1 Zeiten des Staates Vorbereitende Überlegungen von Ulrich Brand für die Tagung „Räume und Zeiten des Staates“ von 17.-19. Juli in Wien Hauptbeiträge (15-20 Minuten) von Gabriele Michalitsch und Dagmar Vinz Kommentare und weitere Überlegungen (5-8 Minuten) von Alex Demirovic, Christoph Görg und Bernd Röttger Vorbereitung: Wir werden nur „intern“, d.h. wir zu sechst, Papiere und Skizzen zur Vorbereitung austauschen. Sehr gut wäre, wenn Dagmar und Gabriele bereits bis Freitag, 11. Juli einen Text oder eine Argumentationsskizze herumschicken könnten, damit Alex, Christoph und Bernd Zeit hätten, sich Gedanken zu machen und evtl. bis Dienstag, 15. Juli, 1-2-seitige Papiere verschicken könnten. Einige Vorschläge, Probleme und Fragen Bob Jessop schlägt einen „thematic and methodological temporal (re)turn to redress the onesided concern with space in studies of globalization“ vor (2008, neues Buch zu State & Power, S. 184). Das steht in der Tat an und wir sollten uns (a) zunächst einiger zeittheoretischer Grundlagen vergewissern, zum anderen (b) auf einer zeitdiagnostischen, d.h. vor dem Hintergrund aktueller Transformationen, diskutieren. Am Ende (c) dann auf alternative Sichtweisen und Praxen eingehen. a) Zeit verrinnt unaufhaltsam im Raum, ohne Abstimmung der Zeit (Fahrpläne, Lieferzeiten in Produktionsketten) ist gesellschaftliche Ordnung und Dynamik kaum denkbar. Norbert Elias nannte die Zeitordnung in dieser Hinsicht ein „symbolisches Orientierungsmittel“, das hochgradig institutionalisiert ist. Zeitlichkeit konstituiert sich über ein Vorher, Jetzt und Nachher sowie über objektiv bestimmbare und subjektiv erlebte Zeitspannen. Fernand Braudel sprach von einer geographischen, einer sozialen und einer individuellen Zeit. Man könnte in einer ersten Annäherung von einer notwendigen „Regulation der Zeit“ sprechen, also von institutionellen und gesellschaftlich verbindlichen Zeitmustern, die sehr unterschiedliche gesellschaftliche Strukturen und Prozesse auf Dauer stellen und miteinander kompatibel machen. Dabei kommt es zu einer Fetischisierung der Zeit, auch und gerade als erlebte Beschleunigung. Zeitvorstellungen und -rhythmen sind immer auch herrschaftsförmig konstituiert, die gesellschaftliche Arbeitsteilung als Verfügung über Fertigkeiten und Zeit ist grundlegend. Das ist besonders deutlich bei der Lohnarbeit, aber auch bei nicht entlohnter Arbeit, in politischen Prozessen im engeren institutionellen wie auch im weiteren Sinne, im Bereich der physischen und psychischen Reproduktion. Doch auch die Zeitlichkeit von Geld – über den Zins – wirkt gesellschaftlich strukturierend. Zeit spielt eine wesentliche Rolle bei gesellschaftlichen Diskussionen über Zukunft; besonders explizit ist das in der Nachhaltigkeitsdebatte. Dagmar Vinz geht in ihrer Dissertation von drei zeitrelevanten Prozessen aus: Quantifizierung, Kalender, Linearisierung, mechanische Uhr, die Zeitordnung scheint im Alltag als natürlich, Zeitabläufe durchdringen unpersönlich alle Lebensbereiche und koordinieren/verstetigen Handlungsabläufe; dafür müssen Gesellschaftsmitglieder zeitliche Normen aber anerkennen und sich unterordnen (und verinnerlichen das); Machtverhältnisse werden etabliert, legitimiert und stabilisiert. Es gibt aber verschiedene Zeitordnungen, Konflikte zwischen ihnen, zwischen Zeitgebern und –nehmern und untereinander. 2 Ökonomisierung: Gleichsetzung von Zeit und Geld, Ausrichtung von Handlungen und Prozessen am Ziel der Zeiteinsparung und Effizienz; das moderne, fordistische (?) Zeitarrangement war kürzere gegen intensivere Arbeit; seit den 1970er Jahren entwickelt sich eine neue Ökonomie der Zeit: neue Produktionsabläufe, Innovationsdynamiken, Arbeitszeitmodelle, Flexibilisierung etc. zeitliche Verdichtung sozialer, politischer, kultureller und symbolischer Prozesse, d.h. die zunehmende Entbettung des Handelns aus lokalen Zusammenhängen. Der technologische Raum wird wichtiger im Vergleich zum „schweren“ geographischen Raum (Verkehr, Glasfaserkabel) mit Implikationen für die Zeit. Geld und neue Kommunikations- und Transporttechnologien sind also wichtig. In der kapitalistischen Moderne kommt es zu einer hohen Wertigkeit von Geschwindigkeit, Kurzfristigkeit und Flexibilität. „Als Konglomerat aus der Quantifizierung, Ökonomisierung und Verdichtung von Zeit ist das Konzept der industriellen, global wirksamen Zeit, so unterschiedlich und vielschichtig seine Charakteristika auch sein mögen, durch die Gemeinsamkeit gekennzeichnet, dass die Zeit als abstrakte, entkontextualisierte und äußere Einheit benutzt wird, um Kontrolle über Beziehungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herzustellen. Es handelt sich um eine wirkungsmächtige Konzeption von Zeit, die dieselbe zu einer manipulierbaren und kontrollierbaren Ressource macht und die Tendenz aufweist, die Komplexität anderer Zeitlichkeiten (ökologischer, körpereigener) zu überlagern und ihrem Rhythmus unterzuordnen.“ (D.Vinz, Zeiten der Nachhaltigkeit, Münster 2005, 21) Die Logik der Zeiteinsparung führt dazu, dass tendenziell rücksichtslos mit geologischen, biologischen, physischen oder sozialen „Eigenzeiten“ umgegangen wird (soziale Eigenzeiten insbesondere in den Bereichen Bildung, Erziehung, Gesundheit, Pflege). Poulantzas sprach von spezifisch kapitalistischen Zeiten (und Räumen), die sich als historisch wandelbare Zeitmatrizen herstellen. Zeit und Raum sind nicht neutral und sie konstituieren sich wechselseitig. Im Kapitalismus entsteht vor dem Hintergrund der erweiterten Reproduktion des Kapitals eine gerichtete und lineare Historizität, Zeitvorstellungen sind evolutiv und progressiv, Zeit wird im Hinblick auf die Arbeitsteilung und die kapitalistischen Produktionsverhältnisse notwendig in gleiche Momente unterteilt. Es kommt zu einer gewissen Homogenisierung, wodurch den Individuen spezifische Verhaltensweisen und Zeitrhythmen aufgezwungen werden. Poulantzas betont die Bedeutung der Tradition, denn damit werden gemeinsame historische Orientierungen in fragmentierten Gesellschaften konstituiert und derart ein gemeinsamer Bezugsrahmen hergestellt. Insofern gibt es einen Kampf um Geschichte und damit einen Kampf um Historizität. Markus Wissen kritisiert an Poulantzas (in „Poulantzas lesen“, 2006), dass dieser tendenziell fordistsiche Raum- und Zeitnormen verallgemeinert und übersieht, dass in der Krise des Fordismus eben diese dysfunktional und (postfordistisch) restrukturiert werden. Einige Fragen: Könnte man die spezifischen kapitalistischen Zeiten als soziale Verhältnisse verstehen, als sedimentierte Zeitstrukturen, welche Kompatibilität / Abstimmung und Kontrolle / Herrschaft erzeugen? Inwieweit macht der oben skizzierte Gedanke einer „Regulation der Zeit“ Sinn, um auch die Rolle des Staates in den Blick zu bekommen? Kann der Staat, verstanden als materiell verdichtetes soziales Verhältnis, auf seine Zeitlichkeit und seine Zeitpolitiken hin analysiert werden? Welche Rolle spielen dann gesellschaftliche Kräfte und sedimentierte Verhältnisse - etwa das tief verankerte moderne Bewusstsein, dass ein erfolgreiches Leben ein stressiges zu sein hat; oder entwickelte, nicht schnell zu verändernde Infrastrukturen und Technologien? 3 Worin bestehen die zeitlichen Eigenlogiken des Staates? Offenbar sind sie bei den Wahlterminen, welche die Parteienkonkurrenz strukturieren? Aber Welche allgemeinen und konkreten Widersprüche bestehen mit gesellschaftlichen Zeitrhythmen? Welche Rolle spielt die Internationalisierung des Staates für das gegenwärtige Zeitregime bzw. unterschiedliche Zeitregime? Gibt es aus einer geschlechterkritischen Perspektive so etwas wie „Frauenzeiten“ und „Männerzeiten“? Nicht im Sinne homogener Zeiten und schon gar nicht essentialisierend, aber zum besseren Verständnis geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung? Die „doppelte Vergesellschaftung“ vieler Frauen wird dann zum zeitlichen Problem. Ist die Spezifik der Versorgungsarbeit nicht gerade die extensive Zeitverausgabung ohne entsprechendes großes Produkt, die gerade in Krisenzeiten an Bedeutung gewinnt (D.Vinz)? Können wir die internationale Arbeitsteilung auch als eine „Externalisierung“ unangenehmer Zeit (im Sinne von bad jobs) verstehen, welche eine Dimension sozialer Kompromisse in den kapitalistischen Zentren ist? Denn die Reproduktion der Lohnabhängigen hierzulande hängt ja auch von einer spezifischen Einbindung in den Weltmarkt und entsprechenden Konsum- und Lebensweisen zusammen. b) Hinsichtlich zeitdiagnostischer Fragen macht wohl eine Fokussierung Sinn. Allgemein: Globalisierung oder Postfordismus werden häufig als „Raum-Zeit-Kompression“ bezeichnet. Es kommt zu neuen Verdichtungen. Der postfordistische Kapitalismus ist offenbar durch wesentlich höhere Ungleichzeitigkeiten gekennzeichnet. Wie kann das verstanden werden? Wir müssen als neue Kategorie zum Verständnis der Zeit die „Computerzeit“ berücksichtigen. Welche Rolle spielt das Geld bzw. spielen die Finanzmärkte in diesem Prozess? Die Beschleunigung sozio-ökonomischer Prozesse und das Primat der internationalen Wettbewerbsfähigkeit führt zu enormen (demokratie-)politischen Problemen. Deutlich wird das etwa an der Technologieentwicklung, wo Technikfolgeabschätzungen immer stärker unter zeitlichen Druck geraten. Innovationstempo wird zu einem noch wichtigeren Wettbewerbsfaktor für Unternehmen. Wie können Probleme sondiert, Informationen verarbeitet, Entscheidungen substantiiert werden? Zusätzlich erweitern sich die Zeithorizonte von Entscheidungen. In der Umweltpolitik ist das besonders sichtbar, aber auch der Umbau des Rentensystems hat enorme Implikationen in der Zukunft. Was bedeutet das für Parteienkonkurrenz und Politik im engeren Sinne, was für die in längeren Zeithorizonten planenden staatliche Verwaltung? In der Konkurrenz der Unternehmen spielt neben den Zinsen (als Diskontierung zukünftiger Erträge) auch der Kampf um die zeitlich festgelegte Sicherung von F&E-Ergebnissen eine Rolle. Die Kämpfe um geistiges Eigentum (gesichert für 20 oder 25 Jahre bzw. nachgemacht) sind auch Kämpfe um Zeit. c) Schließlich die Frage emanzipatorischer Einsatzpunkte. Dagmar hat sich intensiv mit einer „neuen Zeitkultur“ befasst. Was bedeutet das? Wo brechen Widersprüche zu den Tendenzen der Quantifizierung, Ökonomisierung und Verdichtung auf? Welche normativen Implikationen hat das? Inwieweit können emanzipatorische Kämpfe auch als Kämpfe um Zeit verstanden werden – implizit oder, in Bezug auf die Arbeitszeit oder Studiendauer, auch explizit? Ist die „eigene Kontrolle über Zeit“ (individuell und kollektiv verstanden) eine fruchtbare Orientierung, angelehnt an Begriffe wie „Zeitwohlstand“ oder „Zeitsouveränität“ aus der Nachhaltigkeitsdebatte?