame Tagung „Kapitalismustheorien“
von ÖGPW und DVPW, Sektion Politik und Ökonomie, am 24. und 25. April 2009 in Wien
http://www.oegpw.at/tagung09/
Paper id: AG4a_puller
(URL: http://www.oegpw.at/tagung09/papers/AG4a_puller.pdf)
Armin Puller
Das Konzept der materiellen Verdichtung von Kräfteverhältnissen in der Reproduktionsproblematik bei Nicos Poulantzas und in formanalytischen Staatstheorien
Paper zur Tagung ‚Kapitalismustheorien’ von DVPW & ÖGPW von 23. - 25. April 2009 in Wien
Nicos Poulantzas hat mit seiner Formulierung vom Staat als „materielle[r] Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form
ausdrückt“ (Poulantzas 2002, 159), eine neue Möglichkeit der Reflexion über Staatlichkeit, das Verhältnis von Staat und Ökonomie, sowie die Beschaffenheit sozialer Akteure, ihrer Beziehungen zum
Staat und ihrer Fähigkeiten eröffnet. Die Stärke seiner Staatstheorie von 1978 ist es, einen Ansatz
formuliert zu haben, in dem soziale Prozesse ausgehend von sozialen Kräften, ihren Kämpfen und
ihren Beziehungen zu Staat und Ökonomie gedacht werden können, wodurch eine Verknüpfung struktureller mit strategischen Analysen möglich wird. Das Spezifische an dieser Verknüpfung ist in der
bisherigen Rezeption nur unzureichend thematisiert worden: Der zentrale Begriff dieser Verknüpfung,
die „materielle Verdichtung“, soll hier nicht als Metapher behandelt, sondern als mit einer bestimmten
theoretischen Problematik1 verbundener Mechanismus des Sozialen in der Gesellschaftstheorie von
Louis Althusser aufgezeigt werden. Es soll gezeigt werden, dass das Verdichtungskonzept, in dem der
Staat gleichermaßen als strategisches Kampffeld wie materielles Staatsgerüst konzipiert ist, mit der
Problematik der sozialen Reproduktion zusammenhängt, in der das Verhältnis von Strukturen und
Praxen im Zentrum steht.
Der Begriff der Verdichtung hat in der Freudschen Psychoanalyse und im strukturalen Marxismus eine
lange Wirkungsgeschichte als spezifischer allgemeiner Mechanismus in der Konstitution von Prozessen. Um diese Wirkungsgeschichte zugänglich zu machen, soll in einem ersten Schritt eine Rekonstruktion des Begriffs in Freuds Theorie des psychischen Apparats und in Althussers Übertragung in
die Wissenschafts- und in die Gesellschaftstheorie vorgenommen werden, damit er hinsichtlich seiner
Stellung in der Staatstheorie genauer beleuchtet werden kann.
Die Klärung des Verdichtungskonzepts und seines Zusammenhangs mit der Reproduktionsproblematik
ermöglicht eine stärkere Abgrenzung von anderen theoretischen Problematiken, insbesondere jener
von formanalytischen Staatstheorien. Diese legen großes Gewicht auf eine Ebene der logischen Entschlüsselung der „kapitalistischen Widerspruchsstruktur“ (Hirsch) aus sozialen Formen, auf deren Basis
Institutionen, Handeln und gesellschaftliches Bewusstsein als historisch-spezifische Materialisierungen
entstehen. In der Konfrontation des Verdichtungskonzepts in beiden Ansätzen sollen Reichweite und
Grenzen anhand dreier Linien verhandelt werden: (1) dem Verhältnis von Produktionsweisen und Gesellschaftsformationen bzw. Produktionsverhältnissen und gesellschaftlicher Arbeitsteilung, (2) dem
Verhältnis Staat – Ökonomie und (3) der Analyse sozialer Kräfteverhältnisse und Kämpfe. Obwohl
formanalytische Staatstheorien wesentliche Punkte aus der poulantzianischen Staatstheorie integriert
haben, kann gezeigt werden, dass die formanalytische Problematik theoretische Begrenzungen in der
Herangehensweise an Strukturen und Akteure produziert, die im Reproduktionsstandpunkt überwunden werden können.
1
1. Ausgangspunkt: Stellung des Verdichtungskonzepts in der Staatstheorie
Die Originalität von Poulantzas’ Staatstheorie liegt weniger in der Konzeption des Staates als einem
sozialen Verhältnis, da auch andere Staatsauffassungen diesen Gedanken integriert haben, sondern
vielmehr in deren spezifischer Fassung: Poulantzas’ Ausgangspunkt sind soziale Kräfteverhältnisse,
Kämpfe und ihre Reproduktion / Transformation im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung einer
Gesellschaftsformation. Der Begriff der gesellschaftlichen Arbeitsteilung bezieht sich dabei auf die
Stellungen sozialer Agenten in der gesamten Organisation und Reproduktion der Produktionsverhältnisse einer Gesellschaftsformation entlang von Linien wie der Trennung von geistiger und manueller
Arbeit.2 Dieser Fokus auf Kräfteverhältnisse und ihre Strukturierung durch und Verankerung in (Staats)Apparaten ist der Logik der Verdichtung zu verdanken.
Poulantzas möchte mit seiner Staatskonzeption zeigen, dass der Staat nicht ausgehend von seinen
Aufgaben her bestimmt werden kann, sondern vielmehr ausgehend von (1) den Kämpfen herrschender Kräfte untereinander und zu anderen (subalternen) Kräften (das Kräfteverhältnis ist komplex
strukturiert, die sozialen Kräfte haben unterschiedliche Beziehungen zueinander) und (2) der Struktur
der gesellschaftlichen Arbeitsteilung analysiert werden muss, da dadurch die Positionierung der Kräfte
und das materielle Gerüst des Staates von Apparaten und den ihnen eigenen Institutionen als strategischer Prozess und als strategisches Feld (Poulantzas 2002, 167) in den Blick kommen. Die Funktionen des Staates – wie etwa die Organisation der herrschenden Klassen und Klassenfraktionen zum
(widersprüchlichen, weil arbeitsteilig fraktionierten) Machtblock, die Desorganisation der subalternen
Klassen und Klassenfraktionen, die Anrufung der (arbeitsteilig, klassenförmig, etc.) positionierten Individuen als juridische Subjekte (mit bestimmten Rechten und Pflichten), deren Interessen der Staat als
Hüter der Allgemeinheit vertritt, oder andere (politische, ökonomische, ideologische) Staatsfunktionen
– können so als umkämpfte Mechanismen (und nicht als unveränderliche, festgeschriebene Eigenschaften) auftreten. Selbst die, für Gesellschaftsformationen mit dominanten kapitalistischen Produktionsverhältnissen spezifische, relative Trennung von Politik / Staat und Ökonomie wird nicht als feststehend oder fixiert, sondern als Form herrschaftlicher Praxis – und damit als umkämpft und konjunkturell veränderbar – begriffen3. Der Staat kann prinzipiell alle Funktionen übernehmen, insofern die
Struktur und die Politiken des Staates das widersprüchliche Resultat von Kämpfen darstellen.
Der Verdichtungsbegriff trennt Poulantzas’ Staatstheorie von anderen Auffassungen, die ein weniger
komplexes Verständnis des Zusammenhangs von Staatsapparaten (dem materiellen Staatsgerüst),
gesellschaftlicher Arbeitsteilung (Gesamtheit von sozialen Stellungen in den Produktionsverhältnissen
in einer Gesellschaftsformation) und der Konstitution und Reproduktion sozialer Kräfte und Kräfteverhältnisse aufweisen. Dazu zählen etwa:
(a) juridische Staatsauffassungen, die den Staat in Begriffen der juridischen Ideologie (Souveränität,
Staatsvolk, Territorium, Verfassung, Gewaltenteilung, juristisches Eigentum, etc.) beschreiben;
(b) instrumentalistische oder technizistische Auffassungen, die den Staat als neutrales Werkzeug oder
als Instrument der ökonomisch herrschenden Klasse(n) zur Befriedung, Niederhaltung oder totalen Manipulation der beherrschten Klassen betrachten;
2
(c) ökonomistische Auffassungen, die den Staat als Ausdruck, Transmissionsriemen oder passiven
Erfüllungsgehilfen rein ökonomischer Gesetzmäßigkeiten betrachten;
(d) sowie auch formanalytische Auffassungen, die den Staat formalistisch aus (i) der Zirkulationssphäre, d.h. aus formell Freiheit und Gleichheit garantierenden Marktmechanismen oder (ii) anderen
Strukturen oder der Gesamtstruktur der kapitalistischen Produktionsweise, ableiten und damit soziale Kräfte und Kräfteverhältnisse entweder auf Marktbeziehungen reduzieren oder als hinzutretende Zufälligkeiten, Verzerrungen und Entäußerungen eines idealen Durchschnitts einer Kapitallogik begreifen und vor allem die Kohäsionsfunktion des Staates hervorheben.
2. Rekonstruktion des Verdichtungsbegriffs: Freud und Althusser
In der Formulierung der „materiellen Verdichtung“ ist die Bedeutung des Materiellen (materielles Gerüst aus Apparaten und den ihnen eigenen Institutionen) ausführlicher behandelt als der Begriff der
Verdichtung. Verdichtung ist allerdings ein theoretisch aufgeladener Begriff, dessen Wurzeln in der
Freudschen Psychoanalyse und dem strukturalen Marxismus liegen und dessen Struktur und Funktionsweise in Poulantzas’ Staatstheorie zum Tragen kommt.
2.1. Verdichtung in Freuds Traumdeutung
In seiner Analyse des Traums beschäftigte sich Freud intensiv mit der Traumarbeit, worunter der Prozess der Traumproduktion durch Bearbeitung unbewusster Gedanken (die im Schlaf bildhaft auftreten,
weil das Vorbewusste nicht aktiv ist und das das Unbewusste nicht zensuriert wird) verstanden wird.
Freud unterscheidet dabei mehrere Mechanismen der Traumarbeit, darunter (neben anderen) die
beiden wesentlichen Mechanismen der Verdichtung und Verschiebung von Traumgedanken. In der
Psychoanalyse werden Träume nicht auf einen einzigen latent unbewussten Gedanken reduziert, sondern als überdeterminiert begriffen, d.h. der manifeste Trauminhalt (das vom Traum nach dem Aufwachen Erinnerte) beruht auf vielfältigen latenten Traumgedanken (das sind lustvolle, aber auch Unlustvolles heraufbeschwörende, d.h. konflikthafte, Wünsche, die im Unbewussten nebeneinander bestehen). Die Traumbildung ist Resultat mehrerer Ursachen, wobei diese in ihrer Intensität nicht gleichermaßen bedeutungsvoll sind: Die einzelnen Traumgedanken sind immer in mehreren Assoziationsketten angeordnet, sind dort unterschiedlich verknüpft und daher unterschiedlich wirkmächtig. (Freud
1900a, 286, 307f., 316). Während mit der Überdeterminierung die komplexe Determinierung des
Trauminhalts (des Ergebnisses der Traumproduktion) bezeichnet wird, benennt Verdichtung den Prozess der komplexen Gliederung der Traumgedanken selbst. Diese Gliederung ist nicht einfach eine
Zusammenfassung oder Bündelung, da die Traumgedanken (1) nicht gleichrangig sind, sondern verschiedenrangig und (2) im Verdichtungsprozess bearbeitet werden und so nicht mehr in der ursprünglichen Form erkennbar sind, sich mit den anderen Traumgedanken vermengt haben. Ein zweiter wesentlicher Mechanismus der Traumarbeit, die Verschiebung, hängt in der Traumarbeit eng mit der
Verdichtung zusammen und ist nur abstrakt-formal von dieser zu trennen. Verschiebung spielt darauf
an, dass Traumgedanken von anderen Traumgedanken repräsentiert werden können und dabei eine
(unter Umständen restlose) Übertragung der Besetzungsenergie vom einen zum anderen Gedanken
3
stattfindet. Die Mechanismen der Verdichtung und Verschiebung erkennt Freud später (neben anderen) als, den psychischen Primärvorgang bestimmende, allgemeine Mechanismen der Instanz des
Unbewussten im psychischen Apparat. (Freud 1915e)
2.2. Verdichtung bei Althusser
Althusser hat sich intensiv mit Psychoanalyse beschäftigt und einiges über den wissenschaftstheoretischen Status der Psychoanalyse und die Theorie des Unbewussten geschrieben. Althussers Bedeutung
liegt (u.a.) darin, die psychoanalytischen Begriffe der Überdeterminierung, Verdichtung und Verschiebung in die Wissenschaftstheorie und die Gesellschaftstheorie übergeführt zu haben, und mit der Lo-
gik dieser Begriffe eine neue Komplexität in der Theorie des Sozialen gegen Ökonomismus und Historizismus4 eingeführt zu haben. Überdeterminierung sieht Althusser als eine dialektische Figur, in der
die komplex-strukturell-ungleichmäßig determinierte Gliederung von Widersprüchen gedacht werden
kann (Althusser 1963, 156). Der Begriff ermöglicht es, die Struktur der Gesellschaft als komplexstrukturell-ungleichmäßiges Ganzes aus vielen Widersprüchen mit Dominante zu denken. Althusser
entwickelte mit der Logik der Überdeterminierung mindestens fünf, später von Poulantzas übernommene, zentrale Gedanken:
(a) Überdeterminiertheit des Sozialen: Soziale Phänomene können nicht auf innere Einheitsprinzipien
zurückgeführt werden, sie sind (wie die latenten Traumgedanken) immer von vielfältigen, nicht
aufeinander reduzierbaren, Widersprüchen durchzogen und kennen keine singulären Ursachen
und keine Endpunkte. Soziale Phänomene sind nicht als Entäußerungen oder Selbstentfaltungen
zu begreifen, sondern existieren immer schon in konkreten und komplexen Existenzbedingungen.
Um diese Existenzbedingungen in der Analyse zu berücksichtigen, denkt Althusser soziale Phänomene vom Standpunkt der (niemals gleichförmigen) Reproduktion. (Althusser 1963; 1969)
(b) Anti-Ökonomismus / Anti-Technizismus: Ausgehend davon entwickelt Althusser eine Bestimmung
der Produktionsverhältnisse, in der diese dem Politischen und Ideologischen nicht äußerlich gegenüberstehen, sondern immer schon konstitutiv in den Produktionsverhältnissen präsent sind. Der
Begriff der Überdeterminierung lässt eine Konzeption des Ökonomischen als selbstregulativer Instanz nicht zu, das Ökonomische ist immer schon politisch-ideologisch überdeterminiert (und nicht
reduzierbar auf die technische Entwicklungen, ökonomische Entwicklungstendenzen, etc.). Mit
Althussers Begriffen von Produktionsverhältnissen, der Produktionsweise und der Gesellschaftsformation kann an einer letztinstanzlichen Determination durch die Ökonomie festgehalten werden, ohne Ökonomie essentialistisch zu denken. (Althusser 1969, 150; 1975, 61ff.)
(c) Subjektkonzeption I: Geschichte als subjektloser und nicht-teleologischer Prozess: Die Logik der
Überdeterminierung lässt Konzeptionen von Geschichte, die sich um ein Subjekt (etwa ein
menschliches Gattungswesens, Hegels Weltgeist, Vernunftprinzip, ArbeiterInnenklasse, etc.) drehen und teleologisch auf ein Ziel hinbewegen, nicht zu. Geschichte kann nicht reduziert werden
auf einen Ursprung, ein Wesen oder eine Ursache, vielmehr muss sie als das (überdeterminierte)
Ergebnis sozialer Kämpfe begriffen werden. Die Geschichte als einen subjektlosen Prozess zu verstehen, bedeutet nicht, die Subjekte in der Geschichte zu verleugnen, sondern die Vorstellung
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vom Subjekt der Geschichte aufzugeben: Geschichte hat kein Subjekt, aber einen Motor, die so-
zialen Kämpfe. Althussers Subjektkonzeption verunmöglicht es, Subjekte als außerhalb der Gesellschaft stehende Individuen vorzustellen: Die Individuen agieren als Subjekte immer schon unter
der Determinierung sozialer Verhältnisse, wobei sie diese Verhältnisse reproduzieren oder transformieren können. (Althusser 1973)
(d) Subjektkonzeption II: Ideologie als imaginäres Verhältnis zu den Existenzbedingungen: Soziale
Agenten können nur als Subjekte (als sozial Eingebettete) agieren. Ihre sozialen Praxen sind immer schon gesellschaftlich eingebettet und verbunden mit Vorstellungen der Subjekte über ihr
Verhältnis zu den realen Existenzbedingungen (Ideologie). Althussers Ideologietheorie gelingt eine
Reihe von Verschiebungen, Erweiterungen und Präzisierungen, die durch Konzeptionen von Ideologie als Bewusstseinsform unzugänglich waren: Ideologie drängt sich nicht zwischen Realität und
richtiges Erkennen, sondern ist (als Ideologie im Allgemeinen) die Repräsentation des Verhältnisses der Subjekte zu ihren Existenzbedingungen, existiert damit nicht in erster Linie im Bewusstsein, sondern in materiellen Handlungen, Praxen, Ritualen, die mit Apparaten verbunden sind.
Ideologie im Allgemeinen und der Mechanismus der Anrufung (Wiedererkennung, Verkennung –
Anerkennung) sind immer schon gegebene Strukturen der Subjektivierung und als solche (wie das
Unbewusste im psychischen Apparat) ewig (im Gegensatz zu bestimmten Ideologien in der Konjunktur einer Gesellschaftsformation bzw. theoretischen Ideologien). (Althusser 1969)
(e) Konzeption der Staatsapparate: Althusser betont, dass eine Staatstheorie nicht nur auf der Trennung von Staatsmacht und Staatsapparat aufbauen kann, sondern den Staatsapparat selbst als
Komplex unterschiedlicher Apparate (und ihnen eigener Institutionen) begreifen muss. Er unterscheidet neben einem repressiven Staatsapparat (Regierung, Verwaltung, Gewaltapparate) eine
Vielzahl (in der juridischen Ideologie teilweise als ‚privat’ bezeichneter) ideologischer Staatsapparate (ISAs), in denen sich Ideologien materiell verankern und die Ort und Einsatz politischer und
ideologischer Kämpfe sind. Anhand der ISAs zeigt Althusser, dass die Funktionsweise des Staates
nicht auf Repression begrenzt werden kann, sondern er auch strategisches (ungleiches) Kampffeld
ist. (Althusser 1969) Poulantzas hat den Begriff der Staatsapparate als Kampffelder aufgenommen, dabei aber auch die ökonomische Rolle des RSA und der ISAs betont und spricht in der
Staatstheorie von einem eigenen ökonomischen Staatsapparat. (Vgl. Poulantzas 2002, 59ff., 199)
Die allgemeine Funktionsweise des Verdichtungsbegriffs kann als Prozess der hierarchisch-komplexen
Anordnung von Widersprüchen in einem überdeterminierten Ganzen (mit Dominante) verstanden
werden. Der Verdichtungsbegriff ist an die Logik der Überdetermination gekoppelt und daher keine
beliebige Anordnung von Elementen5. Der Begriff der Überdetermination lenkt den Schwerpunkt der
Analyse auf die Struktur und Funktionsweise sozialer Phänomene und versucht, diese ausgehend von
der immer widersprüchlichen und nicht-teleologischen, „subjektlosen“, Reproduktion des Ganzen aus
zu denken. Poulantzas hat sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht intensiv mit psychoanalytischen
Fragen beschäftigt, die Begriffe der Überdeterminierung, der Verdichtung und Verschiebung und ihre
Logik allerdings in der Übernahme des Althusserschen Gesellschaftsbegriffs integriert.
5
3. Struktur und Funktionsweise des Verdichtungsbegriffs bei Poulantzas
Mit Althusser geht Poulantzas von der Frage der Reproduktion der Gesellschaftsformation und ihren
komplexen (real-konkreten, raum-zeitlich spezifischen) ökonomischen, politischen und ideologischen
Strukturen und Praxen aus. Der Staat und seine Apparate hängen in dieser Konzeption auf eine spezifische Weise (jener der relativen Autonomie des Staates von der Ökonomie) mit den Produktionsverhältnissen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zusammen. Er ist damit nicht formal aus der kapitalistischen Produktionsweise ableitbar, sondern nur im Zusammenhang aller sozialer Strukturen und
Praxen in einer jeweils bestimmten Konjunktur einer Gesellschaftsformation erklärbar.
Vor dem Hintergrund der Rekonstruktion des Verdichtungsbegriffs und seiner Verwendung in Poulantzas’ Staatstheorie können folgende Punkte über seine Struktur und Funktionsweise formuliert werden:
(a) Verdichtung ist der Prozess der komplex-hierarchischen Gliederung von sozialen Kräften in einem
Kräfteverhältnis in einer Gesellschaftsformation, d.h. ein Prozess, in dem diese Kräfte im Kräfteverhältnis nicht gleichrangig und gleichartig, sondern – in ihrer Struktur, ihren internen und äußeren Beziehungen, sowie in ihren Existenzbedingungen – unterschiedlich angeordnet werden und in dieser
Anordnung über die Verankerung in (Staats-)Apparaten selbst konstituiert und reproduziert / transformiert werden. Der Verdichtungsbegriff geht einher (u.a.) mit einem relationalen Klassenverständnis
und einem Verständnis des Primats sozialer Kämpfe über die sozialen Strukturen.
(b) Verdichtung impliziert, dass alle sozialen Kräfte innerhalb des Staates präsent sind, nur (basierend
auf ihren Stellungen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung) in unterschiedlichen Positionen innerhalb
des Staates und seiner Apparate. Die (aufgrund ihrer Stellung innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung) zum Machtblock gehörenden Klassen und Klassenfraktionen können (je nach ihrer Position
innerhalb des Machtblocks und ihrer Verankerung im Staatsgerüst) ihre Interessen und Strategien als
staatliche Politik durchsetzen, während die Interessen und Strategien subalterner Kräfte (aber auch
bestimmter, im Kräfteverhältnis des Machtblock nicht-dominierender Fraktionen) als Partikularinteressen an die Apparate herantreten, wobei diese den Kräften gegenüber relativ autonom auftreten. Die
Apparate sind ein strategisches Terrain für die Austragung von (politischen, ideologischen, ökonomischen) Konflikten, für die Herausbildung von Strategien, Staatsfunktionen und des Verhältnisses des
Staates zum Ökonomischen (d.h. die Art und Weise der relativen Trennung des Staates von den Produktionsverhältnissen), die Organisation der herrschenden und die Desorganisation der beherrschten
Klassen- und Klassenfraktionen. Dieses Terrain ist in sozialen Kämpfen grundsätzlich nicht neutral, da
die Struktur der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und die Interessen und Strategien des Machtblocks
im materiellen Staatsgerüst eingeschrieben sind.
(c) Verdichtung als bloße Bündelung, Zusammenfassung, Institutionalisierung oder Kohäsion zu denken, birgt die Gefahr, die unterschiedlichen Stellungen und Positionen der sozialen Kräfte zu vernachlässigen. Bei Poulantzas treten im Staat die Interessen und Strategien einzelner Akteure nicht unmittelbar als solche auf, sondern finden sich in Form von Interessen und Strategien von Teilen, Netzen,
Branchen in oder zwischen Staatsapparaten wieder. Die Strategien und Interessen sind dabei aber
verdichtet, d.h. haben eine andere Dichte und Wertigkeit, weil sie hierarchisch-komplex mit anderen
Strategien und Interessen zu Kompromissen vermengt sind, unter Umständen werden ihre Strategien
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und Interessen gar nicht – auch nicht eingeschränkt – direkt vertreten, sondern sind in ganz anderen
Strategien und Interessen integriert, von vielleicht aber auch unterschiedlichen Seiten in unterschiedlichen Dichten und Intensitäten repräsentiert. Zugleich werden die Akteure in den Kräfteverhältnissen
staatlich konstituiert über die Positionierung in Apparaten und weil im Rahmen der Kräfteverhältnisse
alle Praxen der Akteure einen Bezug zum Staat haben bzw. die Kämpfe, Strategien und Interessen,
auf dem strategischen Feld des Staates formuliert bzw. ausgetragen werden.
(d) Verdichtung bedeutet, dass die Staatsapparate in unterschiedlicher Dichte und Intensität Interessen und Strategien von Machtblockfraktionen (in ihren Kämpfen untereinander und zu den subalternen Kräften) bzw. auch subalterner Kräfte verankern und dass sich diese Interessen und Strategien
zumeist auch in unterschiedlichen Apparaten finden. Konflikthafte Politiken von Apparaten bzw. zwischen Apparaten werden so denkbar. Die Art und Weise der Bearbeitung von Konflikten, Interessen,
Strategien, Politiken, etc. hängt von der jeweils spezifischen Struktur eines Apparats ab.
Die „materielle Verdichtung“ ist ein allgemeiner Mechanismus in der Konstitution, Reproduktion und
Transformation von Staatlichkeit. Der Staat ist das Ergebnis der Verdichtung eines (immer schon in
soziale Strukturen eingebetteten) Kräfteverhältnisses, zugleich hat er eine konstituierende und strukturierende Wirkung auf soziale Kräfte(verhältnisse) und Kämpfe in einer Gesellschaftsformation. Um
Verdichtung in bestimmten Konjunkturen untersuchen zu können, benötigt es – vom AbstraktEinfachen zum Konkret-Komplexen gehend – konkrete Begriffe für die Analyse der Verdichtungsprozesse. Poulantzas hat für die Analyse staatlicher Politik als Resultat innerstaatlicher Widersprüche einige Mechanismen unterschieden (Vgl. Poulantzas 2002, 165f.), die sich auf die Staatsapparate als Orte
und Einsätze von Kämpfen beziehen.
Darüber hinaus kann der Mechanismus materieller Verdichtung über eine Analyse von Machtbeziehungen und Machttechniken genauer untersucht werden: Den Staat als strategischen Prozess zu fassen,
bedeutet, den Einsatz von Staatsmacht als Einsatz von Macht sozialer Kräfte (etwa Klassenmacht) zu
sehen und genauer zu untersuchen, wie die Prozesse der Konstitution, Reproduktion und Transformation von Staatmacht beschaffen sind, d.h. warum (aus welchen Motiven und Interessen heraus) welche sozialen Kräfte (ausgehend von welcher Stellung in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Besetzung welcher Teile, Netze, Branchen welcher Apparate) wie (mit welchen Machttechniken und unter Mobilisierung bzw. Einbeziehung welcher anderer Kräfte) welche (ökonomischen, politischen, ideologischen) Strategien und Taktiken gegenüber welchen Kräften und welchen Widerständen einsetzen,
wie sich diese in Strukturen und Politiken von (bestimmten) Apparaten und in die Einheit des Staates
einschreiben und welche Auswirkungen dies auf die Struktur und die Praxisformen innerhalb des
Machtblocks, die Beziehungen zwischen Machtblock und subalternen Klassen und das instabile Kompromissgleichgewicht hat. Für Poulantzas, der in seiner theoretischen Praxis der Analyse konkreter
Konjunkturen (Westeuropas, der Militärdiktaturen in Griechenland, Portugal und Spanien, sowie des
Faschismus in Deutschland und Italien) diese Fragestellung verfolgt hat, beinhaltet die Struktur dieser
Fragestellung die Möglichkeit real-konkreter Analysen, die sowohl die Strukturen von Staat und Ökonomie (in ihrer spezifischen Trennung und Verbindung), als auch die Strukturiertheit sozialer Akteure
7
berücksichtigen und daher konkrete politische Ansatzpunkte (für Widerstand, neue Staatsprojekte,
etc.) liefern.
4. Verdichtung in formanalytischen Staatstheorien
Formanalytische Staatstheorien begründen den Staat auf „Formbestimmungen des Kapitalismus“ und
versuchen, die „politische Form“ des Kapitalismus zu konzipieren. Wenn in dieser Anschauung die
institutionelle Gestaltung des Staates als „formbestimmt“ verstanden wird, dann ist damit gemeint,
dass sich im Staatsgerüst bestimmte strukturelle Zwänge, die sich aus der kapitalistischen Produktionsweise ergeben, einschreiben und dass soziale Kräfte innerhalb dieser Zwänge, die der Logik der
kapitalistischen Produktionsweise folgen, handeln. Soziale Formen, wie Warenform, Wertform, politische Form oder Rechtsform, sind abstrakt-formale Bestimmungen im Sinne von Strukturmerkmalen,
die allen kapitalistischen Gesellschaften (in unterschiedlicher Weise) gemein sind. Sie beziehen sich
auf die „Verdinglichung“ sozialer Verhältnisse, d.h. den Individuen werden die Verhältnisse, in denen
sie leben, nicht bewusst, sondern stellen sich ihnen als ungesellschaftlich, als Beziehungen von Sachen, intransparent und „verdinglicht“ dar. Joachim Hirsch versteht unter der sozialen Form „einen
Vermittlungszusammenhang zwischen gesellschaftlicher Struktur – dem Vergesellschaftungsmodus –
sowie Institutionen und Handeln.“ (Hirsch 2005, 41). Formen „materialisieren“ sich in Institutionen,
die eigenständige, spezifische Dynamiken aufweisen und daher mit den Formen nicht zusammenfallen. Sie drücken Strukturprinzipien aus und sind als „Institutionalisierungsweisen“ historisch spezifisch.
Diese historisch spezifischen Ausdrucksformen sind der Einsatzpunkt der Verdichtung, die als historische Komponente hinzutritt: Wie die Strukturbestimmungen des Kapitalismus historisch konkret aussehen, hängt von Kräfteverhältnissen und Kämpfen ab, die ihnen zum „Ausdruck“ verhelfen. (Hirsch
2005, 22, 57, 178; Hirsch/Kannankulam 2006, 77). Der Staat „vergegenständlicht“ die Formbestimmungen und ist insbesondere Ausdruck der politischen Form, die auf der Basis der ökonomischen
Form begründet werden muss und zur „Besonderung des Staates aus der Gesellschaft“ (Hirsch 2005,
27f.) führe.
Poulantzas hat sich in der Staatstheorie von ableitungstheoretischen Begründungen des Staates stark
abgehoben. In seiner Kritik an Versuchen, die relative Trennung des Staates von den Produktionsverhältnissen als Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft zu denken, zeigt er, dass der Staat
weder aus der Verallgemeinerung von Warenbeziehungen, noch der Zirkulationssphäre begründet
werden kann, ohne dabei in eine historizistische Problematik zurückzufallen. Diese Problematik verunmöglicht es, die Reproduktion der Produktionsbedingungen konstitutiv (und nicht nur zusätzlich)
auch als Reproduktion der Arbeitskraft (und damit nicht nur als ökonomischen Prozess) zu verstehen
(Althusser 1969; Poulantzas 2002, 88) und setzt Kräfteverhältnisse und Kämpfe erst nachträglich ein.
Für eine Begründung des Staates aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung (im Sinne einer in letzter
Instanz von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen determinierten Praxis der Trennung politischer von ökonomischer Herrschaft) bleibt in der formanalytischen Konzeption kein Raum, auch wenn
die politische Form (in ihrer historischen Gestalt) als umkämpft dargestellt wird. Gerade die Frage der
Bestimmung der relativen Autonomie – Poulantzas und Formanalyse verstehen darunter allerdings
8
gänzlich andere Autonomisierungs- und Trennungsprozesse – ist ein zentraler Unterschied zwischen
den beiden Zugängen in der Staatstheorie.
Hirsch weist selbst auf Unzulänglichkeiten von Staatsableitungen hin, argumentiert aber, dass sie dennoch ein „grundlegender Ausgangspunkt“ für Staatstheorie sein müsse, da Poulantzas’ Staatstheorie
mit dem Manko einer fehlenden Begründung der relativen Autonomie behaftet sei. Poulantzas könne
nicht erkennen, dass die Erkenntnis der Formbestimmungen des Politischen im Kapitalismus dabei
helfe, „die allgemeinen strukturellen Bedingungen zu analysieren, die die sozialen Beziehungen, die
Verhaltensweisen, Handlungsmöglichkeiten, Wahrnehmungsmuster und Institutionalisierungsformen in
der kapitalistischen Gesellschaft bestimmen“ (Hirsch 2005, 25), sowie die „Widerspruchsstruktur der
kapitalistischen Produktionsweise und die damit verbundene Eigendynamik politischer Prozesse“
(Hirsch/Kannankulam 2006, 66) zu entschlüsseln. Poulantzas’ Kritik an der Staatsableitung begegnen
Hirsch und Kannankulam, dass die Probleme der Ausblendung von Klassen und Kämpfen durch ihre
Reduzierung auf Rechtssubjekte nur in Konzeptionen bestünde, die den Staat ausschließlich und einseitig aus der Zirkulationssphäre ableiten und nicht, wie sie es tun, aus dem „Gesamtzusammenhang
von Ausbeutung und Aneignung“ (Ebd., 76). Die politische Form stellt dabei eine vor Staat, Kräften
und Kämpfen gelagerte (logische) Ebene der Trennung von Staat und Gesellschaft dar, die mit dem
Begriff der „Besonderung“ belegt wird und letztlich mit der relativen Autonomie des Staates in seinen
Beziehungen zu den Produktionsverhältnissen wenig zu tun hat, da beide Trennungen mit unterschiedlichen theoretischen Problematiken zusammenhängen.
Poulantzas’ Problematik des Reproduktionsstandpunktes und seine Unterscheidung zwischen dem
abstrakt-formalen Begriff der Produktionsweise und dem real-konkreten Begriff der Gesellschaftsformation hängen dagegen mit einer Konzeption der Überdeterminiertheit des sozialen Ganzen zusammen, in der es keine vor dem Klassenkampf und der Konstitution und Reproduktion von Klassen gelagerten Wesenheiten und sich ausdrückende Erscheinungsformen geben kann. Die Problematik der
Formanalyse versteht die Geschichte auf Umwegen als durch ein Zentrum der sozialen Formen vereinheitlicht und verlagert soziale Kräfte und Kämpfe auf eine (historisch-konkrete) Ebene der Erscheinung (die in den Begriffen der Materialisierung, Institutionalisierung, Verdichtung, Kristallisation, Vergegenständlichung oder Konkretisierung beschrieben wird) sozialer Formen der (logischen) Ebene der
kapitalistischen Produktionsweise. Die Handlungen und Kämpfe der sozialen Kräfte auf der historischen Ebene sind von den wesenhaften Formen der logischen Ebene strukturiert, können diesen aber
auch zuwider handeln, wodurch Formen und ihre Materialisierungen in Widerspruch zueinander treten.
In der Konzeption formbestimmter Materialisierungen bleibt die für Poulantzas wesentliche Frage nach
der angemessenen theoretischen Ebene einer materialistischen Staatskonzeption außen vor, da die
Struktur formanalytischer Staatstheorien die Unterscheidung zwischen Produktionsweise und Gesellschaftsformation einebnet.6
6. Fazit: Materielle Verdichtung bei Poulantzas und Formanalyse
Die Vorstellungen von materieller Verdichtung eines Kräfteverhältnisses (Poulantzas) und der Materialisierung von Formbestimmungen im Staat (Formanalyse) unterscheiden sich grundlegend durch ihre
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jeweils unterschiedlichen Problematiken, aus denen sich unterschiedliche Klassenbegriffe und unterschiedliche Funktionsweisen der Begriffe von Produktionsverhältnissen, Arbeitsteilung, Gesellschaftsformation, Produktionsweise, Reproduktion, Politischem, Ideologie, Klassenkampf und relativer Autonomie des Staates ergeben. Ausgehend vom Reproduktionsstandpunkt, mit dem das Verdichtungskonzept von Poulantzas verbunden ist, ist das Verhältnis von Staat / Politik und Ökonomie nicht durch
Formen bestimmt: Der Staat kann nicht über logische Widersprüche und davon ableitbare Funktionen
(Gewaltmonopol, Steuerstaat, etc.) definiert werden, sondern als „materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses“ nur aus den Kämpfen sozialer Kräfte innerhalb der Strukturen und Praxen einer Gesellschaftsformation, die sich nicht historisch „materialisieren“, sondern immer schon in Apparaten
materiell verankert sind, gedacht werden. Weit von einem Spannungsfeld aus logischen Widersprüchen und ihrer historischen Materialisierung entfernt, bezeichnet die „materielle Verdichtung eines
Kräfteverhältnisses, das sich im Staat in spezifischer Form ausdrückt“ bei Poulantzas den Prozess der
Herstellung von Staatlichkeit als Konstitution, Reproduktion und Transformation von sozialen Kräfte(verhältnisse)n und der Einschreibung von Interessen und Strategien in das materielle Staatsgerüst
aus Apparaten.
ANHANG:
Einige Differenzen zwischen den Problematiken von Formanalyse und Reproduktion
Die Differenzen zwischen den beiden Problematiken, d.h. zwischen den Produktionsbedingungen ihrer
jeweils spezifischen theoretischen Praxis, können anhand folgender drei Aspekte deutlich gemacht
werden:
(a) Formanalytische Staatstheorien behandeln den Staat nicht auf der Ebene der Gesellschaftsforma-
tion, sondern auf der Ebene der Produktionsweise. Der Versuch, den Staat in seinen Grundzügen aus
der kapitalistischen Produktionsweise (und nicht aus der Gesellschaftsformation) her zu bestimmen,
hat in der Problematik der Formanalyse einen direkten Bezug zur formanalytischen Lesart der Marxschen Wertformanalyse. Darin stellt die Kritik der politischen Ökonomie eine Kritik fetischistischer
(Bewusstseins-)Formen dar, die aus den kapitalistischen Verhältnissen „entspringen“, diese naturalisieren und damit ihres sozialen Charakters entkleiden. Der Formanalyse geht es um das ideologiekritische Aufzeigen dieser Naturalisierungen (im Sinne eines „falschen, verdinglichten Bewusstseins“), die
den Kämpfen und ihrer Strukturierung eine grundlegende „Bewegungsform“ liefern. Althusser, Balibar
und Poulantzas haben ausgehend vom Reproduktionsstandpunkt das Fetischismuskonzept als unterkomplexe Ideologiekonzeption, die Ideologie nur als Bewusstseinsform, nicht aber als soziale Praxis
denkt und keine Verknüpfung zwischen Strukturen und Praxen zulässt, verworfen. (Althusser 1963;
1975; 1978; Balibar 1974; Poulantzas 2002). In formanalytischen Staatstheorien determinieren die
Formen als „Strukturprinzipien“ die Reproduktion von Institutionen, sozialen Kräften und ihren Handlungen und rücken gerade deshalb ins Zentrum der Begründung einer Staatstheorie. Paradoxerweise
bilden die sozialen Formen so zwar den Ausgangs- und Begründungspunkt der Staatstheorie, aber
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nicht ihren Gegenstand, insofern die Staatstheorie den Prozess der Herausbildung, Aufrechterhaltung,
Erweiterung oder Veränderung von sozialen Formen nicht analysieren kann (und daher auch keine
Strategien zur Überwindung sozialer Formen formulieren kann). Im Reproduktionstandpunkt, der von
sozialen Kämpfen als Motor der Geschichte ausgeht, ist die Reproduktion nicht von Bewusstseinsformen determiniert, sondern von, in ökonomischen, politischen, ideologischen Strukturen eingebetteten,
(Klassen-)Praxen in einer jeweils bestimmten Konjunktur einer Gesellschaftsformation.
(b) In der Problematik der Formanalyse besteht ein unklarer Begriff des Verhältnisses von Staat und
Ökonomie, da dieses Verhältnis mit dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft gleichgesetzt wird. Der
Widerspruch von Staat und Gesellschaft hat in der Formanalyse die Funktion, den Staat als verdinglichte Form zu kritisieren, die hinter dem Rücken der sozialen Akteure entsteht. Poulantzas verortet in
dieser Unterscheidung eine historizistische (positivistisch-empirizistische) Subjektproblematik, in der
die Gesellschaft als Ort von Klassenkonstitution, Produktionsverhältnissen, etc. dem Staat chronologisch und genealogisch vorausgeht (Poulantzas 2002, 68ff.). In der Reproduktionsproblematik steht
der Staat nicht über oder außerhalb der Gesellschaft (das entspricht nur bestimmten theoretischen
Ideologien vom Staat als Subjekt oder Instrument), sondern ist konstitutiv in den Produktionsverhältnissen präsent: Der Staat ist in der Organisation von ökonomischem und juristischem Eigentum, Besitz, sowie politischen und ideologischen Verhältnissen, der Klassenkonsitution- und reproduktion, etc.
immer schon präsent; Machtverhältnisse sind in kapitalistischen Gesellschaftsformationen niemals
ohne den Staat zu denken. Wenn Poulantzas von der relativen Autonomie des Staates spricht, so ist
keine Autonomie gegenüber der Gesellschaft angesprochen, sondern das Verhältnis der TrennungVerbindung des Staates zu den Produktionsverhältnissen.7
(c) In formanalytischen Staatstheorien wird die Frage sozialer Kräfteverhältnisse abstrakt-formal
(durch logische Positionen in den Waren- und Rechtsverhältnisse) im Rahmen der Bestimmung des
Staates aus der kapitalistischen Produktionsweise behandelt, wodurch soziale Klassen und Kämpfe in
einer Gesellschaftsformation ausgeschlossen werden. Die Zwei-Ebenen-Theorie der Formanalyse
(Ebene 1: Bestimmung des Staates aus der Produktionsweise über die politische Form + Ebene 2:
Kämpfe in formbestimmten Institutionen, die grundsätzlich auch auf die sozialen Formen der Ebene 1
Effekte haben können) lässt im Unklaren, wie Klassen in einer Gesellschaftsformation strukturell bestimmt werden können (zumal eine Bestimmung des Staates aus der Produktionsweise auch eine
Klassenbestimmung rein aus der Produktionsweise nahe legt), (2) welche Beziehungen zwischen der
Ebene 2 der Kämpfe und der Ebene 1 der Formen bestehen (da für die Verbindung zwischen Formen
und Institutionen nur Begriffe der Entäußerung bestehen). Poulantzas’ Reproduktionsstandpunkt verschiebt die Klassenbestimmung dagegen von den Waren- und Rechtsverhältnissen hin zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung in einer Gesellschaftsformation. Dies bringt die Vorteile mit sich, dass (1)
die Reproduktion der Arbeitskraft nicht mehr als Rechtsverhältnis, sondern als Klassenkampf gefasst
werden kann, (2) das Handeln des Staates nicht mehr wesentlich auf die Waren- und Rechtsverhältnisse ausgerichtet erscheint, sondern in seiner Ausrichtung auf die Produktionsverhältnisse (die auf
der Ebene der Gesellschaftsformation und nicht auf der Ebene der Produktionsweise reproduziert werden) und die gesellschaftliche Arbeitsteilung hin analysiert werden kann. (Poulantzas 1974; 1975)
11
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12
Anmerkungen
1
Mit dem Begriff der Problematik thematisiert Althusser die theoretischen Produktionsbedingungen
eines Textes. Jeder theoretischen Praxis liegt (zumindest implizit) eine Problematik zugrunde, die die
begriffliche Struktur, die in einer wissenschaftlichen oder ideologischen Theorie zugleich die Objekte
wie die Fragen an die Objekte ordnet, bestimmt. Problematik steht für das Produktionsmittel im Produktionsprozess eines Textes, mit dem der Rohstoff der (vor-)wissenschaftlichen, ideologischen und
philosophischen Erkenntnisse in wissenschaftliche Erkenntnisse, Theorien als Produkt des Produktionsprozesses, umgewandelt wird. (Althusser 1960b)
2
Die gesellschaftliche Arbeitsteilung umfasst die Gesamtheit an Klassenbeziehungen in einer Gesellschaftsformation, aber auch alle anderen Machtbeziehungen (die zwar nicht mit Klassenbeziehungen
zusammenfallen, jedoch immer auch klassenförmig überformt sind). Die gesellschaftliche Arbeitsteilung determiniert die technische Arbeitsteilung (so wie die Produktionsverhältnisse die Arbeitsprozesse
in der kapitalistischen Produktionsweise). Sie umfasst nicht nur ökonomische, sondern, gemäß dem
Verständnis der Überdeterminiertheit des sozialen Ganzen, immer zugleich auch politische und ideologische Stellungen. Die Teilung von geistiger und manueller Arbeit kann so als konstitutiv von Geschlechterverhältnissen, Rassismen, etc. überformt verstanden werden. (Nowak 2006; Fischer 2008)
3
„Diese Trennung ist nur die bestimmte Form, die im Kapitalismus die konstitutive Präsenz des Politischen in den Produktionsverhältnissen und ihrer Reproduktion annimmt.“ (Poulantzas 2002, 47). Die
Trennung ist die kapitalistische Art und Weise der Anwesenheit des Politischen im Ökonomischen.
Unter kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen fallen politische Herrschaft und ökonomische Herrschaft nicht zusammenfallen, Herrschaft wird arbeitsteilig ausgeübt. Poulantzas sieht allerdings einen
harten Kern der Produktionsverhältnisse aus Strukturen und Mechanismen, insbesondere in der Form
der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel im Produktionsprozess und in den allgemeinen Akkumulationsmechanismen, wo „Interventionen“ des kapitalistischen Staates Grenzen gesetzt sind.
(Ebd., 195, 221)
4
Bei Althusser und Poulantzas bezieht sich Ökonomismus auf einen Reduktionismus, der das Soziale
als (unmittelbaren oder auch mittelbaren) Ausdruck rein ökonomischer Entwicklungen versteht
und/oder Politisches und Ideologisches auf Ökonomisches zurückführt. Unter Historizismus verstehen
sie Geschichtstheorien, die historische Entwicklungen auf ein vereinheitlichendes Zentrum oder Subjekt reduzieren.
5
Überdetermination bezieht sich bei Althusser auf eine viel grundlegendere Logik als in der linguistischen Problematik von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (1991), die Überdeterminierung nur auf die
Konstitution einer symbolischen Ordnung reduzieren. Aufgrund ihrer „flachen Ontologie“ (Bhaskar
1979; Jessop 1990, 294), in der die Struktur und Funktionsweise von „Gesellschaft“ in der Logik der
Sprache und der Linguistik gefasst werden, können keine Referenzen im Realen gedacht werden.
Überdeterminierung bezieht sich bei Laclau und Mouffe daher nicht auf Strukturen und Mechanismen
im Realen (außerdiskursive Beziehungen zwischen Objekten im Realen sind in dieser Auffassung ontologisch unmöglich und epistemologisch ausgeschlossen), sondern auf (gleichförmige und gleichrangige) Subjektpositionen auf dem Feld des Diskursiven. (Zur Kritik an der antirealistischen Ontologie und
sozialkonstruktivistischen Epistemologie bei Laclau / Mouffe vgl. Sayer 2000)
6
Die Struktur einer Produktionsweise (eine abstrakt-formale Bestimmung) existiert im Reproduktionsstandpunkt (im Sinne allgemeiner Strukturen und Mechanismen unter Absehung ihrer Existenzbedingungen) nur in den konkreten ökonomischen, politischen, ideologischen Verhältnissen (Strukturen und
Praxen) einer Gesellschaftsformation (real-konkrete Bestimmung). (Poulantzas 1974, 13ff., 70ff.;
2002, 54)
7
Gerade diese relative Trennung von Staat und Ökonomie in Gesellschaftsformationen mit Dominanz
der kapitalistischen Produktionsweise ist der Grund, warum eine (relativ) eigenständige Theorie des
kapitalistischen Staates und eine (relativ) eigenständige Theorie kapitalistischer Produktionsverhältnisse erst formuliert werden können. (Poulantzas 2002, 48ff.)
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