Spektrum | Saufrech Erneut unter Verdacht: Achtundsechzig! Sind Kinder und Jugendliche frecher als früher? Die Klagen über die Altlasten der antiautoritären Erziehung werden in letzter Zeit wieder lauter. Meist sind sie unhistorisch. Die befreiende Kraft der 68er-Jahre wird unterschlagen und die Wirkung der Bewegung überschätzt. Die wahren Ursachen aktueller Probleme im Klassenzimmer kommen dagegen nicht zur Sprache. Ein paar historische Bemerkungen dazu. | Rudolf Isler Achtundsechzig heisst ein Buch von Oskar Negt aus dem Jahr 1995. Es ist sein Rückblick auf die 68er-Zeit, geschrieben «im Zorn und gegen das Vergessen». Zornig war Negt, weil viele, die sich selbst als 68er bezeichneten, vom «Opportunismus, der eigentlichen Geisteskrankheit der Intellektuellen», erfasst worden waren und nicht mehr zu wissen schienen, was sie Positives geleistet hatten. Erinnern wollte Negt, weil es für ihn nichts Bedrohlicheres geben kann als den Verlust gesellschaftlicher Erinnerungsfähigkeit. Eine lebendige Kultur und eine demokratische Gesellschaft, so glaubt er, sind nur existenzfähig, wenn sie pfleglich mit ihrem kollektiven Gedächtnis umgehen. Für den Erziehungswissenschaftler Negt gehört zum kollektiven Gedächtnis auch das Wissen über Pädagogik. Hier erstarkt in den letzten Jahren ein simples Denkmuster, das zu einer allgemeinen Wahrheit zu werden droht: Kinder und Jugendliche sind heute so frech, weil die 68er mit ihrer Pädagogik jede Disziplin zersetzt haben – eine Art Beleg für Negts Befürchtung, dass sich historisches Bewusstsein zurückbildet. Die Klage Vor gut drei Jahren schrieb Suzette Sandoz – freisinnige Nationalrätin, Rechtsprofessorin und Kolumnistin in der NZZ am Sonntag – unter dem Titel «Hoch lebe der versohlte Hintern!», dass die antiautoritäre Erziehung kolossal gescheitert sei. Es sei Zeit, die Zügel wieder anzuziehen und den Slogan aus dem Mai 68 «défendu de défendre» endlich rückgängig zu machen. Diese destruktive Doktrin habe sich seit damals in der Schule durchgesetzt und Tausende Kinder geschädigt. Die Schule habe die Disziplin zusehends abgeschafft: 6 ph I a kzente 1 /2 009 «Die kleinen Genies schwatzen während der Schulstunden, geben den Lehrern freche Antworten, machen ihre Hausaufgaben nicht» (NZZ am Sonntag, 27.3.05). Der Titel des Artikels war nicht ironisch gemeint. Der Text schliesst mit der Erkenntnis, dass mehr versohlte Hintern in der Vergangenheit manch eine Überwachungskamera in der Gegenwart obsolet gemacht hätten. Analoge Vorstellungen, dass Jugendliche mehr Härte, Drill und Disziplin bräuchten, sind Stammtischgut und als solches über alle Parteien verteilt. Politik damit wird aber eher auf der rechten Seite gemacht. Am Sonderparteitag vom letzten August hat sich der SVP-Präsident der Frage angenommen. Unter der Überschrift «Zurück zu Zucht das Tor zum Glück sei. Nach der Pervertierung des preussischen Disziplinbegriffs im Nationalsozialismus habe die 68er-Pädagogik mit ihrem Pendelschlag ins andere Extrem dieses Tor gewissermassen geschlossen. Mit ihrer völligen Beliebigkeit mache sie Erziehung unmöglich. Lehrer und Eltern sollten aber wieder den Mut haben, «Freude an der Macht zu bekennen [und] unbefangen von Disziplin und Gehorsam» zu sprechen (S. 61). Ein Kehrreim, kein neues Lied Zuerst muss daran erinnert werden, dass die Klage nicht neu ist. Die Denkmuster sind so alt wie die 68er selbst. Bereits die Zeitgenossen haben ähnliche Kritik geübt. Das von Monika Weber in dieser Nummer beschriebene Beispiel von Jeanne Hersch zeigt allerdings auch, dass solche Kritik durchaus differenzierter sein konnte, als sie es heute ist. Die erste wirkliche Breitseite gegen die antiautoritäre Bewegung kam in den 70erJahren aus dem Umfeld von Hermann Lübbe. Mit den beiden Kongressen «Ten- ’68 war eine Befreiung. Es fällt uns heute schwer, sich das Beengende der Welt der 50er- und 60er-Jahre vorzustellen. und Leistung im Unterricht» fasste die NZZ (24.8.08) das Referat von Toni Brunner zusammen: «Die Linken hätten nach 1968 bewährte Werte an den Schulen liquidiert, die Respektsperson Schulmeister sei zum Lehrerkumpel degradiert, Leistung schlechtgemacht und Disziplin verspottet worden.» Die Kuschelpädagogik habe katastrophal versagt, sie leiste Drogenproblemen, Verwahrlosung und Gewalt Vorschub. Es brauche eine konservative Wende zurück zur Leistungsschule mit Zucht und Ordnung. Aber auch pädagogische Publikationen stimmen in die Klage ein. Das aktuelle Beispiel ist Bernhard Buebs Streitschrift Lob der Disziplin. Hier macht einer schon auf dem Klappentext klar, dass Disziplin denzwende?» (1974) und «Mut zur Erziehung» (1978) versuchte eine Gruppe um den Zürcher Philosophieprofessor einen neokonservativen Umschwung herbeizuführen und die aus ihrer Sicht verderblichen Entwicklungen der vorangegangenen Jahre rückgängig zu machen. Neun Thesen zum zweiten Kongress bilden den Kern einer Pädagogik des Neokonservatismus. Als Beispiel sei die dritte zitiert: «Wir wenden uns gegen den Irrtum, die Tugenden des Fleisses, der Disziplin und der Ordnung seien pädagogisch obsolet geworden, weil sie sich als problematisch und missbrauchbar erwiesen haben. In Wahrheit sind diese Tugenden unter allen politischen Umständen nötig. (kursiv RI)» Sukkurs erfuhren Lübbes Be- mühungen durch Publikationen von Wolfgang Brezinka und Christa Meves, die in die gleiche Richtung zielten. Der Tenor war eindeutig: für Gehorsam gegenüber Eltern, Kirche und Staat und gegen Ungehorsam, Protest und Kritik, für Disziplinierung, Fleiss und Überstunden und gegen lockere Mentalität, Freizeit und Urlaub usw. Seit den 70er-Jahren bricht der Strom von pädagogischen und pseudopädagogischen Publikationen, die analog argumentieren, nicht ab. Selbst wenn es sich um interessante und brauchbare Anregungen für Classroom Management handelt, wie das zum Beispiel bei den Büchern des Erfolgsaustors Jochen Korte der Fall ist, so bleibt das Grundmuster doch erkennbar: Die 68er haben uns Autorität und Disziplin zerstört, und wir müssen jetzt schauen, dass das Pendel der Geschichte wieder stärker auf die andere Seite ausschlägt. Soziale und kulturelle Befreiung Die Vorstellung von Arnold Toynbee, dass sich die Geschichte pendelartig bewegt, hat auf den ersten Blick etwas Einleuchtendes. Sie hat aber den Nachteil, dass sie zu mechanistisch ist: Ein Pendel kehrt zu seinem Ausgangspunkt zurück. Und genau das wollten und wollen heute die Vertreter einer neokonservativen Pädagogik. Die Geschichte aber bewegt sich nie an den Punkt zurück, an dem sie vorher war – und das ist mindestens im Fall der 68er-Zeit auch gut so. ’68 war eine Befreiung. Es fällt uns heute schwer, sich das Beengende der Welt der 50er- und 60er-Jahre vorzustellen. Statt diese Welt zu beschreiben, die in ihren politischen Strukturen und im sozialen Nahraum in hohem Mass autoritär, verkrampft, gehemmt und unfrei war, reicht ein Blick auf das Bild der Party aus dem Jahr 1961. Wer wollte heute vorwärts in eine solche Zukunft, die in Wirklichkeit Vergangenheit ist? Die Angst der Kinder vor den Lehrern und Lehrerinnen ist heute viel kleiner als vor 50 Jahren. Die Studierenden trauen sich, Professoren anzusprechen. Das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern ist weniger belastet. Die Geschlechter gehen natürlicher miteinander um. Wenn ich heute jemandem erzähle, dass ich von 1965 bis 1971 in Zürich das öffentliche Gymnasium besuchte und dass es wie alle Gymnasien geschlechter- Party mit Telefunken Grossraum­truhe 1961 getrennt war, ist Erstaunen die Reaktion – ja, sogar Kopfschütteln, denn junge Frauen durften über Mittag nicht einmal in unsere Mensa. Zwar haben die 68er keinen politischen Erfolg gehabt. Aber im Bereich des Zusammenlebens haben sie zu einem neuen Verhältnis der Generationen und Geschlechter beigetragen. Im Bereich der Kultur haben sie eine Dehierarchisierung eingeleitet. Mick Jagger jedenfalls hat es 1993 zu seinem 50. Geburtstag ins Feuilleton der NZZ geschafft; noch 1967 war er nach seinem Konzert in Zürich vom selben Blatt unter Unglücksfälle und Verbrechen abgehandelt worden. Insgesamt hat die 68er-Bewegung eine Konkretisierung von Freiheit gebracht, einer Freiheit, die lange davor von europäischen Philosophen gedacht worden war und die sich dann in vielen kleinen Schritten realisierte. 1968 war einer. Verdampfte Autorität Natürlich ist ein Teil der Autorität von Lehrerinnen und Lehrern verdampft – ein Teil ihrer persönlichen Autorität, ihrer Fachautorität und ihrer Amtsautorität. Aber der Verlust relativiert sich, wenn man den historischen Kontext ins Auge fasst. Seit 1833 hat der Berufsstand eine unglaubliche Entwicklung durchgemacht. Die Ausbildung wurde sukzessive verlängert, die Löhne wurden permanent erhöht, die Schülerzahlen pro Klasse sanken dauernd – und das Sozialprestige der Profession stieg stetig. Lehrpersonen wurden zu geachteten Persönlichkeiten und lokalen Autoritäten, und sie wurden in einem Atemzug mit Ärzten und Pfarrern genannt. Eine Profession mit einer auch nur vergleichbaren Erfolgsgeschichte in den letzten 175 Jahren ist nicht leicht zu finden. Natürlich gibt es seit den 70er-Jahren eine gegenläufige Tendenz, aber sie ist nicht professionsspezifisch, sondern betrifft auch Ärzte und Pfarrer. Sie hat sehr vielfältige Gründe, die nur zum Teil in einem direkten Zusammenhang zur 68erZeit stehen und nicht in den Berufsständen selbst liegen: Es geht um grundsätzliche Verunsicherungen, die seit den 80erJahren unter dem Begriff Postmoderne diskutiert wurden. Es geht um sozialen Wandel, der unter dem Begriff gesellschaftlicher Individualisierung diskutiert wird. Es geht um einen einfacheren Zugriff auf Information, der jeden von uns zur vermeintlichen Fachautorität werden lässt – und es geht nicht zuletzt um Sparangriffe auf Staatsangestellte. Trotzdem bleibt der Autoritätsverlust aus historischer Perspektive gering. Ein guter Hinweis darauf ist, dass auch heute in den gängigen Rankings über das Ansehen der Berufe und über die Vertrauenswürdigkeit ihrer Exponenten die Grundschullehrerinnen und –lehrer weit oben geführt werden – zwar hinter den Feuerwehrleuten, Piloten und Ärzten, aber weit vor den ph I a kzente 1 /2009 7 Spektrum | Saufrech Foto: akg-images Veränderte Sozialisation Woodstock Festival August 1969 Rechtsanwälten, Fussballtrainern, Autoverkäufern und Politikern. Gesellschaftliche Individualisierung Mit einem skizzenhaften Artikel «Jenseits von Stand und Klasse» (1983) und einer ausführlicheren Darstellung in «Risikogesellschaft» (1986) hat Ulrich Beck eine Debatte mit initiiert, die seither unter dem Begriff der Individualisierung mehr oder weniger intensiv geführt worden ist. Ihre Hauptthese hat für unser Thema einen hohen Erklärungswert. Sie besagt, dass die Menschen in den hoch industrialisierten Ländern zusehends aus ihren traditionellen Sozialformen wie Schicht, Beruf, Familie, Ehe oder Nachbarschaftsbindungen herausgelöst werden. Unter dem Druck von Veränderungen im Erwerbsleben und in immer wiederkehrenden Schüben verlieren traditionelle gesellschaftliche Agenturen wie Parteien, Kirchen und Gewerkschaften ständig an Bedeutung. Es kommt tendenziell zu individualisierten Existenzlagen, und jeder Einzelne ist gezwungen, sich selbst – um des materiellen Überlebens willen – zum Zentrum seiner eigenen Lebensführung zu machen. Dadurch werden auch kreative Kräfte freigesetzt, und letztlich kommt es neben kulturellen und sozialen Erosionsprozessen auch zu kulturellen und sozialen Evolu­ tionsprozessen mit einer Vielfalt von Lebensformen. Viele, die heute den Verlust von Disziplin beklagen, scheinen diese Prozesse zu verkennen. Sie verstehen unter Disziplin nach wie vor Formen der Einordnung und 8 ph I a kzente 1 /2 009 Unterordnung, wie sie von den an Bedeutung verlierenden traditionellen gesellschaftlichen Institutionen gefordert wurden. Solche Disziplinvorstellungen haben keinen Sinn mehr, weil sie ihren Rückhalt in einer Welt hatten, die in der Weise gar nicht mehr existiert; sie sind nicht mehr funktional. Eine Rückkehr zu einer traditionellen Disziplin wäre nur möglich, wenn auch die Institutionen, die sie erzeugt und gestützt hatten, wieder in ihre Bedeutung erhoben werden könnten. Ganz abgesehen davon, dass das nicht möglich ist, muss auch darauf hingewiesen werden, dass die erfolgte Individualisierung vor dem Hintergrund von «ein Volk» oder «eine Klasse» eine historische Errungenschaft darstellt. Individualisierungsprozesse verändern aber auch die ethischen Einstellungen der Mitglieder einer Gesellschaft. Der Fokus der Ethik verschiebt sich von den Pflichten gegenüber den Mitmenschen und der Allgemeinheit auf die Pflichten gegenüber sich selbst. Dass es der Nachbarschaft, der Gesellschaft oder der Schulklasse gut geht, ist nur noch insofern von Bedeutung, als die eigene Selbstverwirklichung dadurch ermöglicht wird. Diese steht im Zentrum – bei den Eltern und natürlich auch bei ihren Kindern. Und im Zweifelsfall setzen sich die Eltern gegen die Lehrerschaft und die Bedürfnisse einer ganzen Schulklasse für das uneingeschränkte Wohlbefinden, den optimalen Karriereverlauf und die grenzenlose Selbst­ ­inszenierung ihrer Kinder ein. Individualisierung ist nur eine Perspektive, unter der eine ganz grundsätzlich veränderte Sozialisation betrachtet werden kann, die zu dem führt, was landläufig unter fehlender Disziplin subsumiert wird. Eigentlich sind damit vielfältige Verhaltensaspekte gemeint wie Dekonzentration, mangelnde Frustrationstoleranz, fehlende Rücksichtnahme usw. Ihre Ursachen lassen sich nicht monokausal erklären. Neben gesellschaftlichen Individualisierungsprozessen könnte auf veränderte Familienstrukturen, auf die Marktbeteiligung von Kindern und Jugendlichen, auf die Bedeutung neuer Medien und damit auf das «Verschwinden» von Kindheit hingewiesen werden. Natürlich wäre es fahrlässig, in Kürze eine Analyse vornehmen zu wollen. Darum geht es auch nicht. Das Ziel war zu zeigen, dass die Forderung nach einer Rückkehr zu alter Disziplin naiv ist und die Klage über die 68er am Ziel vorbeigeht, ja von den wirklichen Problemen ablenkt und eine nötige Aufarbeitung der aktuellen Probleme eines guten Classroom Managements verhindert. Das aber wäre wichtig. Eine solche Analyse müsste darüber Auskunft geben, mit welchen Voraussetzungen Kinder heute in die Schule kommen und wie sie sich bis ins Jugendalter entwickeln. Eine Analyse der Institution Schule sollte zudem zeigen, welche Möglichkeiten bestehen, Regeln zu etablieren, wenn die traditionellen gesellschaftlichen Agenturen verblassen und die Staatsautorität an Kraft verliert. Fast sicher scheint, dass den geleiteten Schulen für das Classroom Ma­ nagement eine zentrale Bedeutung zukommen wird. Angesichts von Individualisierungstendenzen und diffuser Sozialisation brauchen die einzelnen Lehrkräfte in ihren Bemühungen, Regeln zu etablieren und ein lernförderliches Klassenklima herzustellen, die unzweideutige Unterstützung durch die Schulleitungen – gegenüber den Schülerinnen und Schülern, aber auch gegenüber deren Eltern. Rudolf Isler ist Dozent an der Pädagogischen Hochschule Zürich und Redaktor bei ph akzente. [email protected] .