Die Bedürfnisse von hochbetagten Menschen Zwischen Autonomie und Fürsorglichkeit Widersprüche im AltenAlten- und Pflegeheim 5. Fachtagung Palliative Care Berlin Katharina Heimerl 15.10.2010 „Alte Menschen haben eindeutig besondere Bedürfnisse, weil ihre Probleme anders und oft komplexer sind, als die junger Menschen“ (World Health Organisation 2004) [email protected] katharina.heimerl@uni Palliative Care für Hochbetagte …erfordert „Lebensbegleitung bis zuletzt“ Was bedeutet „Palliativbedürftigkeit“ von Hochbetagten? hNicht die Todesnähe sondern die über einen variablen Zeitraum bestehende spezifische Behandlungs- bzw. „Care“Bedürftigkeit bei weit fortgeschrittener Multimorbidität und/oder Demenz und ihre belastenden Folgen (körperlich, seelisch, sozial, spirituell) (Kojer, Heimerl 2010) Palliative Care für Hochbetagte ist daher mehr als die zu Recht kritisierte „Facharbeit am Lebensende“ (Gronemeyer, Heller 2007) Fragen, die nicht so leicht zu entscheiden sind Manches entscheidet sich „von selbst“ Anderes wird „konflikthaft“ oder belastend „Ethik“, so formuliert Larissa Krainer, „ist eine Frage der Entscheidung, aber ethische Fragen sind offenbar nicht so leicht zu entscheiden wie andere Fragen (jedenfalls nicht in der Kategorie entweder/oder)“ (Krainer 2007, 26) Fragen, die beschäftigen, belasten,… …manchmal auch mit nach Hause genommen werden Soll die Bewohnerin jetzt gewaschen werden oder später? Sollen wir die Angehörigen anrufen, damit sie sich verabschieden können? Können wir das Fieber lassen, oder sollen wir eine Ärztin rufen? (Dolfen/Rieffel, 1994: Briefe der Ernestine K.) K. Widersprüche als „Ursache“ für ethische Dilemmata Zentrale „Widerspruchsfelder“ Larissa Krainer und Peter Heintel (2010): Prozessethik. Zur Organisation ethischer Entscheidungsprozesse. Verlag für Sozialwissenschaften als Ursache für Konflikte und/oder Dilemmata zu erkennen erspart die Suche nach „Schuldigen“ 1 Was ist ein Dilemma? Nicht jeder Widerspruch muss zu einem ethischen Dilemma werden „Ein ethisches Dilemma kann definiert werden als (1) ein schwieriges Problem das scheinbar nicht befriedigend gelöst werden kann oder (2) eine Situation, in der es um die Wahl zwischen gleichermaßen unbefriedigenden Lösungen geht. Nicht alle Dilemmata im Leben haben ethischen Charakter, aber ein ethisches Dilemma ergibt sich dann, wenn moralische Ansprüche miteinander im Konflikt stehen.“ (Davis et al. 1997) Der Widerspruch zwischen Autonomie und Fürsorglichkeit (1) Eine Bewohnerin besteht darauf zu Fuß die 2 km bis zu ihrem Elternhaus zu gehen: „Ich will nach Hause“ Es dämmert, es ist Winter, die Bewohnerin ist nicht warm genug angezogen Lassen Sie sie gehen? Wie? Halten Sie sie fest? Wie? Wenn die Angehörigen kommen und die Bewohnerin ist nicht da, was werden die Angehörigen sagen? Wenn die Angehörigen kommen und die Bewohnerin wird „festgehalten“, was werden die Angehörigen sagen? Widersprüche durch Unterschiede zwischen sozialen Konstellationen Widersprüche zwischen dem Wunsch der Bewohnerin und dem der Angehörigen Widersprüche innerhalb der Person Ich will meine berufliche Aufgabe gut erfüllen Ich will meine Familienaufgaben gut erfüllen Der Widerspruch zwischen Gleichbehandlung und Individualität Haben alle BewohnerInnen das gleiche Recht auf Zuwendung und Pflege? Brauchen manche mehr? Andere weniger? Widersprüche, die an die Existenz des Menschen selbst gebunden sind „Solche von gewaltiger Tiefe und Wirksamkeit“ (Krainer/Heintel (Krainer/ Heintel)) Der Widerspruch zwischen Leben und Tod Der Tod beendet das Leben, aber das Sterben ist Teil des Lebens Nur wo man gut gelebt hat, kann man auch gut sterben und umgekehrt Ist Ihr Haus ein Haus zum Leben oder ein Haus zum Sterben? Der Widerspruch zwischen Autonomie und Fürsorglichkeit (2) Was leitet Ihre Entscheidungen? Ist „Autonomie“ für Sie das wichtigste? Ist es die „Verantwortung“? Die „Fürsorglichkeit“ (Care)? Statt „Autonomiezumutung“ (Peter Heintel) - die „Balance zwischen Autonomie und Fürsorglichkeit“ wahren Systembedingte Widersprüche Systeme brauchen Grenzen, müssen sich abgrenzen. Wer gehört dazu, wer nicht? Systeme sind aber auch auf Grenzüberschreitung angewiesen Mit wem wollen wir zusammenarbeiten? Widerspruch: Man kann nur gut zusammenarbeiten, wenn die eigene Identität gut geklärt ist 2 Das Bedürfnis zu Hause zu leben bis zuletzt Angeblich wollen 80% der Menschen zu Hause sterben Entwicklungsbedingte Widersprüche Der Widerspruch zwischen bewahren und verändern Wie gelingt es, dass Menschen im Pflegeheim „Daheim“ sind? „Menschen benötigen die Chance, die für sie zunächst fremde Umgebung als neuen Lebensraum zu entdecken bzw. sinnlich zu erfahren. Dadurch entsteht mehr Sicherheit und Vertrauen, zu sich selbst, zur Umwelt und zur Mitwelt“ (Fallstudie zur Basalen Stimulation, Gabriele ErlachErlach-Stickler 2010) Widersprüche in der speziellen Logik des Pflegeheimes Ein Pflegeheim braucht Ziele (z.B. im Leitbild), die ideal sind Die Umsetzung ist real, nicht ideal Wenn zwischen den Zielen und der Umsetzung Widersprüche bestehen, wird das als konflikthaft erlebt Ein Pflegeheim braucht „Vorschriften“, Qualitätsstandards, die eingehalten werden Vorschriften werden der Individualität der BewohnerInnen nicht gerecht Widersprüche bearbeiten Ethische Fallbesprechungen im AltenAlten- und Pflegeheim Mit Widersprüchen umgehen Auf der inidividuellen Ebene die wertschätzende Haltung in Palliative Care wir nähern uns auf einem Kontinuum an Auf der strategischen Ebene Palliative Care: Gutes Leben bis zuletzt Auf der kommunikativen Ebene Wer muss mit wem worüber reden? Ethikgespräche Widersprüche als Quelle für ethische Dilemmata erkennen, schafft die Voraussetzung dafür, dass sie bearbeitet werden können Die Vorbereitungen Leitungsentscheidung: Wir wollen Ethikgespräche in unserer Einrichtung einführen Ressourcen (Raum, Dienstzeit, Moderation) Format anlass- bzw. problembezogen (=unregelmäßig) oder regelmäßig (z.B. 1 x pro Quartal) hretrospektiv oder aktuelle Situation hvorbereiteter Fall oder spontan Beteiligung der Betroffenen? Interdisziplinäre Zusammensetzung der Fallbesprechung Freiwillige Teilnahme Moderation hnach Möglichkeit nicht aus der selben Einrichtung bzw. Organisationseinheit Raum und Zeit schaffen 3 Die Voraussetzungen Es geht um eine Situation, die ein „ungutes“ Gefühl hinterlässt Es geht nicht um „richtig“ oder „falsch“ sondern um die Frage: Ist das, was wir tun, gut für uns? (Peter Heintel) Es gibt keine „optimale Lösung“ oft gibt es nur „miserable und hundsmiserable“ Lösungen (Erich Loewy) Gefühle sind eine wichtige Quelle der Erkenntnis Ethikgespräche „auf Augenhöhe“ Die „Wirkungen“ Das Erkennen der Widersprüche ist Voraussetzung für das Nachdenken über Handlungsoptionen Vielfach ist das „die Lösung“ „Darüber reden tut gut“ Retrospektive Erkenntnis: So wie es war, war es gut Unterscheiden zwischen Widersprüchen deren Bearbeitung im Einflussbereich der Anwesenden liegt oder für deren Bearbeitung wir noch jemanden brauchen (z.B. die Psychiaterin) und denen, die wir hinnehmen müssen Das Etablieren einer Gesprächskultur „auf Augenhöhe“ Der Ablauf Fallbringerin: Um wen geht es? Was liegt/lag vor? Was ist/war die Situation? Was sind/waren die Fakten? Team: Was müssen wir noch wissen, um uns die Situation vorstellen zu können? Team ohne Fallbringerin: Was macht uns betroffen? Wen betrifft es noch? Was sind die Widersprüche? Fallbringerin: Welche Resonanzen löst das bei mir aus? Alle zusammen: Was könnten wir hier noch tun („Handlungsoptionen“)? Was lernen wir daraus für ähnliche Situationen? Vielfache Widersprüche im Alten- und Pflegeheim Widersprüche als Quelle für ethische Dilemmata erkennen, schafft die Voraussetzung dafür, dass sie bearbeitet werden können 4