ZI Aktuell 206.indd - Zentralinstitut für Seelische Gesundheit

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INFORMATION
Nummer 2 • Dezember 2006
29. Jahrgang
Inhalt
Neubesetzung im ZI-Vorstand
Katrin Erk neue Kaufmännische Direktorin
Seite 3
Neu am ZI
Neuer Ärztlicher Direktor der KJP
Seite 4
Macht Trinken dick und Rauchen dünn?
Das klinische Suchtforschungslabor nimmt seine Arbeit auf
Seite 4
Moderne psychiatrische Konzepte
aus der Jugendstilvilla
Die allgemeinpsychiatrische Tagesklinik des Zentralinstituts
Seite 5
„Soziale Balance in einer Welt der Ungleichheit“
18. Weltkonferenz der International Federation
of Social Workers in München
Seite 7
Neuroimaging am ZI
Einblicke in Veränderungen des Gehirns
bei psychiatrischen Erkrankungen
Seite 8
Warum gibt es am ZI „depressive“ Ratten und Mäuse?
Forschungsschwerpunkte
der AG Verhaltenbiologie Affektiver Erkrankungen
Seite 11
Wenn Schmerz nicht mehr weh tut
Schmerzwahrnehmung bei Borderline
Seite 15
Das Fibromyalgie-Syndrom
Effekte und Indikationskriterien der operant- und der
kognitive-verhaltenstherapeutischen Schmerztherapie
Seite 17
„Aber Nachdenken hilft mir doch …!“
Warum Grübeln unserer Gesundheit schadet
Neues aus der AG Verlaufs- und Interventionsforschung
Seite 21
Absolventen der Gerontopsychiatrischen
Weiterbildung verabschiedet
Grußworte zur Zeugnisübergabe
Seite 24
Das Burnout-Syndrom
„Wenn die Lampe verlöscht....“
Seite 25
Autorenliste und Impressum
Seite 28
Neubesetzung im ZI-Vorstand
Katrin Erk neue Kaufmännische Direktorin
Sie sind seit 1. September kaufmännische Direktorin am ZI. Wo waren Sie
vorher tätig? Welches sind die wesentlichen Stationen Ihrer Laufbahn?
Nach meinem Studienabschluss als
Diplomwirtschaftsingenieurin hatte ich
die ideale Möglichkeit, meine technischen und kaufmännischen Interessen
bei der Firma Dräger Medizintechnik zu
verbinden. Nach einigen Jahren, unter
anderem als Vertriebsleiterin in BadenWürttemberg, fand ich Gefallen, auf die
Katrin Erk
Seite meiner Kunden ins Krankenhausmanagement zu wechseln.
Auf erste Erfahrungen im Aufbau einer
Stabstellenabteilung der Geschäftsführung des Klinikums Mittelbaden für u.a.
Organisationsentwicklung und Qualitätsmanagement folgte parallel die operative Verantwortung für eine Akutklinik.
Mit Gründung der Klinikum Mittelbaden
gGmbH übernahm ich dann als Mitglied
der Geschäftsleitung die Geschäftsbereichsleitung für drei Klinik- und Pflegeeinrichtungen mit insgesamt 800 Betten.
Die dort gesetzten Ziele - medizinische
Leistungserweiterung, bauliche Weiterentwicklung und wirtschaftliche Gesundung - wurden in den letzten Jahren
erreicht. Für mich der richtige Zeitpunkt,
eine neue Herausforderung zu suchen.
gen, die es gilt, zu gestalten. Im Zeitalter
von Budgetkürzungen, verordnet durch
die Gesundheitspolitik, sind neue Wege
in der Gestaltung der Arbeitsabläufe
und ein verbessertes Miteinander zu
beschreiten. Die Überleitung aktueller
wissenschaftlicher Erkenntnisse in eine
gute Patientenversorgung sind Chancen, die es für das ZI noch intensiver zu
nutzen gilt. Dabei ist es mir wichtig, die
Selbständigkeit des ZI langfristig zu sichern. Aktuelle wichtige Projekte stehen
an: Im Februar ist die Inbetriebnahme
der Gerontopsychiatrie geplant, hier soll
ein innovatives Konzept verwirklicht werden. Die Sanierung des Bettenbaus wird
im Frühjahr 2007 abgeschlossen sein,
dann gilt es, die Funktionsgeschosse
planerisch neu zu gestalten. Die Weiterentwicklung des zukünftigen tagesklinischen Angebots steht genauso wie die
Neuausrichtung der Räumlichkeiten für
die Lehre auf der Tagesordnung.
Die betriebswirtschaftlichen Rahmenbedingungen für erfolgreiche Forscher
gut zu gestalten, möchte ich ausdrücklich unterstreichen.
Auf was legen Sie bei Ihrer Arbeit
besonders Wert?
Auf Offenheit, Transparenz und Zielorientierung.
Was hat Sie bewogen, ans ZI zu wechseln? Was macht der Reiz des ZI aus?
Die Verbindung zwischen Forschung
und Lehre und Klinikbetrieb auf hohem
internationalem Niveau verknüpft mit
dem Standort Mannheim - eine für mich
sehr erstrebenswerte Aufgabe.
Wie sehen Sie die weiteren Entwicklungen in der Krankenhauslandschaft in
Deutschland in den nächsten Jahren?
Und wie sehen Sie die weitere Entwicklung des ZI in den nächsten Jahren?
Die Politik wird aus wirtschaftlichen
Überlegungen vieles tun, um die Anzahl
der Gesundheitsdienstleister zu reduzieren. Nur medizinisch innovative und
wirtschaftlich erfolgreiche Unternehmen werden langfristig Bestand haben.
Die Verweildauer wird in den nächsten
Jahren auch in der Psychiatrie weiter
sinken. Für unsere Patienten ist deshalb
der Aufbau von regionalen sektorenübergreifenden Kompetenznetzwerken
wichtig. Das ZI hat mit seiner Innovationskraft und seinen Potentialen alle
Chancen, im zunehmenden Wettbewerb
eine führende Rolle zu spielen. Flexible
Strukturen werden dabei wichtig sein,
um die Leistungsorientierung zu unterstützen.
Was sind Ihre Pläne für das ZI?
Welches sind die wichtigen Herausforderungen der nächsten Zeit? Wo werden
die Schwerpunkte Ihrer Tätigkeit sein?
Alle Einrichtungen des Gesundheitswesens stehen vor großen wirtschaftlichen
und organisatorischen Herausforderun-
Viele Pläne, viel Arbeit. Was macht
Katrin Erk in ihrer knapp bemessenen
Freizeit?
Ein bisschen Kunst und Kultur, Freude
am Pferdesport und gerne auch mal
„Füße hochlegen“.
red
ZI Aktuell 2/06
3
Editorial
Liebe Leserin,
Lieber Leser,
vor einem halben Jahr berichteten
wir hier über Abschiede, in der
Zwischenzeit sind zwei wichtige Positionen wieder besetzt.
Im ZI-Vorstand hat Frau Katrin Erk
am 01. September als Kaufmännische Direktorin ihre Tätigkeit aufgenommen. Sie stellt sich auf dieser
Seite im Interview vor.
Prof. Dr. Dr. Tobias Banaschewski
trat am 01. November die Nachfolge
als Ärztlicher Direktor in der Klinik
für Psychiatrie und Psychotherapie
des Kindes- und Jugendalters an.
Auf der nächsten Seite stellen wir
ihn kurz vor, im nächsten Heft werden Sie einen Beitrag von ihm lesen
können.
An dieser Stelle soll heute statt meiner eine berühmte Stimme zu Wort
kommen:
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, baden-württemberg. Landesstiftung (seit 1975) des öffentl.
Rechts (Sitz: Mannheim), die folgende Einrichtungen unterhält: Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie, für abhängiges Verhalten und
Suchtmedizin, für Psychosomatik
und psychotherapeut. Medizin sowie
für Psychiatrie und Psychotherapie
des Kindes- und Jugendalters; Forschungsinstitut mit Abteilungen für
Biostatistik, Gemeindepsychiatrie,
genet. Epidemiologie in der Psychiatrie, Gerontopsychiatrie, klin.
Psychologie,
Molekularbiologie,
Neuroradiologie sowie Psychopharmakologie. Zu ihren Aufgaben gehören: Erforschung, Vorbeugung und
Behandlung
►seelischer Krankheiten sowie Lehre im Rahmen der
Fakultät für Klin. Medizin Mannheim
der Univ. Heidelberg, (►seelische
Gesundheit)
Aus: BROCKHAUS – ENZYKLOPÄDIE 2006, Band 30 WETZ – ZZ,
S. 555.
Ihnen nun viel Vergnügen beim
Lesen.
Besinnliche
Weihnachtsfeiertage
und alle guten Wünsche für ein
gesundes
und
erfolgreiches
Jahr 2007.
Ihre
www.zi-mannheim.de
Neu am ZI
Prof. Dr. Dr. Tobias Banaschewski neuer Ärztlicher Direktor
der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
Professor Dr. med. Dr. rer. nat. Tobias
Prof. Dr. Dr. Tobias Banaschewski
Banaschewski begann am 1. November als Ärztlicher Direktor der Klinik
für Psychiatrie und Psychotherapie
des Kindes- und Jugendalters am ZI.
Er tritt damit die Nachfolge von Prof.
Dr. Dr. Martin Schmidt an, der im
April diesen Jahres emeritiert wurde.
Banaschewski erhält auch den Ruf
auf die Professur für das Fach an der
Medizinischen Fakultät Mannheim der
Universität Heidelberg.
Der promovierte Mediziner und
Psychologe kommt aus Göttingen, wo
er an der Klinik von Prof. Dr. Aribert
Rothenberger seit 1999 tätig war, seit
2002 als Leitender Oberarzt. (Prof.
Rothenberger war bis zu seiner Berufung nach Göttingen 1993 leitender
Oberarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie am ZI).
Seine wissenschaftlichen Schwer-
punkte liegen auf der Erforschung der
Psychopathologie,
Psychophysiologie, Neuropsychologie und Psychopharmakologie der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung
(kurz
ADHS) und begleitender Störungen,
vor allem Störungen des Sozialverhaltens, der Legasthenie und den
Tic-Störungen. Banaschewski möchte
die Klinik am ZI zunehmend in internationale
Forschungsprojekte
einbinden, deren Ziel es ist, die Entstehungswege von ADHS weiter zu
entschlüsseln. Er ist Mitglied vieler
nationaler und internationaler Fachgesellschaften und hat für seine Forschungsarbeiten
mehrere
Preise
bekommen.
red
Macht Trinken dick und Rauchen dünn?
Das klinische Suchtforschungslabor nimmt seine Arbeit auf
Rauchen,
Trinken und Übergewicht
sind in den letzten Jahrzehnten zu den
größten Gesundheitsrisiken westlicher
Länder geworden. In Deutschland
waren im Jahr 2005 etwa 1 700 000
Personen alkoholabhängig. Zusätzlich
tranken ebenso viele „missbräuchlich“,
was bedeutet dass ihr Alkoholkonsum
bereits zum Eintritt einer Gesundheitsschädigung führte. Infolge von Alkoholkonsum und den dadurch bedingten
Erkrankungen sterben jährlich etwa
73 700 Menschen vorzeitig. Der Anteil
an alkoholbedingten Todesfällen an
allen Todesfällen beträgt deshalb bei
Männern zwischen dem 35. und 65.
Lebensjahr 25% und bei Frauen 13%.
Der Anteil der Raucher lag bei knapp
40% und geht in den letzten Jahren
erfreulicherweise etwas zurück. Fast
alle Raucher, nämlich 70-80% sind
tatsächlich nikotinabhängig, weshalb
sie nach Versuchen aufzuhören, häufig rückfällig werden. An tabakbedingten Gesundheitsschäden sterben in
Deutschland jedes Jahr etwa 120 000
Menschen vorzeitig (siehe Abb.1).
Sucht und Gewichtszunahme
Viele Raucher bemerken, dass sie
übermäßigen Appetit bekommen und
Gewicht zunehmen, wenn sie das Rauchen aufgeben. Eine der Ursachen ist,
dass Rauchen vorübergehend das
Hungergefühl betäubt, weshalb Raucher im Durchschnitt ein etwas gerin-
ZI Aktuell 2/06
geres Gewicht haben als Nichtraucher.
Bei Alkohol führt regelmäßiger Konsum hingegen oft zu Übergewicht, zum
Beispiel zu einem „Bierbauch“. Das
liegt daran, dass alkoholische Getränke wegen ihres Alkoholgehalts sehr
nahrhaft sind. Reiner Alkohol hat nämlich fast so viele Kalorien wie Salatöl.
In einem halben Liter Bier steckt deshalb genau soviel Energie wie in derselben Menge Cola, nämlich 220 Kilokalorien, dies entspricht etwa 2 kleinen
Brötchen. Trotzdem entwickeln auch
Alkoholiker oft vorübergehend sogar
vermehrten Appetit, wenn sie aufhören zu trinken.
Biochemische Grundlagen
Sucht und Appetitregulation scheinen
somit zusammenzuhängen, was früher als „Suchtverschiebung“ gedeutet
wurde: nämlich dass Suchtmittelkonsum einfach eine schlechte Angewohnheit sei, die durch übermäßigen
Nahrungsmittelkonsum ersetzt würde.
Diese Sichtweise ist nicht mehr haltbar, da wissenschaftlich einerseits klar
nachgewiesen ist, dass Nikotin- und
Alkoholabhängigkeit Krankheiten sind,
die das Gehirn betreffen und durch
ärztliche und verhaltenstherapeutische Hilfe unter Kontrolle gebracht
werden können. Andererseits wurde
in den letzten Jahren entdeckt, dass
manche Suchtmittel gerade diejenigen
Hormone stören, die für die Regulation
4
von Appetit und Nahrungsaufnahme
zuständig sind. Dies betrifft die Peptide Insulin, Leptin und Ghrelin. Sie wirken im Gehirn auf das Hungerzentrum,
erstaunlicherweise aber auch auf das
Belohnungszentrum, wo sie das Empfinden von angenehmen Umweltreizen
verändern können.
Das klinische Suchtforschungslabor
Diese Zusammenhänge sollen künftig
in dem neu eingerichteten klinischen
Suchtforschungslabor der Klink für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin
eingehender erforscht werden.
In diesem Labor wollen wir akute Wirkungen von Alkohol und Nikotin bei gesunden, freiwilligen Versuchsteilnehmern untersuchen.
Da solche Versuche die Verabreichung
von Alkohol oder Nikotin beinhalten,
werden alle Teilnehmer vorher sorgfältig untersucht, um eine eventuelle
Suchterkrankung oder andere Krankheiten auszuschließen. Sollte sich
hierbei herausstellen, dass eine Alkoholabhängigkeit oder Suchtgefährdung
besteht, werden keine Laboruntersuchungen durchgeführt, sondern eine
Beratung durch die Suchtambulanz
des ZI empfohlen. Der Autor konnte
bereits früher nachweisen, dass die
Gabe von reinem Alkohol vorübergehend das appetitstimulierende Hormon
Ghrelin vermindert, wovon eine Vermin-
www.zi-mannheim.de
derung von Hunger zu erwarten wäre.
Gleichzeitig wird aber auch das „Sättigungshormon“ Leptin gebremst, was
das Gegenteil bewirkt. Welcher Effekt
im Einzelfall überwiegt und wodurch
dies bestimmt wird, soll künftig am ZI
untersucht werden. Dazu trinken Versuchspersonen eine geringe Menge
von reinem Alkohol in verschiedenen
Mischungsverhältnissen mit „Astronautenkost“, wonach die Auswirkungen auf das Hungergefühl und die verschiedenen an der Appetitregulation
beteiligten Peptide untersucht werden.
Im Gegensatz zu Gesunden sind gerade diese Hormone bei alkoholabhängigen Patienten dauerhaft verändert und
normalisieren sich erst nach längerer
Zeit wieder. Dabei scheint es Zusammenhänge mit dem Abstinenzerfolg
zu geben: Prof. Kiefer fand beispielsweise heraus, dass stark ansteigende
Leptinwerte nach Alkoholentzug mit
stärkerem Trinkverlangen und höherem Rückfallrisiko verbunden sind.
Die Wirkungen von Nikotin werden in
ähnlicher Weise untersucht. Mittels
funktioneller Kernspintomografie wird
festgestellt, wie das Hungerzentrum
im Gehirn reagiert, wenn Versuchspersonen Bilder von wohlschmeckenden
Nahrungsmitteln betrachten. Diese
Messung wird vor und nach Kalorienzufuhr durchgeführt und dabei verglichen, ob und wie das vorherige Kauen
eines Nikotin-Kaugummis dabei die
Gehirnaktivität im Hungerzentrum verändert.
Suchtmedizin angeboten wird, werden
wir künftig auch die Bedeutung von
Gewichtveränderungen und appetitregulierenden Hormonen auf den Abstinenzerfolg untersuchen. Dazu werden Blutuntersuchungen im Verlauf
der ersten Wochen nach Rauchstopp
durchgeführt sowie Gewicht und Körperfettanteil gemessen (siehe auch
unser Angebot „Nichtrauchen in 6 Wochen“ in ZI aktuell 1/06).
Anmeldungen zu diesem Therapieprogramm werden weiterhin unter der Telefonnummer 0621/17033503 entgegen genommen. Die
meisten Krankenkassen übernehmen hierbei mittlerweile den Hauptteil der Kursgebühr in Höhe von 95
Euro.
„Of All the People in All the World“
Ausstellung im Rahmen des Kunstfestivals
“Wunder der Prärie”
Jedes Reiskorn stellt einen Menschen dar.
Quelle: Zeitraum ex!t, Mannheim.
Im Rahmen der qualifizierten Tabakentwöhnung, die ebenfalls an der
Klinik für Abhängiges Verhalten und
Ziel dieser verschiedenen Studien ist
es, durch ein besseres Verständnis der
zugrundeliegenden neurobiologischen
Zusammenhänge auch die Behandlung von Suchterkrankungen gezielt
zu verbessern, sowohl hinsichtlich der
begleitenden Gewichtsveränderungen
als auch der Rückfallgefährdung.
Ulrich Zimmermann
Moderne psychiatrische Konzepte aus der Jugendstilvilla
Die allgemeinpsychiatrische Tagesklinik des Zentralinstituts
Konzepte
der Krankenversorgung
am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit integrieren aktuelle Trends,
die sich therapeutisch wie auch gesundheitsökonomisch als sehr sinnvoll
erwiesen haben: Denn im Zuge einer
Schwerpunktverlagerung von der vollstationären hin zur teilstationären Behandlung wird derzeit das Angebot tagesklinischer Behandlung ausgebaut.
Es betreuen seit 1. Juni 2005 Mitarbeiter der suchtmedizinischen Tagesklinik - auf 20 Behandlungsplätzen
- Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen. Pläne für eine psychosomatische Tagesklinik werden erarbeitet.
Innerhalb der psychiatrischen Klinik
ist die teilstationäre Behandlung seit
Jahrzehnten etabliert. Gerontopsychiatrische Patienten erfahren in der
Altentagesklinik eine aktivierende Behandlung im vertrauten Umfeld.
Die älteste Tagesklinik des Instituts aber residiert auch im ältesten
Gebäude, der Villa Hecht in Quadrat
L10,1 (siehe Titelbild). Dort werden
seit 1982 auf 20 Therapieplätzen
Patienten mit affektiven und schizophrenen Psychosen behandelt. Nach
ZI Aktuell 2/06
Institutsgründung 1975 war die psychiatrische Tagesklinik in Heidelberg zu
Füßen des Schlosses unterbracht und
zog im Jahr 1982 in die Mannheimer
Innenstadt, bewusst in Bahnhofsnähe,
um Patienten die Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu ermöglichen. Angesichts des repräsentativen Gebäudes äußern immer wieder
Patientinnen und Patienten eine Art
dankbarer Überraschung, dass dieses
schöne Haus für eine sonst ja durchaus oft diskriminierte und stigmatisierte Patientengruppe genutzt wird.
Besonders ist außerdem eine Gedenktafel auf der Straßenseite, die an Helene Hecht, eine im Alter von 86 Jahren
in den Kriegsjahren deportierte und
getötete Jüdin, erinnert. Durch diese
Tafel steht Mitarbeitern wie Patienten
ein verantwortlicher Bezug zur deutschen Geschichte immer vor Augen.
Unter einem historischen Bezug stand
in diesem Jahr auch der Besuch von
Frau Mira Raviv aus Rehovot. Die Kollegin leitet in Israel als „Head of Center
for Occupational Rehabilitation“ eine
Einrichtung mit 50 Therapieplätzen für
schizophrene Patienten und besuchte
5
mehrere deutsche Einrichtungen und
war an einem Austausch von Konzepten nteressiert.
In dieser Übersicht soll nun eine aktuelle Standortbestimmung dieser
allgemeinpsychiatrischen Tagesklinik
unternommen werden, die eine krankenhausökonomische Perspektive mit
Konzepten in Forschung und Therapie
integriert.
Kosten und Nutzen
Große
und
prospektive
Studien haben gezeigt, dass tagesklinische
Behandlung
keineswegs
den
relativ
„gesunden“,
prognostisch eher günstigen Patienten
vorbehalten bleiben muss. Auch ausgeprägte affektive oder schizophrene
Syndrome können zeit- und kosteneffizient tagesklinisch behandelt werden. Wenn zusätzlich - wie etwa in
anderen Tageskliniken der Samstag
zumindest teilweise einbezogen wird,
eine Erreichbarkeit für die Patienten
per Handy oder – wie im ZI gegeben
– über den Hausnotdienst gewährleistet ist, ergeben sich nur wenige
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Konstellation, die eine vollstationäre
Therapie unausweichlich machen.
Dazu zählen sicher eine ausgeprägte
Antriebshemmung sowie Eigen- oder
Fremdgefährdung.
In den letzten drei Jahren hat sich der
Nutzungsgrad auf sehr hohem Niveau
etabliert. Sehr hohe Belegungsgrade
von durchschnittlich 96 % bei einer
Verweildauer von durchschnittlich 23
Tagen belegen gerade im Vergleich
zu anderen Tageskliniken die Effizienz
und Qualität der geleisteten Arbeit,
der Güte der Zusammenarbeit mit den
zuweisenden, niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen sowie Kliniken
und die Zufriedenheit der Patienten.
Ökonomisch bedeutsam sind auch
pharmakologische Aspekte: Die Behandlung nützt zwar die neuesten
und damit leider auch teuersten Medikamente, kann dennoch aber vergleichsweise niedrige Zuwächse im
Arzneimittelbudget vorweisen. Dieser
Aspekt ist nicht nur für die Finanzlage
unseres Hauses, sondern gerade für
die enge und gute Zusammenarbeit
mit den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen wichtig, die bei einer Entlassungsmedikation, die sehr
teure Medikamente verwendet oder
möglicherweise noch kombiniert, in
Probleme ihres Praxisbudget geraten
könnten. Bei Aufnahme und Entlassung wird das direkte Gespräch mit
den vorbehandelnden Ärztinnen und
Ärzten gesucht, um Kontinuität zu gewährleisten.
Konzepte in Forschung
und Therapie
Im Bereich klinischer Forschung decken sich oftmals die aktuellen Grenzen therapeutischer Möglichkeiten,
die die Patienten erfahren, mit den
wissenschaftlichen Interessen. Neben
Bemühungen um wirksamere Therapien geht es dabei sehr oft um Verbesserungen der Verträglichkeit durch
Einsparungen an Dosis und Zurückdrängen von Nebenwirkungen. Ein
Beispiel für eine derartige Koinzidenz
können etwa Studien zum pharmakologischen Vorgehen bei therapierefraktären schizophrenen Psychosen
sein. Wenn verschiedene Strategien
keine ausreichende Remission der belastenden Symptome erreichten, und
gar auch Clozapin, das Reservemedikament erster Wahl, keine volle Linderung ermöglichte, werden oft - und
ohne klare Absicherung durch wissenschaftliche Daten - verschiedene
Pharmaka kombiniert. Daraus ergeben
ZI Aktuell 2/06
sich erhöhte Risiken von unerwünschten Effekten und deutlich erhöhte Kosten. Um in diesem Grenzbereich die
Evidenzlage zu verbreitern, wurden
von uns verschiedene Untersuchungen durchgeführt. Sehr ermutigende
Ergebnisse zur Clozapin-Augmentation mit Amisulprid, Ziprasidon, Risperidon und zur Olanzapin-Augmentation
mit Amisulprid wurden veröffentlicht.
Aktuell wird auch untersucht, inwieweit die Clozapin-Augmentation mit
Aripiprazol das Nebenwirkungsprofil
Gedenktafel an der Tagesklinik
von Clozapin lindert und die Wirkung
verbessert.
Gerade Patienten mit Psychosen aus
dem schizophrenen Formenkreis leiden oft auch an Depressionen. Die
Dramatik dieser Doppelbelastung wird
an der hohen Suizidrate bei schizophrenen Patienten deutlich. Deshalb
sind innovative Strategien zur antidepressiven Therapie bei Psychosepatienten dringend erforderlich. Hierzu
werden aktuell in der Tagesklinik Elemente der bifokalen Psychoedukation,
der sozialen und beruflichen Rehabilitation mit pharmakologischen Interventionen kombiniert. Diesem Zweck
dient eine Anwendungsbeobachtung
des neu zugelassenen Antidepressivums Duloxetin bei Depressionen im
Rahmen schizophrener Erkrankungen.
Eine dritte Front klinischer Forschung
stellt die Komorbidität von Zwangssymptomen und schizophrenen Psychosen dar. Durch diese Doppelbelastung werden einige Patienten sehr
schwer belastet und in ihrer Lebensentfaltung extrem beeinträchtigt. Diese Patientengruppe bedarf dringend
einer guten Charakterisierung, welche
die am ZI verfügbaren Kompetenzen
solider klinischer Arbeit, subtiler Neuropsychologie, präziser Neuropharmakologie und funktioneller Bildgebung
verbindet. Da in den letzten Jahren ferner deutlich wurde, dass Zwangsphänomene bei bestimmten Antipsychoti-
6
ka möglicherweise gehäuft auftreten,
arbeiten wir derzeit an Pilotprojekten,
um Behandlungsstrategien für diese
Situationen zu entwerfen.
Die oben schon erwähnten bifokalen
Psychoedukationsmodule
wurden
fest in den Ablauf der Therapiewoche eingefügt und ergänzen so die
ergotherapeutischen und psychotherapeutischen Angebote. Diese
Wissensvermittlung über Grundlagen, Therapie und Rückfallprophylaxe schizophrener Störungen werden
mit Unterstützung einer Pharmafirma
durchgeführt. Bei den betroffenen Patienten und Patientinnen erreichen wir
mit dem „Alliance-Konzept“ in sechs
wöchentlichen Sitzungen und vier
Durchläufen pro Jahr eine stabile Wissensvermittlung, eine offenere therapeutische Interaktion und in Extrapolation der kontrollierten Daten etwa
aus dem Forschungszentrum der TU
München einen signifikanten Rückfallschutz. Mühsamer gestaltet sich
die Motivation der Angehörigen zur
Teilnahme an den zeitlich parallel stattfindenden Veranstaltungen für diesen
Personenkreis. Aber auch hier konnte
durch frühe Ankündigung der Termine
und persönliche Ansprache durch alle
Mitglieder des multiprofessionellen
Teams eine deutliche Steigerung erreicht werden.
Blick in die Zukunft
Die therapeutischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten der psychiatrischen Tagesklinik sind erheblich
und können im Einklang mit aktuellen
Trends gemeindenaher Psychiatrie,
die Hospitalisierung vermeidet und
sehr auf soziale und berufliche Rehabilitation achtet, noch weiter ausgebaut und genutzt werden.
Über die Grenzen der affektiven und
schizophrenen Psychosen hinaus gilt
dies sicher auch für die Gerontopsychiatrie sowie suchtmedizinische und
psychosomatische
Erkrankungen.
Die multiprofessionelle Arbeit einer
Tagesklinik ist zuweilen durchaus
schwierig, da sie die Patienten in den
Anforderungen des Wohn- und Beziehungsalltags belässt, andererseits
aber gerade deshalb vor Artefakten
geschützt und sehr befriedigend. Auf
die Karte Tagesklinik zu setzen, steht
dem ZI gerade in Zeiten des Umbruchs sicher weiter sehr gut an.
Mathias Zink
www.zi-mannheim.de
„Soziale Balance in einer Welt der Ungleichheit“
18. Weltkonferenz der International Federation of Social Workers in München
Vom
30.07. bis 03.08.2006 fand in
München die 18. Weltkonferenz der International Federation of Social Workers
statt.
Passend zum Motto der Veranstaltung
„Soziale Balance in einer Welt der Ungleichheit“ wurde die Veranstaltung von
einer artistischen Darbietung am Trapez
eröffnet. Die Eröffnungsworte sprach
Hille Gosejacob-Rolf, die Bundesvorsit-
Die Weltkonferenz im
ICM-Congress Center München
zende des Deutschen Berufsverbandes
für Sozialarbeiter und Heilpädagogen,
als Gastgeberin der diesjährigen Weltkonferenz. Anschließend trat Imelda
Dodds, die amtierende Präsidentin des
IFSW, ans Rednerpult. Sie unterstrich in
ihrer Rede die hohe Bedeutung sozialer
Arbeit, die sich nicht zuletzt in der Zahl
der inzwischen auf 84 Mitgliedsländer
angestiegenen und den fast 500.000 in
diesem Verband organisierten Sozialarbeitern weltweit ausdrückt. Ministerin Christa Stewens vom Bayerischen
Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen begrüßte
die Konferenzteilnehmer auch im Namen
des Schirmherrn Ministerpräsident Dr.
Edmund Stoiber. Sie würdigte das hohe
Maß an Humanität und Solidarität der
Sozialarbeiter die haupt- und ehrenamtlich qualifizierte Arbeit am Wohl der Gesellschaft leisten. Im Eröffnungsreferat
fand Peter Heesen vom Beamtenbund
und der Tarifunion deutliche Worte hinsichtlich der aktuellen Sparmaßnahmen.
Bevor Tom Johannesen (Generalsekretär der IFSW) alle teilnehmenden Nationen aufrief, verlieh Dennis Corell vom
International Council of Social Welfare
(ICSW) seinem Wunsch nach einer ZuZI Aktuell 2/06
sammenarbeit aller Sozialer Organisationen Ausdruck und verwies auf die im
Jahr 2010 stattfindende Weltkonferenz,
die dann von beiden Vereinigungen gemeinsam getragen wird.
Sehr beeindruckend war die Verleihung
eines Preises an Irena Sendler, die durch
ihren Einsatz und unerschütterlichen
Willen beispielhaft für soziale Arbeit geehrt wurde. Ihr Wirken unter schwersten
Bedingungen und dem ständige Kampf
gegen die Ungerechtigkeit sind ein Symbol für die Ziele und Ideen, die der sozialen Arbeit zu Grunde liegen. Auf sie trifft
das Motto der Klassenarbeit amerikanischer Schüler zu, durch die Irena Sendler überhaupt entdeckt wurde: „He who
changes one person, changes the entire
world.“ – „Der, der nur einen Menschen
ändert, ändert die ganze Welt.“
Die Konferenz setze sich mit verschiedenen Hauptthemen auseinander:
„Balance der Generationen: Jugend
und Älter werden“: In Panel- und Diskussions-/Workshoprunden setzten sich
die Teilnehmer mit fünf Mitgliedern des
Netzwerkes „Social Work und Health Inequalities“ mit der Problematik der körperlichen, psychischen und geistigen
Gesundheit auseinander.
In einem weiteren Themenschwerpnkt
„Zwischen Heimat und Fremde: Migrantinnen und Migranten, Flüchtlinge und
entwurzelte Menschen“ setzten wir uns
mit der Problematik von Integration, Assimilation und Flüchtlingshilfe auseinander. „Menschen und Bürgerrechte: Zwischen Globalisierung und Ausgrenzung“
lautete der Titel einer weiteren Keynote.
Eine zweigeteilte Veranstaltung befasste
sich mit den „Sozialsystemen zwischen
allen Anforderungen: Grundbedürfnisse
und Minimalstandards sozialer Sicherung“.
Mit dem Schwerpunkt „Soziale Arbeit als
Profession: 50 Jahre Erfolgsgeschichte
und Visionen für die Zukunft“ schloss
sich der Kreis der sechs Hauptthemen.
Am Vorabend der Abschlussveranstaltung fand im Festsaal des Löwenbräukellers das große Kongress-Diner statt,
das den entspannten Rahmen für einen
intensiven Austausch der Eindrücke unter den Konferenzteilnehmern bot. Ein
besonderes internationales Highlight
war dabei die Jane-Hoey-Auktion, bei
der Kulturstücke, Kunstgegenstände
und Kuriositäten, die von den Teilnehmern aus aller Welt mitgebracht wurden,
zu Gunsten von TeilnehmerInnen aus 3.Weltländern ersteigert werden konnten.
Der Erlös aus der Versteigerung geht zu
7
100 Prozent an SozialarbeiterInnen oder
Auszubildende aus armen Ländern, um
ihnen die Teilnahme an der nächsten
Weltkonferenz im Jahr 2008 zu ermöglichen.
Darüber hinaus wurde im Rahmen
des Kongress-Diners auch der „Poster
Award“ vergeben, eine Aktion der IFSW
(siehe dazu auch www.ifsw.org). 25 Einsendungen, die vorher von einer Jury
ausgewählt worden waren, wurden im
Rahmen der Weltkonferenz im ICM ausgestellt und die drei besten ausgezeichnet. Die Abschlusszeremonie der 18.
Weltkonferenz fand im festlichen Rahmen des berühmtesten Kulturzentrums
der bayerischen Landeshauptstadt,
der Philharmonie im Gasteig, statt. Die
Schlussrede zum Thema „Soziale Balance weltweit“ wurde gehalten von Jakob
von Uexküll, dem Begründer des Right
Livelihood-Awards, bekannt auch als Alternativer Nobelpreis. Mit dem Ausblick
auf die nächsten Schritte der International Federation of Social Workers und
der Vorstellung der nächsten Orte der
Weltkonferenzen (Brasilien 2008, Südafrika, Parma, und Hongkong) schloss die
Weltkonferenz.
Wie in der Ausschreibung zur Weltkonferenz angekündigt, luden verschiedene
Landesverbände zu einem Postkonferenzprogramm in die jeweiligen Regionen ein.
Für Baden-Württemberg fand dies in
Mannheim/Heidelberg statt. Der Bezirksverband Rhein-Neckar lud sowohl
die Mitglieder als auch internationale SozialarbeiterkollegInnen zu einem
Fachgespräch ins ZI ein. KollegInnen
aus allen Kliniken und der Abteilung
Gemeindepsychiatrie stellten sowohl
ihren Arbeitsbereich in Kurzreferaten
vor, standen aber auch den vielen Fachfragen der Gäste zur Verfügung. Helga
Waschkowski, ltd. Sozialarbeiterin der
Abteilung Sozialarbeit moderierte in gewohnter Weise und übersetzte die verschiedenen Redebeiträge.
Am Samstag endete dieses Nachtreffen
mit einer Exkursion auf dem Rhein und
Neckar. Hier konnten die Teilnehmer
nicht nur die weitläufigen Hafenanlagen
Mannheims, sondern auch die Arbeit
des evangelischen Schifferseelsorgers
hautnah erleben.
Eine anstrengende Woche war zu Ende.
Viele neue Erkenntnisse und gute fachliche und menschliche Begegnungen
motivieren zur fachlichen Arbeit der
Abteilung Sozialarbeit.
Klaus W. Adam
www.zi-mannheim.de
Neuroimaging am ZI
Einblicke in Veränderungen des Gehirns bei psychiatrischen Erkrankungen
Als
nicht invasive Forschungsmethoden haben bildgebende Verfahren
in der letzten Dekade entscheidend
dazu beigetragen, dass psychiatrische
Erkrankungen zunehmend im Kontext
funktioneller, biochemischer und feinstruktureller Veränderungen des Gehirns verstanden werden. Im Bereich
der Psychiatrieforschung werden am
ZI mit Hilfe der Kernspintomografie
seit Mitte der neunziger Jahre neue
Erkenntnisse über die neurobiologischen Grundlagen psychiatrischer Erkrankungen gewonnen. Die vorliegende Übersicht möchte einen Einblick in
die aktuellen Methoden und Befunde
geben.
Historische Entwicklung
Vor der Entwicklung bildgebender Verfahren war das lebende Gehirn eine
„black box“, dessen normale Struktur
und Abweichungen hiervon nur am
toten Gehirn und mit Hilfe von Funk-
Jahren in der analytischen Chemie.
Dort wurden komplexe chemische
Strukturen unlokalisiert in Probenröhrchen untersucht. Es folgten zwei
Nobelpreise für die Anwendung in der
Chemie für Richard Ernst (1991) und
Kurth Wütherich (2002). Im Jahr 2003
erhielten Paul Lauterbur und Sir Peter
Mansfield gemeinschaftlich den Nobelpreis für Medizin für ihre Beiträge
zur räumlichen Kodierung, bzw. zur
schnellen MR-Bildgebung. Durch diese methodischen Erweiterungen wurde die magnetische Kernresonanz zu
einem wichtigen Diagnoseverfahren
in der Medizin.
Technische Grundlagen
Die Kernspintomografie ist eine so genannte nicht invasive Methode, d. h.
es sind keine Eingriffe in den menschlichen Körper nötig. Man kommt ohne
Röntgenstrahlung und radioaktive
Substanzen aus, es können vielmehr
Abbildung 1:
Mittels Kernspintomografie-basierter Morphometrie wurde
bei der Analyse von zehn Aufnahmen depressiver Patienten im Vergleich
zu gesunden Kontrollpersonen eine Reduktion der grauen Substanz beider
Amygdalae in den depressiven Patienten gefunden. Die Bereiche signifikanter Veränderungen sind auf den Kernspinbildern farbig markiert.
tionsausfällen nach umschriebenen
Schädigungen erforscht werden konnte. Die Kernspintomografie öffnet ein
Fenster zur Funktion, Mikrostruktur
und Biochemie des lebenden Gehirns.
Das physikalische Grundprinzip dieser
Methode ist die magnetische Kernresonanz, ein Phänomen für dessen
Entdeckung 1951 Felix Bloch und Edward Purcel den Nobelpreis für Physik
erhielten. Praktische Anwendung fand
diese Methode bereits in den fünfziger
ZI Aktuell 2/06
natürliche körpereigene Kontrastmittel
(z.B. Blut, Wasser) verwendet werden,
was ein entscheidender Vorteil ist.
Die wesentliche Einschränkung der
Einsatzmöglichkeiten von Kernspintomografen liegt in dem Ausschlusskriterium für Personen mit magnetischen
Implantaten wie Herzschrittmacher,
Medikamentenpumpen und chirurgischen Fixationen. Die Lärmbelastung
durch auftretende Klopfgeräusche
des Gradientensystems können ein
8
subjektives Unwohlsein verursachen.
Ebenso kann eine vorliegende Klaustrophobie ein weiteres Ausschlusskriterium sein. Moderne Kernspintomografen im Klinik- und Forschungsbetrieb
haben eine Feldstärke von 1,5-3 Tesla. Im Vergleich dazu hat das Magnetfeld der Erde zirka 30 bis 60 Mikrotesla, d.h. das Feld im Tomografen ist
in der Größenordnung etwa 100.000
mal stärker. Zur Bildgebung wird das
Kernresonanzsignal der Wasserstoffkerne im Wassermolekül genutzt. Das
Gehirn besteht fast zu 80% aus Wasser, und eignet sich somit ideal für die
Kernspintomografie des Wasserstoffkerns.
Anatomische Grundlagen
Im Gehirn werden hoch zentralisiert
Sinneseindrücke verarbeitet und komplexe Verhaltensweisen koordiniert.
Es ist somit der Hauptintegrationsort
für alle überlebenswichtigen Informationen, die in einem Organismus verarbeitet werden.
Auf der zellulären Ebene besteht das
Gehirn aus der grauen Substanz, den
Ansammlungen von Zellkörpern (Neurone, Somata), auch als „graue Zellen“
bezeichnet und der weißen Substanz,
welche die Leitungsbahnen (Nervenfasern, Fortsätze der Nervenzellen,
Axone) beinhaltet. Eingebettet ist das
Gehirn in den Liquor cerebrospinalis,
das Gehirnwasser, das auch der Polsterung des Gehirns dient.
Anatomisch werden vereinfacht vier
Hauptbereiche des Gehirns unterschieden: Großhirn, Kleinhirn, Mittelhirn und Hirnstamm, wobei diese
Bereiche noch einmal in einzelne
funktionelle Regionen aufgeteilt werden. Bei der Verarbeitung von Sinneseindrücken arbeiten viele verschiedene Regionen des Gehirns auf
komplexe Weise zusammen. Dennoch
können durch eine Schädigung einer
einzelnen Untereinheit des Gehirns
bestimmte Hirnfunktionen vollständig
verloren gehen. Ein Beispiel hierfür ist
das beim Menschen bekannte UrbachWiethe-Syndrom, einer selektiven
Verkalkung der Amygdalae mit einhergehendem Funktionsausfall. Diese
auch als „Mandelkerne“ bezeichnete
Region ist ein Kerngebiet des Gehirns
im medialen Teil des Temporallappens
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und ist unter anderem für die emotionale Bewertung von Sinneseindrücken
/Situationen zuständig. Patienten mit
Urbach-Wiethe- Syndrom können
der Emotion Angst keine Bedeutung
mehr zuordnen. Sie können weder beschreiben, wie ein ängstliches Gesicht
aussieht, noch verspüren sie selbst
Angst. Diese Beeinträchtigung hat
starke Auswirkungen auf das soziale
Leben. Es fällt den Patienten schwer,
in kritischen Situationen die richtigen
Entscheidungen zu treffen.
Auch Fehlfunktionen der Amygdalae
können beim Menschen zu einer Vielzahl von Beeinträchtigungen führen,
wie Gedächtnisstörungen, der Unfähigkeit der emotionalen Einschätzung
von Situationen, Autismus, Depression, Narkolepsie, Posttraumatische
Belastungsstörungen und Phobien.
Psychiatrische Erkrankungen sind
jedoch in der Regel nicht mit makroskopischen Veränderungen einzelner
Hirnareale verknüpft. Es wird heute
davon ausgegangen, dass die Veränderungen des Gehirns, die den
Erkrankungen zugrunde liegen von
mikrostruktureller Natur sind und daher erst mit verfeinerten bildgebenden
Verfahren zur Abbildung funktioneller
und metabolischer Eigenschaften des
Gehirns erfasst werden können.
MRT-Forschung am ZI
Am Beispiel der Erkrankungen Depression und Schizophrenie wird im
Folgenden ein Einblick in die Forschung mit der Kernspintomografie
am ZI gegeben. Die Depression ist
das psychiatrische Störungsbild mit
der höchsten Erkrankungshäufigkeit.
Etwa 10% der Bevölkerung suchen im
Laufe ihres Lebens eine Behandlung
wegen Depressionen auf. Die Dunkelziffer der unbehandelten Depressionen liegt mindestens doppelt so hoch.
Bei Depressionen handelt es sich um
eine komplexe emotionale Störung.
Zu den Kernsymptomen der Schizophrenie gehören Wahn, Sinnestäuschungen und Denkstörungen sowie
Beeinträchtigungen kognitiver, emotionaler und sozialer Funktionen. Die
neuronale Entwicklungstheorie der
Schizophrenie besagt, dass ursächliche und krankheitsauslösende Faktoren lange vor dem eigentlichen Krankheitsbeginn auftreten (wahrscheinlich
schon während der Schwangerschaft).
Diese Faktoren stören den Ablauf der
normalen neuronalen Entwicklung
und resultieren in pathologischen Ver-
ZI Aktuell 2/06
änderungen spezifischer Neurone und
deren Verbindungen und führen letztendlich zu Fehlfunktionen.
Kernspintomografiebasierte Morphometrie
Die digitale Morphometrie ist eine
quantitative Beschreibung von Hirnstrukturen durch Größe, Intensität,
Form- und Texturparameter. Diese
Parameter können in statistischen
Verfahren verwendet werden, um
Unterschiede zwischen einer Gruppe
von Patienten zu einer gesunden Vergleichsgruppe herauszufinden, die bei
der Betrachtung einzelner individueller
Aufnahmen nicht auszumachen sind.
In depressiven Patienten ist die Verarbeitung emotionaler Reize gestört.
Eine der wichtigsten Gehirnregionen
für die Verarbeitung von Emotionen
sind die Amygdalae. In einer Pilotstudie mit kernspintomografie-basierter
Morphometrie am ZI wurde bei der
Analyse von zehn Aufnahmen depressiver Patienten im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen eine Reduktion
der grauen Substanz beider Amygda-
Impulsen vermittelt. Einzelne Neurone lassen sich nicht direkt mit dem
Kernspintomografen abbilden. Dennoch kann die funktionelle Kernspintomografie die Gehirnaktivität indirekt
messen, und zwar anhand von Änderungen im Blutgefäßsystem, die als
Folge neuronaler Aktivität durch den
Verbrauch von Sauerstoff auftreten.
Der verbrauchte Sauerstoff wird durch
nachströmendes
sauerstoffreiches
Blut kompensiert. Dieses wiederum
hat andere magnetische Eigenschaften als sauerstoffarmes Blut und verändert das gemessene Signal. In den
aufgenommenen Bildserien verändern
sich damit die Grauwerte und Signaländerungen werden so sichtbar. Blut
dient somit als „natürliches Kontrastmittel“.
Bei schizophrenen Patienten gibt es
eine ganze Reihe funktioneller Kernspinstudien, die auf veränderte Gehirnfunktionen hinweisen. Beispielsweise
konnte gezeigt werden, dass im Vergleich zu einer Gruppe von gesunden
Kontrollprobanden bei der gleichzeitigen Präsentation unterschiedlicher
Abbildung 2: Visuo-motorisches Netzwerk der
Geschwindigkeitsdiskrimination:
Im Vergleich zu den gesunden Probanden (1)
zeigt die Patientengruppe (2) in den hierarchisch höheren
Anteilen des dorsalen visuellen Verarbeitungspfad signifikante Aktivierungseinbußen.
lae in den depressiven Patienten gefunden (Abbildung 1).
Funktionelle Kernspintomografie
Die Funktion des Gehirns basiert
hauptsächlich auf dem Zusammenwirken von stark vernetzten Nervenzellen (Neurone). Die Kommunikation
zwischen den Neuronen, den funktionellen Grundbausteinen des Gehirns, wird mit Hilfe von elektrischen
9
Reize (visuelle und akustische) der
dorsolaterale präfrontale Kortex weniger aktiv ist. Dies passt gut zu der Filterstörungstheorie der Schizophrenie,
die besagt, dass schizophrene Patienten Beeinträchtigungen bei der Bearbeitung simultan dargebotener Reize
haben. In Laboruntersuchungen fanden sich bei schizophrenen Patienten
selektive Beeinträchtigungen bei der
Unterscheidung kleiner Geschwindigwww.zi-mannheim.de
keitsdifferenzen. Um diese Annahme
zu überprüfen, wurde am ZI eine funktionelle
Kernspintomografie-Studie
durchgeführt, um die Aktivierungsmuster von chronisch schizophrenen Patienten bei der Geschwindigkeitsunterscheidung im Kernspintomografen zu
untersuchen. Dabei wurden die Studienteilnehmer vor die Aufgabe gestellt,
den jeweils schnelleren Reiz aus einer
Folge bewegter Schwarzweiss-Gitterpaare zu bestimmen. Es zeigte sich,
dass zur Bearbeitung solcher Diskriminationsaufgaben der Einsatz eines
umfassenden visuo-motorischen Gehirnnetzwerks nötig ist (Abbildung 2).
Im Gruppenvergleich zeichneten sich
die schizophrenen Patienten bei vergleichbarem Leistungsverhalten durch
eine selektive Minderaktivierung posterior-parietaler und präfrontaler Hirnregionen aus.
KernspinresonanzSpektroskopie
Die Kernspinresonanz -Spektroskopie
stellt eine einzigartige Methode dar,
um Stoffwechselvorgänge am lebenden Gehirn, nicht-invasiv zu untersuchen. Sie erlaubt den Nachweis von
zellulären Stoffwechelprodukten (Metaboliten) und deren Konzentrationsänderung im intakten Gewebe.
Eine große Zahl niedermolekularer,
frei beweglicher zellulärer Metaboliten
oder zugeführter Pharmaka sind über
ihr 1H-, 13C-, 19F- oder 31P-Kernspinresonanzsignal nachweisbar.
Die methodische Weiterentwicklung
der Kernspinresonanz-Spektroskopie
am Ganzkörpertomografen und ihr potentieller Einsatz in der Nervenheilkunde werden seit Mitte der achtziger Jahre
verfolgt. Mit der Kernresonanz-Spektroskopischen-Bildgebung lässt sich
die anatomische Information der Kernspinresonanz -Bildgebung zusammen
mit der biochemischen Information der
Spektroskopie im gleichen Messvorgang erfassen. Mit diesem Verfahren
haben sich Fragestellungen für die
Kernspinresonanz-Spektroskopie eröffnet, die bisher der Nuklearmedizin,
insbesondere der Positronen-EmissionsTomographie, vorbehalten waren.
Der Wasserstoffkern nimmt auch hier
eine Sonderstellung ein, da er im lebenden Gewebe am häufigsten vorkommt und die größte Sensitivität aller
für die Kernspinresonanz zugänglichen Kerne besitzt. Da die Konzentration der detektierbaren Stoffe im
Gehirn mehr als tausendfach geringer
ZI Aktuell 2/06
ist als die des Wassers und der Lipide
(Fette), bleibt zum einen die räumliche
und zeitliche Auflösung der Kernspinresonanz-Spektroskopie hinter der
Kernspinresonanz-Bildgebung zurück
und zum anderen müssen geeignete
Maßnahmen zur Unterdrückung der
starken Wasser- und Lipid-Signale im
Spektrum getroffen werden.
Die Wasserstoff-KernspinresonanzSpektroskopie wird weltweit in vielen
Zentren als wertvolle, zusätzliche diagnostische Methode zur Lokalisie-
der Qualität der Phosphorspektren
erlaubt. Ein Teilprojekt des von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft
geförderten
Sonderforschungsbereichs 636: „Lernen, Gedächtnis und
Plastizität des Gehirns: Implikationen
für die Psychopathologie“ untersucht
bei depressiven Patienten die Unterschiede des Phosphormetabolismus
im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen sowie mögliche Veränderungen
unter erfolgreicher Therapie.
Wichtige Anforderung an alle Kern-
Abbildung 3:
Vergleich zweier Kernspinspektren
aus dem Hippocampus einer gesunden Kontrollperson (links)
und eines Patienten (rechts) mit Schizophrenie
rung von Temporallappenepilepsie
angewandt. Eine Vielzahl internationaler Studien zeigen potentielle Anwendungen der KernspinresonanzSpektroskopie in der Psychiatrie.
Wasserstoff-Kernspinresonanz-Spektroskopie-Studien aus dem ZI konnten
bei schizophrenen Patienten gegenüber gesunden Kontrollpersonen in
mehreren Gehirnarealen eine Verminderung des Metaboliten N-Acetylaspartat-Signals aufzeigen. Abbildung
3 zeigt Beispielspektren aus dem Hippocampus. N-Acetylaspartat ist die
zweithäufigste Aminosäure im Gehirn
und wird als neuronaler Funktionsmarker angesehen.
spinresonanz-Methoden ist, dass die
Untersuchungsdauer dem Patienten
zumutbar sein muss. Insbesondere
bei psychiatrischen Patienten ist die
Ausfallrate hoch, da aufgrund der Psychopathologie die Toleranz gegenüber langen Kernspinuntersuchungen
gering ist. Speziell Mehrfachuntersuchungen zur Therapieverlaufskontrolle
dürfen daher die Kooperationsbereitschaft des Patienten nicht überfordern. Die fortlaufenden Kernspintomografie-Studien an psychiatrischen
Patienten dienen der Überprüfung von
Hypothesen moderner Theorien der
psychiatrischen Erkrankungen an Patienten.
Am ZI werden darüber hinaus spektroskopische Messungen phosphorhaltiger Verbindungen im Gehirn durchgeführt. Dazu verfügt das Institut über
eine spezielle Hardware-Ausstattung,
die die Anwendung so genannter Doppelresonanzmethoden zur Erhöhung
Ziel der Abteilung Neuroimaging am ZI
ist es, Beiträge zur neurobiologischen
Grundlagenforschung psychischer Erkrankungen sowie für ein individuelles
Therapie-Monitoring zu leisten.
10
Gabriele Ende
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Warum gibt es am ZI „depressive“ Ratten und Mäuse?
Forschungsschwerpunkte der AG Verhaltenbiologie Affektiver Erkrankungen
Die Depression ist eine häufige Er-
krankung. In Industrienationen erkrankt
statistisch jeder fünfte im Laufe seines
Lebens an einer behandlungsbedürftigen Depression. Die Betroffenen leiden schwer unter dieser Erkrankung.
Häufige Symptome sind gedrückte
Stimmung bis zu dem Punkt, keinerlei
Freude mehr empfinden zu können,
Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit,
Angst und Schuldgefühle, aber auch
körperliche Symptome wie Schlafstörungen, Gewichtsabnahme und
Libidoverlust. Antriebsstörungen und
bleierne Müdigkeit führen dazu, dass
Depressive ihre täglichen Aufgaben
nicht mehr bewältigen können, oft sind
Schwierigkeiten bei der Arbeit oder in
Partnerschaft und Familie die Folge der
Erkrankung. Zur Behandlung der Depression stehen uns eine Vielzahl von
Medikamenten, aber auch verschiedene psychotherapeutische Verfahren
zur Verfügung. Moderne Antidepressiva haben weniger Nebenwirkungen
und werden in der Regel von den Patienten gut vertragen. Jedoch vergehen
vom Beginn der Behandlung bis die
Depression abklingt in der Regel mindestens einige Wochen; eine Zeit, die
für die Patienten oft unerträglich ist.
Überdies erweisen sich Medikamente
etwa bei einem Drittel aller Patienten
als unwirksam. Daher werden weltweit
große Anstrengungen unternommen,
um neue, besser und schneller wirksame Medikamente zu finden.
Die Entwicklung solcher Medikamente
setzt jedoch voraus, dass wir wissen,
welche neurobiologischen Veränderungen der Depression zugrunde liegen
Neurobiologie der Depression
Aus epidemiologischen Untersuchungen ist gesichert, dass die Depression eine erbliche Komponente hat. Wir
gehen davon aus, dass verschiedene
(größtenteils noch unbekannte) Gene
zu etwa 30% bestimmen, wie empfindlich (prädisponiert) ein Individuum
ist, an einer Depression zu erkranken.
Ob die Erkrankung ausbricht, hängt
jedoch neben diesen Genen auch von
Umweltbedingungen ab: frühkindliche
Traumen, belastende frühere und akZI Aktuell 2/06
tuelle Lebensereignisse, chronischer
Stress, aber auch Krankheiten oder
bestimmte Medikamente können Depressionen auslösen.
Vermutlich können manche Menschen
Stress gut verarbeiten, während bei
anderen Menschen (oder bei sehr starkem Stress) negative Auswirkungen in
Form von Depressionen oder anderen
psychischen Erkrankungen auftreten.
Über die Mechanismen, wie Stress im
Gehirn verarbeitet wird und wie er zu
Depressionen führt, wissen wir derzeit
jedoch noch zu wenig.
Viele unserer Fragen können wir am
Menschen untersuchen, so wissen wir
z.B. dass eine Form des Gens, das
für den Serotonin-Transporter kodiert,
5HTTPR, zu vermehrter Ängstlichkeit
und zu häufigerem Auftreten von Depressionen unter Stress führt. Kürzlich
wurde mit einer sehr eleganten funktionellen Kernspin (fMRI) Untersuchung
gezeigt, dass diese Genvariante zu
einer schlechteren Zusammenarbeit
von Gyrus cinguli und der Amygdala
führt, Gehirnregionen, die an der Verarbeitung von Stress und Emotionen
beteiligt sind.
Dabei bleiben jedoch viele Fragen offen, da bildgebende Untersuchungen
wie fMRI, Magnetresonanz-Spektroskopie und auch oder auch PositronenEmissions-Tomographie (PET) nämlich nicht direkt die Funktion einzelner
Neurone messen, sondern nur indirekte Hinweise auf die Aktivität größerer
Hirnregionen geben. So misst das
fMRI z.B. den Blutfluss im Gehirn, und
man nimmt an, dass die
Durchblutung von Hirnregionen von deren Aktivität abhängt, dass also die
Durchblutung steigt, wenn
die Region aktiviert wird
und umgekehrt.
Abkürzungen:
ACTH:
adrenokortikotropes Hormon, wird in
der Hypophyse gebildet und bewirkt
die Ausschüttung von Kortison in der
Nebenniere.
BDNF:
brain derived neurotrophic factor, ein
Wachstumsfaktor, der u. a. die Bildung
neuer Neurone und die Heilung verletzter
Neurone fördert.
CRH:
Kortikotropin-Releasing-Hormon, wird
im Hypothalamus gebildet und bewirkt
in der Hypophyse die Ausschüttung
von ACTH.
fMRI:
funktionelles Kernspin, misst den
Blutfluss in Hirnregionen und lässt
Rückschluss auf die Aktivität dieser
Hirnregionen zu.
GR:
Glukokortikoidrezeptor, Bindungsstelle
für Kortison. GR-heterozygote (Mäuse)
haben nur ein Gen (statt zwei) für den
Glukokortikoidrezeptor.
HHN-System:
Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-System zur Regulation des Stresshormons Kortison.
PET:
Positronen-Emissions-Tomographie
5HTTPR:
Promotor für den
Serotonin-Transporter. Gen, das in
zwei Varianten vorkommt, wobei eine
Variante das Risiko erhöht, an einer
Depression zu erkranken.
Tiermodelle
der Depression
Solche Annahmen müssen aber an Versuchstieren überprüft werden, wo
die Funktion der Neurone
direkt gemessen werden
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kann. Am Tier kann außerdem untersucht werden, welche der verschiedenen Neurone ihre Aktivität ändern,
wie sie verschaltet sind und welche
Transmitter dabei beteiligt sind. In der
Arbeitsgruppe „Verhaltensbiologie Affektiver Erkrankungen“ untersuchen
wir diese Fragen an Mäusen und Ratten, die ein depressionsähnliches Verhalten zeigen.
Natürlich ist der Ausdruck der Depression beim Tier ganz anders als beim
Menschen: wir können die Tiere nicht
nach ihrer Stimmung fragen, Symptome wie Insuffizienz- oder Schuldgefühle hängen von der Sprache und von
der Selbstreflektion des Menschen ab.
Für eine Vielzahl auch von depressiven Kernsymptomen lässt sich jedoch
beim Tier ein Verhaltenskorrelat finden.
Überzeugung führen, dass das eigene
Handeln niemals Auswirkungen auf die
Folgen haben wird (Hilflosigkeit) und
in Passivität, Lethargie und Traurigkeit
münden. Bei Ratten und Mäusen verwenden wir unkontrollierbaren Stress,
um Erlernte Hilflosigkeit zu induzieren.
Die Hilflosigkeit wird in einem so ge-
Ein gutes Tiermodell ist dabei der
menschlichen Krankheit in der Entstehung (z.B. durch Stress), in der Symptomatik (z.B. Anhedonie) und in der
Behandelbarkeit (durch Medikamente)
möglichst ähnlich. In diesem Artikel
stellen wir solche Tiermodelle für die
Depression vor und beschreiben, wie
sich das Verhalten der Tiere untersuchen lässt und welche Erkenntnisse
dabei gewonnen werden können.
Konzept
der Erlernten Hilflosigkeit
Ausgehend von der Beobachtung,
dass Stress beim Menschen Depressionen auslösen kann, wird in den meisten Tiermodellen Stress verwendet,
um depressionsähnliches Verhalten
auszulösen. Zwei Tiermodelle zeigen
eine besonders gute Validität, d.h. sind
besonders geeignet die neuronalen
Mechanismen zu untersuchen, die einer Depression zugrunde liegen: die
„Erlernte Hilflosigkeit“ und das Modell
„Chronisch milder Stress“. Das Konzept der Erlernten Hilflosigkeit wurde
von Martin Seligman ursprünglich zur
Beschreibung von Tierverhalten formuliert, wenig später jedoch auch auf
den Menschen übertragen. Nach Seligman kann das Syndrom der Erlernten Hilflosigkeit durch unkontrollierbare Ereignisse, die einen Stress für das
Individuum bedeuten, hervorgerufen
werden. Das intensive Erleben einer
solchen Ohnmacht kann bei Menschen (und analog bei Tieren) zu der
ZI Aktuell 2/06
Abbildung 1:
Das Messen der Anhedonie bei
Nagern: das Tier kann sich zwischen
zwei unterschiedlich konzentrierten
Zuckerlösungen entscheiden.
Chronisch gestresste
Tiere trinken deutlich weniger Zuckerlösung als ungestresste, was als
verminderte
Freudfähigkeit
interpretiert wird.
Zeichung: Dusan Bartsch.
nannten „Escape-Test“ gemessen:
dabei misst man, wie schnell die Tiere lernen, einen aversiven Stressor zu
vermeiden, indem sie diesen mit einem Hebel abschalten oder durch ein
Fluchttor passieren. Nicht depressive
Tiere machen bei einem solchen Test
praktisch keine Fehler und entkommen
regelmäßig dem Stressor. Tiere mit Erlernter Hilflosigkeit machen dagegen
gar keinen Versuch, dem Stressor zu
12
entkommen, sie ertragen ihn passiv
und zeigen dabei zahlreiche Ähnlichkeiten zu depressiven Patienten.
Modell
“Chronisch milder Stress“
Das Modell “Chronisch milder Stress“
wurde von Richard Katz eingeführt
und von Paul Willner verbessert. Dabei werden die Tiere über mehrere
Wochen verschiedenen, einzeln harmlosen Stressoren (z.B. neue Käfigpartner, nasses Einstreu, etc.) ausgesetzt, die jedoch kumuliert chronische
Stressreaktionen aktivieren. Die Tiere
zeigen danach eine Anhedonie, die als
Analogon menschlicher Freudlosigkeit
während der Depression gilt. Anhedonie kann bei Nagern mit süßen Lösungen gemessen werden, die Nager
normalerweise gerne trinken. Wenn
man Mäusen und Ratten in ihrem
Heimkäfig gleichzeitig eine Flasche
mit Zuckerlösung und eine mit Wasser
anbietet, trinken sie normalerweise zu
mehr als 75% Zuckerlösung. Chronisch gestresste Tiere trinken dagegen
deutlich weniger Zuckerlösung als ungestresste, sprechen also weniger auf
den angenehmen Stimulus an, was als
Zeichen der Anhedonie interpretiert
wird (siehe Abbildung 1).
Weitere Testverfahren
Daneben gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Testverfahren, mit denen
man typische depressive Verhaltenskorrelate bei Tieren messen kann. Im
Porsolt Schwimmtest oder im TailSuspension Test zeigen depressive
Individuen ebenfalls Immobilität als
Korrelat für sogenanntes „despair“
oder „giving up“ Verhalten, während
nicht depressive (stressresistente)
Individuen aktive Coping-Strategien
anwenden, um dieser unangenehmen
Situation zu entkommen. Auch Ängstlichkeit, ein typisches Symptom eines
depressiven Syndroms, kann bei Nagern experimentell sehr gut evaluiert
werden. Dazu werden Tierversuchsarenen benutzt, die teils angstbesetzte
(d.h. helle oder offene) Areale aufweisen und teils geschützte (dunkle, mit
Wänden versehene). Je mehr Zeit
die Tiere in den dunklen, geschützten
Arealen verbringen, desto ängstlicher
sind sie. Als Korrelat für Antriebsverlust dient verminderte Lokomotion
und vermindertes Explorationsverhal-
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ten. Stressbedingte Änderungen des
Fressverhaltens und Gewichtsverlust
können durch einfaches Wiegen (des
Futters und des Versuchstieres) bestimmt werden, depressionstypische
Veränderungen des Schlafverhaltens
können auch bei Mäusen wie beim
Menschen durch ein EEG elektrophysiologisch abgeleitet werden. Depressive Pseudodemenz lässt sich durch
Lerntests überprüfen.
Wir sind also in der Lage, durch akuten
(erlernte Hilflosigkeit) oder chronischen
Stress (chronischer milder Stress) depressive Syndrome bei Ratten und
Mäusen hervorzurufen, welche durch
die oben vorgestellte Verhaltenstestbatterie abgebildet werden können.
Außerdem können wir - ähnlich wie
beim depressiven Patienten - die Dauer des depressiven Syndroms durch
antidepressive Psychopharmaka verkürzen. Diese in vivo Modellsysteme
kann man nun dazu benutzen, um
neurobiologische Mechanismen zu
analysieren, die bei der Entstehung
(Pathogenese), bei der Aufrechterhaltung oder bei der Therapie depressiver Störungen eine Rolle spielen.
Im wesentlichen Unterschied zum depressiven Patienten können bei Mäusen und Ratten zu jedem Zeitpunkt
eines Versuchs die Gehirne entnommen und einer molekularen, biochemischen oder elektrophysiologischen
Analyse unterzogen werden. Dabei
hat sich herausgestellt, dass trotz des
enormen evolutionären Unterschieds
zwischen Menschen und Nagern der
Hirnstoffwechsel so ähnlich ist, dass
viele molekulare und neurochemische
Mechanismen aus dem Tierversuch
direkt auf den Menschen übertragen
werden können. Im Folgenden soll nun
an einigen typischen Beispielen erläutert werden, wie unsere Arbeitsgruppe
mithilfe von unseren Tiermodellen biologische Veränderungen identifiziert
hat, die zusammen mit depressiven
Verhaltensveränderungen auftreten.
Veränderung neuroendokrinologischer Stresssysteme
Ein seit langem bekannter Befund beim
Menschen ist die Tatsache, dass es
bei vielen Patienten mit einer schweren depressiven Episode zu einer Veränderung
neuroendokrinologischer
(hormoneller) Stresssysteme kommt,
die letztendlich zu einer Erhöhung der
ZI Aktuell 2/06
Kortisol-Spiegel führen. Sowohl im
Ratten- als auch im Mausmodell der
erlernten Hilflosigkeit konnten wir zeigen, dass es dort ebenfalls zu einer
Fehlregulation der Kortikosteron- (entspricht dem Kortisol des Menschen)
Ausschüttung kommt. Dies beruht
keineswegs auf einer Störung der Nebenniere, wo dieses Hormon gebildet
wird, sondern auf einer komplexen
Fehlregulation, die im Hypothalamus
Ursache und welche Wirkung ist. Daher verwendeten wir genetisch veränderte („transgene“) Mäuse, die eine
um 50% verminderte Expression des
Glukokortikoidrezeptors
aufweisen,
so genannte GR-heterozygote Mäuse, und konnten nachweisen, dass die
Verminderung des Glukokortikoidrezeptors ursächlich für die depressiven
Verhaltensveränderungen ist. Dieser
gezielt verursachte genetische Defekt
Abbildung 2:
Im Hippokampus werden nicht nur bei Tieren, sondern auch beim Menschen
lebenslang neue Nervenzellen gebildet. Dieser Vorgang heißt Neurogenese.
Im Bild sieht man rot markiert die Zellkerne der neuen Neurone
am Rand der Körnerzellschicht (lila) im Gyrus Dentatus.
ihren Ausgang nimmt. Dort kommt
es zu einer vermehrten Bildung des
Hormons
Kortikotropin-ReleasingHormon (CRH), was nachfolgend zu
einer vermehrten Synthese von adrenokorticotropem Hormon (ACTH)
in der Hypophyse führt, welches wiederum für die Bildung und Ausschüttung von Kortisol/ Korticosteron in der
Nebennierenrinde verantwortlich ist.
Mithilfe unserer Tiermodelle konnten
wir zeigen, dass Glukokortikoidrezeptoren, also diejenigen Steuermoleküle,
an die Kortisol/Korticosteron bindet
und dadurch seine Wirkung entfaltet,
bei dieser Überaktivierung des Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Systems (HHN-Sytems) eine
wichtige Rolle spielen.
Aus früheren Untersuchungen an unserem Rattenmodell der erlernten Hilflosigkeit wussten wir, dass es bei hilflosen Tieren zu einer Verminderung des
Glukokortikoidrezeptors im Gehirn der
Versuchstiere kommt. Diese Veränderung lässt sich durch Gabe von antidepressiven Psychopharmaka erfolgreich behandeln. Allerdings kann man
mit solchen korrelativen Untersuchungen nicht zeigen, welche Veränderung
13
wirkt sich zunächst unter regulären
Tierhaltungsbedingungen überhaupt
nicht aus. Die Versuchstiere sind nicht
von Geschwistertieren zu unterscheiden, welche den genetischen Defekt
nicht aufweisen. Allerdings zeigen
GR-heterozygote Mäuse ganz ähnliche Veränderungen des HHN-Systems wie depressive Patienten. Daher
wollten wir als nächstes wissen, ob
diese Tiere auch depressive Verhaltensveränderungen aufweisen. In der
Tat zeigen GR-heterozygote Mäuse im
Modell der erlernten Hilflosigkeit eine
signifikant stärkere Ausprägung von
depressiven Verhaltensweisen als ihre
Kontroll-Geschwistermäuse.
Dieser
experimentelle Ansatz zeigt also, dass
eine (hier experimentell verursachte)
Verminderung der Expression des
Glukokortikoidrezeptors zu einer Zunahme depressiver Verhaltensymptome führt.
Diesen Zusammenhang konnten wir
mithilfe eines weiteren transgenen
Mausmodells noch einmal untermauern. Wenn man nämlich transgene
Tiere untersucht, die molekular genau
das Gegenteil von GR-heterozygoten
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Mäusen darstellen, weil sie den Glukokortikoidrezeptor etwa zweifach überexprimieren, finden sich auch auf der
neuroendokrinologischen und auf der
Verhaltensebene gegenteilige Befunde wie bei GR-heterozygoten Mäusen.
der Depression, die postuliert, dass
depressive Verhaltensveränderungen
mit einer verminderten Synthese von
BDNF einhergehen. So geht z. B. mit
der Erlernten Hilflosigkeit eine Fehlregulation der BDNF-Expression einher.
Abbildung 3:
Während antidepressive Medikamente die Aktivität in Hypothalamus und Hirnstamm
ändern und dadurch die Aktivität im Limbischen System normalisieren, bewirkt
kognitive Verhaltenstherapie Veränderungen in Präfrontalen Regionen, die ebenfalls
Auswirkungen auf das Limbische System haben. Im Limbischen System werden Emotionen verarbeitet.
GR-überexprimierende Mäuse sind
stressresistent, was sich sowohl durch
verminderte
Korticosteron-Spiegel
als auch durch ein verbessertes Coping-Verhalten im Modell der erlernten
Hilflosigkeit zeigt. Diese Mausmodelle
können künftig dazu benutzt werden,
weitere biologische Veränderungen zu
identifizieren, die mit der Entwicklung
depressiver Verhaltensweisen oder
umgekehrt mit einer Stressresistenz
einhergehen. Als erstes Beispiel für
ein weiteres mögliches Korrelat der
genannten
Verhaltensveränderungen haben wir den Wachstumsfaktor
BDNF (brain derived neurotrophic
factor) identifiziert. BDNF ist im Hippokampus
einer Nervenzellpopulation des sogenannten limbischen Systems, welches
für emotionales Verhalten wichtig ist
von GR-heterozygoten Mäusen vermindert, hingegen im Hippokampus
von GR-überexprimierenden Mäusen
erhöht.
Plastische Veränderungen
Diese Befunde passen sehr gut zur
sogenannten Neurotrophinhypothese
ZI Aktuell 2/06
Gesunde Tiere zeigen nämlich unter
Stress eine Verminderung des BDNF,
während Ratten, die für Hilflosigkeit
gezüchtet wurden, sich nicht an Stress
anpassen können, weder auf biochemischer Ebene durch Regulation des
BDNF, noch auf der Verhaltensebene.
Wie hier deutlich wird, ist BDNF ein
wichtiges Steuerungssignal im Rahmen der Neuroplastizität, d. h. der Anpassung an veränderte Umweltbedingungen. BDNF beeinflusst und steuert
die synaptische Plastizität, aber auch
das Wachstum von neuen Nervenzellen. Es hat in den letzten Jahren für
große Aufregung gesorgt, als sich herausstellte, dass im Gehirn von allen
Säugetieren (auch dem Menschen) lebenslang neue, funktionstüchtige Neurone gebildet werden können. Dieser
Vorgang heißt Neurogenese und es
verbindet sich damit die Hoffnung, Gehirnkrankheiten, die auf den Untergang
von Neuronen zurückzuführen sind, in
Zukunft besser behandeln zu können
(siehe Abbildung 2). Die Depression
wurde mit der Neurogenese in Verbindung gebracht, weil die Neurogenese
durch Stress vermindert und durch
14
antidepressive Behandlung stimuliert
wird. Allerdings sprechen unsere Befunde im Tiermodell gegen einen unmittelbaren Zusammenhang von depressivem Verhalten und Neurogenese.
Es scheint sich vielmehr um unspezifische Stresseffekte zu handeln, die
auf die Neurogenese Einfluss nehmen
und nicht unbedingt zu Depressionen
führen.
Bezug zum Menschen
Helen Mayberg hat mit PET-Untersuchungen von depressiven Patienten
gezeigt, dass sich bei der Genesung
von einer Depression die Aktivität in
vielen verschiedenen Hirnregionen
ändert. Antidepressive Medikamente
normalisieren die Funktion im limbischen System und in Hirnregionen, die
für Hormone und Stressverarbeitung
wichtig sind, wie dem Hypothalamus
und dem Hirnstamm. Dagegen verbessert sich unter kognitiver Verhaltenstherapie die Funktion von Arealen im
Präfrontalen Kortex, die für die Bewertung und Beurteilung von Situationen
wichtig sind, und dadurch normalisiert
sich auch die Funktion von untergeordneten Zentren der Emotions- und
Stressverarbeitung. Psychologen wissen schon lange, dass Stress sich viel
schädlicher auswirkt, wenn er mit einer
negativen Bewertung einhergeht. Im
Tierexperiment konnte wiederum das
elektrophysiologische Korrelat dieser
Beobachtung gezeigt werden, über
welche Neurone nämlich der Präfrontale Kortex günstige Gedanken denkt
(z. B. „es ist alles unter Kontrolle“ oder
„mir droht keine Gefahr“) und damit
Stress verarbeitende Zentren im Hirnstamm hemmen und positiv beeinflussen kann.
Zusammenfassend wollen wir noch
einmal unterstreichen, welche wichtige
Rolle Tiermodelle für die Erforschung
der neurobiologischen Grundlagen
depressiver Störungen spielen. Dabei
ist wichtig, dass im Verhalten der Versuchstiere möglichst genau Übereinstimmungen zum Menschen gesucht
werden, damit der Komplexität depressiver Störungen Rechnung getragen
wird und molekulare Veränderungen
gefunden werden, die verändertem
Verhalten zugrunde liegen.
Barbara Vollmayr
Peter Gass
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Wenn Schmerz nicht mehr weh tut
Schmerzwahrnehmung bei Borderline
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung
ist eine schwere psychische Erkrankung, die durch affektive Instabilität,
erhöhte Impulsivität und häufig auch
durch selbstverletzendes Verhalten
gekennzeichnet ist. Nach der aktuellen Version des Diagnostischen und
Statistischen Manuals für Psychische
Störungen (DSM-IV-TR) wird diese
Persönlichkeitsstörung diagnostiziert,
wenn mindestens fünf der folgenden
neun Kriterien erfüllt sind:
► ein verzweifeltes Bemühen,
tatsächliches oder vermutetes
Verlassenwerden zu verhindern
► instabile, aber eine intensive
zwischenmenschliche
Beziehungen
► Identitätsstörungen (d. h. hohe
Instabilität bezüglich Selbstbild
oder -wahrnehmung)
► wiederkehrende Impulshandlungen mit selbstschädigendem
Charakter
► Suizidhandlungen und -drohungen oder selbstverletzendes
Verhalten
► ausgeprägte affektive Instabilität
► ein chronisches Gefühl von
Leere
► die Schwierigkeit, Wut und Ärger
zu kontrollieren
► vorübergehende, durch Belastung ausgelöste paranoide
Wahnzustände oder schwere
dissoziative Symptome
Im Wesentlichen handelt es sich also
um eine tief greifende Störung der Affektregulation, die mit einem hohen
Erregungs- und Anspannungsniveau
verbunden ist. Die Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung beträgt etwa 1,3%,
wobei der überwiegende Anteil der Patienten weiblich ist. Die auffallenden
Zusammenhänge mit traumatischen
Erfahrungen in der Vorgeschichte der
Patienten sowie eine hohe Komorbidität mit der Posttraumatischen Belas-
ZI Aktuell 2/06
tungsstörung (PTBS) lassen auf eine
entscheidende Rolle von chronischem
Stress bei der Entstehung dieses Syndroms schließen.
Etwa 70-80% aller Borderline-Patienten fallen durch selbstverletzendes
Verhalten wie selbst zugefügte Schnitte, Verbrennungen etc. auf. Während
dieser Episoden der Selbstverletzung
berichten viele Patienten, dass sie die
mit den Verletzungen verbundenen
Schmerzen gar nicht oder nur in abgeschwächter Form wahrnehmen.
Diese Berichte geben Anlass, den Zusammenhang zwischen Schmerz und
Borderline genauer zu untersuchen.
In der Forschungsabteilung der Klinik
für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin am ZI wird das
Störungsbild der Borderline-Persönlichkeitsstörung intensiv erforscht; ein
besonderes Augenmerk liegt dabei auf
der Schmerzwahrnehmung.
Ist die Schmerzwahrnehmung bei der
Borderline-Persönlichkeitsstörung
verändert?
Diese Frage ist nach dem aktuellen
Forschungsstand mit einem eindeutigen Ja zu beantworten.
Wiederholt wurde eine geringere Empfindlichkeit für experimentelle Schmerzreize bei diesen Patienten festgestellt,
was mit den klinischen Beobachtungen
im Einklang steht. In einer Arbeit unserer eigenen Gruppe konnte nachgewiesen werden, dass nicht nur bereits
unter normalen Umständen bei diesen
Patienten eine reduzierte Schmerzempfindlichkeit vorliegt. Im Zustand
starker Anspannung, der bei Borderline
häufig auftritt, sinkt die Schmerzempfindlichkeit nochmals ab. Dies wurde
bei einem Vergleich von 12 unmedizierten Borderline-Patientinnen mit 19 gesunden Kontrollprobandinnen ermittelt,
wobei die Borderline-Patienten einmal
während subjektiv hoher Anspannung,
einmal unter normalen Bedingungen
untersucht wurden. In zwei verschiedenen Tests der Schmerzwahrnehmung
(„Cold Pressure Test“ und „Tourniquet
Pain Test“) wurden vergleichbare Ergebnisse erhalten; der Effekt ist also
nicht von der gewählten Methode der
Schmerzreizung abhängig.
Außerdem gibt es bei Borderline-Patienten Zusammenhänge zwischen der
Schmerzempfindlichkeit einerseits und
15
Dissoziation sowie aversiver innerer
Anspannung andererseits, wie eine
Studie unserer Gruppe belegt, bei der
mit elektrischer Schmerzstimulation
gearbeitet wurde. 12 Borderline-Patientinnen wurden dabei mit 12 gesunden
Kontrollprobandinnen verglichen. Auch
in dieser Studie zeigten sich bei den
Patienten deutlich erhöhte Schmerzschwellen. Nur in der Patientengruppe
korrelierten außerdem die Schmerzschwellen positiv mit dissoziativen Zuständen und negativer Anspannung.
Je stärker diese – für das BorderlineSyndrom typischen – Zustände ausgeprägt waren, desto unempfindlicher
waren die Patienten also gegenüber
der schmerzhaften Reizung.
Aber wie kommt es dazu, dass Schmerz
von Borderline-Patienten anders wahrgenommen wird als von gesunden
Personen? Diese Frage ist noch nicht
eindeutig zu beantworten. Um einer
Antwort näher zu kommen, muss man
sich mit den Grundlagen der Schmerzwahrnehmung auseinandersetzen.
Was beeinflusst die
Schmerzwahrnehmung?
Schmerz ist mehr als eine bloße sensorische Empfindung. Gedanken und
Gefühle haben einen entscheidenden
Einfluss darauf, wie wir Schmerz wahrnehmen. Sensorische, affektive und
kognitive Schmerzanteile werden in
einem Netzwerk von Hirnregionen verarbeitet, die zwar zu trennen sind, aber
stark interagieren.
Die
sensorischen
Aspekte
der
Schmerzempfindung – also z. B. wo wir
den Schmerz wahrnehmen, ob er brennend, dumpf oder stechend erscheint
und wie intensiv die Empfindung ist –
werden in somatosensorischen Hirnarealen verarbeitet: im primären und sekundären somatosensorischen Kortex
(SI und SII). Für die affektive, also gefühlsmäßige Wirkung des Schmerzes
sind vor allem der anteriore cinguläre
Kortex (ACC) und der insuläre Kortex
von Bedeutung. Auch die Amygdala,
die für die Verarbeitung insbesondere
negativer Emotionen wie Angst eine
Rolle spielt, ist hier involviert. Die kognitive Schmerzkomponente ist weniger
klar zu lokalisieren. Vermutlich sind
ebenfalls Bereiche des anterioren Cingulum beteiligt, ebenso wie präfrontale
Bereiche, hier vor allem der dorsolaterale präfrontale Kortex (DLPFC).
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Was ist bei Borderline-Patienten
anders?
Wenn man die Schmerzwahrnehmung experimentell untersucht, kann
man durch verschiedene Methoden
die unterschiedlichen Komponenten
der Schmerzwahrnehmung gezielt
beeinflussen und damit trennen. In einer Studie aus unserer Arbeitsgruppe
wurde überprüft, ob die sensorische
Schmerzkomponente bei BorderlinePatienten im Vergleich zu gesunden
Probanden verändert ist. Dazu wurden
zehn unmedizierte Borderline-Patientinnen mit 14 gesunden Kontrollprobandinnen verglichen. Mit Hilfe von
Laserreizen verschiedener Intensitäten wurden Detektions- und Schmerzschwellen der Probandinnen bestimmt,
während gleichzeitig Laserevozierte
Potenziale (LEP) abgeleitet wurden.
Der Einfluss von Aufmerksamkeitsprozessen wurde durch die Vorgabe mentaler Rechenaufgaben (Ablenkung)
oder einer räumlichen Diskriminationsaufgabe (Fokussierung) untersucht.
Die Ergebnisse dieser Studie deuten darauf hin, dass die sensorische
Schmerzverarbeitung bei BorderlinePatienten intakt ist. Zwar war auch hier
die subjektive Schmerzempfindung der
Patienten im Vergleich zu den gesunden Probanden deutlich reduziert; die
LEP-Antwort war jedoch mindestens
ebenso stark ausgeprägt wie bei den
Gesunden. Beide Gruppen unterschieden sich auch nicht hinsichtlich der
Auswirkungen der Rechenaufgabe
oder der Leistung in der räumlichen
Diskriminationsaufgabe. Die reduzierte
Schmerzwahrnehmung bei diesen Patienten hängt also wahrscheinlich auch
nicht mit einer reduzierten schmerzbezogenen Aufmerksamkeit zusammen.
Wahrscheinlicher ist eine Veränderung
der affektiven und/oder kognitiven Verarbeitung von Schmerz.
In einer weiteren Studie unserer Arbeitsgruppe, in der mit Hitzeschmerzreizung und funktioneller Magnetresonanztomografie gearbeitet wurde,
zeigten sich Auffälligkeiten im Hinblick
auf die zerebrale Verarbeitung von
Schmerz bei Borderline-Patienten. Das
charakteristische Muster bestand in einer starken Aktivierung des DLPFC,
verbunden mit einer Deaktivierung des
perigenualen ACC und der Amygdala. Möglicherweise ist in dieser Überaktivierung des DLPFC ein kognitiver
Hemmmechanismus zu erkennen, der
die Aktivität der affektiven Schmerzareale, wie des ACC und der Amygdala,
reduziert (Abbildung 1).
ZI Aktuell 2/06
Welche Richtung nimmt
die weitere Forschung?
Zurzeit laufen mehrere Studien in der
Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin, die das
Phänomen der reduzierten Schmerzwahrnehmung bei Borderline-Patienten näher untersuchen. So interessiert
zum Beispiel die Frage, inwieweit genetische Faktoren für diese Beziehung
eine Rolle spielen. Auch die Bedeutung komorbider posttraumatischer
Belastungsstörungen soll untersucht
werden. Dazu werden Borderline-Patientinnen mit und ohne komorbide
tung von Schmerz wird in einer weiteren
laufenden Studie untersucht. Dabei soll
vor allem überprüft werden, ob man die
subjektive Schmerzempfindung durch
affektive und/oder kognitive Faktoren
beeinflussen kann und, falls ja, ob sich
für diese Zusammenhänge zerebrale
Korrelate identifizieren lassen. Weiterhin wird untersucht, ob es in dieser
Hinsicht zwischen Borderline-Patienten
und gesunden Probanden Unterschiede gibt. Mit Hitzeschmerzreizung und
funktioneller Kernspintomografie werden
psychophysiologische und neuronale
Korrelate der Schmerzwahrnehmung
Abbildung 1: Unterschiede in der zerebralen Aktivierung bei schmerzhafter Reizung: bei
Borderline-Patientinnen fand sich im Vergleich zu gesunden Probandinnen eine stärkere
Aktivierung des linken DLPFC (a, orange markiert) und eine Deaktivierung des perigenualen ACC (b, blau markiert) (Fixed Effects-Analyse, α = 0,05). Die Darstellung ist spiegelverkehrt. Aus: Schmahl et al. (2006), Archives of General Psychiatry, 63(6):659-67.
PTBS hinsichtlich ihrer Hitzeschmerzschwellen und der zerebralen Korrelate der Schmerzwahrnehmung verglichen. Durch diesen Vergleich soll
herausgefunden werden, ob die oben
beschriebenen Auffälligkeiten in der
Schmerzverarbeitung möglicherweise
bei Patienten mit beiden Störungen in
verstärktem Ausmaß auftreten. In einer
weiteren Studie, die in Zusammenarbeit mit der Universität Mainz durchgeführt wird, werden Charakteristika
der Schmerzwahrnehmung bei Borderline-Patientinnen mit unterschiedlichem Schweregrad der Erkrankung
untersucht. Hier interessiert vor allem
der Vergleich zwischen Patienten, die
aktuell selbstverletzendes Verhalten
berichten, und Patienten, die sich seit
mindestens einem halben Jahr nicht
selbst verletzt haben. Untersucht werden auch hier Schmerzschwellen und
zerebrale Korrelate der Schmerzwahrnehmung in Form Laserevozierter
Potentiale. Der Einfluss affektiver und
kognitiver Variablen auf die Schmerzschwellen und die zerebrale Verarbei-
16
erhoben, wobei einerseits die Erwartung
von Schmerz variiert, andererseits über
affektive Bilder der emotionale Zustand
der Probanden beeinflusst wird.
Die Untersuchung dieser verschiedenen Fragestellungen in parallel laufenden Studien könnte dazu beitragen, die
Grundlagen der veränderten Schmerzwahrnehmung bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung besser
verständlich zu machen. Die Zusammenarbeit mit anderen Arbeitsgruppen, zum
Beispiel an den Universitäten Mainz und
Utrecht, hilft uns, das Problem in einem
größeren Kontext zu sehen und auch
den Vergleich mit anderen Störungsbildern zu ziehen, bei denen ebenfalls eine
veränderte Schmerzverarbeitung zu beobachten ist, wie z. B. Fibromyalgie und
Posttraumatische
Belastungsstörung.
Diese vergleichende Forschung erweitert nicht nur das Wissen über die Borderline-Persönlichkeitsstörung, sondern
auch über die Grundlagen der Schmerzwahrnehmung im Allgemeinen.
Iris Klossika
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Das Fibromyalgie-Syndrom
Effekte und Indikationskriterien der operant- und der
kognitive-verhaltenstherapeutischen Schmerztherapie
Definition
Nach den Klassifikationskriterien des
American College of Rheumatology
(ACR) von 1990 lässt sich das Fibromyalgie-Syndrom (FMS) definieren als
„...Muskelschmerzen der oberen und
unteren Extremitäten und der rechten
und linken Körperhälfte, der Wirbelsäule und der vorderen Thoraxwand
für mindestens drei Monate, wobei
mindestens 11 von 18 Druckpunkten
vierfach erhöhtes Risiko für FMS-Patientinnen an einem Mamma-Karzinom zu erkranken (McBeth, Silman, &
Macfarlane, 2003). Es geht mit einem
zweifach erhöhtem Mortalitätsrisiko
am Mamma-Karzinom zu versterben
einher (McBeth et al., 2003).
Ursachen
Die Ätiologie und Pathogenese des
FMS sind unklar. Das international
weitgehend anerkannte Modell in der
Abbildung 1:
Schmerzverhalten vor (T1), 6 Monate (T2) und 12 Monate nach (T4) operanter
Schmerztherapie (OT), kognitiv-behavioraler Schmerztherapie (KVT)
und sozialer Diskussionsgruppe (SDG)
bei digitaler Palpation schmerzhaft
sind ...“ (Wolfe et al., 1990).
Die häufigsten zusätzlichen Symptome
sind chronische Erschöpfung (81%),
verminderte Belastbarkeit (77,0%),
Morgensteifigkeit (67%), Kopfschmerzen (53%), Depression (32%), Schlafstörungen, die mit einem pathologisch
veränderten Schlafmuster, im Sinne eines nichterholsamen Schlafes (75%),
Insomnie (56%), sowie Konzentrationsstörungen einhergehen (Smythe
& Moldovsky, 1977; White, Speechley,
Harth, & Ostbye, 1995; Wolfe et al.,
1990). Das FMS ist von vielfältigen
vegetativen und funktionellen Störungen begleitet, wie z. B. Colon irritabile, Migräne oder auch Tachykardien.
Bei mehr als 40% der FMS-Patienten
tritt ein primäres Sjögren-Syndrom als
entzündlich-rheumatische Erkrankung
auf (Dohrenbusch, Gruterich, & Genth,
1996). Eine andere Studie berichtet im
Vergleich zur Normalbevölkerung ein
ZI Aktuell 2/06
Pathogenese des FMS ist das biopsychosoziale Modell, das davon ausgeht,
dass genetische und lernabhängige
Faktoren ebenso wie Stressereignisse relevant sind, die biologische und
psychologische Reaktionen hervorrufen, die von peripher-physiologischen,
endokrinen, zentralnervösen und psychosozialen Konsequenzen gefolgt
sind. Letztendlich führen diese verschiedenartigen Veränderungen zu einer multikausalen Störung der zentralnervösen Schmerzverarbeitung. Der
entstandene circulus viciosus führt zu
einer Chronifizierung des FMS (Maixner, 2004).
Therapieformen
Für Patienten mit FMS wurden sowohl
pharmakologische als auch nichtpharmakologische Behandlungsstrategien entwickelt. Eine Meta-Analyse
(Rossy et al., 1999) von 49 FMS-Be-
17
handlungsstudien untersuchte die
Effizienz von pharmakologischen im
Vergleich zu nicht-pharmakologischen
Therapieformen (kognitiv-verhaltenstherapeutische Schmerztherapie und
Physiotherapie) hinsichtlich 4 Kriterien: physischer Status, subjektiv geschilderte FMS-Symptome, psychologischer Status und Funktionsfähigkeit
in alltäglichen Belastungssituationen.
Dabei fanden sich bei den kontrollierten Studien mit Antidepressiva, die
Responderraten von 30-50% in einem
Zeitraum von 4-9 Wochen aufwiesen,
signifikante Verbesserungen hinsichtlich des körperlichen Zustandes und
der subjektiv geschilderten FMS-Symptome.
Alle Studien zur kognitiv-verhaltenstherapeutischen Schmerztherapie, die
Responderraten von mehr als 45%
in einem Zeitraum von 6-18 Monaten
zeigten, wiesen signifikante Verbesserungen in allen vier Kriterien auf, im
Unterschied zur Physiotherapie (primär
krankengymnastischen Übungen), die
keine signifikanten Verbesserungen
der Funktionsfähigkeit erreichte.
Die kognitiv-verhaltenstherapeutische
Schmerztherapie scheint daher bezüglich der Verbesserung der subjektiv
geschilderten FMS-Symptome effektiver zu sein als pharmakologische Therapien. Ein ähnlicher Trend fand sich in
Bezug auf die Funktionsfähigkeit. Auch
hier zeigte sich die kognitiv-verhaltenstherapeutische Schmerztherapie den
pharmakologischen Therapieformen
überlegen. Diese Meta-Analyse legt
nahe, dass eine optimale Therapie für
FMS den Schwerpunkt auf die kognitiv-verhaltenstherapeutische Schmerztherapie legen sollte. Zusätzlich zur
psychologischen
Schmerztherapie
sollte die medikamentöse Behandlung
zur Beeinflussung der Schlafsymptomatik einbezogen werden (Rossy et
al., 1999).
In einer neueren Studie, die im ambulanten Setting die Effekte der 15 Sitzungen umfassenden operanten und
kognitiv-verhaltenstherapeutischen
Schmerzbehandlung gegen eine soziale Diskussionsgruppe, die kein
strukturiertes Manual zur Grundlage
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hatte, bei 120 FMS-Patienten verglich,
konnten deutliche Veränderungen
im Schmerz, in psychologischen und
physiologischen Variablen beobachtet
werden, die 12 Monate nach Therapie
stabil blieben (Thieme, Flor, & Turk,
2006a) sowie erste Indikationskriterien für die operante und die kognitivverhaltenstherapeutische Schmerzbehandlung gefunden werden.
Effekte der Operanten- und
kognitive-verhaltenstherapeutischen Schmerztherapie
Die strukturierten psychologischen
Schmerztherapieprogramme,
wie
kognitiv-verhaltenstherapeutische
Schmerzbehandlung und operantverhaltenstherapeutische
Schmerzbehandlung wiesen 12 Monate nach
Therapie signifikante Verbesserungen in der physischen Funktionalität,
Schmerz, und emotionalen Verstimmung auf, im Vergleich zur sozialen
Diskussionsgruppe. Die letztere zeigte signifikante Verschlechterungen in
Folge der Behandlung. Obwohl keine
statistisch signifikanten Unterschiede
gefunden wurden, die die kognitivverhaltenstherapeutische Schmerzbehandlung oder die operant-verhaltenstherapeutische Schmerzbehandlung
generell favorisierten, zeigten die Berechnungen für jede Gruppe über die
Zeit, dass die kognitiv-verhaltenstherapeutische Schmerzbehandlung keine Therapieeffekte in der physischen
Funktionalität erreichen konnte, während die operant-verhaltenstherapeutische Schmerzbehandlung weniger
Effekte in der affektiven Verstimmung
erzielte. Die Analyse der klinischen
Signifikanz zeigte, dass die kognitivverhaltenstherapeutische Schmerzbehandlung eine relativ größere Effektstärke in der Reduktion der affektiven
Verstimmung und die operant-verhaltenstherapeutische Schmerzbehandlung eine relativ größere Effektstärke in
der Erhöhung der physischen Funktion
aufwies. Eine deutliche Überlegenheit
wurde für die aktiven psychologischen
Interventionen im Vergleich zur sozialen Diskussionsgruppe gefunden.
Tatsächlich erhöhten sich die Therapieeffekte über den Zeitraum der 6
und 12 Monatskatamnese und bemerkenswert war, dass die demonstrierten
Effekte ohne ein strukturiertes Physiotherapieprogramm oder zusätzliche
antidepressive Medikation erreicht
wurden. Diese Ergebnisse haben be-
ZI Aktuell 2/06
deutsame Auswirkungen auf die Physiotherapie und medikamentöse Therapie, die häufig als wichtige Methoden
innerhalb des Behandlungsschemas
bei FMS empfohlen werden (Burckhardt et al., 2005). Zukünftige Studien
sollten direkt diese sehr unterschiedlichen Herangehensweisen an die
FMS-Therapie untersuchen und auch
eine Responderanalyse durchführen,
um zu prüfen, für welche Patienten
welche Therapie optimal ist. Keine
signifikanten Unterschiede zwischen
lich Schmerz, kognitiven und affektiven
Variablen gefunden. Positive Kognitionen wurden erfolgreich aufgebaut und
die Patienten lernten, den Gebrauch
von Krankheitsverarbeitungsstrategien zu verbessern und diese zu nutzen,
um katastrophisierendes Denken abzubauen mit der Konsequenz der Reduktion der affektiven Verstimmung.
Diese Ergebnisse sind mit früheren
Forschungsergebnissen
konsistent
(Nielson et al., 1992; Turk et al., 1998).
Die Resultate waren über 12 Monate
Abbildung 2:
Anzahl der Arztbesuche vor (T1), 6 Monate (T2) und 12 Monate nach (T4)
operanter Schmerztherapie (OT), kognitiv-behavioraler Schmerztherapie (KVT)
und sozialer Diskussionsgruppe (SDG)
kognitiv-verhaltenstherapeutischer
Schmerzbehandlung und operantverhaltenstherapeutischer Schmerzbehandlung wurden in den kognitiven
Variablen beobachtet. Eine Erklärung,
die plausibel erscheint, ist, dass bei
Patienten, die mit operant-verhaltenstherapeutischer Schmerzbehandlung
therapiert wurden, Veränderungen in
der aktiven Verarbeitung und hinsichtlich des Katastrophisierens provoziert
wurden, obwohl es nicht die eigentlichen Ziele der Therapie waren. Bereits
Bandura (1977) hat darauf hingewiesen, dass Verhaltensveränderungen
die Selbstwirksamkeitserwartungen
am besten verändern. Offensichtlich,
sind die veränderten Einstellungen
des Patienten Schlüsselaspekte der
Behandlung, ungeachtet dessen, ob
diese direkt angezielt oder von der
Beobachtung des eigenen Verhaltens
stammen (Jensen et al., 1994).
Signifikante Verbesserungen für die
kognitiv-verhaltenstherapeutische
Schmerzbehandlung wurden bezüg-
18
stabil und klinisch signifikant. Trotz der
Tatsache, dass die kognitiv-verhaltenstherapeutische Schmerzbehandlung
nicht direkt auf die Veränderung des
Schmerzverhaltens ausgerichtet war,
zeigen die Ergebnisse einen mittleren
Behandlungseffekt auf das Schmerzverhalten (ES=0,57). Signifikante
Veränderungen für die operant-verhaltenstherapeutische Schmerzbehandlung wurden hinsichtlich Schmerz,
physischen und Verhaltensvariablen
gefunden. In Übereinstimmung mit früheren Studien (Nicassio et al., 1997;
Thieme et al., 2003), wurde das gesunde Verhalten erfolgreich aufgebaut
und das Schmerzverhalten abgebaut
(siehe Abb.1).
Die ambulante operant-verhaltenstherapeutische Schmerzbehandlung erreichte größere Effektstärken hinsichtlich der Reduktion des zuwendenden
Partnerverhaltens, die im Vergleich
zur stationären operant-verhaltenstherapeutischen Schmerzbehandlung
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(Thieme et al., 2003) mit 0,69 fast
doppelt so groß waren (ES=1,13).
Diese Beobachtung verlangt eine Replikation, insbesondere was die Rolle
der Bezugsperson im Behandlungsprozess betrifft und auch die Auswirkungen der Behandlung im Alltag.
Die operant-verhaltenstherapeutische
Schmerzbehandlung erreichte vor
allem eine statistisch signifikante Reduktion hinsichtlich der Arztbesuche
(50%), was im direkten Kontrast zur
sozialen Diskussionsgruppe steht, die
fast die doppelte Anzahl an Arztbesuchen aufwies (siehe Abb.2).
Unterstützung ohne ein strukturiertes, modellgeleitetes Vorgehen von
Nachteil sind. Zusammenfassend ist
zu sagen, dass ein strukturiertes, modellgeleitetes Therapieprogramm unstrukturierten Gesprächen hinsichtlich
psychologischen, schmerzbezogenen
und physischen Effekten weit überlegen ist. Es ist anzunehmen, dass die
weitere Aufklärung physiologischer
Therapieeffekte nach psychologischer
Schmerztherapie neue Erkenntnisse
erbringen kann, die für die Pathogenese und Therapie des FibromyalgieSyndroms relevant sind.
Die kognitiv-verhaltenstherapeutische
Schmerzbehandlung erzielte jedoch
nur eine geringe, statistisch nicht signifikante Reduktion der ärztlichen Konsultationen. Diese Ergebnisse zeigen,
dass die operant-verhaltenstherapeutische Schmerzbehandlung nicht nur
klinische Vorteile, sondern auch signifikante Verbesserungen hinsichtlich der
Nutzung des Gesundheitssystems, die
kosteneinsparende Auswirkung haben
dürften, erbringt.
Peripherphysiologische Effekte
der Therapie
Um zu prüfen, ob die standardisierten Therapieformen im Vergleich zur
sozialen Diskussionsgruppe eine
Veränderung der für das FMS häufig
beschriebenen reduzierten Muskelanspannung, wie nach isometrischen
Spannungsübungen (z.B. Svebak et
al., 1993; Vestergaard-Poulsen et al.,
1995) oder nach Injektion von Kochsalzlösung in den antagonistischen
Muskel (Graven-Nielsen et al., 1997;
Sorenson et al., 1998), wurde ein psychophysiologisches Experiment, das
mentalen Stress, wie Kopfrechnen
und sozialen Stress, wie eine Partnerdiskussion, zur Erfassung der Stressreaktivität nutzten (Thieme & Turk,
2005; Thieme et al., 2006) - unmittelbar danach sowie 6 und 12 Monate
nach Therapie durchgeführt.
12 Monate nach Therapie zeigten
OVT-Patienten eine Steigerung der
ursprünglich verminderten Muskelspannung, die jedoch nicht das Niveau
der Gesunden erreichte. Die Erklärung
für diese beiden Ergebnisse ist derzeit
noch offen, da die Pathophysiologie
des verminderten EMG bei FMS-Patienten noch nicht vollständig geklärt
ist. MRT-Studien und Muskelbiopsien
lassen Abnormitäten in den Muskeln
der FMS-Patienten vermuten, die mit
einer geringen Sauerstoffaufnahmekapazität, einer reduzierten Anzahl und
veränderten Grösse der Mitochondrien einhergehen (Jubrias et al., 1994;
Sprott et al. 2004). Die geringere Degradation von Acetylcholin (Neeck,
2000), die in die Produktion von Kortikosteroiden und Wachstumshormonen
eingebunden ist (Crofford et al., 2004,
Neeck, 2000) und ein bedeutsamer
Regulator des Muskelaufbaus und der
Muskelkraft (Sheffield-Moore & Urban,
Unerwarteterweise zeigte die soziale
Diskussionsgruppe signifikante Verschlechterungen während der Studie,
verbunden mit einer Verschlechterung
der Symptome in allen Messungen.
Dies konnte die hohe Abbruchquote
(50%) bei den Patienten der sozialen
Diskussionsgruppe erklären. Unstrukturierte Diskussionen über Probleme,
die für die Verarbeitung von chronischem Schmerz bedeutsam sind,
führten eher zu erhöhtem Schmerz,
geringerer physischer Funktion, höherer emotionaler Verstimmung und
Schmerzverhalten (Thieme et al.,
2006a). Dies könnte aufgrund einer
Krankheitsorientiertheit und dem übermäßig zuwendendem Verhalten der
Gruppenmitglieder verursacht sein,
mit der Konsequenz der Verstärkung
von Schmerz und Schmerzverhalten.
Die Verschlechterung der sozialen
Diskussionsgruppe war nicht auf den
Prä-Post-Vergleich beschränkt, sondern persistierte über 12 Monate nach
Ende der Behandlung. Die lang andauernde Verschlechterung der sozialen
Diskussionsgruppe war unerwartet
und bedarf einer Erklärung. Wenn es
sich erneut bestätigen lässt, würden
diese Ergebnisse zeigen, dass zumindest für einen Teil der Patienten soziale
Diskussionen und mögliche informelle
ZI Aktuell 2/06
19
2004) darstellt, lässt vermuten, dass
die herabgesetzte Muskelaktivität des
FMS nicht ausschließlich das Ergebnis
von fehlender physischer Kondition zu
sein scheint, sondern dass ultrastrukturelle Muskelveränderungen involviert
zu sein scheinen (Jubrias et al., 1994;
Sprott et al. 2004), die ein Unvermögen einer adaptiven Stress- und Entspannungsreaktion nach sich ziehen.
Weitere Untersuchungen werden
notwendig sein, die Interaktionen
zwischen Muskel, dem Endokrinum,
insbesondere dem ACTH als EMGPrädiktor (Neeck, 2000; Thieme,
2005) und zentralem Nervensystem
zu untersuchen (Zidar et al., 1990).
Der Therapieeffekt bzgl. der angewachsenen Muskelanspannung nach
operanter Therapie könnte daher nicht
direkt über die vermehrte physische
Aktivität erklärt werden, sondern eher
über die mit der vermehrten Aktivität
einhergehenden Reduktion der ACTHProduktion (Bobbert et al., 2005; Thieme, 2005), die Konsequenzen für
Muskelaufbau und Leistungsfähigkeit
des Muskels haben könnte (SheffieldMoore & Urban, 2004).
Indikationskriterien
für die Schmerztherapie
Um der Individualität des Patienten
gerecht zu werden, bedarf es der
Identifikation von therapiespezifischen
Indikationskriterien. In der eigenen
oben beschriebenen Therapiestudie
(Thieme et al., 2006d) wurden die
Responderraten für jede Therapiemethode ermittelt. Dabei wurden sowohl
Responder mit klinisch signifikanter
Verbesserung als auch mit klinisch signifikanter Verschlechterung, die sog.
Negativ-Responder, ermittelt. Das
Ziel bestand darin, die Responder im
Vergleich mit Non-Respondern in ihren Werten, die sie vor der Therapie
hatten, näher zu charakterisieren, um
Hinweise auf Indikationskriterien zu
erhalten.
Die Prüfung der Responderrate ergab, dass 45% der mit kognitiv-verhaltenstherapeutischer Schmerzbehandlung behandelten Patienten eine
klinisch signifikante Reduktion der
Schmerzintensität
demonstrierten,
die über 12 Monate nach Therapie
aufrechterhalten werden konnte. Die
Responderrate war vergleichbar mit
der Studie von Turk et al. (1998). In
Übereinstimmung mit früheren Stu-
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dien (Turk et al., 1998, Thieme et al.,
2003, Thieme et al., 2006c), berichten erfolgreich behandelte Patienten
eine reduzierte Schmerzintensität,
weniger affektive Verstimmung, ein
höheres Niveau an aktiver Verarbeitung und weniger Katastrophisierung.
Responder der operant-verhaltenstherapeutischen Intervention (54%)
wiesen eine reduzierte physische Beeinträchtigung, eine geringere Anzahl
von Arztbesuchen sowie ein reduziertes Schmerzverhalten auf.
Diese Ergebnisse stimmen mit denen
anderer Studien mit FMS-Patienten,
die mit psychologisch-orientierten
Verfahren behandelt wurden, überein (Nicassio et al., 1997; Nielson et
al., 1992; Thieme et al., 2003). Die
klinisch signifikante Reduktion der
physischen Beeinträchtigung zeigte
grössere Unterschiede bei den Patienten, die an der kognitiv- und an
der operant-verhaltenstherapeutische
Schmerzbehandlung teilnahmen, verglichen mit den Patienten der sozialen
Diskussionsgruppe. Im Unterschied
zu 7,5% der Patienten der soziale
Diskussionsgruppe, reduzierten 58%
der Patienten, die mit operant-verhaltenstherapeutischer Schmerzbehandlung und 38% der Patienten, die
mit kognitiv-verhaltenstherapeutische
Schmerzbehandlung therapiert wurden, signifikant ihre physische Beeinträchtigung.
Die klinisch signifikante Verschlechterung von 60% der Patienten der
sozialen Diskussionsgruppe war mit
extrem hohem Schmerzverhalten und
hoher physischer Beeinträchtigung
vor der Therapie verbunden.
Das Schmerzverhalten und die physische Beeinträchtigung der NegativResponder der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Schmerzbehandlung
mit 6,9% und operant-verhaltenstherapeutische Schmerzbehandlung
mit 14,3% war nicht signifikant verschieden von den Negativ-Respondern der sozialen Diskussionsgruppe. Dabei zeigten die Responder der
kognitiv-verhaltenstherapeutischen
und
operant-verhaltenstherapeutischen Schmerzbehandlung signifikant weniger Schmerzverhalten und
physische Beeinträchtigung als die
Negativ-Responder. Alle NegativResponder zeigten ein übermässig
erhöhtes Schmerzverhalten and eine
äußerst starke physische Beeinträchtigung vor Therapie. Dies bedeutet,
ZI Aktuell 2/06
dass Patienten mit extremen Werten
in physischer Beeinträchtigung und
Schmerzverhalten sich nach psychologischer Schmerztherapie verschlechtern. Diese Ergebnisse könnten für die
Prüfung der Ausschlusskriterien wichtig sein. Im Unterschied dazu dürften
die Prädiktoren für Responder mit Verbesserungen relevante Einschlusskriterien sein, die in zukünftigen Studien
getestet werden könnten.
Grenzen der Studie
Die große Anzahl von Therapieabbrüchen in der sozialen Diskussionsgruppe ist hinsichtlich der Effektstärkenberechnung problematisch, da so
die Effektstärken in der operant- und
kognitiv-verhaltenstherapeutischen
Schmerztherapie überschätzt werden
würden. Deshalb bezogen wir gemäss der intent-to-treat-method in die
Berechnung der Effektstärken auch
die Prä-Daten der Abbrecher mit ein.
Die Effektstärken erwiesen sich noch
immer als mittel- bis hoch, was für
einen zuverlässigen und repräsentativen Effekt der verhaltenstherapeutischen Therapiemethoden spricht.
Unterstützung findet dieses Ergebnis,
wenn man die klinisch signifikanten
Verbesserungen von Patienten der
operant-verhaltenstherapeutischen
und
kognitiv-verhaltenstherapeutische Schmerzbehandlung betrachtet.
Es ergibt sich hier eine mit 58% bzw.
38% klinisch bedeutsame Verbesserungen der physischen Funktionalität,
die über das strenge Maß des „reliability of change index“ (Jacobson et al.,
1984) ermittelt wurden.
Trotz aller methodischen Einschränkungen unterstützen die Ergebnisse dieser Studie die Annahme, dass
FMS-Patienten - auch hinsichtlich
der Respondercharakteristika - keine
homogene Gruppe sind (Turk et al.,
1996a; Turk, 1990; Walen, Cronan,
Kerbver, Goessl, & Oliver, 2003). Die
Ergebnisse zeigen, dass sich die Responder der beiden Therapiemethoden in jenen charakteristischen Variablen unterscheiden, die relevant für
die jeweilige Behandlungsmethode zu
sein scheinen. Zugleich weisen die
Daten dieser Studie darauf hin, dass
die Ergebnisse von Psychotherapie
durch indikative Behandlungsgruppen
in Abhängigkeit von den Patientencharakteristika, wie ursprünglich von Turk
and Flor betont (1989), verbessert
werden könnten. Eine Erklärung für
20
die Inkonsistenz der Ergebnisse der
kognitiv- und der operant-verhaltenstherapeutischen
Schmerzbehandlung, wie sie in der Literatur beschrieben wurde, ist, dass möglicherweise
in unterschiedlichem Maße einige Patienten mit einer Therapiemethode behandelt wurden, die inkompatibel mit
jenen individuellen Charakteristiken
der Patienten war, die vor der Therapie vorhanden waren. Die fehlende
indikative Zuweisung dürfte somit zu
variablen Ergebnissen geführt haben.
Einige Studien haben von den potentiellen Vorteilen von Therapiegruppen
mit indikativer Zuweisung berichtet
(Flor & Birbaumer, 1994; Thieme et
al., 2003; Turk et al., 1998; Turk &
Flor, 1989), aber nicht alle (Walen
et al., 2003). Jedoch existiert im Unterschied zum chronischem Rückenschmerz (Flor & Birbaumer, 1994)
derzeit keine Studie, die versucht
hat, FMS-Patienten der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Schmerzbehandlung und operant-verhaltenstherapeutischen
Schmerzbehandlung
in Abhängigkeit von ihrer Patientencharakteristika zuzuweisen, die prädiktiv für den Therapieerfolg zu sein
scheint. Daher sind prospektive Studien notwendig, um ein besseres
Verständnis des Potentials der indikativen Behandlungszuweisung für
FMS-Patienten zu erlangen.
Ausblick
In einer aktuellen Multicenter-Studie
wird der Einfluss von Cannabis auf
das Schmerzgedächtnis bei Patienten, die eine 12-wöchige operante
Schmerztherapie erhalten, mit subjektiv-psychologischen, endokrinen
und genetischen Variablen, dem
quantitativen sensorischen Testen
und MRT, geprüft. In einer anderen
Studie sollen FMS-Patienten mit indikativer Zuweisung zur operanten
Schmerztherapie gegen Patienten mit
zufälliger Zuweisung in ihren psychologischen, endokrinen, peripher- und
zentral-physiologischen Veränderungen getestet werden.
(Literatur bei den Autoren)
Kati Thieme
Martin Diers
www.zi-mannheim.de
„Aber Nachdenken hilft mir doch …!“
Warum Grübeln unserer Gesundheit schadet
Neues aus der AG Verlaufs- und Interventionsforschung
Die Arbeitsgruppe „Verlaufs- und In-
terventionsforschung“ (Leitung Priv.Doz. Dr. Christine Kühner) wurde zum
01.01.2006 eingerichtet. Unsere Forschungsschwerpunkte liegen in der
Untersuchung von Risikofaktoren der
Entstehung und des Verlaufs depressiver Störungen, in der Entwicklung und
Evaluation von Gruppenprogrammen
zur Primär- und Rückfallprophylaxe,
in Studien zur Lebensqualität bei Patienten mit psychischen Erkrankungen
und in der Entwicklung psychodiagnostischer Verfahren. Darüber hinaus
führen wir in Kooperation mit anderen
Arbeitsgruppen am ZI Untersuchungen
zur Neuroplastizität bei Depression
(SFB 636), zur Depression bei körperlichen Erkrankungen und zu Verbreitung und Auswirkungen von Stalking in
der Bevölkerung durch.
Im Rahmen verschiedener Studien,
u.a. von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert, untersuchen
wir den Einfluss selbstfokussierenden
Grübelns (Rumination) auf den Verlauf
depressiver bzw. dysphorischer Episoden bei depressiven Patienten und Gesunden. Der nachfolgende Beitrag beschreibt die Ergebnisse einer aktuellen
Untersuchung, die im Rahmen dieses
Forschungsschwerpunkts
durchgeführt wurde.
Begriffsdefinition
Jeder Mensch kennt depressive Verstimmungen oder Gefühle der Niedergeschlagenheit. Manchmal treten solche Gefühle unbegründet auf,
manchmal sind klare Auslöser vorhanden. Nach der Response Styles Theorie (Nolen-Hoeksema, 1991) zeichnen
sich Menschen durch unterschiedliche
Copingstile im Umgang mit depressiven Gefühlen aus, die als Rumination
und Distraktion bezeichnet werden.
Rumination als Sonderform selbstfokussierter Aufmerksamkeit beinhaltet
das wiederholte und anhaltende Nachdenken oder Grübeln über die eigenen
negativen Gefühle und über deren Ursachen und Konsequenzen. So grübelt
eine Person beispielsweise darüber,
weshalb sie im Vergleich zu anderen
immer depressiv wird oder dass sie
ZI Aktuell 2/06
ihre täglichen Aufgaben in diesem
Zustand nicht bewältigen kann. Distraktion bezeichnet
dagegen einen Coping-Stil, der durch
gedankliche und
verhaltensmäßige Ablenkung von
der depressiven
Stimmung gekennzeichnet ist. Ablenkende Gedanken
beziehen sich beispielsweise darauf,
etwas Schönes zu
unternehmen oder
zu überlegen, was
an einer Situation
positiv war. Ablenkende Verhaltensweisen umfassen
zum Beispiel Sport
treiben, Freunde
treffen oder das
Aufsuchen von Orten, an denen man
sich gerne aufhält.
Bisherige Ergebnisse
Bisherige Forschung, die vor allem
im englischsprachigen Raum durchgeführt wurde, konnte zeigen, dass
Personen mit einem ausgeprägten
ruminativen Copingstil längere Phasen dysphorischer Verstimmung aufwiesen als Personen mit einem eher
distraktiven Copingstil. Befunde aus
Hochrisikostudien weisen außerdem
darauf hin, dass Personen mit hohen
Werten auf Ruminationsskalen im weiteren Verlauf eher depressive Episoden entwickeln. Eine Studie unserer
Arbeitsgruppe zeigte erstmals, dass
eine ausgeprägte Ruminationstendenz – unabhängig von der ursprünglichen Depressionsschwere – sich bei
behandlungsbedürftigen depressiven
Patienten ungünstig auf den nachstationären Krankheitsverlauf auswirkte
(Kuehner & Weber, 1999). Auch psychische und soziale Komponenten der
Lebensqualität depressiver Patienten
stehen mit der Ausprägung symptombezogener Copingstile im Zusammen-
21
hang (Kuehner & Buerger, 2005).
Gegenüber den bislang zitierten Beobachtungsstudien haben experimentelle
Arbeiten zur Response Styles Theorie
den Anspruch, Kausalzusammenhänge zu untersuchen, indem sie die Wirkung von Rumination und Distraktion,
im Experiment induziert, auf verschiedene abhängige Variablen wie Stimmung, Gedächtnis oder Problemlösen
überprüfen. Rumination und Distraktion werden somit über zwei Zugänge
erforscht. Zum einen werden sie als
habituelle Copingstile, d.h. überdauernde Personenmerkmale, untersucht.
Zum anderen werden die Effekte eher
kurzfristig wirksamer experimenteller
Induktion von Rumination und Distraktion untersucht.
Aktuelle Studie
Im Rahmen einer aktuellen Studie interessierten uns u.a. Zusammenhänge
zwischen Rumination und Distraktion
und basaler endokriner Stressaktivität.
Als endokriner Stressmarker hat Corwww.zi-mannheim.de
tisol eine entscheidende Bedeutung.
Während ein dauerhaft erhöhtes oder
erniedrigtes Cortisol-Tagesprofil eine
Reaktion des Körpers auf chronische
Belastungen darstellt, ist eine kurzfristige Erhöhung der Cortisolaktivität als
Folge einer spontan auftretenden Anforderung an den Organismus zunächst
nicht pathologisch, sondern adaptiv. So
gewinnt z.B. die Cortisol-Aufwachreaktion (CAR, typischer Cortisolanstieg
mit Peak bei 30-45 Minuten nach dem
Aufwachen) als dynamischer Indikator
der Aktivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse
(HHNA) zunehmend an Bedeutung.
Eine abgeschwächte CAR geht beispielsweise einher mit Burnout, Posttraumatischer Belastungsstörung oder
depressiven Verstimmungen.
In unserer Studie untersuchten wir
folgende Aspekte:
► Auswirkung von induzierter Rumination und Distraktion auf negativen und positiven Affekt und
autobiographisches
Gedächtnis bei dysphorischen Probanden
► Einflüsse der habituellen Copingstile auf die Stimmungsveränderung
durch Ruminations- bzw. Distraktionsinduktion
► Zusammenhänge zwischen der
Aufwachreaktion des Stresshormons
Cortisol (CAR) und Stimmungsveränderungen durch Ruminations- und Distraktionsinduktion
► Zusammenhänge zwischen CAR
und habituellen Copingstilen.
„Club der toten Dichter“, wobei die Probanden gebeten wurden, sich in die Situation des Hauptdarstellers hinein zu
versetzen. Anschließend wurden die
Probanden per Zufall den Induktionsbedingungen Rumination oder Distraktion zugewiesen. Die Induktion erfolgte
über je 28 Karteikarten, die entweder
ruminative (z.B. „Denken Sie an die
Art und Weise, wie Sie sich innerlich
fühlen“, „Denken Sie an die möglichen
Folgen Ihrer momentanen psychischen Verfassung“) oder distraktive
(z.B. „Denken Sie an Wolken, die sich
am Himmel formen“, „Stellen Sie sich
das Brandenburger Tor in Berlin vor“)
Selbstaussagen enthielten, auf die sich
die Probanden für acht Minuten konzentrieren sollten (Paradigma nach Lyubomirsky & Nolen-Hoeksema, 1993).
Jeweils vor und nach der Stimmungsinduktion sowie nach der Ruminationsbzw. Distraktionsinduktion wurde die
Stimmung mit der Positive and Negative Affect Schedule (PANAS; Krohne,
Egloff, Kohlmann, & Tausch, 1996)
erfasst. Mit Hilfe von je zehn positiven
und negativen Adjektiven misst die PANAS die gegenwärtige Stimmung. Habituelle Copingstile wurden mit dem 23
Items umfassenden Response Style
Questionnaire (RSQ; Buerger & Kuehner, 2006) erhoben, der sich in die
Subskalen selbstbezogene Rumination, symptombezogene Rumination und
Distraktion gliedert. Zur Erfassung des
autobiographischen
Gedächtnisses
wurden die Probanden aufgefordert,
sich für die Zeitdauer von fünf Minuten
ben. Die Probanden gaben vier Proben
ab: die erste sofort morgens nach dem
Erwachen, aber vor dem Aufstehen,
die zweite 30 Minuten nach dem Erwachen, die dritte acht und die vierte
14 Stunden nach dem Erwachen. Die
Differenz zwischen zweiter und erster Probe kennzeichnet die Höhe der
CAR.
Ausgewählte Ergebnisse
Stimmungsveränderung (PANAS)
Nach dem zehnminütigen Filmausschnitt (negative Stimmungsinduktion)
zeigte die Probandenstichprobe eine
signifikante Erhöhung des negativen
Affekts und eine signifikante Reduktion des positiven Affekts im Vergleich
zum Ausgangsniveau. Die anschließende Induktion von Rumination bzw.
Distraktion führte in der Ruminationsgruppe zu einer Beibehaltung der negativen Stimmung (gleich bleibender
negativer und positiver Affekt), in der
Distraktionsgruppe jedoch zu einer
signifikanten Verbesserung der Stimmung (Abnahme des negativen Affekts, Zunahme des positiven Affekts).
Die Veränderung der Stimmung ist in
Abbildung 2 veranschaulicht.
Bewertung der autobiographischen
Gedächtnisinhalte
Probanden der Ruminationsgruppe
bewerteten ihre autobiographischen
Erinnerungen signifikant negativer als
die Probanden der Distraktionsgruppe.
Hinsichtlich der positiven Bewertung
zeigten sich keine signifikanten Unter-
Abbildung 1: Studiendesign
Methode
42 Studenten der Universität Mannheim (Durchschnittsalter 22,3 Jahre;
22 Frauen) nahmen an der Untersuchung teil. Bei allen Probanden wurde zunächst eine negative Stimmung
induziert. Dies erfolgte mit Hilfe eines
10minütigen Ausschnitts aus dem Film
ZI Aktuell 2/06
an spezifische Erfahrungen und Ereignisse aus ihrem Leben zu erinnern,
diese aufzulisten und anschließend zu
bewerten. Das Studiendesign ist in Abbildung 1 graphisch dargestellt.
Das Speichel-Cortisol wurde an einem
unabhängigen Tag (mindestens drei
Tage Abstand zum Experiment) erho-
22
schiede (siehe Abbildung 3).
Einflüsse der habituellen Copingstile
auf die Stimmungsveränderung
Es zeigte sich ein signifikanter Einfluss
von habitueller selbstbezogener Rumination auf die durch Distraktion hervorgerufene Stimmungsveränderung.
Probanden in der Distraktionsgruppe,
www.zi-mannheim.de
die höher ausgeprägte selbstbezogene Ruminations-Werte aufwiesen, erreichten eine geringere Verbesserung
des positiven Affekts als Probanden
mit niedrigeren selbstbezogenen Ru-
phorischer Verstimmung, hingegen reagierten Personen nach Induktion von
Distraktion mit einer Stimmungsverbesserung. Rumination führte außerdem zu
einer negativeren Bewertung von auto-
Abbildung 2: Stimmungsveränderung im Verlauf des Experiments
minations-Werten. Dieses Ergebnis
bedeutet, dass Personen mit höherer selbstbezogener Grübelneigung
schlechter auf die positiven Effekte einer Ablenkungsinduktion ansprechen.
Zusammenhänge mit der CortisolAufwachreaktion (CAR)
Wir fanden einen signifikanten Einfluss der CAR auf die durch Distraktion
ausgelöste Stimmungsverbesserung.
Dieser Einfluss war dadurch gekennzeichnet, dass Personen mit flachem
Cortisol-Morgenanstieg weniger Stimmungsverbesserung durch die Distraktionsinduktion zeigten. Dieser Einfluss
blieb auch signifikant, wenn mögliche
Störvariablen wie Aufwachzeit, Wochentag, Alter, Geschlecht kontrolliert
wurden. Darüber hinaus korrelierte die
CAR signifikant negativ mit habitueller
selbstbezogener Rumination, auch nach
statistischer Kontrolle der aktuellen Depressionswerte (r = -.48). Probanden mit
flachem Morgenanstieg des Cortisols
wiesen demnach höhere Ausprägungen
im selbstbezogenen Grübeln auf.
Resumé
Die experimentelle Induktion von Rumination oder Distraktion über die Manipulation der Aufmerksamkeitsfokussierung
führte in einer gesunden Stichprobe zu
signifikanten Unterschieden in der Stimmungsveränderung und in der Bewertung autobiographischer Erinnerungen.
Nach Induktion von Rumination zeigten
Personen eine Verlängerung von dys-
ZI Aktuell 2/06
biographischen Erinnerungen. Darüber
hinaus konnte unsere Studie zeigen,
dass der positive Einfluss von Distraktion
auf die Stimmung abgeschwächt wurde,
wenn Personen hohe Werte auf einer
Skala zur Messung habitueller selbstbezogener Rumination aufwiesen.
Unsere Studie identifizierte darüber hi-
tieren die Befunde dahingehend, dass
ein niedriger Cortisolanstieg am Morgen
(CAR) mit einer gesteigerten Neigung
zu selbstbezogener aufgabenirrelevanter emotionaler Verarbeitung und einer
verminderten Hemmbarkeit dieser Neigung durch Ablenkung assoziiert ist.
Die vorliegende experimentelle Studie
hat uns wertvolle Informationen gebracht. Es wurde deutlich, dass ruminative sowie distraktive Selbstaussagen
und Gedanken unmittelbar die Stimmung und das autobiographische Gedächtnis beeinflussen, was therapeutische Relevanz besitzt. Auch konnten
wir feststellen, dass in nichtklinischen
Stichproben in erster Linie die selbstbezogene Rumination, also das Grübeln über Aspekte der eigenen Person,
stimmungsrelevante negative Effekte
hat. Aus unseren Ergebnissen zu den
Cortisoldaten ergeben sich schließlich
weitere Hinweise für eine adaptive Rolle
der CAR, die einherzugehen scheint mit
der Fähigkeit des Organismus, sich auf
Umweltreize und äußere Anforderungen einzustellen. Gleichzeitig haben wir
erstmals Zusammenhänge aufgezeigt
zwischen Rumination als kognitivem
Vulnerabilitätsmerkmal der Depression
und einem biologischen Marker endokriner Stressaktivität.
Abbildung 3:
Negative und positive autobiographische Gedächtnisinhalte
naus klare Zusammenhänge zwischen
niedrigem Morgencortisolanstieg, habituellem selbstbezogenem Grübeln
(Rumination) und verminderter Stimmungsverbesserung durch induzierte
Ablenkung (Distraktion). Wir interpre-
23
(Literatur bei den Verfasserinnen)
Silke Huffziger
Susanne Holzhauer
Christine Kühner
www.zi-mannheim.de
Absolventen der Gerontopsychiatrischen Weiterbildung verabschiedet
Grußworte zur Zeugnisübergabe
Liebe Gäste,
Liebe Weiterbildungs-Teilnehmer,
Frau Schrön und ich dürfen sie heute
zu unserer feierlichen Zeugnisübergabe
begrüßen und willkommen heißen. Wir
möchten dies zum Anlass nehmen, um
die gerontopsychiatrische Fachweiterbildung in Kürze punktuell en Revue passieren zu lassen und den verdienten Erfolg zu feiern. Das Ausbildungsjahr war
für alle Beteiligten mit großer Anstrengung verbunden und mit Sicherheit kein
Spaziergang. Wir als Leiterinnen der
Weiterbildung für Pflegepersonal haben
zu dem bereits bestehenden zweijährigen Weiterbildungskurs mit dem Gerontofachkurs sozusagen ein zweites Kind
bekommen.
Es war ein Wunschkind einerseits und
andererseits bedeutete es für uns eine
zusätzliche Anstrengung und Herausforderung. Alles in allem war dies nicht
nebenbei zu bewerkstelligen. Den Weiterbildungs-Teilnehmern wurde in kurzer
Zeit sehr viel abverlangt: schriftliche Klausuren in Psychologie, Krankheitslehre,
Psychiatrische Pflege, die Projektarbeit,
eine Facharbeit und schließlich das Kolloquium. Vieles musste zusätzlich zur
Arbeit und Schule geleistet werden. Für
die beteiligten Einrichtungen war das
Freistellen der Weiterbildungs-Kandidaten ein zusätzlicher Kraftakt, was sicherlich schwer zu kompensieren war.
Die Gerontopsychiatrische Fach-Weiterbildung ist ein beruflicher und persönlicher Prozess.
Die Prozessphasen könnte man
folgendermaßen beschreiben:
► sich in die Ausbildung einlassen
► sich damit beruflich und
persönlich auseinandersetzen
► Transfer des Gelernten in die
Praxis schaffen
► den eigenen Stil suchen und
finden
► die Realität bzw. das Machbare
einschätzen
► Prioritäten setzen
Für die Weiterbildungs-Teilnehmer war
es keinesfalls einfach, das Gelernte
umzusetzen, schließlich werden nicht
immer offene Türen eingerannt - zumal sich für die Daheimgebliebenen
die Welt nicht geändert hat. Zum Üben
des Gelernten sind manchmal die zeitlichen und personellen Ressourcen nicht
vorhanden. Trotz der keineswegs einfachen Situationen sind wir der Meinung,
dass alle an der Ausbildung Beteiligten
ihr Bestmögliches gegeben haben und
wir alle vielleicht auch gerade deshalb
ZI Aktuell 2/06
beruflich wie persönlich gelernt haben.
Unser Anliegen ist es, den gerontopsychiatrischen Menschen nicht nur in seiner Bedürftigkeit zu sehen, sondern als
Person mit seiner unverwechselbaren
Lebensgeschichte.
Die Kenntnis der Biografie ist ein wesentliches Element, um die Persönlichkeit, als auch das aktuelle Zustandsbild
des alten und psychisch kranken Menschen zu begreifen bzw. erfassen zu
können. Nur in der Biografie werden wir
die persönlichen Ressourcen finden, die
von besonderer Bedeutung sind. Diese
persönlichen Ressourcen sind selten
offenkundig, sondern wollen herausgearbeitet werden. Bei dem beispielsweise
aggressiven Patienten bzw. Bewohner
sind wir geneigt, nur auf die Aggression
zu reagieren. Das Verhalten ist für uns
nicht nachvollziehbar, wir fühlen uns hilflos.
Das Wissen um die Biografie ist so etwas wie eine Landkarte, mit der wir
uns in der Welt des alten, psychiatrisch
kranken Menschen orientieren können.
Ohne diese Orientierung geraten wir allzu schnell in eine Sackgasse, in der eine
Verständigung aufgrund der verschiedenen Welten nicht mehr möglich scheint.
Fachkenntnis bedeutet u.a., hinter das
zunächst nicht nachvollziehbare Verhaltensmuster zu schauen, das individuelle
Verständnis zu suchen und zu finden, so
einen sinngebenden Zugang zum Patienten zu erreichen. Mit Hilfe dieser biografischen Ortskenntnis sollten wir in der
Lage sein, den Patienten und Bewohner
in seinen individuellen Bedürfnissen zu
unterstützen, ihm mit unseren kreativen
Möglichkeiten akzeptierend und wertschätzend zu begegnen. Durch eine
fachlich fundierte Ausbildung und die
Vermittlung eines Menschenbildes, welches den Menschen in seiner Einmaligkeit zeichnet, helfen wir die Zukunft
des alten Menschen mitzugestalten und
nicht zuletzt auch unsere eigene.
Wir wünschen Ihnen, dass Sie die Lust
und das Interesse am Menschen und
dem, was ihn in seiner Individualität ausmacht, nicht verlieren. Sie mögen wiederum vielen Menschen begegnen, die
Ihnen die Anerkennung und Wertschätzung geben können, die Sie brauchen,
um gute und sinnvolle Arbeit leisten zu
können. Im Weiteren wünschen wir Ihnen besondere Achtsamkeit in der Balance Ihrer eigenen Kräfte. Hier beginnt
auch Ihre Eigenverantwortung für sich
selbst zu sorgen, um das eigene seelische Gleichgewicht zu suchen und zu
finden.
Auf Ihrem weiteren beruflichen und
persönlichen Weg wünschen wir Ihnen
Kreativität, eine gesunde Frustrationsto-
24
leranz, gute Ideen, hilfreiche und wohlwollende Wegbegleiter.
Weiterbildungskurs 2006
Schlussendlich gilt unser besonderer
Dank den beteiligten Heimleitungen,
Pflegedienstleitungen und Stationsleitungen, die mit Rat und Tat sowie
dienstplanmäßiger Organisation die
Projektarbeit unterstützt haben. Dank
der Klinikleitung und allen Personen im
ZI, die uns bei unserer Arbeit unterstützt
und es uns ermöglicht haben, unsere
Ideen zu verwirklichen. Nicht zuletzt gilt
ein besonderer Dank unseren Dozenten, die mit sehr viel Engagement den
Unterricht gestaltet haben.
Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit!
Christl Wagner-Stramke
Der nächste Kurs zur Qualifizierung
in Gerontopsychiatrischer Pflege
beginnt im Februar 2007.
Informationen und Anmeldung
bei der Weiterbildungsstätte unter:
Telefon 0621/1703-1421 oder per
E-Mail an:
[email protected]
Die staatliche anerkannte
Weiterbildungsstätte
für Krankenpflegepersonal am
Zentralinstitut besteht seit 1963.
Neben der Weiterbildung in
Gerontopsychiatrischer Pflege
bietet sie einen zweijährigen
berufsbegleitenden Weiterbildungskurs
für Psychiatrische Pflege an.
Ärztlicher Leiter ist
Prof. Dr. Harald Dreßing,
Die pflegerischen Leiterinnen sind
Christel Wagner-Stramke und
Anita Schrön.
www.zi-mannheim.de
Das Burnout-Syndrom
Unter Burnout-Syndrom
versteht man:
„Wenn die Lampe verlöscht....“
Es gibt keine einheitlichen Definitionen
oder Theorien über das Burnout Syndrom. Deshalb möchte ich nachfolgend
unterschiedliche
Begriffserklärungen
anbringen, die das Phänomen Burnout
verdeutlichen sollen. Wie unterschiedlich die einzelnen Beschreibungen auch
sein mögen, kennzeichnen alle Definitionen das Burnout-Syndrom mit dem Gefühl des Ausgebranntseins, das Fehlen
des eigenen Antriebs und nicht mehr
aufzuladende persönliche Akkus.
Erforschung des Phänomens
Der Begriff „Burnout“ wurde schon 1974
in Amerika von dem deutschstämmigen
Psychoanalytiker Herbert J. Freudenberger geprägt. Freudenberger beobachtete
damals, dass aufopferungsvolle, engagierte Mitarbeiter immer erschöpfter, reizbarer und starrköpfiger wurden. Andere
Wissenschaftler untersuchten das Phänomen Burnout anfänglich vorrangig in
helfenden, sozialen Berufen (Ärzte, Pflegekräfte). Später kamen andere Berufsgruppen hinzu, wie Führungskräfte und
berufstätige Frauen. Burnout ist in vielen
Berufsgruppen wiederzufinden, so auch
zum Beispiel in Call-Centern. Personen,
die auf sehr engen Raum zusammenarbeiten, gelten als besonders gefährdet.
Hauptproblem bei der Erforschung des
Burnout-Syndroms ist, dass alles, was
mit Erschöpfung und Motivationsverlust
zu tun hat, gleich mit diesem Schlagwort
in Zusammenhang gebracht wird. Enzmann und Kleiber (1987) beschäftigen
sich mit dem Burnout-Syndrom wissenschaftlich. In Deutschland machte sich
Burisch (1989) mit verschiedenen Erklärungsansätzen zu diesem Thema einen
Namen.
Persönlichkeitsmerkmale und
Umweltfaktoren
Burnout-Betroffene gelten anfangs als
sehr ehrgeizig, aktiv, ideenreich und leisten freiwillig übermäßig Mehrarbeit. Sie
stellen gegebenenfalls irreale persönliche Erwartungen an sich und an ihre
Umwelt, da sie sich vor negativen Konsequenzen, wie dem Verlust von Zuwendung, Unterstützung und Anerkennung,
fürchten. Menschen mit großem Verantwortungsgefühl wie Führungskräfte,
Selbstständige, Frauen und Männer, die
zwischen Beruf und Familie stehen, sind
besonders anfällig, ein Burnout-Syndrom
zu entwickeln. Personen, die bis an das
Ende ihrer persönlichen Kräfte und Kapazitäten arbeiten, da sie der Meinung
sind, dass sich ohne sie kein Rad mehr
dreht bzw. die Firmenwelt ohne die per-
ZI Aktuell 2/06
sönliche Anwesenheit zu Grunde geht,
lodern meist innerlich aus. Auch schlechte demotivierende Arbeitsumgebungen,
wie unzureichende Unterstützung durch
Führungskräfte, zu hohe Arbeitsbelastungen, Zeitmangel und -druck, schlechtes Betriebsklima sowie Intra- und InterRollenkonflikte können ihren Beitrag zur
inneren Kündigung leisten.
Gerade in pflegerischen Berufen ist die
Spanne zwischen theoretischem Wissen
und die Möglichkeit der praktischen Umsetzung erheblich. Die beiden Säulen
klaffen wie eine Schere auseinander und
deuten auf ein Ungleichgewicht, dass
es durch die Pflegekräfte auszugleichen
gilt. Auch diese Diskrepanz ist kräfteraubend und je nach Persönlichkeitsstruktur
der Pflegekraft, Auslöser, um den Prozess des Burnout Syndrom in Gang zu
setzen.
“Der Mitarbeiter brennt häufig dann aus,
wenn er fachlich am besten ist und somit
den Kunden und der Firma den größten
Nutzen bietet.” (aus A. Koch, S. Kühn:
Ausgepowert? Gabel Verlag).
Anzeichen eines Burnout-Syndroms
Pines et al. (1989) nennen folgende
drei Erkennungsmerkmale:
1. Körperliche Erschöpfung
Energiemangel; chronische Ermüdung,
das Bedürfnis, nur noch schlafen zu wollen; Schwäche; erhöhte Anfälligkeiten für
Krankheiten, hohes Unfallrisiko; häufige
Kopfschmerzen; Übelkeit; Verspannungen der Hals und Schultermuskulatur;
Rückenschmerzen; Veränderungen der
Essgewohnheiten und des Körpergewichts; verschiedene psychosomatische
Leiden; Schlafstörungen; Missbrauch
von Alkohol, Zigaretten, Barbiturate etc.
2. Emotionale Erschöpfung
Gefühl von Überdruss, alles ist zu viel;
Niedergeschlagenheit; depressive Verstimmung; Hilf- und Hoffnungslosigkeit;
Gefühl der Ausweglosigkeit; manchmal
unbeherrschtes Weinen; Gefühl von innerer Leere; vielfach besteht das Gefühl,
die verbleibende emotionale Energie
für die täglichen Verrichtungen des Lebens zu brauchen. Familie und Freunde
bedeuten im Vergleich zu früher keine
Kraftquellen mehr, sondern nur noch
weitere Anforderungen. Man will lieber
alleine sein bzw. in Ruhe gelassen werden, Reizbarkeit und Nervosität
3. Geistige Erschöpfung
Negative Einstellungen zum Selbst und
zur Arbeit: Arbeit wird z.B. nicht mehr als
25
► einen chronischen Erschöpfungszustand mit Krankheitsgefühl, der über sechs Monate
andauert - siehe www.omeda.de
► ein Krankheitsbild, das
Personen aufgrund spezifischer
Beanspruchung entwickeln
können und das mit dem Gefühl
verbunden ist, sich verausgabt zu
haben, ausgelaugt und erschöpft
zu sein (sich ausgebrannt fühlen).
Es kommt zu einer Minderung
des Wohlbefindens, der sozialen Funktionsfähigkeit sowie der
Arbeits- und Leistungsfähigkeit
- Brockhaus, 2006
► ein Ausbrennen, das dem Verlöschen einer Lampe entspricht,
wenn das Öl verbraucht ist - CDRom “Pflege heute”,
2. Auflage, Urban & Fischer
► Burnout, engl. = ausbrennen,
Brennschluss, Zeitpunkt in dem
das Triebwerk einer Rakete abgeschaltet wird und der antrieblose
Flug beginnt - Brockhaus unter
„Burnout/Raketentechnik“
befriedigend angesehen, man fühlt sich
unzulänglich, minderwertig, den Aufgaben nicht mehr gewachsen. Negative
Einstellungen anderen gegenüber: Angehörige helfender Berufe entwickeln
z.B. dehumanisierende Einstellungen
gegenüber den Menschen, denen sie
helfen sollen. Einfühlung gelingt nicht
mehr. Patienten werden nur noch als Träger von Problemen gesehen. Kontakte
werden vermieden. Man begegnet Personen, mit denen man von Berufs wegen
zu tun hat, mit Intoleranz und Zynismus.
Negative Einstellungen gegenüber Kollegen, Freunden und Familienangehörigen: Es kommt z.B. ihnen gegenüber
zu übertrieben und ungerechtfertigten
Anforderungen.
Burnout ist letzten Endes eine Folge von
Langzeitstress. Nach Selys (in
i Nitsch
in
1981) ist Stress die physikalische Reaktion des Körpers auf eine Anforderungs- bzw. Bedrohungssituation. Jeder
Mensch zeigt zeitweilig das eine oder
andere Symptom aus den oben genannten drei Bereichen. Es sind normale Reaktionen des Körpers und der Psyche
www.zi-mannheim.de
auf belastende Lebenssituationen. Allerdings sollte bei Erholung und Entspannung die gewohnte Lebensgrundhaltung
(Stimmung) wieder einkehren.
Phasen des Burnout-Prozesses
Das Phänomen Burnout tritt nicht schlagartig auf, sondern ist ein schleichender
Prozess. Die Burnout-fördernden Lebensumstände wirken nicht ständig mit
vollster Intensität auf eine Person. Durch
längere Erholungsphasen wie Urlaub,
erholt man sich davon. Je fortgeschrittener der Prozess ist, um so mehr Aufwand und Zeit benötigt man, um diesen
wieder umzukehren.
Die nachfolgenden verschiedenen Phasen des Burnout beschreiben Koch und
Kühn in Anlehnung an Burisch (1989)
folgendermaßen:
Phase 1:
Warnsymptome der Anfangphase
Vermehrtes Engagement für Ziele: Gefühl der Unentbehrlichkeit; Gefühl, nie
Zeit zu haben; Verleugnung eigener
Bedürfnisse; Hyperaktivität; gleichzeitig
Gefühle von Erschöpfung (Müdigkeit,
Energiemangel, Unausgeschlafenheit)
Phase 2:
Reduziertes Engagement / Rückzug
Unfähigkeit oder Widerwille zu geben,
Verlust des Einfühlungsvermögens; Zynismus. Verlust positiver Einstellungen
gegenüber den Menschen, denen meist
der größte Teil der eigenen Arbeit gewidmet ist, Distanz bzw. Meiden von Kontakten; Gefühl der Ernüchterung. Negative Einstellung zur Arbeit, Widerwille;
Überdruss; Arbeitspausen werden
überzogen; Fehlzeiten, Verlagerung
des Schwergewichts auf die Freizeit.
Verlust von Idealismus, Konzentration auf eigene Ansprüche, Gefühl
mangelnder Anerkennung, private
Probleme nehmen zu (z.B. Probleme
mit Kindern oder dem Partner).
Phase 3:
Emotionale Reaktionen /
Schuldzuweisung
Selbstmitleid, Humorlosigkeit; unbestimmte Angst; abrupte Stimmungsschwankungen, verringerte emotionale
Belastbarkeit, Gefühl der Abstumpfung
bzw. von innerer Leere, Apathie, Schuldgefühle, Schuldzuweisung bzw. Vorwurfe
an andere, Reizbarkeit, häufige Konflikte
mit anderen, Ärger, Intoleranz, Launenhaftigkeit, Negativismus.
Phase 4:
Abbau
Geistige Leistungsfähigkeit: Konzentrations- und Leistungsschwäche, Ungenauigkeit, Desorganisation; Motivation: verringerte Initiative, Dienst nach Vorschrift;
ZI Aktuell 2/06
Kreativität: verringerte Fantasie, Flexibilität; Wahrnehmung: undifferenziert,
Schwarz-Weiß-Denken.
Phase 5:
Verflachung
Emotionales Leben: Gleichgültigkeit.
Soziales Leben: Beschäftigung mit sich
selbst, Gespräche über eigene Arbeit
werden vermieden, Privatkontakte werden vermieden, Einsamkeit. Geistiges
Leben: Desinteresse, Langeweile, Hobbys werden aufgegeben.
Phase 6:
Psychosomatische Reaktionen
Schlafstörung, Herzklopfen, Engegefühl
in der Brust, Muskelverspannungen,
Störungen des Immunsystems, Rückenund Kopfschmerzen, Übelkeit, Verdauungsstörungen, veränderte Essgewohnheiten, Missbrauch von Alkohol, Kaffee,
Tabak, Drogen; Sexualprobleme.
Phase 7:
Verzweiflung
Negative Einstellung zum Leben, Hoffnungslosigkeit, Gefühl der Sinnlosigkeit,
existenzielle Verzweiflung, Selbstmordgedanken.
Die Dauer und der Verlauf der Prozesse
sind individuell verschieden. Eine Richtlinie besagt, dass schon nach einigen
Monaten und spätestens nach drei Jahren ein Burnout ersichtlich wird. Messen
lässt sich dies an der Fluktuationsrate in
den jeweiligen Firmen.
Häufig merken die Betroffenen nicht,
wie sie in den Prozess eintauchen. Viele verbleiben in Phase 2 bis zur Rente.
Dann spricht man von einem kompensierten Burnout. Die Betroffenen verbergen dann den inneren Ausstieg aus dem
Beruf. Sie leisten Dienst nach Vorschrift
und versuchen, ihr mangelndes Engagement unauffällig zu halten. Sie verstecken sich hinter eigenen Erkrankungen,
Eheproblemen, pflegebedürftigen Angehörigen usw. Für das restliche Team
besteht durch übermäßige Rücksichtnahme oder durch das Hinnehmen von
Ausreden des Betroffenen die Gefahr,
die Burnout Entwicklung zu fördern oder
sich sozusagen “anzustecken”. Als Auswirkung verlieren weniger ausgebrannte
Teammitglieder, die die Arbeit mitleisten
bis sie selbst nicht mehr können, ihre
Leistungsbereitschaft.
Es ist nicht sehr effektiv bzw. ratsam,
eine vom Burnout betroffene Person zu
schützen und durch den Rest der Teammitglieder die fehlende Arbeitsleistung
kompensieren zu wollen.
Rücksichtnahme und Verständnis führen
nicht zur Beendigung des Burnout-Prozesses. Die betroffene Person besteht
eher darauf, dass ihre Leistungsschwä-
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che von anderen ausgeglichen wird,
versteckt sich hinter fadenscheinigen
Ausreden und der Burnout Prozess setzt
sich weiter fort. Das erzeugt bei den restlichen Teammitgliedern Wut und vor allem das Gefühl, ausgenutzt zu werden.
Von guter Teamarbeit kann dann keine
Rede mehr sein.
Ursachen
1. Verleugnung und Verdrängung von
Stress und Überdrusssignalen
Ein Alarmsignal und die erste Ursache
sind ein auffälliger Energieverlust, den
der Betroffene nicht zur Kenntnis nimmt.
Nach Freudenberger (1992) ist Burnout
ein Energieverschleiß, geprägt von Erschöpfung. Überforderung durch Arbeit,
Freunde, Wertsysteme oder die Gesellschaft können einer Person Energie,
Bewältigungsmechanismen und innere
Kraft rauben.
Menschen die ständig unter solchem
permanenten Stress stehen, entwickeln
einen ausgeprägten Verleugnungs- und
Verdrängungsmechanismus, hinter denen bestimmte Einstellungen und Werte
stehen. Als Reaktion auf die erkennbaren Symptome, strengen sie sich noch
mehr an, verschließen die Augen vor
der Realität und reagieren auf die Anzeichen wie auf Feinde, mit Abwehr. Die
Botschaft des Körpers, der sich nach
Ruhe sehnt, verleugnen sie, greifen evtl.
zu Aufputschmitteln und rutschen immer
tiefer in den Prozess. Das Verdrängen
der eigenen Wünsche und Bedürfnisse verursacht dann irgendwann, dass
die Batterie leer ist. Warnsignale sind:
erhöhte Reizbarkeit, Verdauungs- und
Magenprobleme,
Kopfschmerzen,
Schlafstörungen, Herzklopfen, Herzstiche, Engegefühl in der Brust, innere
Unruhe, Nervosität, Verspannung im Nacken- und Schulter-Rückenbereich, Gefühl der Überforderung, Unzufriedenheit,
Wunsch auszuspannen, zu schlafen,
nach Ruhe, Konzentrationsmangel, Vergesslichkeit, Fehler häufen sich.
Eine Orientierungshilfe, um Warnsignale
zu erkennen, ist der Vergleich zu einer
Zeit aus dem Leben, in der man das Gefühl hatte, sich körperlich und psychisch
ausgeglichen und wohl gefühlt zu haben.
2. die Unfähigkeit, sich schwach zu
zeigen und die Abhängigkeit vom Lob
Anderer
Die zweite Burnout Ursache ist die Unfähigkeit, sich schwach zu zeigen und
das Gefühl vom Lob Anderer abhängig
zu sein. Vorherrschend sind diese Ursachen in pflegenden Berufen bei Ärzten, Pflegekräften, Sozialarbeitern und
Psychologen zu finden. Schmidbauer
benannte diese Ursache 1977 mit dem
„Helfersyndrom“.
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Professionelle Helfer sind häufig nicht
in der Lage eigene Gefühle und Bedürfnisse zu äußern. Nach außen sind
sie allmächtig und unangreifbar. Helferpersönlichkeiten haben meist ein starkes Bedürfnis nach Lob und Anerkennung. Jede kleinste Kritik wird als stark
kränkend empfunden. Sie sind stets
freundlich, gehorsam und hungrig nach
dankbaren Blicken und anerkennenden
Worten ihrer Klienten.
3. Emotionale Schwerstarbeit
Eine weitere Burnout Ursache ist die
emotionale Schwerstarbeit. Auch hiervon
sind besonders Berufsgruppen betroffen,
die sich langfristig und intensiv mit dem
Einsatz für andere Menschen beschäftigen. Das Resultat ständiger negativer
emotionaler Belastung ist auch hier das
Ausbrennen. Ein Merkmal ist, dass die
Betroffenen keinen Bedarf mehr verspüren, in Kontakt mit anderen Menschen
zu treten. Für die Betroffenen ist es eine
schmerzliche Erkenntnis, Menschen
nicht mehr helfen zu können.
4. Die Störung eigener Motive und Ziele
Diese Ursache tritt auf, wenn meine eigenen Ziele und Bedürfnisse hinten angestellt werden müssen, um die im Moment
anstehenden Situationen zu realisieren.
Anstrengungen werden immer verzweifelter und Kraftreserven schwinden.
Misserfolge bedeuten Stress, da sie die
Grenzen des persönlichen Einflussbereiches deutlich machen und Ärger, Trauer
und Frust nach sich ziehen.
Bei einer Arbeitsplatzanalyse in einem
Krankenhaus wurde festgestellt (Thorwest 1993)
3 , dass im Schnitt täglich 27
3)
Arbeitsunterbrechungen durch Telefonanrufe, kurzfristige Besprechungen, unangemeldeten Besuch usw. stattfinden.
Das bedeutet cirka alle 21 Minuten eine
Arbeitsunterbrechung, oftmals noch häufiger. Das stresst, macht nervös, spannt
an und ist sehr frustrierend. Burnout Prädestinierte neigen laut Burisch (1989,S.
91 ) dazu: sich zu hochgesteckte Ziele
zu setzen, unterschätzen den Aufwand
und Zeitbedarf, übersehen Nebenwirkungen, überschätzen Erfolgsaussichten
und setzen das eigene Anspruchsniveau
zu hoch.
5. Organisationsstrukturen sorgen für
Stress
Hier stehen die Strukturierungen von Firmen bzw. Institutionen im Vordergrund.
Die ungenaue Klärung von Rechten und
Pflichten oder der Aufgabenverteilungen
sowie der Rollen führen laut Cherniss
zu Stress. Das Gefühl von der eigentlichen Machtlosigkeit über das Mitbestimmungsrecht in Firmen trägt außerdem
dazu bei. Durch die Vielzahl der Erwartungen, nicht abgegrenzter Arbeitsver-
ZI Aktuell 2/06
teilungen sowie der übermäßigen Anforderungen die an eine einzige Person
gestellt werden, kommt es zur ständigen
Überforderung und überhöhtem Arbeitseinsatz. Häufig fehlt es an Lob oder der
Rückmeldung über die geleistete Arbeit.
Cheriss bemerkt weiterhin, dass die Hierarchie und Machtstrukturen eines Unternehmen dazu beitragen, sich von der
Arbeit zu entfernen, da sich der Einzelne
ohne Einflusschancen sieht.
Im pflegerischen Bereich kommt es häufig zu Rollenkonflikten, da an Pflegepersonen eine Vielzahl von Anforderungen
gerichtet werden. Eine typische Erwartung von Patienten an Ärzte ist, einen
“Halbgott in Weiß” zu symbolisieren,
wie sie ihn von Fernsehserien kennen,
geprägt von übermäßig viel Kompetenz
und Allmächtigkeit. Eine weitere Anforderung an das gesamte Personal ist es,
eine hohe Verantwortung für Patienten/
Bewohner zu tragen, bei gleichzeitigem
Zeitmangel. Doch trotzdem immer noch
so engagiert und selbstlos zu sein, wie
Schwester Stefanie, aus der gleichnamigen Serie. Aber diesem Ideal hinterher zu jagen, ist wohl die pure Zeitverschwendung. Schwester Stefanie liegt
zwar voll im Trend, jedoch ist sie auch
klar im Vorteil. Ihre Dienstzeit beschränkt
sich auf eine Stunde am Tag und dann
hat sie noch sehr lange Sommerpause.
in Krankenhäusern und Pflegeheimen
sind unterschiedliche Belastungsfelder
vorzufinden. In Pflegeheimen trägt eine
ausgebildete Fachkraft die Verantwortung für eine Vielzahl von Bewohnern.
Sie muss häufig eigenständig adäquate Entscheidungen treffen, Situationen,
Symptome richtig einschätzen können,
ohne die Meinung einer weiteren Fachkraft oder eines Arztes hinzu ziehen zu
können. Auch das Fehlen von ausgebildeten Personal gehört zur Ursache
Organisationsstrukturen. Die Fluktuationsrate aus Pflegeberufen und das Entwickeln von Burnout Symptomen liegen
durchschnittlich bei drei Jahren. Ein Faktor der nicht schön zu reden ist und die
Ursachen dafür liegen nicht immer vorrangig in den individuellen Persönlichkeitsmerkmalen der Pflegekräfte.
Maßnahmen zur Prophylaxe
In der Berufsrolle:
► Sich beobachten und Warnsignale
erkennen und ernst nehmen
► Einstellungen, die zum Burnout
führen, ändern
► Ursachen für Stress erkennen und
abbauen
► Erkennen, was hinter der eigenen
Fassade steckt
► Offene Wünsche und Gefühle aussprechen
► Schwächen zulassen
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► Es gibt keine falschen oder richtigen
Gefühle
► Ich-Botschaften senden, von eigenen Erfahrungen reden, aus eigener
Anonymität heraustreten
► Eigene realistische Maßstäbe setzen und deren Umsetzung verfolgen
► Energie gewinnen
► Schauen, wie andere es machen
► Den Blick für die richtigen
Bewältigungsstrategien schärfen
► Supervision
► Stabilisierung der beruflichen Rolle
► Professionelle Haltung und diese
auch einfordern
In der Freizeit:
► Entwicklung von Strategien, um Berufsrolle loslassen zu können
► Balance durch individuelle Erholung
finden
► Autogenes Training, Yoga, Progressives Muskeltraining
► körperlich entspannende Aktivitäten
durchführen
► Gesunde Ernährung
► Hobbys pflegen
► Kontakte zu Freunden und Nachbarn erhalten
Fazit
Es gibt 1000 Gründe, um in der Berufsgruppe der Altenpflegerin ein BurnoutSyndrom zu entwickeln. Aber auch eben
so viele um dies nicht zu tun.
Burnout ist ein Thema, das mit sehr vielen negativen Gefühlen und Äußerungen
belastet ist. Mir ist das eine oder andere
Burnout-Symptom durch persönliche Erfahrungen bekannt. Jedoch ist es mir in
zwölf Jahren gelungen, mir meine Freude an meinem Beruf Altenpflegerin nicht
nehmen zu lassen.
Trotz der teils schwierigen Arbeitsumstände in Alten- und Pflegeheimen konnte ich
mir bis jetzt immer wieder meine Kraft und
mein inneres Gleichgewicht und vor allem
meine Zuwendung zu dem nicht immer
einfachen Klientel bewahren. Vielleicht
liegt es daran, dass ich die Menschen in
den Mittelpunkt meiner Arbeit stelle. Ich
weiß, dass sie auf Hilfe angewiesen sind,
aber nicht nur ausschließlich auf meine.
Ich versuche zu beachten, dass Menschen so sind wie sie sind und nicht wie
sie sein sollen. Menschen eben. Und dieses Recht behalte ich mir auch vor, indem
ich nur das geben kann, was körperlich,
geistig und emotional in mir ist. Vor allem
ist es mir wichtig zu wissen, dass ich mich
nicht für alle Situationen verantwortlich
machen kann. Ich habe das Recht, auch
nur ein Mensch zu sein.
(Literatur bei der Verfasserin)
Liane Kolbe
www.zi-mannheim.de
Autorinnen und Autoren
Adam, Klaus, Dipl.-Sozialarbeiter
E-Mail: [email protected]
Ende, Gabriele, Priv.-Doz. Dr. rer. nat
Kommissarische Leiterin der Abteilung Neuroimaging
E-Mail: [email protected]
Erk, Katrin, Dipl. Wirt.-Ing.
Kaufmännische Direktorin, Mitglied des Vorstands
E-Mail: [email protected]
Diers, Martin, Dr. Dipl.-Psych.
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuropsychologie und Klinische Psychologie
E-Mail: [email protected]
Gass, Peter, Prof. Dr. med.
Leiter der Arbeitsgruppe Verhaltensbiologie affektiver Erkrankungen
E-Mail: [email protected]
Holzhauer, Susanne, cand. Psych.
Diplomandin der Arbeitsgruppe Verlaufs- und Interventionsforschung
Klossika, Iris, Dipl. Psych.
Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin
E-Mail: [email protected]
Kolbe, Liane
Altenpflegerin, Absolventin der Fachweiterbildung Gerontopsychiatrische Pflege
Kühner, Christine, Priv.-Doz. Dr. sc. hum.
Leiterin der Arbeitsgruppe Verlaufs- und Interventionsforschung
E-Mail: [email protected]
Marina Martini, Dr. med., M.Sc.
Leiterin des Referats Öffentlichkeitsarbeit,
E-Mail: [email protected]
Thieme, Kati, Priv.-Doz. Dr. phil. Dipl.-Psych.
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Neuropsychologie und Klinische Psychologie
E-Mail: [email protected]
Vollmayr, Barbara, Priv.-Doz. Dr. med.
Co-Leiterin der Arbeitsgruppe Verhaltensbiologie affektiver Erkrankungen
E-Mail: [email protected]
Wagner-Stramke, Christl
Fachkrankenschwester für Psychiatrie, Pflegerische Leiterin der Weiterbildungsstätte für Pflegepersonal
E-Mail: [email protected]
Zimmermann, Ulrich, Priv.-Doz. Dr. med.
Leiter des Klinischen Suchtforschungslabors
E-Mail: [email protected]
Zink, Mathias, Priv.-Doz. Dr. med.
Oberarzt der Tageklinik der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
E-Mail: [email protected]
Impressum
Herausgeber: Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
68159 Mannheim, J 5
Redaktion: Dr. Marina Martini
Layout und Entwurf: Mike Nowak, Referat Öffentlichkeitsarbeit
Telefon: 0621/17 03-1301, -1302
Telefax: 06 21/17 03-1305
E-Mail: [email protected]
Internet: http://www.zi-mannheim.de
Titelbild: Tagesklinik, L10,1
Nachdruck nur mit Genehmigung.
Hinweis:
Auch wenn in den folgenden Texten auf die weibliche Form bei der Benennung von Personen verzichtet wird,
sind selbstverständlich immer Frauen und Männer gemeint.
INFORMATION
Huffziger, Silke, Dipl.-Psych.
Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe Verlaufs- und Interventionsforschung
E-Mail: [email protected]
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