8. Grammatikentwicklung und kognitive Entwicklung- Die kognitive Entwicklung des Kleinkindes II Domänenspezifische Fähigkeiten Die kognitive Entwicklung des Kleinkindes II: Domänenspezifische Fähigkeiten I. Domänenspezifische Fähigkeiten 1. 2. 3. Definition Kernwissensthese Beispiele zum Domänenwissen 3.1. Physikalisches Denken 3.2. Mathematisches Denken II. Theory of Mind 1. • Definition „Der Aufbau von Wissen über die Welt vollzieht sich bereichsspezifisch“ (Pauen, S.200) • Wissensdomänen – Physikalisches Denken – Mathematisches Denken – Psychologisches Denken 2. Kernwissensthese (Carey&Spelke, 1994) • Angeborenes domänenspezifisches Wissen befähigt Kinder dazu, rasch domänenspezifisches Kenntnisse zu erwerben • Jede Domäne hat Kernprinzipien, welche die Domäne definieren • Keine Veränderung oder Revision der Kernprinzipien durch Erfahrung 3. Beispiele zum Domänenwissen 3.1. Physikalisches Denken • Theorie: Soliditätsprinzip = materielle Dinge, deren Bewegungsbahnen sich kreuzen, müssen zusammenstoßen, weil sie nicht gleichzeitig exakt dieselbe Position im Raum einnehmen können 3. Beispiele zum Domänenwissen 3. Beispiele zum Domänenwissen • Versuchsergebnis: – Babys schauen länger auf die erwartungsverletzende Szene • Schlussfolgerungen – Soliditätsprinzip schon bei 2,5 Monate alten Babys entwickelt 3. Beispiele zum Domänenwissen 3.2. Mathematisches Denken • Versuch von Feigenson, Xu, Carey, Spelke • Versuchsanordnung: – Sechs Monate alte Babys – Abbildungen mit Punkten, Anzahl variierend 3. Beispiele zum Domänenwissen • Versuchsablauf: – Abbildungen mit Punkten den Babys gezeigt – Abbildungen in Helligkeit, Konturlänge, Dichte, Größe genau identisch – 8 + 16 Punkte, 8 + 12 Punkte, 16 + 32 Punkte, 16 + 24 Punkte, 4 + 8 Punkte, 2 + 4 Punkte, 1 + 2 Punkte 3. Beispiele zum Domänenwissen • Versuchsergebnis: – Babys konnten zwischen 8 + 16 Punkten, 16 + 32 Punkten, 4 + 8 Punkten unterscheiden – Babys konnten nicht zwischen 8 + 12 Punkten, 16 + 24 Punkten, 2 +4 Punkten, 1 + 2 Punkten unterscheiden 3. Beispiele zum Domänenwissen • Schlussfolgerungen: – Babys besitzen intuitives Mengenverständnis – Einschränkungen: • Mengen mit mehr als drei Elementen • Unterschiede im Verhältnis 2:1 – Mengen unter drei Elementen werden anders verarbeitet Probleme der Säuglingsforschung • Fast nur Blickpräferenzmethode anwendbar • Messung von Hirnströmen möglich • Bildgebende Techniken (Kernspind) unmöglich • Experimente : – Kurze Versuchsdauer – Ohne verbale Erklärung möglich – Eindeutig interpretierbar II. Sprachentwicklung und Entwicklung der Theory of Mind 1. Was ist eine Theory of Mind (ToM)? 2. Tests zum Verständnis falscher Überzeugungen 3. Annahmen über das Verhältnis von Sprach- und ToM-Entwicklung 4. Grammatik und ToM-Entwicklung 5. Zusammenfassung 17 1. Was ist eine Theory of Mind “Als ToM werden die alltagspsychologischen Konzepte bezeichnet, die wir benützen, um uns selbst und anderen mentale Zustände zuzuschreiben (was wir wissen, wollen, denken, fühlen usw.)” (Sodian 2007, 44). 18 2. Tests zum Verständnis falscher Überzeugungen Ortswechel (Maxi-Aufgabe): Das Kind sieht oder hört eine Geschichte, in der Person A einen Gegenstand G an einem bestimmten Ort – z.B. einem Schrank – lagert. Nachdem Person A den Raum verlässt, betritt Person B den Raum, nimmt G und lagert ihn an einem anderen Ort – z.B. unter dem Tisch. Das Kind wird dann gefragt: „Wo wird Person A suchen, wenn sie G haben will?“ 19 2. Tests zum Verständnis falscher Überzeugungen Ungewohnter Inhalt (Smarties-Aufgabe): Dem Kind wird eine ihm bekannte Packung gezeigt – zum Beispiel eine SmartiesPackung. Dann wird das Kind gefragt, was in der Packung sei, worauf das Kind „Smarties“ antwortet. Zur Überraschung des Kindes wird der Packung ein anderer Inhalt entnommen – zum Beispiel Stifte. Die Testfrage lautet: „Was erwartet ein anderes Kind, wenn es diese Packung sieht?“ 20 2. Tests zum Verständnis falscher Überzeugungen Schein-Wirklichkeit: Dem Kind wird ein Gegenstand gezeigt, der z.B. wie ein Stein aussieht. Dann wird ihm gezeigt, dass es sich in Wirklichkeit um einen Schwamm handelt, woraufhin das Kind gefragt wird, was andere glauben werden, was dieser Gegenstand sei. 21 3. Annahmen über das Verhältnis von Sprach- und ToM-Entwicklung Vortheoretische Annahmen: Akte einer ToM höheren Ordnung sind sehr komplex: „Peter denkt, dass Julian denkt, dass Stefan Peters Schokolade will.“ Ein solches Verständnis scheint ohne Sprache kaum möglich zu sein. Wir haben keinen direkten Zugriff auf die mentalen Zustände anderer und brauchen deshalb Sprache (vgl. Miller 2006). 22 3. Annahmen über das Verhältnis von Sprach- und ToM-Entwicklung Einige gut belegte Thesen zum Einfluss der Sprach- auf die Denkentwicklung (Weinert 2000): Sprache ist eines der wichtigsten Medien für die Vermittlung von Wissen. Wissen ist ein Entwicklungsmotor des Denkens. Ein großes Vokabular ist ein Prädiktor für die Arbeitsgedächtnisleistung von Kindern. Sprachfähigkeit verbessert die Problemlösungskompetenz z.B. durch die Benennung von Gegenständen und Problemen oder durch lautes Denken. Durch Sprache lässt sich die Aufmerksamkeit von Kindern lenken; das wirkt auf das Kategorisierungsverhalten von Kindern und hilft beim Aufbau von Konzepten. 23 3. Annahmen über das Verhältnis von Sprach- und ToM-Entwicklung Erwartung: Wenn überhaupt Sprache eine Rolle bei der ToM-Entwicklung spielt, dann die Entwicklung der allgemeinen Sprachfähigkeit oder vielleicht des Lexikons. 24 4. Grammatik und ToMEntwicklung Sarah sagt/denkt, wahr die Erde ist flach. falsch wahr De Villiers, Pyers 2002: Was muss das Kind können/verstehen, um diese Struktur zu verstehen? 25 4. Grammatik und ToMEntwicklung Sarah sagt/denkt, Kommunikatives oder mentales Verb die Erde ist flach. + Komplementärsatz Das Kind muss verstehen: 1. Semantik: man kann etwas sagen oder denken, was falsch ist 2. Syntax: das, was gedacht oder gesagt wird, wird von dem Verb in den ganzen Satz eingeschlossen 26 4. Grammatik und ToMEntwicklung Hypothese von J.G. De Villiers und Pyers 2002: Erst das Verständnis komplementärer Strukturen ermöglicht es, falsche Überzeugungen zu repräsentieren. Erst die besondere Beziehung zwischen Verb und Komplementärsatz ermöglicht es, die Wahrheitswerte der beiden Sätze Sarah denkt und die Erde ist flach adäquat miteinander zu verknüpfen. 27 4. Grammatik und ToMEntwicklung Studie von Schick, de Villiers, de Villiers und Hoffmeister 2007 176 resthörige und 42 normalhörende Kinder, die sonst vollkommen normal entwickelt sind Gliederung der Testpersonen in Kinder, die mit Gebärdensprache aufwuchsen Kinder, die ohne Gebärdensprache aufwuchsen 28 4. Grammatik und ToMEntwicklung Es ist bekannt, dass resthörige Kinder, die ohne Gebärdensprache aufwachsen eine verspätete Sprachentwicklung aufweisen. Idee der Studie: Weisen diese Kinder auch ein verspätetes Verständnis falscher Überzeugungen auf? – Wenn ja, spielt Sprache eindeutig eine Rolle bei der Entwicklung der ToM. Welche Aspekte des Sprachsystems sagen im einzelnen das Verständnis falscher Überzeugungen voraus (Semantik, allgemeine Syntax oder Verständnis von Komplementen)? 29 4. Grammatik und ToMEntwicklung Wie testet man das Verständnis von komplementären Strukturen? „(1. Bild) Sarah sagt, sie hat ein Monster gesehen. (2. Bild) In Wirklichkeit war es der Hund vom Nachbar. - Was hat Sarah gesagt?“ Antwort „Monster“ - Verständnis falscher Überzeugung Antwort „Hund“ - keine Differenzierung von Wirklichkeit und Repräsentation 30 4. Grammatik und ToMEntwicklung Ergebnisse Kinder mit verlangsamter Sprachentwicklung erlangen deutlich später ein Konzept kognitiver Zustände (Überzeugungen) als Kinder mit normaler Sprachentwicklung. Das Verständnis von komplementären Strukturen nach kommunikativen Verben sagt am besten die Leistung in Aufgaben zum Verständnis falscher Überzeugungen voraus. 31 Zusammenfassung Eine reife menschliche ToM zeichnet sich dadurch aus, dass das Kind zwischen Wirklichkeit und Repräsentation der Wirklichkeit unterscheidet. Tests mit resthörigen Kindern sprechen dafür, dass Sprache bei dieser Entwicklung eine Rolle spielt. Der beste Prädiktor für das Verständnis falscher Überzeugungen ist das Verständnis komplementärer Satzstrukturen nach kommunikativen oder mentalen Verben. 32