Agora und Vernunft

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Agora und Vernunft
Rationale Ansprüche an eine veröffentlichte Philosophie
Einleitung
Eine Philosophie, die sich in den Elfenbeinturm verkriecht, kann die Menschen auf der Agora nicht
erreichen, geschweige denn die Welt verändern. Das klingt plausibel, doch haben auch vermeintliche Elfenbeinphilosophen Werke veröffentlicht, ihre Ideen also einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Da ein philosophisches Werk wie jeder andere Sprechakt Einfluss auf menschliches Handeln nimmt, liegt mit einer Veröffentlichung stets eine Weltveränderung vor. Ob bewusst oder unbewusst: Philosophie zwingt uns immer eine Reaktion ab1, verändert unser Weltbild oder gar die
Welt. Selbstverständlich muss dazu nicht jeder jedes Werk lesen: Vielmehr ziehen philosophische
Ideen über den öffentlichen Diskurs in unser Denken ein und lenken unser Verständnis von Raum
und Zeit, wahr und falsch, gut und böse.
Ein einsamer Inselbewohner könnte zwar einwenden, er habe für sich eine unveröffentlichte, nichtweltverändernde Philosophie entwickelt, doch das würden wir nur glauben, wenn er uns seine Philosophie darlegt. Dazu aber müsste er sie als weltverändernden Sprechakt veröffentlichen. Solange
wir uns in demselben Sprachspiel bewegen, können wir kein Beispiel für eine unveröffentlichte
Philosophie anführen. Versuchen wir es doch, veröffentlichen wir sie mindestens in Auszügen, sodass von einer unveröffentlichten Philosophie keine Rede mehr sein kann.
Philosophie als Teil des öffentlichen Sprachspiels ist immer veröffentlichte Philosophie und damit
immer auch Weltveränderung, die stets alle Teilnehmer des Sprachspiels betrifft. Aus diesem
Grund ist die Philosophie ihnen gegenüber immer rechenschaftspflichtig2. Die Philosophie sieht
sich mit vernünftigen Ansprüchen seitens der Öffentlichkeit konfrontiert, wie auch Eltern sich mit
vernünftigen Ansprüchen ihres Kindes konfrontiert sehen, etwa auf Fürsorge und Schutz.
Im vorliegenden Aufsatz wird daher argumentiert, dass im Interesse der Öffentlichkeit – und damit
der Vernunft3 – Philosophie abwägend, praktikabel und wahr sein muss, um ihrer Rechenschaftspflicht gegenüber der Welt nachzukommen.
1 Auch wozu manche „keine Reaktion“ sagen würden, ist de facto eine Reaktion.
2 Rechenschaftspflicht bedeutet hier: „Wenn jemand eine Handlung ausführt, die einen anderen betrifft oder gar einschränkt, ist er verpflichtet, vernünftige Gründe für seine Handlung vorzulegen.“ Woraus sich dieser intuitive (und
wahrscheinlich auch konventionelle) Anspruch philosophisch ableitet, ist allerdings noch zu klären.
3 Öffentliches Interesse ist hier mit Vernunft gleichgesetzt, da lediglich die Vernunft im Interesse eines vernunftfähigen
Menschen liegen kann. Öffentliches Interesse ist daher nicht mit öffentlicher Meinung (e. g. durch
Mehrheitsentscheidungen) zu verwechseln, denn Meinungen können falsch sein und dem eigentlichen Interesse des
vernünftigen Menschen, der Vernunft, widerstreben.
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1. Der Anspruch auf Abwägung
Die Abwägung als erster öffentlicher Anspruch gegenüber der Philosophie betrifft vor allem die
normativ arbeitenden Disziplinen. Insbesondere die Ethik muss diesem Anspruch entsprechend
Theorien, Werte und Normen nicht nur begründen, sondern sie darüber hinaus auch gewichten und
in ein Verhältnis setzen. In Albert Camusʼ Drama „Die Gerechten“ diskutieren mehrere Revolutionäre, ob sie für politische Ziele das Leben Unschuldiger opfern dürfen oder ob menschliches Leben
wertvoller ist als jedes politische Ideal.4 Auch die Ethik muss die von ihr deduzierten Gesetze stets
abwägen, wie u. a. Kants Schrift „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ zeigt,
in der Kant die Frage diskutiert, ob ich einen Mörder belügen darf, wenn dieser mich nach dem
Versteck eines Freundes fragt.5
In der Praxis widerstreben moralische Werte und Normen einander ständig, sodass eine Öffentlichkeit, die aufgrund ihrer Vernunft moralisch richtig handeln will, auch explizit wissen muss, welche
Werte essentieller sind als andere. Das Lügenverbot über das Leben des Freundes zu stellen 6, erscheint zwar absurd, doch Kant deduziert nicht nur das Lügenverbot und das Recht auf Leben für
sich genommen, sondern stellt die Gewichtung dieser beiden Werte in einen rationalen Begründungszusammenhang, sodass seine Philosophie dem öffentlichen Interesse an einer vernünftigen
Abwägung ihrer Werte und Normen gerecht wird.
Darüber hinaus gehört es zum Anspruch auf Abwägung, dass eine philosophische Theorie sich
selbst gewichten muss. Dies wird dann wichtig, wenn der Publikation oder der Umsetzung Hindernisse im Weg stehen, die der Theorie selbst als wertvoll erscheinen. Ein ethisches Gebot der Toleranz etwa muss sich immer mit Intoleranz auseinander setzen. Das heißt: Was soll mit denjenigen
passieren, die niemals und unter keinen Umständen tolerant gegenüber Andersdenkenden sein wollen? Sobald ein ethischer Ansatz Toleranz als Wert ansieht, steht er vor dem Problem seiner eigenen Gewichtung. Schließlich müsste er im äußersten Fall soweit gehen, dass Toleranz-Gegner unter Zwang oder Gewaltanwendung von dem Gebot der Toleranz überzeugt werden müssten. Wer
derartigen Formen von Überredung zustimmt, muss vernünftig erklären können, ob die eigene Position der Toleranz wertvoll genug ist, um das selbstaufgestellte Toleranzgebot durchzusetzen.
Ähnlich verhält es sich in folgendem Gedankenspiel: Ein Philosoph leistet den zweifelsfreien Beweis gegen Gott und jede andere jenseitige Hoffnung, fordert aber gleichzeitig individuelles
Glücksstreben. Er muss sich unweigerlich fragen, ob seine Erkenntnis so wertvoll ist, dass er mit
4 Vgl. Albert Camus: Die Gerechten. In: Ders.: Dramen. Caligula / Das Mißverständnis / Der Belagerungszustand / Die
Gerechten / Die Besessenen. Reinbek 2003.
5 Vgl. Immanuel Kant: Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen. In: Ders.: Schriften zur Ethik und
Religionsphilosophie. Zweiter Teil. Hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1968, S. 637-648.
6 Vgl. ebd. Dabei soll Kants Auffassung im Folgenden weder bestätigt noch widerlegt werden.
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einer Publikation unzähligen Menschen den letzten Hoffnungsschimmer und ihr Lebensglück rauben will. Auf die Naturwissenschaft übertragen schildert Friedrich Dürrenmatt einen ähnlichen Fall
in seiner Tragikkomödie „Die Phyisker“: Der Wissenschaftler Johann Wilhelm Möbius hat zwar
die revolutionäre Weltformel entdeckt, schreckt aber aus Angst vor Missbrauch vor einer Veröffentlichung zurück und lässt sich lieber ins Irrenhaus einweisen.7
Eine Theorie muss also im Interesse der Öffentlichkeit nicht nur die von ihr geforderten konkurrierenden Werte und Normen abwägen, sondern stets auch ihre eigene Gewichtung bedenken, sowohl
im Kontext der Umsetzung ihrer Gebote als auch hinsichtlich der Folgen einer Publikation.
2. Praktische Umsetzung und Nachvollziehbarkeit
Als zweiter wesentlicher Anspruch der Öffentlichkeit an die Philosophie soll im Folgenden begründet werden, dass ihre Theorien praktikabel sein müssen, was zunächst ebenso den Bereich der
Ethik betrifft, der ohnehin am engsten mit der breiten Öffentlichkeit verzahnt ist.
Denken wir uns etwa ein moralisches Gebot, das allen Menschen vorschreibt, jeden Tag mindestens eine halbe Stunde zu fliegen.8 Solch ein Gebot würde zwangsläufig an der praktischen Umsetzung scheitern, sei es auch noch so gut begründet. Ultra posse nemo obligatur9, denn ich kann
nichts tun, wozu ich nicht die Fähigkeiten habe. Da ein moralisches Gebot vorschreibt, welche der
mir möglichen Verhaltensweisen in einer bestimmten Situation die beste ist, bin ich zwar verpflichtet, mein Verhalten dem Gebot anzupassen, aber nur insoweit ich dazu überhaupt in der Lage bin.
Wenn das Gebot lautet: „Jeder Mensch muss fliegen“ werde ich mein Bestes geben, um fliegen zu
lernen, da das aber gar nicht möglich ist, kann das auch niemand von mir verlangen. Eine Theorie
darf selbstverständlich Ideale vorschreiben, ihre Umsetzung kann sie aber nur verlangen, wenn
Menschen dazu überhaupt in der Lage sind.
„Jeder Mensch muss jeden Tag eine halbe Stunde laufen“, wäre ein anderes moralisches Gebot.
Die meisten Menschen sind dazu fähig und daher könnte die Einhaltung dieses Gebots von diesen
Menschen auch verlangt werden. Doch wer aus prinzipiellen Gründen nicht laufen kann, e. g. weil
er körperlich beeinträchtigt ist, kann auch nicht dazu verpflichtet werden. Alles andere wäre absurd
und ein ethisches System, das dies nicht berücksichtigt, ist im berechtigten Interesse der Öffentlichkeit abzulehnen, da es anders schlicht nicht praktikabel wäre.
7 Vgl. Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker. Zürich 1980.
8 Nicht mit dem Flugzeug, sondern mit den bloßen Armen, versteht sich.
9 „Über das Können hinaus wird niemand verpflichtet“ oder anders: Das Sollen setzt stets ein Können voraus. Dieser
weit verbreitete Rechtsgrundsatz findet sich etwa im deutschen Gesetz wieder, vgl. § 275 BGB (http://www.gesetzeim-internet.de/bgb/__275.html, aufgerufen am 9. Mai 2009).
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Der Begriff „praktikabel“ eröffnet aber noch eine zweite Deutungsmöglichkeit, die auch auf nichtnormative Gebiete anwendbar ist: Philosophie muss den praktischen Erfahrungen, insbesondere
den Sinneswahrnehmungen, entsprechen oder diese zumindest berücksichtigen. Das heißt selbstverständlich nicht, dass die Öffentlichkeit von der Erkenntnistheorie einen Empirismus erwarten
darf, der sich ausschließlich auf Sinneswahrnehmungen gründet und jede andere Erkenntnisform
negiert. Stattdessen geht es darum, dass jedes vernünftige Wesen gewisse empirische und rationale
Vorstellungen besitzt, die eine philosophische Theorie erklären können muss. Denn es ist nicht einzusehen, weshalb ich als vernünftiges Wesen einer Theorie Glauben schenken oder mich gar durch
sie verändern lassen sollte, wenn sie meiner persönlichen Intuition zutiefst widerspricht und keine
hinreichende Erklärung für diesen Widerspruch (e. g. optische Täuschung o. ä.) bereithält. Das
heißt mit anderen Worten: Die Öffentlichkeit hat den Anspruch darauf, dass eine philosophische
Theorie vernünftig begründet ist und grundsätzlich jedes vernunftfähige Wesen ihre Bedeutung
praktisch nachvollziehen kann10.
3. Wahrheit als höchste Forderung
Mit der Forderung nach Wahrheit soll nun im letzten Teil dieses Aufsatzes der wohl schwierigste
Anspruch behandelt werden, den die Öffentlichkeit gegenüber der Philosophie zu stellen berechtigt
ist. Schwierig ist der Anspruch zum einen, da er für die Philosophie eine große Herausforderung
darstellt, zum anderen, da eine Definition des Begriffs Wahrheit überhaupt sehr komplex ist.
Daher sollen zunächst bewusst falsche Theorien, also Lügen, zurückgewiesen werden, denn diese
scheiden in jedem Fall aus dem Begriff Wahrheit aus und können kaum vernünftig von der Öffentlichkeit gefordert werden. Die Öffentlichkeit hat ein berechtigtes Interesse daran, nicht angelogen
zu werden, denn sie muss die Folgen einer philosophischen Theorie tragen, nicht nur wenn ethische Überlegungen praktischen Einfluss auf unser Rechtssystem nehmen, sondern auch wenn Philosophie allgemein unsere Vorstellung von der Welt grundlegend verändert.
Doch wie verhält es sich, wenn der Urheber einer Theorie nicht bewusst lügt, sondern fest von ihrer Wahrheit überzeugt ist? In diesem Fall ist es schon schwieriger, von einer falschen Theorie zu
sprechen, da die Öffentlichkeit nicht den Lügner entlarven, sondern den Irrtum des Wissenschaftlers aufzeigen muss. Unsere Auffassung von Wahrheit wird dann Karl Poppers kritischem Rationalismus ähneln: Die Öffentlichkeit erkennt eine vernünftig begründete und nachvollziehbare Theorie
10 Natürlich wäre es absurd zu fordern, dass wirklich jeder Mensch eine philosophische Theorie bis ins letzte Detail
versteht. Hier geht es vielmehr darum, dass die praktischen Erfahrungen und Vorstellungen eines jeden Menschens
von der Theorie berücksichtigt, erklärt und gegebenenfalls als Täuschung entlarvt werden müssen.
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so lange als wahr an, bis sie sich falsifizieren lässt.11 Mit dieser Methode muss eine vernünftige Öffentlichkeit jene Theorien, die sie gegenwärtig als wahr akzeptiert, ständig auf mögliche Fehler hin
kritisch reflektieren, um sich so vor Irrtümern und unwahren Theorien zu schützen.
Die aber wohl größte Versuchung, vor der die Öffentlichkeit mit ihrem Wahrheitsanspruch steht,
sind relativistische, skeptizistische und nihilistische Ansätze, die je nach Ausprägung entweder die
Möglichkeit zu Wahrheit prinzipiell ablehnen oder nur eine einzige Wahrheit anerkennen, nämlich
die, das wir nichts wissen können.12 Derartige Ansätze mögen auf den ersten Blick plausibel und
wahr erscheinen, weisen Wahrheit aber auf ganz vehemente Weise zurück. Auch wenn eine Zurückweisung einer Theorie aufgrund ihrer Konsequenzen immer fragwürdig ist13, wird die Öffentlichkeit in ihrem Weltbild und Handeln so sehr von der Philosophie geleitet, dass die Vernunft
solch destruktive Ansätze guten Gewissens zurückweisen darf. Ein vernünftiges Wesen wird einer
derartigen Verführung des Nichts ohnehin kaum nachgeben, da diese seinen rationalen Wahrheitsanspruch ad absurdum führen würde, egal ob Wahrheit absolut oder kritisch-rationalistisch verstanden wird. Wie die Philosophie den Wahrheitsbegriff aufzufassen hat, muss sich ohnehin in der akademischen Praxis zeigen. Um dem öffentlichen Anspruch auf Wahrheit zu genügen, reicht es zunächst aus, wenn die Philosophie auf konstruktive Weise nach einer solchen sucht.
Schlussbemerkung
Aufgrund ihrer Rechenschaftspflicht wurden in diesem Aufsatz mit den Ansprüchen auf Abwägung, Praktikabilität und Wahrheit drei wesentliche Forderungen an eine veröffentlichte Philosophie formuliert, die im Interesse der Öffentlichkeit als die Summe aller vernünftigen Wesen liegen.
Im Gegenzug aber muss diese Öffentlichkeit der Philosophie größtmögliche Freiräume zugestehen,
damit sie diesen Ansprüchen auch gerecht werden kann. Philosophie darf nicht von gegenwärtigen
Gesetzen, Meinungen, Konventionen oder Finanzbudgets abhängig gemacht werden, denn für eine
abwägende, praktikable und wahre Philosophie ist nur ein Kriterium entscheidend: Die Vernunft.
Dieser Aufsatz handelt also nicht nur von rationalen Ansprüche an die Philosophie, sondern vielmehr von den natürlich-vernünftigen Interessen eines jeden einzelnen. Nicht zuletzt daher resultiert
die öffentliche Pflicht, eine abwägende, praktikable und wahre Philosophie als frei arbeitende wissenschaftliche Disziplin aufrecht zu erhalten und in jeglicher Hinsicht zu fördern.
11 Vgl. dazu Hans Joachim Störig: Kleine Weltgeschichte der Philosophie. 5. Aufl. Frankfurt 2006, S. 777-783.
12 Zu den verschiedenen Ausprägungen des Skeptizismus vgl. Anthony A. Long: Artikel Skeptizismus. In: Historisches
Wörterbuch der Philosophie. Band 9: Se–Sp. Hg. von Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Basel 1995, Sp. 938-950.
13 Nur weil etwas unangenehme Folgen mit sich bringt, muss es noch lange nicht falsch sein. Allerdings soll hier
lediglich gezeigt werden, wie der Skeptizismus (bzw. Nihilismus) am öffentlichen Anspruch scheitert.
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