M E D I Z I N Ulrich Finckh Zusammenfassung Die Alzheimer-Demenz (AD) ist die häufigste Demenzform. Ohne Verbesserung der Therapiemöglichkeiten wird die Prävalenz der AD demographisch bedingt dramatisch ansteigen. Das Erkrankungsrisiko für die zumeist spätmanifeste Form der AD (LOAD) nimmt mit dem Alter und in Abhängigkeit vom APOE-Genotyp zu. Allerdings tragen nur 50 bis 60 Prozent der LOAD-Patienten und 20 bis 30 Prozent der nichtdementen Vergleichspersonen das mit dem Risiko assoziierte ε4-Allel von APOE. Der mit circa 50 Prozent geschätzte Anteil genetischer Faktoren am LOADRisiko kann durch APOE ε4 alleine nicht erklärt werden. Weitere genetische Risikofaktoren der LOAD wurden noch nicht identifiziert. Circa 0,5 Prozent aller AD sind auf Einzelgenmutationen zurückzuführen und autosomal-dominant erblich (FAD). Die FAD wird meistens vor dem 60. Lebensjahr manifest. Mutationen wurden bislang in APP, dem Gen für das Amyloid-Vorläuferprotein und PSEN1 oder PSEN2, den Genen für Präsenilin 1 und Präsenilin 2 gefunden. Die Pathomechanismen von APOE ε4 und der FADMutationen sind unklar. Mangels verfügbarer therapeutischer Konsequenzen wird eine APOEGenotypisierung zur AD-Diagnostik nicht empfohlen. In 46 bis 79 Prozent der FAD-Fälle könn- B ei der Alzheimer-Demenz (AD), benannt nach ihrem Erstbeschreiber, Alois Alzheimer (1864 bis 1915), handelt es sich um die bei der älteren Bevölkerung am häufigsten vorkommende Demenzform. Die AD ist definiert durch eine klinisch objektivierbare Demenz (1) und charakteristische histopathologische Veränderungen des Gehirns – den senilen Plaques (SP), Neuropilfäden (NT), Neurofibrillenbündeln (NFT) und Neurodegeneration. Diese degenerativen Prozesse setzen viele Jahre vor der Demenzmanifestation ein. Die SP bestehen hauptsächlich aus extrazellulären Aggregaten von β-Amyloid (Aβ), einem Fragment von zumeist 40 oder 42 Aminosäuren (Aβ40; Aβ42) des β-Amyloid-Vorläuferproteins („amyloid precursor protein“, APP). Aβ42 hat ein gegenüber Aβ40 Laboratoriumsmedizin, Dortmund A 1010 Genetische Faktoren bei Alzheimer-Demenz te mittels Gendiagnostik die krankheitsverursachende Mutation gefunden werden. Dadurch wird eine präsymptomatische Diagnostik bei Angehörigen möglich. Die präsymptomatische Diagnostik hat ein hohes Konfliktpotenzial. Durch die Verfügbarkeit der APOE-Genotypisierung und einer molekulargenetischen FAD-Diagnostik gewinnt die humangenetische Beratung bei der AD zunehmend an Bedeutung. Schlüsselwörter: Morbus Alzheimer, Demenz, molekulare Medizin, Genmutation, humangenetische Beratung, Familienanamnese Summary The role of genetics in Alzheimer disease Alzheimer disease (AD) is the most common form of dementia. Current demographic trends suggest that its prevalence will rise dramatically unless therapy can be improved in the near future. The disease risk for the common type of AD, late-onset AD (LOAD), increases by age and depends on the genotype of APOE. Yet only 50 to 60 per cent of all LOAD patients and a substantial proportion, 20 to 30 per cent of nondemented matched controls, carry the risk-bearing, APOE ε4 allele. The estimated 50 per cent stark erhöhtes amyloidogenes, Aggregat-induzierendes Potenzial. Wahrscheinlich stellt die erhöhte Produktion von Aβ42 und die damit erhöhte amyloidogene Prozessierung von APP das pathophysiologisch zentrale Korrelat der AD dar. Aus APP kann durch zwei konsekutive enzymatische Spaltungen, den so genannten β- und γ-Sekretase-Spaltungen, das amyloidogene Aβ, also Aβ40 oder Aβ42, gebildet werden (Grafik 1). Alternativ kann APP durch die anti-amyloidogene αSekretase innerhalb des Aβ-Fragments gespalten werden, sodass kein β-Amyloid gebildet werden kann. Die NFT und NT bestehen aus gepaarten helikalen Fragmenten eines abnorm phosphorylierten, intrazellulär aggregierten und fehlgeleiteten TauProteins. Ein molekularer Pathomechanismus, der die kombinierte Tauopathie und Amyloidpathologie bei AD erklären könnte, ist bislang unbekannt. of LOAD risk attributable to genetic factors is only partially explained by the APOE genotype. Other genetic risk factors remain to be identified. Approximately 0.5 per cent of all AD is caused by single major gene mutations and autosomal dominant inheritance. These familial types of AD (FAD) usually display early onset of dementia before the age of 60. Such mutations have been found in APP, the gene encoding amyloid precursor protein, and in PSEN1 or PSEN2, the genes encoding presenilin 1 and presenilin 2. The pathological mechanisms induced by APOE ε4 and the mutations causing FAD are unknown. In the absence of a specific therapy for carriers of APOE ε4, genotyping of APOE is not recommended for AD diagnostics. In 46 to 79 per cent of all FAD, a disease-causing mutation may be found. Based on such findings, presymptomatic diagnosis in relatives of patients can be performed. Presymptomatic diagnostics of FAD raises ethical and psychological issues. Consideration of molecular diagnostics both for presymptomatic genotyping of APOE and mutation search in FAD are important issues for genetic counselling. Key words: Alzheimer disease, dementia, molecular medicine, gene mutation, genetic counselling, family history Ein initialer Neuronenverlust wird bei der AD typischerweise im Entorhinalkortex beobachtet, gefolgt vom Hippokampus und den übrigen neokortikalen Arealen des Temporallappens. Hierdurch erklärt sich das zumeist frühe Leitsymptom der AD, ein zunehmender Verlust des Kurzzeitgedächtnisses. Bislang steht noch kein Biomarker zur Verfügung, mit dem eine spezifische AD-Diagnose vor dem Tode möglich wäre. Gemäß ICD-10 ist die Alzheimer-Krankheit eine „primär degenerative zerebrale Krankheit mit unbekannter Ätiologie und charakteristischen neuropathologischen und neurochemischen Merkmalen. Sie beginnt meist schleichend und entwickelt sich langsam aber stetig über einen Zeitraum von mehreren Jahren.“ Durch den klinischen Ausschluss anderer primärer oder sekundärer Demenzformen und unterstützt durch detaillierte neuropsychologische Ver- ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 15⏐ ⏐ 14. April 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐ M E D I Z I N laufsuntersuchungen in spezialisierten Einrichtungen (Gedächtnissprechstunde, beziehungsweise „memory clinic“) kann eine AD-Diagnose zu Lebzeiten in circa 90 Prozent der Fälle korrekt gestellt werden. Epidemiologie und Risikofaktoren In Folge der demographischen Entwicklung wird die Häufigkeit der AD in Deutschland von im Jahr 2002 geschätzten 590 000 bis 710 000 auf das etwa 2,5fache, also 1,475 bis 1,775 Millionen Fälle im Jahr 2050 zunehmen (2), wenn keine effiziente Behandlung oder Prophylaxe gefunden wird. Schätzungsweise weniger als 5 Prozent aller AD manifestieren sich vor dem 66. Lebensjahr und werden nach ICD10 als präsenile AD definiert („earlyonset AD“, EOAD). Die Prävalenz der so genannten senilen AD („lateonset AD“, LOAD) steigt exponenziell mit dem Alter von 0,7 Prozent (Frauen)/0,6 Prozent (Männer) in der Altersgruppe der 65- bis 69-Jährigen auf 23,6 Prozent (Frauen)/17,6 Prozent (Männer) bei den über 90-Jährigen (3) (Tabelle 1). Die bei Frauen im Vergleich zu Männern höhere LOAD-Prävalenz könnte durch die höhere mittlere Lebenserwartung von Frauen bedingt sein. Das Risiko für Frauen war in Inzidenz- und Zwillingsstudien gegenüber Männern statistisch nicht signifikant erhöht (4). Das Alter ist der Hauptrisikofaktor der LOAD. In Inzidenzstudien konnten bislang außerdem der Bildungsstand und das ε4-Allel des Gens für das Apolipoprotein E (Protein: apoE, Gen: APOE) als weitere Risikofaktoren der LOAD identifiziert werden. Die grundlegende Frage, ob ab einem bestimmten Alter jeder eine AD entwickeln würde, blieb bislang unbeantwortet. Genetik Eine positive Familienanamnese für LOAD weist auf die Möglichkeit eines genetischen Risikofaktors für LOAD hin. Bei häufigen Krankheiten – an- Erkrankungsbeginn (vor 60. Lebensjahr) und eine positive Familienanamnese für frühmanifeste Demenzen auf. In diesen Fällen kann es sich um die autosomal-dominant erbliche, familiäre AD (FAD) handeln. Die FAD wird durch Einzelgenmutationen in einem der Gene für Amyloidvorläuferprotein (APP), Präsenilin 1 (PSEN1) oder Präsenilin 2 (PSEN2) verursacht. Das Transmembranprotein wird physiologischerweise enzyLOAD und FAD lassen sich matisch gespalten entweder innerhalb der Aβ-Domäne (Aβ; nur mit molekuargenetischen grau) durch eine so genannte α-Sekretase (α) oder alternativ durch die β-Sekretase (β) und abschließend die γ-Sekretase Methoden und anhand der (γ). Das für die Alzheimer-Pathologie relevante Aβ-Fragment Familienanamnese unterscheikann nur durch den β-/γ-Sekretase-Weg gebildet werden. Die den (Tabelle 2). γ-Schnittstelle innerhalb der Transmembrandomäne von APP Bei den meisten Personen ist variabel. Spaltung in der γ42-Schnittstelle führt zum bemit Down-Syndrom (Chrosonders amyloidogenen Aβ42. Die Lokalisation pathogener FAD-Mutationen ist mit einem Stern markiert. Alle bekannten mosom-21-Trisomie) werden APP-Mutationen befinden sich in der Nähe der Sekretasebereits in einem Alter zwiSchnittstellen. schen 30 und 40 Jahren fortgeschrittene, AD-typische hiSchematische Darstellung des Amyloid-Vorläuferprotestopathologische Veränderunins (APP) gen des Gehirns beobachtet (5). Offenbar ist hier die erhöhte Gendosis und die Tabelle 1 1 dadurch erhöhte Expression Mittlere altersspezifische Prävalenz und jährliche von APP, das auf ChromoInzidenz der AD in Europa som 21 lokalisiert ist, verurPrävalenz (%) Inzidenz (%) sachend. Alter Männer Frauen Männer Frauen Alle bisher bekannten genetischen Faktoren der AD 65–69 0,6 0,7 0,09 0,22 sind mit einer erhöhten Bil70–74 1,5 2,3 0,3 0,38 dung von Aβ42 assoziiert – das heißt, einer verstärkt amy75–79 1,8 4,3 0,69 1,03 loidogenen Prozessierung des 80–84 6,3 8,4 1,48 2,73 APP (Tabelle 3). Dabei können offenbar unterschiedli85–89 8,8 14,2 2,42 4,15 che molekulare Funktions90+ 17,6 23,6 2,00 6,97 störungen einen amyloidogenen Prozess herbeigeführt 65+ 4,4 ⬃1 haben. Die erhöhte Expression von APP beim Down-Synders als bei den seltenen monogenen drom ist bereits pränatal mit einer Krankheiten – kann eine in einer Fa- chronisch gestörten Prozessierung des milie auftretende Häufung der Er- APP im Sinne einer erhöhten Sekrekrankung auch durch Koinzidenz zu- tion von Aβ42 assoziiert (6). Möglistande gekommen sein. Die publizier- cherweise ist der α-Sekretase-Prozeste Datenlage und die im Einzelfall in sierungsschritt, der natürlicherweise der Regel unsichere Anamnese hin- vor amyloidogener APP-Prozessierung sichtlich des Demenztyps bei verstor- schützt, gegenüber dem erhöhten Subbenen Vorfahren erlaubt bislang je- stratangebot, das heißt, der erhöhten doch keine exakte Risikoabschätzung APP-Menge, nicht anpassungsfähig für Nachkommen von Patienten mit oder blockiert. Hier könnte auch ein LOAD. Etwa 0,5 Prozent der AD-Pati- möglicher Erklärungsansatz zum Verenten fallen durch einen sehr frühen ständnis der LOAD sein, auch wenn Grafik 1 ´ ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 15⏐ ⏐ 14. April 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐ A 1011 M E D I Z I N die verstärkt amyloidogene Prozessierung von APP in Assoziation mit APOE ε4 bislang unverstanden ist. Alle Punktmutationen in APP, die bei einer Form der FAD (AD1) vorkommen, liegen auffälligerweise in der Nähe der α-, β-, oder γ-SekretaseSchnittstellen (Grafik 1). Hier kommt es durch die mutationsbedingten Strukturänderungen zu einer verstärkt amyloidogenen Prozessierung von APP, also einer Erhöhung des Quotienten Aβ42/Aβ40. Bei den beiden anderen FAD-Formen (AD3, AD4) werden Mutationen in Präsenilin 1 oder Präsenilin 2 gefunden. Die Präseniline bilden die enzymatisch aktive Komponente der γ-Sekretase. Ohne die Präseniline kann kein β-Amyloid gebildet werden (7). Die FAD-Mutationen in APP, dem Substrat der γ-Sekretase, wirken sich offenbar in der gleichen Art und Weise aus wie die Mutationen im Enzym selbst. ein Anstieg des Lebenszeitrisikos für LOAD auf 13 bis 16 Prozent, also auf das 1,5- bis 2fache des Risikos der Durchschnittsbevölkerung, erwartet werden. Das Lebenszeitrisiko für Alzheimer-Demenz gibt das kumulative Risiko an, in den noch verbleibenden Lebensjahren zu erkranken. Daher ergeben sich für jüngere Probanden im Vergleich zu älteren Probanden tendenziell höhere Werte (Tabelle 4). Zwillings- und Familienstudien weisen also auf einen substanziellen, wenn auch nicht präzise benennbaren Anteil genetischer Faktoren am LOAD-Risiko hin. Es ist bemerkenswert, dass bei der Liste verifizierter Risikofaktoren der Alzheimer-Demenz bisher im Wesentlichen genetische Faktoren identifiziert und bestätigt werden konnten. ´ nierten Betrachtung der beiden Polymorphismen resultierenden häufigen Haplotypen kodieren für die drei genannten Isotypen ε2 (C112_C158), ε3 (R112_C158) und ε4 (R112_R158). Evolutionär betrachtet entwickelte sich aus einer ursprünglichen, dem ε4-Allel ähnlichen Sequenz, die ε3-Sequenz, aus der zuletzt ε2 hervorging. Die Frequenz der drei häufigen APOEAllele variiert weltweit. In allen bislang untersuchten Populationen ist das ε4-Allel mit erhöhtem LOAD-Risiko assoziiert, wobei hinsichtlich des Ausmaßes der Assoziation ethnische Unterschiede bestehen (19). Bei Mitteleuropäern ist bei APOE-ε4-positivem Genotyp gegenüber APOE-ε4-negativem Genotyp mit einem Anstieg des Lebenszeitrisikos für LOAD auf das 1,7- bis 2,4fache zu rechnen (Tabelle 4). Entsprechend liegt im Vergleich zu Tabelle 2 2 Zwei Alzheimer-Demenz-Typen, eine Histopathologie LOAD FAD Genetik der LOAD Ätiologie multifaktoriell, sporadisch Einzelgenmutation, autosomal dominant erblich In Zwillingsstudien zeigte sich hinsichtlich der LOAD eine deutlich höhere, teilweise verdoppelte Konkordanzrate bei eineiigen (MZ) im Vergleich zu der Konkordanzrate bei zweieiigen (ZZ) Zwillingen. Nach vorläufigen Schätzungen der Longitudinalbeobachtung der Probanden der Zwillingsstudie des „National Academy of Sciences – National Research Council Registry of Aging Twin Veterans“ könnten additive genetische Effekte zu circa 37 Prozent, gemeinsame Umweltfaktoren zu etwa 35 Prozent und individuelle Faktoren zu ungefähr 28 Prozent für die Varianz des Manifestationsalters einer AD verantwortlich sein (14). Eine jüngere, schwedische Zwillingsstudie zur Inzidenz der LOAD bei 662 Probandenpaaren im Alter zwischen 52 und 98 Jahren ermittelte einen Schätzwert von 48 Prozent hinsichtlich des Beitrags genetischer Faktoren am LOAD-Risiko (15). Nach kritischer Wertung der sehr uneinheitlichen Datenlage der epidemiologischen Literatur zur AD kann bei positiver Familienanamnese für LOAD Demenzbeginn ⬃ 95 % der Fälle > 64 Jahre < 61 Jahre Familienanamnese 10–20 % der Fälle positiv für LOAD positiv für EOAD Prozent aller AD > 95 ⬃ 0,5 Gesamtprävalenz ⬃ 1:100 0,5–1:10 000 Wichtige Differenzialdiagnosen – vaskuläre Enzephalopathie – Frontotemporaldemenz – Demenz bei M. Parkinson – Lewy-Körperchen-Erkrankung – sporadische Creutzfeldt-JakobErkrankung – Frontotemporaldemenz (⫾) – Parkinsonismus (FTDP17) – erbliche Prionerkrankung – Chorea Huntington – spinozerebelläre Ataxie Typ 17 (SCA17) A 1012 LOAD, late-onset Alzheimer disease (senile Alzheimer-Demenz); FAD, erbliche, familiäre Alzheimer-Demenz; EOAD, early-onset Alzheimer disease APOE und LOAD Von APOE kommen in der Bevölkerung drei häufige allelische Varianten vor, benannt nach den durch sie kodierten, in der Proteinelektrophorese unterscheidbaren Isotypen, ε2, ε3 und ε4. Die Allele unterscheiden sich in C¨T Substitutions-Polymorphismen der jeweils ersten Base der Codons 112 und 158, jeweils mit der DNA-Sequenz CGC (für Arginin, R) oder TGC (für Cystein, C). Die aus der kombi- ε3/ε3-homozygoten Personen bei ε4Heterozygoten die „odds ratio“ für AD zwischen 1,8 und 3 und bei ε4/ε4Homozygoten zwischen 6 und 15. Das ε2-Allel wirkt protektiv gegenüber der LOAD (20), wodurch sich bei ε4-negativen Trägern des ε2-Allels eine „odds ratio“ von ~0,5 ergibt. 50 bis 60 Prozent mitteleuropäischer LOAD-Patienten, aber auch 20 bis 30 Prozent nichtdementer gleichaltriger Kontrollprobanden tragen ein oder zwei APOEε4-Allele. Auf Populationsebene sind ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 15⏐ ⏐ 14. April 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐ M E D I Z I N ´ Tabelle 3 3 Gene mit Bezug zur Alzheimer-Demenz-Pathologie Gen Protein chromosomale Lokalisation Phänotyp OMIM-Nr. Klassifikation Risikofaktor vermuteter Pathomechanismus Erstbeschreibung APOE apoE 19q13.2 LOAD, sporadische AD 104310 AD2 4-Allel unbekannt; A42/A40 ↑ (8) APP APP 21q21 Down-Syndrom 190685 überzählige Kopie von APP APP-Expression ↑; A42/A40 ↑ (9) FAD (+CAA) 104760 AD1 APP-Prozessierung beeinträchtigt; A42/A40 ↑ (10, 11) 607882 AD3 606889 AD4 veränderte Struktur/ Funktion der ␥-Sekretase; A42/A40 ↑ (12) PSEN1 PS1 14q24.3 FAD PSEN2 PS2 1q31–a42 FAD MissenseMutationen (13) Online Mendelian Inheritance in Man (www.ncbi.nlm.nih.gov/entrez/query.fcgi?db=OMIM); LOAD, late-onset Alzheimer disease; FAD, erbliche, familiäre Alzheimer-Demenz; CAA, zerebrale Amyloid-Angiopathie 10 bis 20 Prozent aller LOAD auf das ε4-Risikoallel von APOE zurückzuführen. Trotz der statistisch belegten, deutlichen Assoziation zwischen LOAD und APOE ε4 ist also ein substanzieller Anteil der nichtdementen älteren Bevölkerung APOE-ε4-positiv und ein relativ noch größerer Anteil der LOAD-Patienten APOE-ε4negativ. Daher wird die Existenz noch weiterer Risikoallele anderer Gene vermutet. In hunderten von Studien konnte bislang jedoch kein Risikoallel für LOAD in einem der über 150 in dieser Hinsicht untersuchten Gene verifiziert werden (21) (http://geneticassociationdb.nih.gov/cgi-bin/index.cgi). Genetik der FAD Die FAD kommt in der Bevölkerung mit einer geschätzten Häufigkeit von circa 5 bis 10 auf 100 000 Einwohner vor (22) und ist damit ähnlich selten wie andere monogen erbliche Erkrankungen, wie beispielsweise die Chorea Huntington. Die bisher molekular geklärten Formen der FAD, AD1, AD3 und AD4 (Tabelle 3) sind autosomal-dominant erblich. Entsprechende Familien sind durch die regelhafte Weitergabe der Erkrankung durch Betroffene von Generation zu Generation charakterisiert (Grafik 2). Erkrankungsverursachend bei AD1, AD3 und AD4 wirken jeweils heterozygote Mutation in den entsprechenden Genen APP, PSEN1 oder PSEN2. Bislang sind in diesen Genen 185 verschiedene Mutationen in insgesamt 388 Familien weltweit molekulargenetisch beschrieben (Tabelle 5). In 81 Prozent dieser Familien liegen Mutationen in PSEN1 vor, in 15 Prozent der Familien in APP und nur in 4 Prozent in PSEN2. Neben den jüngst bekannt gewordenen APP-Duplikationen in einigen FAD-Familien (10) handelt es sich bei den pathogenen Mutationen in APP, PSEN1 oder PSEN2 überwiegend um Missense-Mutationen mit der Folge eines Einzelaminosäureaustausches. In PSEN1 sind außerdem wenige kleinere Insertionen oder Deletionen bekannt. Allen Mutationen ist gemeinsam, dass ein mutiertes Genprodukt entsteht, das für die Pathogenität verantwortlich scheint. Stopp-Mutationen oder andere Mutationen, die zum Verlust der Genexpression oder zu ei´ ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 15⏐ ⏐ 14. April 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐ ner Leserahmenverschiebung des Proteincodes führen, wurden in den drei Genen nicht gefunden. Noch unverstanden ist, wie sich die vielfältigen Mutationen in den Präsenilinen, also der enzymatischen Komponente der γSekretase gleichermaßen im Sinne einer Erhöhung der Synthese von Aβ42 auswirken. Der Nachweis einer pathogenen Mutation in einem der drei Gene bei einem Patienten mit frühmanifester Demenz gilt als Diagnosebestätigung. Für einen kleinen Bruchteil (~0,5 Prozent) aller AD-Patienten existiert also ein diagnostischer Biomarker. Bei der überwiegenden Mehrzahl der pathogenen Mutationen in PSEN1 (AD3) und den Mutationen in APP (AD1) ist von einer kompletten Penetranz der FAD auszugehen. Die Phänotyp-Variabilität bei den bisher bekannten wenigen Mutation in PSEN2 ist sehr hoch, und es wurden wiederholt ge- Tabelle 4 4 Lebenszeitrisiko für LOAD Alter, Risikofaktor Frauen Männer Referenz ab 65 12 % 6,3 % (16) ab 65, positive Familienanamnese ab 55*2 ab 55, APOE 4-positiv*1 13–16 %*1 20 % 8% 33 % 19 % (16, 17) (18) *1 Daten aus den genannten Referenzen extrapoliert *2 Circa 72 % aller erfassten Demenzen in der Studie (18) von Slooter et al. (1998) waren AD; die hier genannten Risikoschätzungen wurden entsprechend extrapoliert A 1013 M E D I Z I N Grafik 2 Bei den mit Pfeil markierten Personen wurde mittels molekulargenetischer Diagnostik jeweils eine MissenseMutation für N135S im Präsenilin-1-Gen (PSEN1) nachgewiesen (26). Das geschätzte Manifestationsalter der Demenz der noch lebenden betroffenen Familienmitglieder ist jeweils unten links vom Symbol angegeben, das aktuelle Alter oder Sterbealter oben links. Verstorbene sind durch Schrägstrich markiert. Runde Symbole entsprechen Frauen; quadratische Symbole Männern. Zahlen in den Rauten, welche die zwischen sieben und 24 Jahre alten Nachkommen der jüngsten Generation (IV) symbolisieren, geben die Zahl der Kinder an. Typischer Stammbaum einer Familie mit Vorkommen von FAD (schwarz ausgefüllte Symbole) in drei aufeinander folgenden Generationen (I–III) in Folge der autosomal-dominanten Vererbung der Erkrankung ´ Tabelle 5 5 Pathogene Mutationen in FAD-Genen*1 Gen pathogene Missense-Mutationen betroffene Aminosäurecodons beschriebene Familien APP 17/5 dup 12 60 (15,4 %) PSEN1 155 97 313 (80,7 %) PSEN2 8 7 15 (3,9 %) Gesamt 185 388 (100 %) *1 www.molgen.ua.ac.be; dup, Duplikationen sunde, über 60-jährige Mutationsträger beschrieben. Hier besteht eventuell eine inkomplette Penetranz. Molekulargenetische Diagnostik und genetische Beratung Aufgrund der gesicherten Assoziation der LOAD mit APOE ε4 ist die APOEGenotypisierung ein unerlässliches Instrument in der klinischen Alzheimerforschung. Eine APOE-Genotypisierung im Rahmen einer LOAD-Routinediagnostik kann jedoch nicht empfohlen werden: Der Genotyp ist nicht diagnosebeweisend und hat bislang keine spezielle therapeutische oder A 1014 prophylaktische Konsequenz. Besonders kritisch zu werten wäre eine eventuell präsymptomatische Genotypisierung von APOE, wie sie teilweise auch kommerziell angeboten wird. Da 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung trotz positivem APOE-ε4-Trägerstatus keine LOAD bekommen und 40 bis 50 Prozent der LOAD-Patienten APOE-ε4negativ sind, würde eine präsymptomatische Genotypisierung von APOE bei einem Großteil der Fälle falsche Verunsicherung erzeugen oder Sicherheit vortäuschen. Hinzu kommt, dass ohne konkreten medizinischen Nutzen eventuell Kenntnis über den APOE-Genotyp bei Kindern erlangt wird: Alle Kinder homozygoter APOE-ε4-Träger und 50 Prozent der Nachkommen heterozy- goter APOE-ε4-Träger tragen mindestens ein ε4-Allel. Bei AD-Patienten mit Demenzmanifestation vor dem 60. Lebensjahr (EOAD) und einer positiven Familienanamnese für frühmanifeste Demenz mit Manifestation vor dem 60. Lebensjahr könnte eine molekulargenetische FAD-Diagnostik erwogen werden. Die klinische Diagnose sollte in Zusammenarbeit mit einer Gedächtnissprechstunde erarbeitet werden. Das Vorliegen einer postmortalen histopathologischen Diagnosesicherung beim betroffenen Elternteil erhöht die Erfolgsaussicht einer molekulargenetischen FAD-Diagnostik. Eine positive Familienanamnese für spätmanifeste Demenz ist kein Kriterium, um bei einer einzelnen EOAD in der Familie den dringenden Verdacht einer FAD zu rechtfertigen. Nur die positive Familienanamnese für frühmanifeste Demenz und ein formalgenetisch möglich erscheinendes autosomal-dominantes Vererbungsmuster in der Familie erlaubt bei einer entsprechenden Klinik die Verdachtsdiagnose einer FAD. In diesen Fällen liegt die Erfolgsaussicht der molekulargenetischen Diagnostik bei einem Erkrankten zwischen 46 und 79 Prozent (10, 23–25). Hierbei werden zunächst die Exons 16 und 17 von APP und die kodierenden Bereiche von PSEN1 nach PCR-Amplifizierung von DNA aus einer Blutprobe des Patienten sequenziert. Sofern keine Mutation gefunden wird, kann die Analyse von PSEN2 erwogen werden. Wegen der großen Seltenheit der PSEN2-Mutationen sollte hier auch eine molekulargenetische Differenzialdiagnostik diskutiert werden, sofern bislang in der Familie keine histopathologischen Befunde vorliegen, die auf eine FAD hinweisen. Die wichtigsten differenzialdiagnostisch in Betracht kommenden Erkrankungen sind in der Tabelle 2 aufgelistet und sämtlich einer molekulargenetischen Diagnostik zugänglich. Wenn aufgrund der Familienanamnese und/oder des molekulargenetischen Untersuchungsbefundes eine klassische FAD mit kompletter Penetranz anzunehmen ist, besteht für Kinder von Betroffenen eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, ebenfalls die FAD-verursachende Genveränderung ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 15⏐ ⏐ 14. April 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐ M E D I Z I N zu tragen und im Laufe des Lebens zu erkranken. Daher sollte vor einer Testung der familiäre Kontext des – in der Regel dementen – Patienten eruiert werden. Es muss vorab geklärt sein, mit welchem Angehörigen das Untersuchungsergebnis besprochen werden könnte. Angehörige mit eventuellem FAD-Risiko sollten vor einer Testentscheidung informiert werden. Auch innerhalb einer Familie kann bei Patienten mit der identischen Mutation das Manifestationsalter um einige Jahre variieren. Bei den meisten Mutationen beträgt dieses Zeitfenster vermutlich weniger als zehn Jahre. Jeder Mutationsbefund erfordert jedoch eine aktuelle Literatur- und Datenbankrecherche für eine präzise genetische Familienberatung hinsichtlich der Expressionsvariabilität und des erwarteten Zeitfensters für das Manifestationsalter bei Mutationsträgern. Wenn die Mutation beim betroffenen Elternteil bekannt ist, könnte durch eine präsymptomatische Testung bei Nachkommen das Risiko von a priori 50 Prozent je nach Befund auf 100 Prozent oder als nicht erhöht präzisiert werden. Die präsymptomatische Diagnostik bei FAD ist mit einem erheblichen Konfliktpotenzial verbunden. Eine Testung von Minderjährigen ist nicht zulässig. Eine Pränataldiagnostik wäre ebenso problematisch und würde im positiven Falle zwangsläufig und in der Regel präsymptomatisch das Risiko des übertragenden Elternteiles erkennen lassen. Hinzu kommt die ethische Problematik möglicher Konsequenzen aus einem positiven Testergebnis. In vielen Fällen herrscht wegen der Dramatik des Krankheitsbildes und der unbefriedigenden therapeutischen Möglichkeiten bei Angehörigen von Betroffenen große Sorge und Unsicherheit hinsichtlich einer möglichen Erblichkeit der Erkrankung. Hier kann eine den aktuellen Stand der Forschung mitberücksichtigende humangenetische Beratung und verbindliche Beurteilung erforderlich und hilfreich sein. Familien sollten auf das ihnen zustehende Angebot einer genetischen Beratung hingewiesen werden. Manuskript eingereicht: 8. 6. 2005, revidierte Fassung angenommen: 15. 8. 2005 A 1016 Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht. ❚ Zitierweise dieses Beitrags: Dtsch Arztebl 2006; 103(15): A 1010–6. Literatur 1. Mahlberg R, Gutzmann H: Diagnostik von Demenzerkrankungen. Dtsch Arztebl 2005; 102(28–29): 2032–9. 2. Nickel H: Epidemiologische Aspekte: Gegenwärtiger Stand und künftige Entwicklung von Demenzerkrankungen. ForumTTN 2004; 11: 23–35. 3. Lobo A, Launer LJ, Fratiglioni L et al.: Prevalence of dementia and major subtypes in Europe: A collaborative study of population-based cohorts. Neurologic Diseases in the Elderly Research Group. 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A40 oder A42, bestehend aus 40 bzw. 42 Aminosäuren APP: „amyloid precursor protein“; -Amyloidvorläuferprotein ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 15⏐ ⏐ 14. April 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐