In: Widerspruch Nr. 18 Restauration der Philosophie nach 1945 (1990), S. 126-133 Neuerscheinungen Rezensionen Besprechungen Neuerscheinungen Jacques Derrida Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie München 1987 (Fink-Verlag), 233 S., geb, 48.-DM Dieses Buch - besser gesagt seine deutsche Audgabe - müßte so recht nach dem Geschmack seines Verfassers sein. Denn eigentlich ist dieses 1962 im „Original“ als erstes Druckerzeugnis Derridas erschienene Werk nur als Einleitung zu einem 30seitigen und von ihm selbst übersetzten Husserlaufsatz mit dem Titel „Der Ursprung der Geometrie“ erschienen. Jedoch umfaßt diese „Einleitung“ 170 Seiten und besitzt natürlich auch noch eine eigene Einleitung, was naheliegenderweise als Kennzeichen dafür zu sehen ist, wie erst hier der später als Dekonstruktivist berühmtgewordene Philosoph seine Sache nahm. Daß ihn in diesem Ernst seine deutschen Herausgeber 25 Jahre später noch weit übertreffen, muß darum bestimmt im Sinne des Verfas- sers liegen. Denn nicht nur, daß in der deutschen Ausgabe, bevor diese ganze Einleiterei beginnt, a) eine Bemerkung über die Verlagsreihe „Übergänge“, b) ein Vorwort zur deutschen Ausgabe und c) eine Vorbemerkung zur deutschen Übersetzung zu lesen ist; nein, die Herausgeber haben - und dafür möchte ich ihnen wirklich Dank aussprechen - an perfekt plazierter Stelle, nämlich vor dem abschließenden Personenregister, selbstverständlich auch noch Husserls Aufsatz „Der Ursprung der Geometrie“ veröffentlicht; natürlich folgerichtig als „Anhang“ betitelt und natürlich noch folgerichtiger nicht als Rückübersetzung von Derridas Übersetzung, sondern im „Original“ (wobei dieses „Original“ logischerweise nicht der Erstveröffentlichung entspricht). Es fragt sich nun: Ist dieser potenzierte Ernst bezüglich Derridas Erstlingsschrift angebracht? Muß man z.B. in einem „Vorwort zur deutschen Ausgabe“ von einem „Vorleser“ darauf hingewiesen werden, welche Vorteile man als heutiger Leser dieses Werks gegenüber einem früheren Leser hat? Ich will diese Fragen offenlassen und stattdessen jetzt meine überlange Einleitung beenden und mich endlich der zentralen Frage, nämlich dem Inhalt, widmen. Inhaltlich nämlich beschäftigt sich Derrida in akribischer Auseinandersetzung mit Husserls Geschichtsdenken, das der Begründer der Phänomenologie bekanntlich erst gegen Ende seines Lebens überhaupt in Angriff nahm. Dabei kann man nach Derrida u.a. sehr genau erkennen, daß Husserls Frage nach einem ursprünglichen Sinn darauf verweist, wie einem zunächst belanglosem Faktum erst nachträglich Bedeutung bzw. Bedeutungen zukommen, und dieser Prozeß der Interpretation nie endet. Damit ist man genau bei einem Punkt angekommen, der tief in Derridas eigenes Konzept führt. So ist es auch nicht verwunderlich, daß man hier liest, wie der Ursprung als Differenz, als Aufschub und analog zu Telekommunikation bzw. Postkartensendungen funktionierend anzusehen ist. Auch äußert Derrida schon sehr deutlich Zweifel an einer univokativen Sprachauffassung und einer Unterdrückung der Schrift zugunsten der gesprochenen Sprache. Aber trotz dieser Zweifel folgt er Husserl hier noch darin, daß er das Konzept einer Transzendentalphilosophie nicht verläßt. Jedoch! Es dauert nicht mehr lange, und er beschreibt insbesondere Husserls Transzendentalphilosophie als „modernste, kritischste und scharfsichtigste Form der abendländischen Metaphysik“ (1.“Positionen“Interview), die als solche den Schriftcharakter der Sprache unterdrückt, bzw. in der so Logozentrismus und Phonozentrismus praktiziert wird. Denn 1967 ist es bekanntlich so weit, daß er in einer geballten Ladung nicht nur seine „Grammatologie“ und „Die Schrift und die Differenz“ publiziert, sondern mit „Die Stimme und das Phänomen“ eine radikale Dekonstruktion von Husserls Phänomenologie vornimmt. Das bedeutet hinsichtlich der hier vorgestellten Erstlingsschrift: da für diese spätere Dekonstruktion in einer Nachinterpretation des „ursprünglichen Sinns“ dieser bestimmt nicht belanglosen Einleitung viele Gründe zu entnehmen sind: und da jeder Leser dazu im Anhang noch Husserls „Der Ursprung der Geometrie“ bzw. ein Beispiel für die „modernste, kritischste und scharfsichtigste Form der Metaphysik“ lesen kann, ist dieses so ernst aufgemachte Buch auch für Leute interessant, die sich mit „Einleitungen“ nicht begnügen. Georg Kastenbauer Paul Ricoeur Zeit und Erzählung, Bd.1: Zeit und historische Neuerscheinungen Erzählung, München 1988, 357 S., geb., 88.- DM; Bd.2: Zeit und literarische Erzählung, München 1989 (Fink-Verlag), 282 S., geb., 80.- DM. Seit 1983 unterhält der Münchner Fink-Verlag die Reihe „Übergänge“, in der bislang ca. 20 Bände erschienen sind und die sich vom Anspruch der Herausgeber Grathoff und Waldenfels her in einem Zwischenbereich bewegt, „in dem philosophische Überlegung und sozialwissenschaftliche Forschung aufeinanderstoßen und sich verschränken“. Durch die Aufnahme und Fortführung der phänomenologischen Lebenswelt-Studien sollen vor allem die hierzulande eher vernachläßigte französische Phänomenologie (veröffentlicht wurden Werke von Merleau-Ponty und dem frühen Derrida) sowie ältere deutsche Arbeiten aus der Zeit vor 1933 zugänglich gemacht werden. Darunter ist auch das 1986 erschienene Buch von Paul Ricoeur „Die lebendige Metapher“ (frz. 1975), in dem er im Ausgang von Aristoteles und unter Berücksichtigung der modernen Linguistik und Semiotik eine philosophische Theorie der Metapher vorstellt, die deren semantisches Innovationspotential hervorhebt und die Referenzfunktion der Metapher neu formuliert. In engem konzeptionellen Zusammenhang damit steht das dreibändige Werk „Zeit und Erzählung“ (frz., 1983-85), von dem bisher zwei Bände in deutscher Übersetzung vorliegen. Erzeugt die Meta- pher durch eine „impertinente“ Prädikation eine neue semantische Pertinenz, so begreift Ricoeur die Komposition der erzählerischen Fabel als eine „Synthesis des Heterogenen“, durch die „Ziele, Ursachen und Zufälle zur zeitlichen Einheit einer vollständigen und umfassenden Handlung versammelt“ werden (Bd.1, 7). In beiden Fällen kommt Neues, noch Ungesagtes, Unerhörtes zur Sprache. In seiner Untersuchung inszeniert der Autor einen Dialog zwischen verschiedenen Ansätzen zu einer Phänomenologie der Zeitlichkeit (Augustinus, Husserl, Heidegger) und einschlägigen Theorien des historischen und fiktionalen Erzählens. Seine Grundthese, die er zunächst anhand des 11.Buchs von Augustins „Confessiones“ expliziert, lautet: Jede Phänomenologie der Zeit führt unweigerlich zu Aporien, die zwar theoretisch nicht mehr zu bewältigen sind, jedoch in der Erzählung darstellerisch aufgelöst werden können. Die so entstehende „Dialektik zwischen einer Aporetik und einer Poetik der Zeitlichkeit“ (Bd.1, 114) führt Ricoeur vom „Phänomenologen“ Augustinus zum „Erzähltheoretiker“ Aristoteles und dessen „Poetik“. Wie vor ihm bereits Luk cs, der in seiner späten Ästhetik zentrale Kategorien von Aristoteles' Tragödientheorie auf den gesamten Bereich der Dichtung ausdehnte, nimmt auch Ricoeur die aristotelische Bestimmung des dramatischen „mythos“ als „mimesis praxeos“ in seine Definition der Erzählung als „disso- nante Konsonanz“ (concordance discordante) auf und macht damit - ähnlich wie die strukturale Erzähltheorie das Drama zu einem Spezialfall der Erzählung. So trifft ein Aristoteliker den anderen! Die „mimesis praxeos“ wird vom Autor zu drei mimetischen Funktionen ausdifferenziert: die erzählerische Konfiguration der Handlungen in der Zeit (mimesis II) bezieht sich auf ein Vorverständnis (Präfiguration) von der (zeitlichen) Ordnung einer Handlung (mimesis I) und bewirkt deren Umgestaltung (Refiguration) in der menschlichen Erfahrung (mimesis III). Dabei fungiert die Konfiguration der mimesis II (der aristotelische „mythos“) als Vermittlung zwischen mimesis I und III, die beide dem Bereich der „praxis“ angehören. Die Leistung des „mythos“ besteht darin, die individuellen Ereignisse der Handlungsordnung, die ihm als paradigmatisches Erzählreservoir dienen, zum Ganzen einer syntagmatischen Geschichte zu synthetisieren. Den zweiten Teil des ersten Bandes und den gesamten zweiten Band seiner Arbeit nutzt der Autor zu einer kritischen Diskussion theoretischer Ansätze zum Verhältnis von Zeit und Erzählung in der Historik und der literaturwissenschaftlichen Narrativik. In beiden Disziplinen gab (und gibt) es Versuche von seiten analytischer Philosophen wie Hempel und Frankel, des französischen Strukturalismus, aber auch der französischen „Annales“-Schule um Braudel und Bloch, Modelle zu entwickeln, die die Zeit als „Tiefenkategorie“ eliminieren und sie einer abgeleiteten „Oberflächenstruktur“ der historischen und fiktionalen Darstellung zuzuweisen. In Opposition dazu gelingt es Ricoeur nachzuweisen, daß das narrative Verstehen ein fundamental zeitliches ist und von jeder rein logischen Erzählgrammatik immer schon vorausgesetzt wird. So ergibt sich als grundlegendes Verhältnis von Zeit und Erzählung, „daß die Zeit in dem Maße zur menschlichen wird, in dem sie sich nach einem Modus des Narrativen gestaltet, und daß die Erzählung ihren vollen Sinn erlangt, wenn sie eine Bedingung der zeitlichen Existenz wird“ (Bd.1, 87). Allerdings muß Ricoeur der Geschichtswissenschaft konzedieren, daß in ihrem Feld ein „epistemologischer Einschnitt“ stattgefunden hat, der die historische Erklärung, die mit gesetzesförmigen Verallgemeinerungen ausgerüstet ist, vom bloßen narrativen Verstehen entfernt. In der historischen Intentionalität bleibt jedoch der Zusammenhang von historischem Erklären und narrativem Verstehen erhalten; Ricoeur spricht hier von Quasi-Fabel, Quasi-Figuren und Quasi-Ereignis. Was in den ersten beiden Bänden in Klammern gesetzt wurde, soll im abschließenden dritten Band unter dem Titel „Die erzählte Zeit“ thematisiert werden: die Referenzfunktion von literarischer und historischer Erzählung. Im Übergang von der mimesis II zur mimesis III, d.h. im Rezepti- Neuerscheinungen onsprozeß, wird die Wahrheitsfrage bei beiden Erzählgattungen aktualisiert. Denn nicht nur die Geschichtserzählung hat für Ricoeur einen Anspruch als „wahre Erzählung“, sondern auch die Fiktionserzählung bringt im Übergang von der Welt des Werks zur Lebenswelt des Rezipienten eine „metaphorische Referenz“ ins Spiel. Damit bildet sich die zentrale These des dritten Bandes und des gesamten Werkes heraus: die Annahme einer „überkreuzten Referenz“ zwischen Geschichtsschreibung und Fiktionserzählung in der Zeitlichkeit der menschlichen Handlung. Doch die Diskussion dieser These sei auf das Erscheinen der deutschen Ausgabe des dritten Bandes verschoben. Günter Butzer Ram Adhar Mall / Heinz Hülsmann Die drei Geburtsorte der Philosophie - China, Indien, Europa Bonn 1989 (Bouvier-Verlag), 230 S., geb., 38.Die Arbeit setzt sich vornehmlich mit dem Topos auseinander, „der Ursprungsort der Philosophie sei Griechenland, genauer Athen“ (11). Sie richtet sich gegen eine Philosophiegeschichtsschreibung oder eine hermeneutische Sicht, die zu einer eurozentrischen Darstellung von Kulturgeschichte neigt, bzw. gegen hermeneutische Engführungen überhaupt (vgl. die Gadamer-Kritik im Kapitel „Hermeneutik und Weltphilosophie“, 84ff). Aber es ist nicht bloß die Erweiterung einer Geographie der 'Anfänge von Philosophie' vorgesehen, die ja bereits seit Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ eine Tradition hat. Interessanter ist die Frage des Standortes, von dem etwa eine vergleichende Historie ausgehen könnte. Letztere bliebe eher apologetisch (in China und Indien gab es 'auch Philosophie'), solange nicht ein leitendes Philosophieverständnis selber entregionalisierte Züge aufweisen könnte. Die beiden Verfasser, der eine Asiate, der andere Europäer, wenden sich gegen einen „eineindeutigen Philosophiebegriff“ und heben hervor, so „ein Skandalon“ zu liefern (10). Mit der Absage an hermeneutische Festlegungen erhält der Anspruch ein starkes Gewicht, daß die Darstellung von 'Philosophien' nicht ausschließend einem der verglichenen Teile den Maßstab entnimmt. So soll ein dem Verglichenen eigenes 'Philosophisches' den Vergleich leiten und in ihm zum Ausdruck kommen. Welche Darstellungsmittel sollen einen solchen methodischen Zirkel gewährleisten, begründbar und nachvollziehbar machen? Und wie ist das Philosophieverständnis der Verfasser in seiner hervorgehobenen Unbestimmtheit selbst näher bestimmbar? Die methodischen Leitvorstellungen sind die einer „offenen Hermeneutik“ und eines „metonymischen Austauschs“ in einer „technologisch formierten“ (Welt-)Gesellschaft (vgl. den ersten, grundlegenden Teil). Mit einer offenen ('analogischen') Hermeneutik sollen die jeweiligen Verstehensvoraussetzungen und die hermeneutischen Zirkel dadurch nicht verallgemeinert werden, daß sie - in Anlehnung an Jaspers als „Überlappungen“ in der Artikulation ein und desselben, einer „philosophia perennis“, gewichtet werden (79). Die Verwendung von Theorie-Sprache wird als „metonymisch“ aufgefaßt, als „Ereignis eines Symboltransfers, der die sprachliche Immanenz zerbricht“, als „Austausch von Namen“ in 'unabgeschlossenen Benennungen' (121). Dem Wort 'Philosophie' ist - metonymisch verwendet - ein terminologischer Status abgesprochen: 'Name statt Begriff'. Es ist dies als Leseanweisung für den zweiten Teil des Buches zu verstehen, in dem es um Philosophie in China, Indien und Europa geht. Der Prozeß der Darstellung und eine Sozialität des Austauschens stehen im Vordergrund (vgl. das Vorwort). Damit sei der modale Sinn des Buches hervorgehoben und das Plädoyer in ihm, das an Schelers Auffassung vom „Weltalter“ angelehnt ist (bes. 98ff). Die Vorstellung eines an Sprachgrenzen nur andeutbaren 'Philosophischen', des 'einen Wahren in den verschiedenen Gewändern', bleibt ein metaphysisches 'Anraten', das nicht ohne Beliebigkeit ist, denn die Sprachmetaphysik der Verfasser selbst erfährt keine Begründung. Der Leser hat so die Schwierigkeit, Darstellungsanspruch und Darstellungsweise aufeinander zu beziehen. Her- meneutische Engführungen und Zentrismen, die der Text mit seiner Terminologie, seiner Diktion der europäischen Tradition, aufweist, sollen zu dem gehören, was im Text und mit Hilfe des Textes verlassen werde. „Philosophie“ sei „der Versuch, den Mythos durch den Logos zu ersetzen“ (60), schreiben die Verfasser. Die europäische Philosophie wird vom Mythos her verstanden (235ff), und ein Mythos/Logos-Verhältnis in seiner Dialektik gibt den Leitfaden der Historie ab. Das ist auch der Fall in den Kapiteln über China (141ff) und Indien (191ff). Vom MetonymieKonzept her kann der Leitfaden der Darstellung - ein Leitfaden der europäischen Tradition - als Angebot verstanden werden, in einen austauschenden Diskurs zu gelangen. Jedoch sind dadurch nicht die Konnotationen der verwendeten Ausdrücke (auch eine Prädikation von 'Philosophie' gehört dazu) aus der Sprache des Vergleichs, nicht aus der Vorstellungswelt der Leser. Auch 'das Metonymische', die Übertragung aus der klassischen Rhetorik, sollte ja konsequenterweise metonymisch gelesen werden, so daß der Leser sich semantisch auf eine Metametaebene des Textes verwiesen sieht. Und gerade die ist der Darstellung nicht ansehbar und entnehmbar. Die Grenzen und die unvermeidbaren Engführungen der Sprache der Darstellung müssen erwähnt werden angesichts der Vorstellung, ein allgemein 'Philosophisches' („philosophia perennis“) leite den Austausch und sei ihm zu entnehmen. Es gerät aus dem Blick, Neuerscheinungen daß es keinen Vergleich gibt außerhalb der Sprache, in der er geführt wird, auch wenn er nicht nur innerhalb seiner Sprache stattfindet. Letztlich wird einem mehr und mehr technologisch bestimmten Diskurs in einer kulturell übergreifend durch moderne Technologien geprägten Weltgesellschaft die Überwindung hermeneutischer Engführungen zugetraut. Ein systemisches Analogiedenken in kybernetischer Diktion (vor allem im Kapitel „Algorithmus und Anamnesis“, 267ff) soll Historie zur strukturalen Selbstabbildung der Menschheit werden lassen, zu einer Autopoiesis („Das Prinzip der Autopoiesis reicht von Aristoteles bis E. Jantsch“, 271). In welcher Sprache? In der einer Schriftkultur? Leider kann hier nicht eine Auseinandersetzung mit dem Ansatz des Schlußteils der Arbeit geführt werden. Sie hätte der Frage nachzugehen, wie die Verfasser unter anderem systemtheoretische Entwürfe und KI-Forschung einarbeiten und zum Gegenstand ihrer Betrachtungen machen. Nur eines sei hervorgehoben: „Die technologische Formation“ sei „die wirklich gewordene Philosophie“ (273). Welche Philosophie? Eine systemische Sichtweise könnte - hier etwa in der Frage nach Dominanz und Austausch im Verhältnis verschiedener Kulturkreise - Herrschaftsbegriffe durch Funktionsbegriffe ersetzen. Die Gegenstände sind dann aber auch noch Phänomene wie Technologieexporte, Exporte von Rüstungstechnologien und -gütern und die Währungspolitik. Diese wiederum sind Teile einer „technologischen Formierung“. Die Frage, was die Verfasser unter „der wirklich gewordenen Philosophie“ verstehen, hat zwei Seiten. Einmal geht es um eine Arbeit, in der die Auseinandersetzung mit Eurozentrismen in der Kulturgeschichtsschreibung im Vordergrund steht. Zum anderen wird dasjenige, von dessen Verwirklichung die Rede ist, nicht bestimmt. Oder läßt der Metonymiegedanke zu, den Satz als Affirmation und als Polemik zu lesen, als Anstoß sozusagen, 'der Philosophie ins wahre Gesicht zu schauen'? Wie auch immer müßte dem 'Namen Philosophie' ein Sinn zugesprochen werden. Ignaz Knips F.W.J.Schelling Einleitung in die Philosophie (Hrsg. Walther E. Ehrhardt), Stuttgart-Bad Cannstatt 1989 (FrommannHolzboog), geb., 153 S., 84.Das Buch, der erste Band einer Reihe zur Schelling-Forschung, enthält die Nachschrift bislang unveröffentlichter Vorlesungen, die Schelling 1830 vor einem ausgewählten Zuhörerkreis in München gehalten hat. Diese Vorlesungen haben zeitgeschichtliche Bedeutung, weil Schelling sich zu der Zeit offenbar gezwungen sah, nach Jahren der Konzentration auf die Mythologien und die dunklen Spekulationen seiner „Weltalter“-Philosophie wieder zu einer rationellen Grundlegung seines eigenen philosophischen Standpunkts zurückzukehren. Diese Rückkehr dürfte umso dringlicher gewesen sein, als Hegel in Berlin zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt seiner Wirksamkeit stand, die auch in München ihre Spuren hinterließ. Viele seiner Ausführungen werden daher auf dem Hintergrund dieses spannungsreichen Verhältnisses Schelling-Hegel zu lesen sein. Schellings „Einleitung in die Philosophie“ ist die Einleitung in seine Philosophie, die er als Resultat der neuzeitlichen philosophischen Bemühungen darzustellen unternimmt. Er wählt den Einstieg mit der bekannten Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie, die auch im folgenden den Leitfaden bildet. Während die negative Philosophie die Welt als ein in sich notwendiges System darstelle, begreife die positive die Welt als ein frei geschaffenes, ein gewolltes System. Freiheit und Notwendigkeit sind für Schelling demnach die zentralen Begriffe. Daß dieses Gegensatzpaar nicht willkürlich gewählt ist, wird an den beiden großen Systemen der Neuzeit, dem System Spinozas und dem Fichtes, verdeutlicht: Spinoza habe die Welt als einen strikt kausalen Zusammenhang begriffen und die Philosophie demnach als mathematischnotwendiges Denken; Fichte hingegen habe die Welt als ein System der durch das freie Ich als Prinzip gesetzten Bestimmungen verstanden. Bei- des reicht Schelling nicht hin: Spinozas Kausalität bleibt blind und unbegreiflich, Fichtes freies Setzen verliert sich schließlich in Willkürlichkeiten. Schelling sieht nun die Leistung seines frühen Identitätssystems darin, die beiden Prinzipien, die Welt als Objekt und als Subjekt, im Begriff des Subjekt-Objekt vereinigt zu haben. Die Welt sei als Einheit von Realem und Idealem ein dynamischer - heute würden wir sagen: sich selbstorganisierender - Prozeß, dessen eines Extrem das bloß Materielle, dessen anderes das rein Geistig-Ideelle ist. Hegel nun - und diese Kritik dürfte einen ganz wesentlichen Aspekt der „Einleitung“ ausmachen - habe an dieses Identitätssystem angeknüpft und es gründlich mißverstanden. Er habe den Grundgedanken der Welt als Prozeß aufgenommen, ihn aber aus einem realen in einen bloß logisch-dialektischen umgewandelt. Hegel beginne seine Philosophie „voraussetzungslos“, spule dialektisch aus reinem Denken das System seiner Logik und komme an deren Ende dazu, - man weiß weder wie noch warum - daß das Logische ins NichtLogische, in die Natur „abfalle“; dies sei „Mystizismus“. Als Ursache des vermeintlichen Irrtums von Hegel, den realen in einen logischen verwandelt zu haben, nennt Schelling nicht ohne billige Polemik, Hegel habe damals auf den Rat einiger Freunde hin angefangen, „ein nicht zu ausgedehntes Fach“, die Logik, zu lesen (61). Neuerscheinungen Schelling geht nun auf das ein, worauf die Philosophie sich zu konzentrieren habe. Auch dann, wenn man die Welt nicht als einen bloß logischen, sondern realen Prozeß begreift, bleibe man im 'Reich der Notwendigkeit', und damit in einer bloß negativen Philosophie, stecken. Die Philosophie müsse letztlich - und hier greift er implizit auf seine „Freiheitsschrift“ zurück - die Welt als freie Schöpfung erweisen, sodaß Freiheit das Urprinzip der Welt ist. Dies aber bringt es mit sich, das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit erneut zu erörtern, wenn man nicht einem heillosen Mystizismus verfallen oder im trockenen Rationalismus steckenbleiben will. Schelling skizziert hier das, was er später ausführlicher darstellen wird: es bedürfe neben den drei schon angeführten Prinzipien des Subjekts, des Objekts und des Subjekt-Objekts noch eines „Vierten“, durch das die Welt nicht nur als rationales System gedacht wird, sondern durch das sie tatsächlich ist. Dieses Prinzip ist für sich nichts anderes als reine Aktualität, freie Ursache - Gott. Die Aufgabe, die sich der 'wahren' positiven Philosophie stelle, sei, dieses Verhältnis von Gott und Welt nicht nur als ein bloß logisches, sondern als ein tatsächliches und damit als ein geschichtliches Handeln darzustellen. Schellings Schüler, der spätere König Max II. von Bayern, nannte diese Vorlesungen die „Basis“ von Schellings gesamter Philosophie. Und in der Tat formulieren sie gerafft - aber an vielen Stellen auch schwer nachvollziehbar - das Programm seiner Spätphilosophie. Auch wenn die sich aufdrängende Frage allzu berechtigt bleibt, was mit dieser Art des Denkens zwischen Theologie, Natur- und Freiheitsphilosophie heute 'anzufangen' ist, so erlaubt die Veröffentlichung dieser Vorlesungen, wie der Herausgeber W.E. Ehrhardt hervorhebt, einen Einblick in die weitgehend noch unbekannte „innere Werkstätte“ (X) Schellings zu einem Zeitpunkt, wo er die folgenreiche Auseinandersetzung mit Hegel und seiner Schule aufnehmen sollte. Alexander von Pechmann