neumond - Mozart Ways

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Lucia Ronchetti / Kristo Šagor (Text)
NEUMOND
Die Macht des Mondes
Lucia Ronchetti / Kristo Šagor (Text)
NEUMOND
Der Mond umkreist einmal im Monat die Erde, diese wiederum umkreist die Sonne.
Dabei steht der Mond ständig in einem anderen Winkel zu Erde und Sonne und wird
vom Sonnenlicht immer wieder unterschiedlich beschienen. Der Mond ändert also
ständig seine Gestalt. Wenn man ihn ihn gar nicht sehen kann, spricht man von
­Neumond.
Wenn man sich die Welt ohne künstliche Lichtquellen (Stadt, elektrischer Strom, Beleuchtung von Fahrzeugen und Straßen, Feuer) vorstellt, wird klar, wie sehr die Menschen vom Mondlicht – abhängig von Mondphasen und Bewölkung – beeinflusst werden. So wie die Sonne den Tag bestimmt, so regieren der Mond und seine Phasen in
der Nacht. Er übt wahrscheinlich eine größere Macht auf das Leben der Menschen
aus, als viele glauben. Zwischen den Mondphasen und bestimmten Lebenssituationen
wird häufig ein Zusammenhang hergestellt. So soll der Stand des Mondes unter anderem Auswirkungen auf den Schlaf, die Unfallhäufigkeit, auf Komplikationen bei Operationen und Geburten, auf den Menstruationszyklus oder auch auf das Haarwachstum haben.
Als Neumond ist der Mond von der Sonne unbeschienen und geht überdeckt vom atmosphärischen Himmelsblau nahe der Sonne mit dieser ­unter (manchmal kann er jedoch die Sonne abdecken und eine ­Sonnenfinsternis auslösen). Es scheint als ob sich
der Mond in diesem Moment »erneuert«. Der Neumond ist vor allem in der Astrologie,
der Sterndeuterkunst, ein Symbol für den Neuanfang. Demnach stirbt der Mond, geht
in das Paradies der Sonne ein und wird schließlich wiedergeboren. Die Menschen vieler Kulturen betrachteten und betrachten das Wiederauftauchen der Mondsichel als
besonderes Ereignis.
Kammeroper für junges Publikum
nach W. A. Mozarts Zauberflöte von Lucia Ronchetti
Text von Kristo Šagor
Auftragswerk des Nationaltheater Mannheim
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne und Kostüme
Licht
Dramaturgie
Joseph Trafton
Christian Pade
Alexander Lintl
Ronny Bergmann
Anselm Dalferth
Muriel
Magdalind
Jasper
Frederik
Sophie Sauter
Antje Bitterlich
Benedikt Nawrath
Benedikt Kauff
Stimmen
Georg Gädker Bariton
Magnus Piontek Bass
Timo Schabel Tenor
Mitglieder des Orchesters des Nationaltheater Mannheim
Nacht. Abnehmender Mond. Eine der Männerstimmen.
Muriel
Und ich überleg die ganze Zeit, welches coole Hobby ich haben könnte.
Parkour, quer über die Dächer in der Oststadt. Oder Apnoetauchen, zu
irgendwelchen Kleinstlebewesen, Krill. Und ich überleg die ganze Zeit,
welche coole Überzeugung ich haben könnte. Keine Tiere mehr essen.
Oder für die Anerkennung künstlicher Intelligenz als Bürger eintreten.
Oder beides. Mit mir im Reinen. Für die anderen Wut und Verachtung
oder distanzierten Humor oder beides. Und ich überleg die ganze Zeit,
welchen coolen Beruf ich mir selbst ausdenken könnte. Und überleg: von
Beruf ich sein. Dafür bezahlt werden, ich zu sein. Keine Fortbildungen,
kein Bewerbungsverfahren, einfach ich. Wer bezahlt mich dafür, ich zu
sein? Keiner. Eben. Scheiße.
(Neumond, Szene 3)
Musiktheaterpädagogik: Susanne Mautz · Musikalische Assistenz: Philippe Adam,
Neue Musikalische Einstudierung: Francesco Damiani, Keiko Ogawa · Regieassistenz:
Friederike Hartung · Bühnen- und Kostümassistenz: Tessa-Veronika Janus · Inspizienz:
Geertje Gardner · Maske:??? · Technik: Jan Parzonka · Produktionsleitung: Alexander
Bauer · Studienleitung: Stephen Marinaro · Videoeinrichtung: Regina Hess · Beleuchtungseinrichtung: Damian Chmielarz
Die Ausstattung wurde in den Werkstätten des Nationaltheater Mannheim angefertigt.
Technischer Direktor: Christian de la Rosée · Leiterin der Beleuchtung: Nicole Berry ·
Leiter der Kostümabteilung: Manfred Scholz · Chefmaskenbildner: Harald Klute · Leiter
des Ateliers: Thomas Busse · Leiterin der Dekorationsabteilung: Regina Silbereis · Leiter der Schreinerei: Lothar Karepin · Leiter der Schlosserei: Bernd Oberle · Leiterin der
Requisite: Stefanie Durstberger
Rechte: Rai Trade · Nationaltheater Mannheim, 233. Spielzeit 2011/2012 · Eigenbetriebsleitung: Lutz Wengler (kommissarisch) · Direktoren der Jungen Oper: Andrea Gronemeyer, Klaus-Peter Kehr · Illustration: Tanja Jacobs · Probenfotos: Christian Kleiner
Die Junge Oper wird präsentiert von MVV Energie.
Uraufführung am 1. Juli 2012
Nacht. Neumond. Fieber. Alle sind gekommen, aber keiner ist da, stehen
mit dem Rücken zu ihr und singen mit.
Muriel
Ich bin gar nicht ich. Ich bin kein Ganzes. Fängt damit an, daß die Poren
­offen sind und Wasser aus mir rausdampft. Daß ich atme und mich in
den Atem verliere. Ab wann gehört der Wasserdampf nicht mehr zu mir?
Ab wann sind die Pisse und die Scheiße in mir nicht mehr ich, sondern
eben nur Pisse und Scheiße? Und der Kopf? Noch schlimmer: Ich bin ein
Parlament, und die Parteien in mir, die widersprechen sich ständig. Ich
bin Kläger und Angeklagter auf einmal, bin Anwalt und Zeuge beider
Parteien, bin Richter und verführbar johlende Menge. Hört das
irgendwann auf? Kennt sich da einer aus? Ich kapier die
Zusammenhänge, ja, aber daß ich sie kapiere, hilft mir nicht. Und daß
ich das kapiere, hilft mir auch wieder nicht. Und so weiter: Hilft mir
nicht, hilft mir nicht, hilft mir alles nicht, und plötzlich kippt da
irgendwas, plötzlich macht da was ‚Klick’, macht da was ‚Bang’, und dann
es hilft eben doch, und ich bin gereinigt, und ich bin klar, und es war ein
Zaubertrick, den ich mir selber mache, ich lecke mein eigenes Fell wie
eine Katze, ich spiele den Ball, mitten in mein Mitte rein: ‚Einmal eine
einfache Fahrt, bitte. Rückfahrt kauf ich später.’ Und das erste Mal ist es
nicht gegen wen anders, sondern für mich. Ich muß nicht mehr
weglaufen, ich bin schon da. Bin noch gar nicht richtig ausgebrochen,
aber schon angekommen, schon da. Das wars jetzt schon, oder wie?
Glaub ich nicht. Jetzt doch, oder was? Soll ich dankbar sein? Oder soll
ich schreien?
(Neumond, Szene 13)
www.nationaltheater-mannheim.de
»Einfach ich sein«
Zum Inhalt von Neumond
»Ich sein« - das klingt einfach, klar und logisch. Was denn sonst? Aber wenn man etwas genauer hinguckt, dann merkt man: Eigentlich ist das ganz schön schwer, ganz
schön viel verlangt: Wie muss ich wohl »ich sein«, damit ich am besten ich bin!?
In Neumond versucht Muriel dieses Rätsel zu lösen und ihre Freunde Frederik und
Jasper wissen ebenfalls nicht so recht wie sie sein wollen oder sollen. Vor allem weil
da auch noch die oft anstrengenden Hoffnungen und Wünsche derer sind, die es doch
»nur gut meinen« und einem »nur das Beste« ermöglichen wollen: Eltern, Trainer, Lehrer.
Bei Muriel ist es ihre Mutter Magdalind, die das Leben der Tochter stark beeinflusst.
Sie ist körperlich behindert und alleinstehend, deswegen hat nicht nur sie eine große
Verantwortung für Muriel, sondern auch Muriel eine besondere Verantwortung für ihre
Mutter. Aber die Wünsche der Mutter machen ihr Angst und verfolgen sie bis in den
Schlaf, in dem sie dann manchmal skurrile Alpträume erlebt. Dabei hat Muriel in ihrem eigenen Leben genug Probleme. Welches Hobby sollte man haben? Welchen Beruf
soll sie später mal machen? Wie liebt man richtig und wie macht man richtig Liebe? Ist
sie in Frederik verliebt oder in Jasper, den sie schon seit Ewigkeiten kennt? Oder in
keinen von beiden? Fragen über Fragen – und die beiden Jungs sind auch nicht eindeutig in ihren Gedanken. Frederik, der nachts manchmal Pornos guckt, scheint nur
das eine Ziel zu haben: Als Schwimmer zu den deutschen Meisterschaften. Er findet
seinen Vater toll, der ihn trainiert, aber irgendwann bemerkt er, dass es nicht mehr
klappt mit ihm und seinem Dad. Er muss raus. Und Jasper, der gerne immer genau
wüßte, was als nächstes passiert, der immer einen Plan haben will und die Strategien
seiner Eltern bewundert, tut sich schwer damit, seine Gefühle zu erkennen. Geht es
darum, den Vorstellungen anderer zu entsprechen oder darum, die eigenen Interessen
zu verfolgen?
Diese Frage ist nicht neu: Auch der Komponist Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)
war sich unsicher. Er hatte ein kompliziertes Verhältnis zu seinem Vater, der sein Talent zwar sehr förderte – aber ihn manchmal auch überforderte. Und in einer der
Opern von Mozart, der Zauberflöte, wird die Tochter Pamina von ihrer Mutter, der Königin der Nacht, stark unter Druck gesetzt. Ihre »Liebe« – und darin ähnelt ihr die
Mutter Magdalind aus Neumond sehr – lässt die Tochter nicht frei, lässt sie nicht sie
selbst sein. In einer Szene der Oper, in der die Königin ihre so genannte »Rachearie«
singt, wird das besonders deutlich:
»Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen,
Tod und Verzweiflung flammet um mich her!
Fühlt nicht durch dich Sarastro Todesschmerzen,
So bist du meine Tochter nimmermehr. –
Verstoßen sei auf ewig und verlassen,
Zertrümmert alle Bande der Natur,
Wenn nicht durch dich Sarastro wird erblassen!
Hört! Rachegötter! Hört der Mutter Schwur!«
Die Mutter ist verzweifelt und verlangt, dass ihre Tochter zur Mörderin wird! Mit ihrem
Wunsch übt sie Druck auf Pamina aus. Doch sie erwartet zu viel von ihr. Pamina weigert sich und löst sich von ihrer Mutter.
Aus der Beschäftigung des Autors Kristo Šagor und der Komponistin Lucia Ronchetti
mit diesen Fragen des Erwachsenwerdens und mit der Zauberflöte ist Neumond entstanden. Viele musikalische Anklänge verbinden Mozarts Oper und das neue Musiktheater, das in einem ständigen Wechsel von Tag- und Nachtsituationen in das Leben
von Muriel, Jasper, Frederik und Magdalind hineinzoomt. Magdalind scheint, ähnlich
wie die Königin der Nacht, eng mit dem Mond verbunden, dem ja nachgesagt wird,
dass er in vielen Situationen das Leben der Menschen beeinflusst. Beide, Mond und
Mutter, nehmen als eine Macht von außen Einfluss auf das Leben von Muriel. Doch in
der Neumondnacht – gerade dann, wenn der Mond nicht leuchtet, sondern unsichtbar
bleibt – »kippt da irgendwas, plötzlich macht da was ‚Klick’, macht da was ‚Bang’«
(Szene 13) und Muriel versteht mit einem Male etwas besser, was das eigentlich bedeutet: »Ich sein«.
Die Sopranistin Antje Bitterlich studierte Gesang in Essen und ist seit 2008 am Nationaltheater Mannheim engagiert, wo sie auch die Königin der Nacht singt. Als Magdalind sagt sie über ihre Tochter: »Muriel ist ein typisches 15-jähriges Mädchen: Nur
Jungs im Kopf. Ich wünschte mir so sehr, sie würde sich endlich mal entscheiden, was
sie mit ihrem Leben anfangen will.«
Die Sopranistin Sophie Sauter studierte Klavier und Gesang in Stuttgart und Karlsruhe, wo sie von 2009 – 2011 Mitglied des Opernstudios war. Als Muriel sagt sie über
ihre Mutter: »Meine Mutter hat keine Ahnung, was in mir vorgeht. Sie ist kalt wie ein
Kühlschrank, ruht sich auf ihrem Handicap aus und interessiert sich nur für sich selbst.«
Der Tenor Benedikt Nawrath kommt aus Heidelberg und studierte Gesang in Würzburg. Seit 2010 ist er am Nationaltheater Mannheim und singt hier sehr viele verschiedene Rollen. Er denkt über seine Rolle: »Jasper macht sich einen Plan, um so weit weg
wie möglich von seinen Eltern zu leben, hat aber keinen Plan, an Muriel ranzukommen.«
Der Schauspieler Benedikt Kauff kommt aus Mainz, studierte Schauspiel in Leipzig
und wohnt in Dresden, wo er in vielen Rollen auf der Bühne stand. Zu seiner Figur
meint er: »Frederik ist mutig. So schnell wie er mutig und selbstbewusst werden kann,
so schnell kann es damit aber auch wieder vorbei sein. Man sieht ihn dann auf der
­Suche nach seinem eigenen Leben.«
Impressum
Herausgeber: Nationaltheater Mannheim
233. Spielzeit 2011/2012 · Generalintendantin: Regula Gerber
Programmheft Nr. 191 Neumond von Lucia Ronchetti / Kristo Šagor (Text)
Uraufführung: 1. Juli 2012 im Studio · Redaktion und Textbeiträge: Anselm Dalferth
Layout: Michael J. Böhm · Druck: Concordia-Druckerei König oHG, Mannheim
Die Produktion NEUMOND wird gefördert durch die Europäischen Mozart Wege
im Rahmen des EU-Projekts Family Music
Die Junge Oper wird präsentiert von
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