1799-Weltgeschichte im Hochgebirge

Werbung
Untervazer Burgenverein Untervaz
Texte zur Dorfgeschichte
von Untervaz
1799
Weltgeschichte im Hochgebirge
Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter
http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter
http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.
-2-
1799
Weltgeschichte im Hochgebirge
Diverse Autoren
Auszüge aus:
Jürg Stüssi-Lauterburg, Hans Luginbühl, Richard Munday, Ueli Stump,
Georges Wüthrich, Peter Gerber, Alexander Nikolajewitsch Lukirskij,
Madeleine Isabelle Lüthi: Weltgeschichte im Hochgebirge - Entscheidung an
der Grimsel 14. August 1799. Vierte erweiterte Auflage 2011.
-3-
-4-
Weltgeschichte im Hochgebirge
S. 14:
Zusammenfassung
Preussen hatte genug vom Krieg gegen die eine und unteilbare Französische
Republik. 1795 brach das vom Neffen des Grossen Friedrich, von Friedrich
Wilhelm II., regierte Königreich aus der Ersten Koalition aus und schloss mit
den vielleicht verhassten, aber sicher gefürchteten Revolutionären an der
Seine den Frieden von Basel.
Der Aufstieg Napoléons
Das von seinem zweitstärksten kontinentalen Gegner entlastete Frankreich
gewann zur gleichen Zeit einen der grossen Feldherren der Weltgeschichte für
den Oberbefehl seiner «armée d'Italie››. Bonapartes Ernennung ging freilich
mehr auf seine erprobte Gesinnungstüchtigkeit - er hatte den royalistischen
Vendémiaire-Aufstand niedergeschlagen - und seine Bereitschaft zurück, die
Freundin des an der Seine bestimmenden Paul Barras, Marie Josèphe Rose
Tascher de La Pagerie, verwitwete de Beauharnais, zu heiraten, als auf eine
volle Würdigung seiner militärischen Talente.
Einmal an der Spitze einer Armee zeigte der Korse dann freilich, dass nicht
jeder, der seine Stellung persönlichen Beziehungen verdankt, auch unfähig ist.
In einem atemberaubenden Feldzug, unterbrochen durch die lange Belagerung
von Mantua, führte er die Soldaten der Republik nach dem weniger als 150
Kilometer vom Stephansdom entfernten Leoben.
Österreich verliert gegen Frankreich
Kaiser Franz II. erschrak. Seinem Bruder, Erzherzog Carl, schrieb der
Monarch, es gehe nun darum, Wien so lange zu decken, wie er könne.
Preussens Ausscheiden aus der Ersten Koalition hatte Österreich innert zwei
Jahren in eine Lage gebracht, in welcher nur ein Friede mit Frankreich um fast
jeden Preis noch in Frage kommen konnte. Deshalb konzedierte die stolze
Donaumonarchie im sogenannten Frieden von Campo Formio vom Oktober
1797 dem auch als Diplomaten auftretenden Bonaparte die Lombardei südlich
und die Rheingrenze nördlich der Alpen.
-5-
Das Veltlin räumte der Kaiser - ohne dass er dies als Freiherr von Rhäzüns
und damit als Glied des Grauen Bundes hätte tun dürfen - der von Bonaparte
in Oberitalien eingerichteten «Cisalpinischen Republik» ein. Immerhin
vermochte sich Franz II. den beherrschenden Einfluss in Graubünden selbst zu
sichern, während er den Rest der Schweiz einschliesslich des bisher ihm
gehörenden Fricktals den Franzosen als Helvetische Republik preisgeben
musste. Die Schweizer wurden nicht nur nicht gefragt, sie wurden über den
Geheimartikel 6 des Friedens von Campo Formio auch nicht einmal
informiert. Als Frankreich die Alte Eidgenossenschaft mit einer Mischung von
Subversion und Invasion in den Monaten Dezember 1797 bis April 1798
unterwarf und nach seinem Geschmack zur Helvetischen Republik
umgestaltete, konnte die österreichische Diplomatie Entsetzen heucheln und
den Versuch unternehmen, auch mit diesem Argument Russland als Ersatz für
Preussen gegen Frankreich zu gewinnen.
Napoléon überfällt Malta
Im Sommer 1798 freilich herrschte in Kontinentaleuropa Friede, der Friede
von Campo Formio. Der beste Degen Frankreichs
S. 16:
war an der Spitze der «armée de l'Egypte›› an Bord gegangen und hatte auf
dem Weg ins Pharaonenland dem altehrwürdigen Johanniterstaat auf Malta
ein Ende gesetzt. Dieser Griff nach Malta sollte sich als grober Fehler
entpuppen: Kaiser Paul I., der romantische Sohn der grossen Katharina, sah
sich als Retter des misshandelten Johanniterordens und war deshalb für die
Zweite Koalition gegen Frankreich zu gewinnen. Österreich bereitete sich vor,
die Schmach von Campo Formio durch einen neuen Krieg ohne Preussen zu
tilgen und die Rivalin an der Spree so auch um die Beteiligung an der
erwarteten Beute zu bringen. Beute, das heisst durch das Schwert erworbene
und danach zu besitzende Länder, kann ohne weiteres als primäres Motiv
Wiens gelten.
Russland und Grossbritannien planen den Marsch auf Paris
Russland und Grossbritannien, durch das Meer und durch die grossen
Entfernungen gegen das Auftreten irgendeines Bonaparte in irgendeinem
Leoben sichergestellt, konnten sich eine moderne Strategie leisten:
-6-
Sie wollten auf Paris marschieren, die republikanische Staatsordnung stürzen
und den Frieden in ihrem Sinne durch einen Systemwechsel in Frankreich
absichern. Auf dem Wege zu diesem Ziel galt es, möglichst viele Freunde zu
gewinnen, das heisst allen Völkern und allen Dynastien alles wiederzugeben,
was ihnen die Franzosen geraubt hatten und nichts selber zu behalten.
Der Gegensatz zwischen dem temperamentsmässig gemütlichkräfteschonenden, strategisch an territorialer Expansion orientierten
Österreich und seinen temperamentsmässig zugriffigen und grosszügigen, der
Losung «Freiheit, Gleichheit» - Varianten des Mottos «Glaube, Souveränität»
entgegenstellenden Bundesgenossen schien freilich zunächst auf der
persönlichen Ebene überbrückbar.
Der Russe Suworow wird zum österreichischen Oberbefehlshaber in
Italien ernannt
Suworow skizzierte im Dezember 1798 seine einfache und zielgerichtete
Strategie: Volle Gewalt dem Obergeneral, um bald nach Paris zu gelangen.
Kaiser Franz II. ernannte diesen Mann, der ihm im Auftrage Kaiser Pauls I.
ein Hilfskorps von zunächst 18'000 Mann zuführte, zum Oberbefehlshaber
seiner Armee in Italien und machte ihn zum österreichischen Feldmarschall.
Dieses grosszügige Arrangement des Souveräns sollte freilich später durch
direkte Einflussnahme Wiens auf die Operationsführung untergraben werden.
Zunächst gestattete die Austrisierung Suworows der austrorussischen
Italienarmee einen Feldzug, dessen Glanz selbst jenen Bonapartes von 1796
und 1797 in den Schatten stellte: Was der Korse nicht gewagt hatte, am festen
Mantua vorbei vorzustossen, wagte der Russe ohne zu zögern.
Bonaparte hatte sich 1796 und 1797 im Bannkreis von Mantua gehalten und
die Entsatzheere geschlagen. Suworow zog kühn ins Weite, warf im Juni 1799
auf Hannibals altem Schlachtfeld, an der Trebbia, Macdonald, bei Novi am
15. August dann auch Moreau zurück. Der umfassende Erfolg - auch Mantua
hatte kapituliert - bestätigte Suworows Konzept, dem Gegner auf den Leib zu
rücken und alles an alles zu setzen.
-7-
S. 17:
S. 18:
Unerklärliche Weisungen an Suworow
Auf welchem Wege - über Savoyen oder über Nizza - sollte das sieggewohnte,
rund 100'000 Mann zählende österreichisch-russische Heer in Frankreich
einfallen? Dies schien die Frage zu sein.
Dass es statt zu einem Triumphzug der Alliierten nach Frankreich zu einer
jeder rationalen Strategie Hohn sprechenden Entfernung Suworows aus Italien
in die Schweiz kam, ist nur durch die idiosynkratischen Verfügungen des
österreichischen Ministers Thugut erklärbar.
-8-
Mit der Entfernung der in Italien dienenden Russen zog ein Viertel des Heeres
ab und mit ihm einer der ganz grossen Feldherren der Weltgeschichte.
Wohl erzielten die verbleibenden Österreicher unter Melas Führung 1800
noch kleinere und mittlere erste Erfolge, die Eroberung Genuas gehört dazu.
Dass aber mit den Russen das Heer um die Differenz zwischen Sieg und
Niederlage geschwächt worden war, sollte der Erste Konsul Napoléon
Bonaparte an der Spitze der «armée de reserve» auf dem Schlachtfeld von
Marengo am 14. Juni 1800 der Welt zeigen. Somit erreichte Thugut mit seinen
Dispositionen des Sommers 1799 ungewollt strategisch das, was die
Franzosen von Ende 1798 an immer gewollt hatten: Die Österreicher mussten
ohne die Russen antreten.
Frankreichs Krieg
Genau mit diesem Ziel vor Augen hatte sich das französische Direktorium und
der darin bestimmende Paul Barras entschlossen, den Krieg von 1799 selbst
und früh zu eröffnen, um die Österreicher vor dem Eintreffen der Russen zu
schlagen.
Nach einem dreiwöchigen Siegeszug hatten die Franzosen Graubünden
unterworfen und als Kanton Rätien der Helvetischen Republik einverleibt.
Masséna war zwar bei Feldkirch von Hotzes Österreichern gestoppt worden,
Lecourbe und Dessolle aber hatten am 25. März Nauders und Glurns erreicht,
so dass von der Reschen-Scheideck bis zum Colle di Tenda, ja bis zum Meere,
alle Alpenübergänge in französischer Hand waren.
Diese neue Herrlichkeit währte freilich nicht lange. Das grossspurig «armée
du Danube» genannte Heer Jourdans wurde im März 1799 von Carl bei
Stockach in die Knie gezwungen. Im April war Carl in der Schweiz, allerdings
im rechts des Rheins gelegenen Schaffhausen, wo die Grubenmannsche
Brücke von den Franzosen verbrannt worden war. Wenig später schlug
Suworow die Franzosen bei Cassano, überquerte die Adda und zog in Mailand
ein.
Suworows Kampfführung
Suworow führte nicht aufgrund vorgefasster Meinungen Krieg. Der
Feldmarschall passte seine Operationen den Umständen an und zeichnete sich
durch das Setzen von Prioritäten aus.
-9-
Das konnte freilich konkret auch eine rasche Folge von Befehlen und
Gegenbefehlen zur Folge haben. Wer für die entscheidenden Schlachten alles
von überallher zusammenraffen will, weil man am entscheidenden Ort eben
gar nie und unter keinen Umständen zu stark sein kann, braucht flexible
Untergebene.
Klare Vorstellungen bezüglich der Schweiz
In bezug auf die Schweiz entwickelten Suworow und sein damaliger
Stabschef
S. 19:
Chasteler bereits im Mai klare Vorstellungen: Dieser Schlüssel Italiens,
Deutschlands und Frankreichs sollte befreit werden, ein Stoss über den
Grossen Sankt Bernhard und weiter nach Bern wurde ins Auge gefasst.
Friktionen zwischen Suworow und dem Wiener Hofkriegsrat
Vier Hindernisse stellten sich der Schweizer Operation von Süden her damals
im Mai und in den folgenden Monaten in veränderter Form immer wieder in
den Weg: Zum einen entstanden Friktionen zwischen Wien und Suworow, die
auf den Gegensatz der zwei Strategien zurückgingen.
Österreich wollte erobern und danach darüber verfügen, Suworow wollte
befreien, die legitimen Regierungen (konkret insbesondere die sardinischpiemontesische Regierung in Turin, aber auch die Alte Eidgenossenschaft in
ungeschmälertem Umfang) einsetzen und mit ihrer Hilfe gegen Frankreich
weiterziehen.
Die Spannungen zehrten an Suworows Kräften. Ja, es lässt sich sagen, dass
Suworow dem Erfolg seiner Armee alles aufopferte, am Ende sogar sein
seelisches Gleichgewicht und seine geistige Gesundheit.
Von der blossen Bizarrerie brachte es der Feldzug eines Sommers und eines
Herbstes bis zum 3. Januar 1800 dazu, dass Lord Minto, der verständige und
nüchterne nachmalige Vizekönig von Indien, in Prag aus unmittelbarer
Anschauung über den Eroberer Italiens und Bezwinger des Gotthard schreiben
musste: «Er ist der vollkommenste Bedlamite (Insasse des grössten
Irrenhauses von London), den man je hat frei herumlaufen lassen. Ich habe
noch nie etwas derart Verrücktes gesehen und etwas, wie es mir scheinen will,
so in jeder Hinsicht Verächtliches.»
- 10 -
Das Ergebnis zeigt, wie sehr Suworow im Sommer 1799 an den ständigen
grossen und kleinen Nadelstichen aus Wien litt. Der Wiener Hofkriegsrat
ängstigte sich um Mantua bis zur Kapitulation der Stadt. Bonaparte hatte nicht
gewagt, an dieser Festung vorbeizuziehen, und nun ging Suworow an dieses
gewagte Unterfangen!
Wien bremst Suworow
Er musste gebremst werden, und er wurde mit allerhand Verboten und
direkten und indirekten Massnahmen sehr zu seiner zusätzlichen Irritation
auch tatsächlich gebremst. Zudem wirkte die natürliche Rivalität zweier
grosser Heerführer und die daraus resultierende ausweichende Rücksicht
gegen ein Engagement in den Alpen, denn dort war die Naht der beiden
Armeen: an der Grimsel und an der Massa-Brücke von Naters sowie am
Simplon hatte Suworows Armee ihren äussersten rechten Flügel, im Kanton
Uri stand der äusserste linke Flügel Carls. Dieser hatte sein Hauptquartier im
Sommer in Kloten, Suworow in Turin, Alessandria, Asti.
Keiner von beiden blickte mit besonderer Priorität auf das Gebirge, denn dort
hielt jeder primär den anderen für zuständig. Schliesslich sah sich Suworow
noch der Aufgabe gegenüber, die nicht endgültig geschlagenen französischen
Armeen zu beobachten und ihnen bei einem Versuch, in die Ebene
auszubrechen, entgegenzuziehen und sie zu schlagen. Die Augen des
Feldmarschalls waren daher die meiste Zeit nach Süden und nicht nach
Norden gerichtet.
S. 20:
Austrorussische stossen französische Truppen zurück
Frankreich fand sich am Abgrund. Von Glurns und Nauders an waren seine
Soldaten nur noch zurückgegangen. Im Mai hatten die Austrorussen die Heere
der Republik nördlich und südlich der Alpen in der Schweiz zurückgestossen.
Wenn auch die örtlichen Aufstände gegen die Franzosen überall zu früh
ausgebrochen waren und deshalb von diesen noch vor dem Auftauchen der
Alliierten niedergeschlagen werden konnten, so erschienen doch vielerorts
unmittelbar danach die Austrorussen, nahmen insbesondere vom
Gotthardstock, von der Grimsel und vom Simplon Besitz und erreichten
Aosta.
- 11 -
Nach seinem Sieg an der Trebbia und nach der Kapitulation der Zitadelle von
Turin griff Suworow das Wallis-Projekt erneut auf, nur um Anfang Juli ein
Rücktrittsschreiben aufzusetzen und sich vom Wallis wieder abzukehren.
Chaotische Lage der Helvetischen Republik 1799
Beim Gegner regnet's auch. Dass die Helvetische Republik bei der Aushebung
auf Widerstand stiess und diesen mit zum Teil brutaler Repression
unterdrückte, dass die Behörden im Mai den Regierungssitz aus der
Gefahrenzone wegverlegten und von Luzern nach Bern übersiedelten, dass sie
im gleichen Monat ihren Oberbefehlshaber absetzten, einen Nachfolger
bestimmten, als dieser aber gefallen war, gleich die Oberbefehlshaberstelle
abschafften, dass ein Direktor, La Harpe, einen anderen, Ochs, als Verräter
brandmarkte und stürzte, dass La Harpe in der Folge - freilich umsonst versuchte, die Franzosen zum Verzicht auf die geschlossene Offensiv- und
Defensivallianz und zur erneuten Anerkennung der schweizerischen
Neutralität zu bewegen, kennzeichnet die Lage des Satellitenstaates weit
realistischer als die ebenfalls zutreffende Feststellung, dass 1799 in
zukunftweisender Klarsicht der Schweizer Franken zu 100 Rappen eingeführt
wurde. Nur floss er nicht gerade reichlich im ersten Jahr seiner Existenz. Doch
das Helvetische hat nur aus patriotischen Gründen sein Recht auf Erwähnung.
Krise in Frankreich
Das Jahr wurde geprägt durch die Ereignisse in Frankreich. Das französische
System befand sich seit den Niederlagen des Aprils in einer Krise, die erst und auch dann nicht wirklich auf Dauer - überwunden wurde, als der, knapp,
die verfassungsmässigen Formen respektierende Prairial-Umsturz ein auf
Barras und den kurz zuvor regulär zugewählten Sieyès eingeschworenes
Direktorium an die Macht brachte.
Neu ernannter Kriegsminister
Das wichtigste Ministerium war nun selbstverständlich das von einer
ehrlicheren Zeit auch so genannte Kriegsministerium, an dessen Spitze
Bernadotte Zeugnis für seine beachtlichen Talente ablegte.
- 12 -
Mit einem Schwergewicht von vielleicht 90'000 Mann in der Schweiz die
Nahtstelle der Armeen Suworows und Carls angreifen und diesen das
Rochieren im Idealfall wieder bis zur Reschen-Scheideck und jedenfalls so
weit östlich wie denkbar verunmöglichen, mit einer Phantomarmee um
Mannheim und Philippsburg herum Lärm schlagen und soviele Kräfte des
S. 21:
Erzherzogs wie irgend möglich nach Norden ziehen, in den Niederlanden der
erwarteten britisch-russischen Landung entgegentreten und in Italien
Suworow wenigstens festhalten. Suworows Sieg bei Novi vereitelte die
italienische Komponente dieser grossen Konzeption, das Herzstück, der
Angriff in den Alpen, wurde freilich am 14. und 15. August 1799 Wirklichkeit
und veränderte die Weltgeschichte.
- 13 -
S. 22:
Scheinangriff auf das österreichisch besetzte Zürich
Der gleichzeitige französische Diversionsangriff auf das österreichisch
besetzte Zürich hatte direkt und indirekt erhebliche Folgen. Die wichtigste
davon war der Verlust an Glaubwürdigkeit des Erzherzogs bei der britischen
Diplomatie in der Schweiz und insbesondere bei deren Spitzenmann William
Wickham. Dieser hatte in Erfahrung gebracht, dass Carl entgegen seinen
früheren Behauptungen selbst nicht über weniger, sondern über mehr Truppen
verfügte als Masséna.
Dessen Pessimismus, welcher ihn noch am 24. Juli beherrschte, war
verflogen, und als Ende Monat dann der Erfolg von Bauen eintrat, wo der
österreichische Brigadekommandant im Kanton Uri, Bey, gefangen wurde,
ging er mit Zuversicht an die Umsetzung von Bernadottes Konzeption: Es
handelte sich darum, die Kommunikation der Alliierten über die Zentralalpen
durch eine Eroberung des Gotthards und einen Stoss nach Graubünden zu
unterbrechen.
Kämpfe im Wallis
Um dies möglich zu machen, griff im Wallis die französische Division
Turreau am 13. August bei Rosswald an und trennte die am Simplon stehende
Brigade Rohan von der im Goms stehenden Brigade Strauch. Strauch setzte
seine Reserven daraufhin um so mehr im Binntal ein, als er, vielleicht
aufgrund falsch interpretierter eigener Gebirgskampferfahrung, glaubte, die
Grimselstellung sei uneinnehmbar. Am 14. August hielt Turreaus Angriff mit
6'000 Mann rhoneaufwärts Strauch in der Front fest, während Gudin mit 3'800
Mann die Grimsel eroberte, zum Stoss über die Furka ansetzte und binnen
zweier Tage von Andermatt kommend die Schöllenen erreichen und damit
den Gotthard den Franzosen zurückgeben sollte.
Eines von Gudins vier Bataillonen rückte am 13. August nach Guttannen vor,
zwei nach Boden und eines blieb in Meiringen. Bei diesem handelte es sich
um Lémaner, also Waadtländer, in Guttannen stand ein Bataillon der 25.
Leichten Halbbrigade, die beiden Bataillone in Boden gehörten zur 67.
Halbbrigade. Heinrich Zschokke, der Gudins Kollegen Loison Richtung
Gadmen und Susten begleitete, sah Gudin und seine Leute am 13. August.
- 14 -
«Jenseits des Kirchet-Hügels, am Dörflein Im- Grund, schied von uns der
General Güdin, ein sanfter gefälliger Mann. Seine Brigaden» - Zschokke
braucht fälschlich die Mehrzahl - «zogen die Berg-Strasse an der Grimsel, auf
deren unwirthbaren Höhen, hinter Wällen von Fels Trümmern, der Feind ihn
erwartete. Man muss mit eigenen Augen jenes grausenvolle Chaos von steilen
schlüpfrigen Klippen gesehn haben, und die Ermattung kennen, welche das
Besteigen der Gebirge in heissen Tagen giebt, wo der Genuss bittern SchneeWassers den Durst mehr reizt, denn stillt, man muss den Kranz von schroffen
Felsen kennen, welchen droben die Kaiserlichen überall vorteilhaft besetzt
hielten, um das Ungeheure des Wagstüks würdigen zu können, welches hier
fränkische Truppen bestanden. Sie siegten, und fegten im Sturm-Marsch das
Gebirg, am folgenden Tage.»
Unterstützung aus Guttannen
Noch am 13. August 1799, 23.00 Uhr, brachen vier Kompanien von
Guttannen auf. Der 63 Jahre alte Niklaus Fahner, der im «Bären» erklärt hatte,
er könne den Franzosen den Weg schon zeigen, auf dem
S. 23:
- 15 -
S. 24:
sie in den Rücken der Österreicher kämen und ihnen den Rücken brechen
könnten, führte sie «vom obern Bögli über die Felsen, Schneefelder und
Gletscher der Gerstenhörner und des Nägelisgrätli in den Rücken der an u. auf
der Grimsel stehenden Oestreicher unter beständigen Todesandrohungen»,
wie das Guttanner Burgerregister zu berichten weiss.
Zwischen Mitternacht und dem 14. August 1799, 01.00 Uhr, setzte sich der
Rest von Gudins Truppen aareaufwärts in Bewegung. Eine halbe
Marschstunde unterhalb des Hospiz erwarteten die Österreicher Gudin. Der
Brigadegeneral entschloss sich, auf einer Schneebrücke über die Aare zu
setzen. Die Kompanie Hardy der 25. Leichten Halbbrigade setzte als erste
über und begann, sich von Felsen zu Felsen vorzuarbeiten. Dies erleichterte
den frontalen Angriff auf die Brücke. Gudin ging sogleich zum Angriff auf die
Grimsel über, wobei er den Rest des Bataillons der 25. Leichten in
Angriffsrichtung rechts und beide Bataillone der 67. Halbbrigade in der Front
einsetzte.
Gudins Schilderung des Kampfes vom 14. August 1799
Gudins Schilderung, am Kampftage selbst redigiert, ist eindrücklich: «Zwei
Kompanien der 25. sind über die Felsen zur Rechten nahe der Aarequelle
geklettert, während der Rest des Bataillons in Tirailleurformation sich auf die
Rechte und auf das Zentrum geworfen hat. Die Grenadiere der 67. sind
gefolgt, danach die Bataillone 1 und 2. Erst nach unglaublichen
Schwierigkeiten und einem während sechs Stunden andauernden lebhaften
Schusswechsel ist es uns gelungen, diese erste Grimselsstellung zu gewinnen.
Die vier Kompanien der 25. trafen im selben Augenblick auf dem Plateau ein,
wo sie 96 Gefangene machten, wir haben dort noch weitere 150 Mann
gefangen.
Von dieser ersten Grimselstellung hatte sich der Feind hinter einen sehr
vorteilhaften Vorhang zurückgezogen, von welchem aus er ein schreckliches
Feuer auf uns unterhielt, um seinen Rückzug leichter zu bewerkstelligen.
Unsere Truppen waren erschöpft und konnten kaum mehr gehen, allein, ein
Augenblick der Erholung hat ihnen ihre ganze Kraft zurückgegeben und schon
wirft ein Bajonettangriff des chefs de brigade Chossat den Feind über den
Haufen.
- 16 -
Er hat sich in sein Lager von Geschinen gerettet, dessen wir uns ebenfalls
bemächtigt haben. Der Feind hat sich auf die Griesschlucht und ins Wallis
zurückgezogen. Er hält noch einen Teil der Rhoneschlucht dort, wo der
Meienwang mündet. Ich habe ihn dort heute Abend aufscheuchen lassen, aber
die Schwierigkeit des Geländes hat einen kräftigen Angriff verunmöglicht,
umso mehr als der Grimselangriff meine Truppen in eine derartige Konfusion
gebracht hatte, dass ich Mühe haben werde, sie morgen früh zu sammeln.
Morgen greife ich die Furka an.»
Zerstörte Teufelsbrücke
Gudins Erfolg an der Grimsel hatte mittlerweile Lecourbes Hauptproblem, die
Inbesitznahme der Teufelsbrücke, gelöst. Wohl war der rührige
Divisionskommandant in Flüelen angelandet, wohl konnte der
Freigrafschäftler beim Stoss durchs Reusstal hinauf die Kolonnen an sich
ziehen, die unter grossem Aufwand über Surenen und Susten und nicht ohne
harte Kämpfe an der Meienschanze ob Wassen in den Urner Talgrund gelangt
S. 25:
waren, letztlich aber war und blieb die Schöllenen in der Front, und im
Unterschied zu den Urner und Leventiner und Walliser Föderalisten vom
Frühjahr, die aus Rücksicht auf die Ursner die Brücke stehengelassen hatten,
zerstörte sie jetzt der Österreicher Simbschen, Nachfolger des gefangenen
Bey.
Lecourbes Leute, auf die etwas vom Elan ihres Chefs übergegangen war,
setzten in Richtung Urner Loch an und fanden sich vor einer 30 Fuss
messenden Unterbrechung der Teufelsbrücke. Lecourbe stand buchstäblich
am Rande des Abgrunds. Die Rettung nahte allerdings von Westen. Einige
Leute Strauchs - wir haben dafür Gudin zum Zeugen - zogen sich, auf der
Grimsel geschlagen, am 14. August über Meienwang Richtung Furka zurück.
Von diesen wenigen Versprengten wusste Strauch aber selbst am 15. August
in Airolo noch gar nichts. Er gehörte zur Armee Suworows und dachte nach
seinen Rückschlägen im Wallis primär noch daran, sich - ohne abgeschnitten
zu werden nach Süden zurückzuziehen. Da er befürchtete, er könnte durch das
Blenio umgangen werden, hielt Strauch am 16. August nicht einmal in Biasca
an, sondern zog sich nach Bellinzona zurück. Der Nachbarbrigadier
Simbschen in Ursern hing damit etwas in der Luft.
- 17 -
Simbschens Rückzug
Es sollte noch schlimmer kommen: Simbschen, der am 15. August immerhin
die Teufelsbrücke demoliert und Lecourbe gestoppt hatte, wurde nun
seinerseits durch das Auftauchen Gudins auf seinem mageren Rösslein, wie
sich die Wirtin der «Drei Könige» in Andermatt später erinnerte, überrumpelt.
Dem Erzherzog Carl, seinem Armeekommandanten, schrieb Simbschen am
15. August «dass der Feind das vom Obristen Strauch besetzt gewesene
Grimselthal forciert habe, wodurch er, Simbschen, genötigt worden sei, um
nicht durch das Splügerthal von Chur abgeschnitten zu werden, seinen
Rückzug nach Dawos zu nehmen.»
Gotthard in französischer Hand
Lecourbe stellte deshalb am 16. August um 07.00 Uhr an der Teufelsbrücke
befriedigt fest, dass rechts der Reuss, von Andermatt her kommend, Gudins
Leute auftauchten. Die Schöllenen, der Gotthard waren in französischer Hand,
der Feind stand einerseits hinter der Moesa und stellte sich andererseits hinter
der Landquart auf. Von nun an konnte er wohl noch massiv von Süden her
auftauchen, aber nicht mehr überraschend im Zugerland erscheinen, sondern
nur noch in der Leventina. Die dadurch gewonnene zusätzliche operative
Tiefe sollte dann Masséna Ende September das waghalsige Übersetzen über
die Limmat von Dietikon gestatten, ohne einen Zusammenschluss der Russen
Suworows, der Österreicher Hotzes und der Russen Rimski-Korsakows im
Raume Menzingen-Langnau am Albis befürchten zu müssen.
Scheinangriff auf Zürich wird erkannt
Vorderhand war freilich noch Erzherzog Carl im Lande. Als er den
Täuschungsangriff auf Zürich am 14. August als solchen erkannte und für den
im Kanton Schwyz heftigen Angriffen ausgesetzten Jellachich in Sorge geriet,
versuchte der Erzherzog unter Zusammenraffung seiner Reserven am 17.
August bei Döttingen
S. 26/27: den Übergang über die Aare. Der felsige Grund, die Verzögerung und das
dadurch bewirkte Anwachsen der französischen Truppenstärke bei
Kleindöttingen links der Aare, das mörderische Feuer der Franzosen sowie
- 18 -
einiger in ihren Reihen dienender Helvetier, schliesslich aber die
besorgniserregenden Nachrichten aus den Zentralalpen bewegten Carl, den
Versuch aufzugeben und die frei werdenden Kräfte Hotze zur Verstärkung des
linken Flügels und zum Schutze von Vorarlberg und Graubünden zukommen
zu lassen.
Einmarsch der Russen - Rimski-Korsakows in der Schweiz
Der Gotthard, Uri und Schwyz waren seit Mitte August 1799 in französischer
Hand, Glarus folgte wenig später. Kurz darauf erschienen die Russen RimskiKorsakows in der Schweiz, so dass Carl nun definitiv stark genug gewesen
wäre, Masséna zu schlagen. Thugut verbot dies, weil er seine Armee nicht in
einem mühsamen schweizerischen Feldzug abzunützen, sondern in
Deutschland zur Überwachung der Preussen und der in den Niederlanden
landenden Anglorussen einzusetzen gedachte.
Das Mass des französischen Triumphes an Grimsel und Gotthard offenbart
das brennende Grengiols - anders als durch Anzünden eines Dorfes glaubten
die Österreicher sich dort nicht von ihrem Gegner lösen zu können - am 14.
August, sowie Simbschens rascher Rückzug nach Chur und Strauchs Rückzug
nach Bellinzona in den Tagen danach.
Französischer Rückschlag in Italien
In Italien erlitten die Franzosen am 15. August einen ganz erheblichen
Rückschlag: Suworows Sieg bei Novi öffnete den Austrorussen den Weg an
die Riviera und nach Nizza. Die strategischen Verhältnisse hatten sich
beidseits der Alpen je mit umgekehrten Vorzeichen grundlegend verändert. In
der Schweiz nördlich des Gotthards konnte Masséna jetzt an der Limmat einen
Angriff wagen, ohne ein überraschendes Auftauchen von Gegner im
Zugerland befürchten zu müssen. Dieser konnte vielmehr von nun an bereits
in Airolo und nicht erst in Menzingen erkannt werden, so dass
Unternehmungen gewagt werden konnten wie am 29. August der Versuch
eines Limmatübergangs bei Vogelsang. Masséna wollte den Österreichern
Carls zu Leibe rücken, ehe sich die Russen Rimski-Korsakows mit ihnen
vereinigt hatten und sie unüberwindlich geworden waren.
- 19 -
Allein, Masséna scheiterte an ähnlichen Hindernissen wie Carl zuvor bei
Döttingen, zu seinem Glück, ist man versucht zu sagen, denn auf der
Gegenseite wurde just in jenen Tagen die Aufgabe der Franzosen auf
wunderbare Weise erleichtert.
- 20 -
Österreichs Truppen sollen aus der Schweiz abgezogen werden
Am 7. August war als Emissär des mächtigen Wiener Ministers Thugut Graf
Dietrichstein bei Erzherzog Carl in Kloten erschienen und mit dem Grafen der
Befehl, nach dem Eintreffen der Russen Rimski-Korsakows die
österreichischen Truppen aus der Schweiz in Richtung Mannheim und
Philippsburg zu führen, um Preussen und die bevorstehende anglorussische
Landung in den Niederlanden zu beobachten sowie den am Mittelrhein
stehenden Franzosen, einer dank geschickter Täuschung gross scheinenden
Armee, zu begegnen.
S. 28:
Carl, der lieber zusammen mit den Russen über die Franzosen hergefallen und
sich via Hüningen und Belfort einen Weg ins Innere Frankreichs gebahnt
hätte, wurde mit dem Hinweis des Kaisers abgefertigt, politische Rücksichten
auf das Beste der Monarchie erforderten zwingend den Marsch nach Norden.
Der Abmarsch Carls, der am 31. August mit dem Gros seiner Truppen in
Donaueschingen stand, erzeugte in der durch den weniger als halb so starken
Rimski-Korsakow besetzten Ostschweiz einen strategischen Sog, der
einerseits Thuguts weiteren Plan, Suworow aus Italien zu entfernen, förderte,
andererseits Massénas Angriff am 25. und 26. September ermöglichte und
damit den französischen Gesamtsieg im Schweizer Feldzug von 1799.
Es hätte sich trotz Thuguts wahrhaft unübertrefflicher Unbeholfenheit dieses
Ergebnis nicht einstellen müssen, wenn Suworows für die Franzosen
überraschender Heranmarsch nicht in der Leventina, sondern im Zugerland
festgestellt worden wäre. Allein, dies ist Geschichte im Konjunktiv. Im
Indikativ hatte Gudin an der Grimsel dafür gesorgt, dass es dazu nicht mehr
kommen konnte.
Gute Stimmung im antifranzösischen Lager
Die Stimmung im antifranzösischen Lager war auch nach Mitte August noch
gut, wenigstens in den nicht so genau informierten, aber einflussreichen
Kreisen.
Lavater predigte im Zürcher Sankt Peter am 18. August noch voller
Zuversicht, ja selbst der an der Spitze seines kleinen Heeres herankommende
Rimski-Korsakow erhielt von Carl Vorschläge für einen gemeinsamen
- 21 -
Angriff. Allerdings wurde nicht nur nichts daraus, Rimski-Korsakow wurde
auch geschickt an den Obersee dirigiert, damit Carls Österreicher für einen
fluchtartigen Rückzug aus der Schweiz das Feld frei hatten.
Dass durch diese Bewegungen das Vertrauen der britischen Diplomaten und
der russischen Generäle in die österreichische Politik zerstört wurde, war der
Preis, den Thugut für seine Eifersucht gegenüber Preussen bezahlen musste.
Am letzten Augusttag stand Carl in Donaueschingen, während in Wien der
gemessene Befehl für Hotze ausgefertigt wurde, nur wenige Bataillone in der
Schweiz zurückzulassen, sich von allen Offensivoperationen in Helvetien
fernzuhalten und die Substanz seiner Kräfte dem Erzherzog in Deutschland
zuzuführen. Rimski-Korsakow sollte die Last der erwarteten schwierigen
Operationen mit seinen Russen und allfälligen Schweizer Hilfskräften allein
tragen. Nur die Apparencen waren zu wahren. Die Schuld sollte nicht auf die
Österreicher fallen, teilte Carl Hotze am 2. September mit.
Suworow bereitet den Angriff auf den Gotthardpass vor
Mittlerweile hatte sich Suworow in Bewegung gesetzt, um mit allen in Italien
stehenden russischen Truppen den Gotthard zu überschreiten. Am 5.
September in Asti sah der Feldmarschall den Angriff auf den Pass auf den 19.
September vor. Die Operationsidee redigierte Strauch am 8. September 1799
in Bellinzona. Er ging bestandesmässig von 22'500 Mann Infanterie und 6'070
Mann Kavallerie aus. Von diesen austrorussischen Kräften sollten 8'000 Mann
über den Lukmanier nach Disentis und, dort durch Verstärkungen aus dem
Korps Hotzes gekräftigt, über den
S. 29:
Oberalp nach Andermatt gelangen, um den Pass von hinten zu öffnen.
Gleichzeitig war der Sankt Gotthard frontal anzugreifen. Hotze seinerseits
unterbreitete Suworow den Antrag, einen Stoss von Disentis über den
Chrüzlipass nach Amsteg zu veranlassen, also weiter nördlich die Front mit
der nämlichen Methode zu entlasten, die Strauch dem Angriff auf den
Gotthard zugrunde gelegt hatte.
Suworows neuer Stabschef Weyrother bewegte seinen Feldmarschall
schliesslich dazu, von Ursern aus durch die Schöllenen in Richtung Altdorf
und Schwyz weiterzustossen und nicht nach Graubünden abzudrehen und so
die Vereinigung mit Hotze zu suchen.
- 22 -
Gleichzeitig behinderte Thuguts strenges Verbot, österreichische Truppen
links des Vierwaldstättersees gegen Luzern vorgehen zu lassen, die
Operationsführung auf unterer Stufe zusätzlich.
Bei alledem war Hotze am 22. September in Kaltbrunn, war trotz der
Verzögerung infolge des langwierigen Angriffs auf den Pass Suworow am 24.
September in Hospental optimistisch.
Gravierende Fehler
Hotzes Angriffskonzeption rief nach Truppen, so dass aus dem Lager von
Rimski-Korsakows Reserve in Zürich-Seebach am 24. September sechs
Bataillone, etwa sechs Siebtelseiner frei verfügbaren Truppen, in Richtung
Rapperswil abmarschierten und am 25. September in der ersten Phase von
Massénas Flussübergang bei Dietikon nicht zur Verfügung standen. So
entgingen die Franzosen, wohl insgesamt, jedoch in der verwundbaren Phase
nicht diesseits der Limmat zahlenmässig überlegen, einem Desaster und
erstritten ihrerseits einen Triumph, den Sieg in der Zweiten Schlacht bei
Zürich. Mit dazu bei trug Rimski-Korsakows starrsinniges Festhalten am
eigenen Stoss Richtung Albis, sein verheerender Mangel an Neugier und das
Fehlen jener überlegenen Gelassenheit, die ein Feldherr an der Spitze eines
Heeres seinen Soldaten schuldet. Dass er überhaupt nach Eglisau entkam,
verdankte er nicht seiner Tüchtigkeit, sondern der Tapferkeit seiner Soldaten.
Die operative Konsequenz von Rimski-Korsakows Niederlage, des
gleichzeitigen Todes Hotzes und seines Stabschefs Plunkett in Schänis war
Suworows Ostschwenker über den Pragel und schliesslich sein knappes
Entkommen über den Panixer nach Graubünden. Diese umwälzenden
Vorgänge auf dem schweizerischen Kriegsschauplatz führten den sensiblen
Kaiser Paul I. dazu, Franz Il. in aller Form zu schreiben, er gebe seine
Interessen auf und kümmere sich hinfort nur noch um die eigenen.
Napoleons zweite Karriere
Keine zwei Wochen vor diesem Scheidebrief eines Kaisers an einen Kaiser
fasste der aus Ägypten zurückgekehrte General Napoléon Bonaparte wieder
Fuss auf dem europäischen Kontinent.
- 23 -
Seine zweite Karriere begann, die ganz grosse, jene, die ihn via die Würde des
ersten Konsuls 1799 und den Marsch über den Grossen Sankt Bernhard und
die Schlacht von Marengo 1800 letztlich 1804 zur Kaiserwürde führen sollte.
Politisch war die Folge von Bonapartes Triumph von Marengo für die
Schweiz, einen Klientelstaat Frankreichs und damit auch Nutzniesser von
Frankreichs Siegen, dass die unnatürliche Trennung von Graubünden ihr Ende
fand und dass die österreichische Strategie sich
S. 30:
nur im Veltlin und nicht in den von Wien ebenfalls gewünschten Territorien
Graubünden, Tessin und Wallis längerfristig durchsetzte, und das auch nur,
weil das Veltlin zunächst wieder in den Einflussbereich Bonapartes fiel.
Langfristige Wirkung
Es ist keine Übertreibung, zu sagen, dass die heutige Schweizer Ost- und
Südgrenze ohne Bonapartes Erfolg in Marengo wohl ungünstiger verlaufen
würde, wenn es die Schweiz überhaupt noch gäbe. Auf der anderen Seite war
der militärisch demonstrierte, durch die Persönlichkeit Schultheiss Steigers
glaubwürdig verkörperte Selbstbehauptungswille des Landes für die
mehrheitlich helvetophilen Briten ein Grund, dem Land mit jenem
Wohlwollen zu begegnen, welches 1815 nicht nur zur Rückkehr Neuenburgs,
des durch Bonaparte abgetrennten Wallis und Genfs zur Schweiz, sondern
auch zur Integration des gesamten Bistums Basel und zur Anerkennung der
Neutralität durch die Mächte in der Pariser Erklärung beitrug.
Es konnte nicht schaden, dass der Sohn Pauls I. in der Schweiz andere
Freunde hatte als sein Vater, dass Alexanders I. Freund La Harpe hiess und
nicht Lavater, dass aber der neue Monarch dem Land selber gegenüber ebenso
günstig gesinnt war wie der alte.
So wurde auch unter russischem Einfluss die von Bonaparte 1803 klug und
weise diktierte territoriale Ordnung 1815 beibehalten und hat nun schon fast
zwei Jahrhunderte ihre Tauglichkeit bewiesen.
Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt!
Napoléon dachte noch auf Sankt Helena mit grossmütiger Anerkennung an
den Widerstandswillen der Schweizerinnen und der Schweizer zurück.
- 24 -
Er erklärte zudem autoritativ, wenn es anders gehe, solle man
Gebirgsoperationen vermeiden und durch schöne Ebenen auf die Hauptstädte
des Gegners zumarschieren.
Der Zauber der Persönlichkeit Napoleons verlieh solchen Äusserungen Kraft.
Dadurch und durch den relativen Frieden des kriegsmüden Europa der dreissig
Jahre nach 1815 gelangte die Schweiz etwas in den strategischen
Windschatten. Als sie 1882 durch die Eröffnung der Bahn durch den Gotthard
erneut zur Zielscheibe der Aufmerksamkeit der Generalstäbe wurde, erinnerte
sie sich des Leids von 1799 und 1800, baute dort, wo Suworow und Bonaparte
durchgezogen waren, die Gotthardfestung und jene von Saint-Maurice und
verlieh ihrer Neutralität jene Glaubwürdigkeit, die sie danach durch zwei
Weltkriege und einen Kalten Krieg behaupten konnte.
Dass wir heute, durch eine Freundschaft in der Freiheit mit allen Parteien der
Kriege von 1799 und 1800 verbunden, dankbar auf jene harten Jahre
zurückblicken können, ist ein grosses Glück, das uns allen für alle Zukunft
Vermächtnis ist und zugleich Auftrag.
S. 31:
Ansprüche
Decke Wien so lang Du kannst! schrieb Kaiser Franz am 6. April 1797 seinem
Bruder ins Feld? Erzherzog Carl war Österreichs bester Feldherr. Nicht einmal
er schien den Siegeslauf General Napoléon Bonapartes aufhalten zu können.
Preussen hatte bereits 1795 in Basel mit der Französischen Republik Frieden
geschlossen, Spanien war gefolgt, ja hatte sich 1796 sogar im Vertrag von San
Ildefonso mit den gefürchteten Revolutionären an der Seine gegen
Grossbritannien verbündet. Grossbritannien behauptete sich auf den
Weltmeeren, wo ihm Richard Howe, Earl Howes Sieg in der Seeschlacht des
«Glorious First of June» 1794 die im Zeitalter der Amerikanischen Revolution
in Frage gestellte moralische Überlegenheit zurückgab. Von allen
kontinentalen Mächten, auf die es ankommen konnte, stand einzig Österreich
noch im Felde. Nun aber liess sich Kaiser Franz II. gezwungenermassen zu
einem harten Frieden herbei.
- 25 -
Der Friede von Campo Formio
Der kluge Bonaparte versüsste die Pille, indem er die gar nicht am Krieg
beteiligte neutrale Republik Venedig in der Substanz Österreich einräumte.
Die Alpentransversalen und die Staatsschätze veranlassten den Korsen
zugleich, den beherrschenden Einfluss in der Helvetischen Republik für
Frankreich zu beanspruchen und, denn für weiteren Widerstand war
Österreich zu sehr geschwächt, auch zu erhalten. Zwar wusste noch kein
Bewohner der neutralen Schweiz, dass sein Land jemals «République
helvétique» heissen würde, aber Bonaparte und der österreichische
Unterhändler Ludwig Graf Cobenzl hatten es nun einmal beschlossen, und
diese willkürliche Verfügung wurde mit dem Frieden von Campo Formio am
17. Oktober 1797 unterschrieben und danach in Wien und in Paris auch
ratifiziert.
Macht gibt Recht
So haben Grossmächte zu allen Zeiten über Kleinstaaten verfügt, so tun sie es
im 20. Jahrhundert - Namen wie Tuwa, wie Tibet, wie Timor klingen in den
Ohren der Zeugen unseres blutigen Saeculums nach - so werden Mächte
immer handeln, wenn sie glauben, sie könnten unangefochten zugreifen.
Kleinstaaten überleben aus eigener Kraft, wenn sie sich nach finnischem oder
afghanischem oder israelischem Muster durch nachhaltige Gegenwehr zu
einem strategischen Faktor machen. So gilt's im 20. Jahrhundert, so galt's im
18. Die älteste Republik der Welt, Venedig, ging infolge des Friedens von
Campo Formio würdelos unter. Der letzte Doge, Lodovico Manin, hatte
bereits am 30. April 1797 in der Ratsversammlung der sogenannten «Consulta
Nera» erklärt, diese Nacht werde niemand mehr ruhig schlafen, nicht einmal
in seinem eigenen Bett. Wer so aufgibt, hat keine politische Zukunft mehr.
Die Republik Bern dagegen bewahrte wenigstens ihr Saatkorn. Das Saatkorn
eines politischen Systems ist die Selbstachtung der Menschen, welche es
bewahren, und die Achtung der Weltöffentlichkeit. Beides überlebte die
Katastrophe des 5. März 1798 dank den Gefechten von Fraubrunnen, im
Grauholz und bei Neuenegg.
Peter Wyss von Isenfluh gehörte zu den Siegern von Neuenegg: «Ich kam
unversehrt wieder heim, aber immerhin ganz traurig und misstimmt, dass es
trotz eines so schönen Sieges so schlecht noch ergehn
- 26 -
S. 32:
musste. Von Neuhaus hatte ich noch den Weg durch das Bödeli und
Lütschenthal zu machen. Es war Abend, als ich auf dem steilen Fusspfad
hinauf in meinem hohen Isenfluh und meiner Heimath wieder anlangte. Da
liess ich es mir wieder wohl sein und hatte den Meinen nun viel zu erzählen.
Der Anblick der majestätisch schönen Jungfrau uns gegenüber und ihrer
Nachbarn, links des Eigers und Mönchs und rechts der Eisgebirge bis in die
Wetterlücke im Schmadribach freute mich wieder, und wenn auch Bern
übergegangen, so vertraute ich, dass so lange diese Berge hoch und fest
dastehn und in unser Schweizerland wie seine Hüter herein gucken, so auch
der liebe Gott dasselbe immer beschirmen und behüten werde, und wenn auch
die Franzosen im Land und jetzt Meister waren in ihm, es nicht von langer
Dauer sein, des Landes Freiheit nicht untergehn, sondern vielleicht um so
schöner erblühn werde.» So empfand ein tapferer Mann in Isenfluh.
Trotz Niederlage geachtete Schweiz
Niklaus Friedrich von Steiger hatte die Hoffnung nach Augsburg ins Exil
getragen. Die Reaktion des Auslandes war klar. Die «Times» des 29. März
1798 berichtete über Aussenminister William Wyndham Grenville, Baron
Grenvilles Rede im House of Lords vom Vortag: «Es sei sicher, dass die
Sache der Schweizer die Sache jedes Engländers sei, dem die Menschheit ein
echtes Anliegen sei und der die politische Wohlfahrt der Welt fördern wolle.
Sie hätten eine Festigkeit und einen Mut gezeigt, die in der Tat Applaus
verdienten, ...››
Die Haltung der Schweizer fand Anerkennung, ihre militärische Reputation
überlebte weitgehend den Zusammenbruch. So konnte Gilbert Elliot-Murray
Kynynmound Baron Minto am 2. Dezember 1798 in einem Privatbrief einen
besonders militärischen Obersten ohne Umschweife als «Swiss grenadier»
bezeichnen. Selbst in den USA, wo nicht allzulange vor dieser Zeit Elemente
des schweizerischen Staatsaufbaus als vorbildlich bei der Ausarbeitung der
Verfassung zu Rate gezogen worden waren, erzeugte der schweizerische
Widerstandswille ein erhebliches Echo.
Revolutionäre Glaubwürdigkeit Frankreichs leidet
Der revolutionären Glaubwürdigkeit Frankreichs versetzte die durch nichts zu
rechtfertigende Eroberung der Schweiz einen empfindlichen Schlag.
- 27 -
Der erste Mann Frankreichs jener Tage, Paul Barras, erkannte dies im
Rückblick selbst: «Die Revolution in Helvetien hat vielleicht die Zahl unserer
Feinde vergrössert, sowohl wegen der Ressentiments infolge der angewandten
militärischen Härte als auch aufgrund der Unterschlagungen der in jenes
Land geschickten zivilen Agenten. Die Schweizer waren im Grunde nie unsere
Freunde. Indem wir uns ihrer Neutralität, des Besten, was sie uns geben
konnten, beraubten, haben wir die zu bewachenden Grenzen verlängert.»
Auch Napoléon erkannte dies im Rückblick, nur dass er die Verantwortung
von sich auf das Direktorium und insbesondere ein ihm verhasst gewordenes
Mitglied dieser Behörde abwälzte: «Reubell, von den Schweizer Demagogen
mitgerissen, liess ein anderes System einrichten. Ohne Rücksicht auf die
Sitten, auf die Religion, auf die jeweiligen örtlichen Gegebenheiten in den
Kantonen beschloss das Direktorium die Schweiz einer einheitlichen, an jener
Frankreichs orientierten Verfassung zu
S. 33:
unterwerfen. Die Schweiz erhob sich gegen eine Umwälzung, die quer zu allen
Interessen erfolgte und alle Leidenschaften entzündete. Es war nötig,
französische Truppen einschreiten zu lassen und zu erobern: Blut floss,
Europa horchte auf.»
Österreichische Krokodilstränen
Mit Krokodilstränen, denn wer hatte die Schweiz im Frieden von Campo
Formio Frankreich preisgegeben, führte Wien beim Versuch, andere Mächte
für eine neue Koalition zu gewinnen, die Schweiz als Grund dafür mit an, dass
man Frankreich nicht vertrauen dürfe. Der österreichische Hauptunterhändler
in Passariano und damit Hauptverantwortliche für die Einzelheiten des
Friedens von Campo Formio, Ludwig Graf von Cobenzl, liess am 27. April
1798 den russischen Minister, Alexander Fürst Besborodko, wissen: «Alles ist
verloren und ganz Europa wird das Schicksal Italiens und der Schweiz
erleiden, wenn sich die beiden Kaiserhöfe nicht durch die bestabgestimmten
Massnahmen beeilen, diese Irren im Innern ihrer Höhle festzuhalten.»
Frankreich strebt die Weltmacht an
Mittlerweile griffen die Französische Republik und ihr erfolgreichster General
nach der Weltmacht. Thomas Jefferson, damals Vizepräsident und nachmals
- 28 -
dritter Präsident der USA, lebte am 7. Juni 1798 in der Naherwartung einer
französischen Landung in Grossbritannien. Jefferson erhoffte sich davon
nichts weniger als die Rettung seiner, der republikanischen, Partei gegen die
damals in den USA dominierenden Föderalisten, ja rundweg das Überleben
der USA: «Seit seiner Revolution war für dieses Land noch kein Ereignis so
wichtig wie die Invasion Englands. Wir werden damit stehen oder fallen.»
Juni 1798 - Frankreich erobert Malta
Im selben Juni 1798 eroberte Bonaparte tatsächlich nicht Grossbritannien
sondern Malta und irritierte dadurch den johanniterbegeisterten russischen
Kaiser Paul so sehr, dass Russland und die Türkei gemeinsam eine Expedition
ausrüsteten, Frankreich die ehemals venetianischen Ionischen Inseln
abnahmen und dort den ersten nationalgriechischen Staat seit dem Altertum
gründeten. In der Levante gelang es dem Korsen zwar, das marode
Mamlukenregime militärisch zu besiegen, welches im alten Pharaonenreich
nominell die Gewalt des Kalifen und Sultans in Konstantinopel verkörperte.
Nelsons Sieg am 1. August 1798 verschloss danach allerdings der
französischen Armee den Rückweg über das Mittelmeer, da nur wenige
französische Schiffe, darunter pikanterweise die «Guillaume Tell», den Brand
ihrer Flotte in der Bucht von Abukir überlebten. Beim anschliessenden Stoss
Bonapartes nach Norden mit dem Fernziel Konstantinopel versetzten Briten
und Türken vor der vergeblich belagerten Stadt Akko den Franzosen einen
herben Dämpfer.
Frankreichs schwierige Lage im Sommer 1799
Frankreich und Bonaparte befanden sich damit seit dem Mai 1799 in einer
ausserordentlich schwierigen Lage: das Mutterland war für die Ägyptenarmee
weder auf dem Land- noch auf dem Seeweg mehr zu erreichen und der beste
General stand dem Direktorium an der Seine nicht zur
S. 34:
unmittelbaren Verfügung. Wenn es je eine Gelegenheit gab, die vorwitzige
junge Republik in die Schranken zu weisen, so war dies der Sommer 1799.
Die Schweiz hatte mittlerweile eine ausgiebige Probe davon erhalten, was
Fremdherrschaft für ein Land bedeutet.
- 29 -
Zwei der Männer, welche sich aus Idealismus und aus politischer und
persönlicher Ambition zu Werkzeugen der Franzosen gemacht hatten, Peter
Ochs und Frédéric César de La Harpe, regierten (seit dem 29. Juni 1798) mit
ihren drei Kollegen im Direktorium zusammen dem Namen nach das Land
aufgrund einer Verfassung, auf die zu schwören zur Pflicht erklärt wurde,
obwohl sie jeder Legitimität entbehrte.
Frankreich diktiert die helvetische Verfassung
Die helvetische Verfassung war ja weder, more antiquo, von den zuständigen
Regierungen der Orte und Zugewandten, noch more novo, vom Volke
beschlossen, sondern vielmehr von Ochs für Frankreich diktiert worden.
Gestützt auf die französischen Bajonette befahlen am 28. und 29. März 1798
der französische Regierungskommissär François Philibert Lecarlier und
General Balthasar von Schauenburg sowohl ihre genaue Form als auch ihre
Inkraftsetzung. Sie enthielt wertvolle Grundsätze, hinter denen jedoch der
Pferdefuss des Polizeistaates und die Geringschätzung der religiösen Gefühle
des Volkes deutlich sichtbar wurden. So steht in Artikel 6: «Alle
Gottesdienste sind erlaubt, insofern sie die öffentliche Ruhe nicht stören und
sich keine herrschende Gewalt oder Vorzüge anmassen. Die Polizei hat die
Aufsicht darüber und das Recht, sich nach den Grundsätzen und Pflichten zu
erkundigen, die darin gelehrt werden. Die Verhältnisse einer Secte mit einer
fremden Obrigkeit sollen weder auf die Staatssachen noch auf den Wohlstand
und die Aufklärung des Volkes einigen Einfluss haben.»
Spezialfall Graubünden
Der entschieden französische Einfluss wird in dieser von Lecarlier und
Schauenburg diktierten Verfassung der am 12. April 1798 in Aarau
ausgerufenen Helvetischen Republik deutlich sichtbar. Es mutet höchst
seltsam an, dass Graubünden, seit dem Mittelalter ein Zugewandter Ort der
Eidgenossenschaft, eine Spezialbehandlung erfährt. Dies versteht leichter, wer
weiss, dass der Freistaat der Drei Bünde von Frankreich und Österreich
insgeheim beim Friedensschluss von Campo Formio in die österreichische
Interessenssphäre verwiesen worden war.
Der helvetische Verfassungsartikel 18, der Kantonseinteilung gewidmet,
beginnt mit auffälligen Worten: «Die Graubündner sind eingeladen, ein
- 30 -
Bestandtheil der Schweiz zu werden, und wenn sie dieser Einladung
entsprechen, so sollen der Cantone einstweilen zweiundzwanzig sein,
nämlich: …. » Dem entspricht, dass Frankreich der Helvetischen Republik im
diktierten Offensiv- und Defensivbündnis vom 19. August 1798 in Aussicht
stellt, dazu beizutragen, dass das helvetische Gebiet abgerundet werde durch
«la réunion des Ligues Grises et par la possession du Vorarlberg.»
Französische Länderschieberei
Vorarlberg zu Helvetien, nicht auf der Grundlage des
Selbstbestimmungsrechts sondern als «possession»! Das waren genau
S. 35:
jene Gebietserwerbungsphantasien, von denen sich die Schweiz im Zeichen
der Neutralität während Jahrhunderten glücklich ferngehalten hatte. Nun
fanden sich freilich im von den Franzosen besetzten Lande Wilhelm Tells
durchaus Anhänger solch abhängigen und imitativen Expansionismus. Johann
Heinrich Pestalozzi verkündete am 24. August 1798 das quasi amtliche Gebot
der Stunde: «Juble, Vaterland! Die Wolken des Irrtums sind zerstreut, deine
Kraft ist erneuert, Frankreich nimmt dich mit schwesterlichem
Gleichheitsgefühl in seinen Arm. … Schwöre heute, Frankreichs Freund sei
dein Freund, und Frankreichs Feind sei dein Feind …. Europa höre deinen
Schwur, mit Frankreich zu stehen und mit Frankreich zu fallen.»
Mit diktierter Verfassung und laufend hinzugefügten weiteren Diktaten wie
dem vom 4. Mai 1798 befohlenen Zusammenschluss der Kantone Uri,
Schwyz, Unterwalden und Zug zum Kanton Waldstätten und der gleichzeitig
befohlenen Neugründung der Kantone Linth und Säntis fanden sich nun aber
weder die Emigranten noch alle im Lande wohnenden Schweizer
stillschweigend ab.
Johann Caspar Lavaters Mut
Johann Caspar Lavater war ein berühmter Gelehrter. Es brauchte für den
Pfarrer am Zürcher Sankt Peter trotzdem Mut, am 10. Mai 1798 an Jean
François Reubell - jenen Reubell, über welchen wir bereits Napoléons Zeugnis
kennen -, einen der fünf französischen Direktoren, zu schreiben:
- 31 -
«Macht giebt kein Recht. Hunderttausend Bewaffnete, sind nicht Ein Grund
für die Vernunft, dass etwas Ungerechtes gerecht sey. Frankreich hat kein
Recht, als das Tyrannenrecht des Stärkern, in Helvetien einzudringen, um, wie
es sagte, die Aristokratie zu stürzen.
Dass die Aristokratie gestürzt ist, kann ein grosses Glück, kann die Erfüllung
des Wunsches Vieler gewesen seyn, aber wenn ein Strassenräuber einen
Menschen umbringt, der uns drükt, ist deswegen der Strassenräuber weniger
Strassenräuber?» «Oben an jedem Dekrete - Freyheit - auf demselben Blatte:
der Obergeneral befiehlt, was folgt ...»
Französischer Terror
Wer sich widersetzte, wurde brutal unterdrückt wie die Nidwaldner am 9.
September 1798 oder durch solchen strategischen Terror eingeschüchtert.
Dadurch wurde freilich für Menschen, die nicht durch Interessen ihr Schicksal
mit jenem Frankreichs unlösbar verbunden hatten, die revolutionäre
Prinzipientreue der Republik vollends zur Phrase gemacht. Nicht umsonst
erhielt im Repräsentantenhaus in Philadelphia ein Bericht vom 21. Februar
1799 Zustimmung, in dem die Verstärkung der US-Flotte unter anderem mit
den Erfahrungen der Schweiz begründet wurde: «Würde freilich versichert,
dass das System Frankreichs nur despotischen oder monarchischen
Regierungen gegenüber feindselig ist, und dass unsere Sicherheit auf die Art
unserer Verfassung Zurückgeht, so sei die Schweiz, zuerst durch perfide
Verführungen in Zwietracht gestürzt und entwaffnet, nun durch unablässige
Gewaltanwendung gefoltert, der Beleg für die Folgen vergleichbarer
Leichtgläubigkeit.»
Geachteter helvetischer Widerstand
Der Widerstand, welcher in unserem Lande geleistet wurde, gewann der
S. 36/37: Schweiz die Achtung nicht nur von Frankreichs Gegnern, sondern auch der
Franzosen selbst. Auf Sankt Helena fand Napoléon zu den Worten: «Das Volk
war, wie es in vaterländischen Kriegen immer geschieht, mehr wert als seine
Vorgesetzten. Sein Selbsterhaltungsinstinkt täuschte es nicht. Es war gross
und unglücklich.»
- 32 -
Schweizer Widerstand ermutigt Frankreichs Gegner
Der Schweizer Widerstand ermutigte 1798 und 1799 die sich bildende
Koalition von Österreich, Grossbritannien, Russland und der Türkei, sich auf
Operationen in der Schweiz einzulassen. Denn nicht nur wurden damit die
schweizerischen Alpentransversalen für sie nutzbar gemacht und die als
strategisch bedeutsam eingestuften Zentralalpen in den eigenen
Herrschaftsbereich gebracht, es konnten auch schweizerische Truppen
rekrutiert werden.
- 33 -
Die moderne britisch-russische Strategie zielte überhaupt darauf ab, die
Völker für den gemeinsamen Kampf gegen Frankreich zu gewinnen, während
das eher dem Kabinettsdenken des 18. Jahrhunderts verpflichtete Österreich
Gebiete und damit Untertanen für sich selbst dazuerwerben wollte.
Temperamentsunterschiede verschärfen Konflikte
Temperamentsunterschiede verschärften die strategischen Konflikte.
Österreichs Bedächtigkeit strebte nach sicherem Erwerb, um anlässlich der
Friedensverhandlungen darüber zu verfügen, Russlands und Grossbritanniens
Idee vom Frieden war die zügige Zerstörung der Französischen Republik.
So diktierte Graf Alexander Wassiljewitsch Suworow-Rymnikski am 17.
September 1798 seine Vorstellungen von der kommenden Kriegführung. Drei
der wichtigsten Ideen dabei waren: «Volle Gewalt dem Ober-General! Den
Feind im Felde aufsuchen und schlagen. Wenn man versucht vorzudringen,
muss man nicht Halt machen, sondern gerade auf Paris, als dem HauptPunkte, losgehen, …»
Die Konflikte zwischen den Strategien und den operativen Konzepten der
Alliierten gehörten zu den wichtigsten Gründen für das Scheitern der Zweiten
Koalition, jener von 1799. Vorderhand schien es freilich, die Gegensätze seien
überbrückbar.
Winter 1798/1799 - Frankreich demütigt König Karl Emanuel von
Sardinien
Schweizer Soldaten wollte - das war ja einer der Gründe für das Bündnis vom
19. August 1798 gewesen - auch Frankreich. Der französische Versuch, sich
den Dienst der Schweizer des seit Bonapartes Triumph mit Frankreichs
Verbündeten, aber von seinen ungleichen Partnern zunächst misstrauisch
beobachteten und danach seiner festländischen Besitzungen beraubten Königs
von Sardinien zu verschaffen, ist eines der Themen des Winters 1798/1799.
Nach der Vertreibung des Monarchen aus seiner Hauptstadt Turin traten seine
Schweizer Regimenter unter den Befehl der «armée d'Italie» Barthélemy
Catherine Jouberts.
In der dem Monarchen abgezwungenen Proklamation vom 9. Dezember 1798
befahl König Karl Emanuel: «Seine Majestät befiehlt der piemontesischen
Armee sich als
- 34 -
S. 38:
integrierenden Bestandteil der französischen Armee in Italien zu betrachten
und deren Obergeneral ebenso zu gehorchen wie ihr (d. h. der Majestät)
selber.»
Joubert, Nachfolger des den Schweizern vom Februar und März 1798 her
bekannten Guillaume Marie Anne Brune, hatte vom Direktorium in Paris den
gegen den eigenen Verbündeten gerichteten Befehl erhalten «de s'emparer du
Piémont».
Um keine Zweifel offenzulassen, schreibt Paul Barras in seinen Erinnerungen
weiter: «Mein Sekretär Botot wird mit Weisungen für den Obergeneral nach
Mailand geschickt.» So kämpften und litten aus sardinischen Diensten
übernommene Schweizer Soldaten im italienischen Krieg von 1799 mit ihren
französischen Waffenbrüdern. Wie wichtig die Sache für Barras war, zeigt
seine Notiz über den entsprechenden Beschluss des französischen
Direktoriums: «Es wird beschlossen, dass sieben Halbbrigaden und 3'000
Pferde nach Italien zu schicken sind, dass in Rom eine Armee aufgestellt wird
mit dem Befehl, nach Neapel zu marschieren. Das helvetische Direktorium
wird die 4'000 Schweizer zurückziehen, die in piemontesischen Diensten
stehen und die unserer Italienarmee nützlich sein könnten.»
Diese Schweizer waren Suworow besonders unwillkommen. Jedenfalls drohte
er, gemäss «The Times» vom 30. August 1799, für den Fall französischer
Misshandlung gefangener antirepublikanischer französischer Emigranten
Repressalien gegenüber den in den Heeren der Republik dienenden
Schweizern an: «Charles de Lameth und der Herzog von Aiguillon sind von
den Franzosen gefangengenommen, danach aber zu den österreichischen
Vorposten geführt worden. In den Räten hat dies manche Klage ausgelöst, was
die Weisheit der Ankündigung Marschall Suworows zeigt, an Italienern,
Schweizern und Polen in republikanischen Diensten Vergeltung dafür zu
üben, was den Emigranten in den kaiserlichen Armeen etwa zugefügt werde.»
Die Konvention vom 30. November 1798
Eine militärische Einzelheiten des Bündnisses regelnde Konvention vom 30.
November 1798 zwischen Helvetien und Frankreich gab diesem das Recht, in
der Schweiz sechs Halbbrigaden zu je 3000 Mann auszuheben.
- 35 -
Die Aushebung dafür und für die helvetischen Truppen im geplanten Bestand
von 20'000 Mann stiess auf Widerstand und löste zusammen mit der
Sehnsucht nach der verlorenen Unabhängigkeit, nach der Neutralität und nach
dem Frieden den Plan einer eigentlichen Bartholomäusnacht im Lande aus.
Die Geschichte jenes Planes und seiner teilweisen Umsetzung in den
Aufständen des Frühjahres 1799 ist bis heute nicht abschliessend geschrieben
worden. Dies ist auch hier nicht möglich.
Verhasste französische Besatzungsmacht
Einige Hinweise sollen jedoch einerseits zeigen, wie tief verhasst die
französische Besatzungsmacht und das mit ihr identifizierte helvetische
Regime für eine Mehrheit des Landes waren, andererseits aber auch, wie sehr
es den konservativen Aufständen an einer einheitlichen Strategie und, vor
allem, an der Fähigkeit mangelte, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Alle
Aufstände brachen zu früh aus und wurden deshalb niedergeschlagen. Dies
S. 39:
liess sich schlecht vermeiden, denn der Ausgangspunkt aller Erhebungen war
die Forderung der Franzosen nach helvetischen Truppen und der Widerwille
des Landes oder doch seines grösseren Teils, dem Bedränger das verlangte
Kanonenfutter zuzuführen. Sigriswil verlangte am 28. März, dass entweder
alle zusammen oder niemand ausziehe.
Dies war die organisatorische Forderung, die materielle Forderung der
Konservativen wird in Michel Bühlers Depesche vom 8. April aus
Zweisimmen sichtbar: «Ferners verlangt das Volk dass ihnen bekannt gemacht
werde, was (für) eine fremde Macht das Vaterland zum Kampf auffordere,
und was sie praetendire, sonst kann man nicht wissen, ob es dem Vaterland
zum Dienst oder zum Schaden zudiene.»
Bei den Vertretern des Widerstandes gegen die Helvetik handelte es sich
durchaus um in der Gewohnheit der Revolutionszeit, Begriffe nach Lust und
Laune für eigene Zwecke umzugestalten, geschulte Leute. Der helvetisch
gesinnte Maler Franz Niklaus König jedenfalls schrieb am 12. April aus
Interlaken über die Leute von Wilderswil und Matten: «Ihre Begriffe von
Gleichheit sind die: Entweder sollen alle marschiren oder keine, die der
Freiheit: sie können marschiren oder nicht, das stehe ihnen frei, laut den
Grundsätzen der Freiheit.»
- 36 -
Von solchen oder ähnlichen Vorstellungen, auf jeden Fall aber von einem
tiefen Widerwillen, der Besatzungsmacht als Hilfssoldaten zu dienen, gingen
die Regungen des Widerstands aus, die in Freiburg und in Basel, im Aargau
und in Luzern, im Toggenburg und auf der Zürcher Landschaft, vor allem aber
in der Wiege der Freiheit, den Alpen, im März und April sichtbar machten,
dass die Helvetische Republik ganz und gar auf französischen Bajonetten
stand. Und auf dem Terror, den das Regime nun unverholen gegenüber seinen
eigenen sogenannten Bürgern und tatsächlichen Untertanen, ausübte.
Beispiellose Repression des helvetischen Direktoriums
Die Repression des helvetischen Direktoriums im Frühling 1799 steht ohne
Beispiel da, aber nicht ohne Vorgeschichte. Von einem der bestimmenden
Köpfe, Peter Ochs, haben sich aus den Jahren 1798 und 1799 Briefe erhalten,
die eine eigenwillige Auffassung von Demokratie an den Tag legen: «Man
muss dem Volke ohne Unterlass die Souveränität geben, ihm aber jedes Mal
ihre Ausübung vorenthalten.» «Hier sind unsere ersten zu bekämpfenden
Feinde: 1. Die nicht-repräsentative Demokratie und die üblen Köpfe. 2. Die
föderalistischen Vorurteile. 3. Der Fanatismus.» «Mein erstes Ziel wird, wie
seit jeher, sein, dass es in der Schweiz nur eine Partei gibt, die französische
Partei. Die antifranzösischen Patrioten finde ich ebenso gefährlich wie die
Aristokraten.» An ein Mitglied des französischen Direktoriums gewandt: «Es
ist wichtig, dass man die schwierigen Fragen angeht, während Eure Truppen
in der Schweiz stehen.» «Die vertrottelten Anhänger der direkten
Demokratie.» Wieder an ein Mitglied des französischen Direktoriums: «Meine
Kollegen gelangen immer mehr zur Überzeugung dessen, was ich mehr als
hundertmal gesagt habe, dass unser Volk beschränkt und leichtgläubig ist und
nur marschiert, wenn es Angst hat. » Und an einen französischen Minister:
«Eine Eurer Kolonnen soll die Revolution in der Schweiz durchführen.
Laharpe und ich haben unsere Partei gewählt. »
S. 40:
Vor einem solchen Hintergrund oder vielmehr in einem von solchen
Menschen regierten Lande erstaunt es nicht, Verfügungen zu lesen wie jene
des Direktoriums vom 7. November 1798: «Die Zeitungen, öffentlichen
Blätter aller Art und die Drucksachen in der ganzen Republik stehen unter
unmittelbarer Polizeiaufsicht.»
- 37 -
Amtlich befohlene Denunziation Andersdenkender
Im Oberaargau wurde amtlich die Denunziation Andersdenkender befohlen.
Regierungskommissär Stuber wies am 26. Dezember 1798 die Einwohner der
unruhigen, aber eingeschüchterten Distrikte Langenthal und Wangen an der
Aare an: «Die öffentlichen Beamten und Vorgesetzten, und jeder gute Bürger
in eurer Mitte, sollen sich beeifern, nicht nur mit ihrem Beispiel
voranzugehen, sondern ein wachsames Auge auf alle die zu haben, die hinfort
durch aufrührerische Reden, Handlungen, oder verdächtige Verbindungen, die
Ruhe stören, und die Ordnung untergraben wollten. Allfällige Entdeckungen
von der Art, sollen sie bey ihrer Bürger- und Vaterlands-Pflicht alsogleich den
höhern Behörden anzeigen, und ihre diesortige Unterlassung würde sie selbst
verantwortlich machen. Die Platzgeber zu aufrührischen Reden und
Zusammenkünften sind vorzüglich strafbar.»
Drakonische Gesetzgebung
Am 30. März 1799 verabschiedeten der helvetische Grosse Rat und der Senat
in Luzern drei drakonische Gesetze, die für Dienstverweigerung und Aufruhr
die Todesstrafe vorsahen. Originalton: «Jeder helvetische Bürger, oder jeder
in Helvetien sich aufhaltende Fremde, der sich durch Worte oder Handlungen
gegen die Maassregeln, welche die Regierung zur Vertheidigung des
Vaterlandes beschliessen wird, auflehnen, oder andere von ihrem Gehorsam
gegen die Gesetze, und ihre Pflicht der Vertheidigung des Vaterlandes
abzuhalten trachten würde, oder welcher vorschlagen würde, sich einer
fremden Macht Zu unterwerfen, soll mit dem Tode bestraft werden.»
Der «Ober-General der französischen Armee in Helvetien und Bündten»
Masséna und sein Generalstabschef Rheinwald erliessen am 3. April 1799
eine Proklamation, in welcher sich ein den helvetischen Verfügungen völlig
entsprechender Satz findet: «Ich erkläre des weitern, dass die fränkischen
Colonnen sich schleunigst in diejenigen Cantone begeben werden, in welchen
aufrührische Bewegungen vorgehen sollten, um solche durch Feuer und
Schwerdt zu verheeren.»
Hier wird eine weitere französische Nutzanwendung des am 9. September
1798 gegen Nidwalden ausgeübten strategischen Terrors sichtbar, denn das
traurige Schicksal jener kleinen Demokratie machte nun die Drohungen
Massénas nur allzu glaubwürdig.
- 38 -
Die Sprache, welche die gesetzgebenden Räte der einen und unteilbaren
Helvetischen Republik in ihrer Proklamation vom 7. April ihrem Volk
gegenüber führten, zeigt einerseits, dass es ihnen ernst war, andererseits, dass
offenbar die Franzosen nicht unter dem Begriff der fremden Macht zu
Verstehen waren: «Dennoch hören wir, dass es so viel undankbare unter euch
giebt, die das Gute nicht kennen wollen, was wir gethan haben, die das
Unangenehme über alle Grenzen der Wahrheit hinaus übertreiben, und die
guten, ehrlichen, fridfertigen Bürger zu einem sträflichen Ungehorsam gegen
die Gesetze zu verleiten suchen.
S. 41:
Diese ausgearteten Kinder des Vaterlands, diese gottlosen Störer der Ruhe
wird das Gesetz finden, und sie werden der gerechten Strafe nicht entgehen,
welche dasselbe gegen solche Verräter des Vaterlandes, gegen solche Mörder
seiner Ruhe ausgesprochen hat. Und sollten gar einige unter ihnen, was nur zu
denken jede redliche Seele schaudern macht, sich solche abscheuliche
Verbrechen erlauben, deren der fränkische General Massena in seiner
Proklamation gedenkt, so mögen sie es sich selbst, ihrer schwarzen Seele
zuschreíben, wenn der verdiente Lohn sie trifft, und es vor Gott und ihrem
Gewissen verantworten. ….
- 39 -
Auf schliesset euch an die fränkischen Heere, eilet mit ihnen zum gewissen
Sieg! jeder sehe im Franken einen Bruder, jeder umarme einen Freund in ihm,
so bleibt euer der Sieg, der nie von der Freiheit, nie von der Tugend weicht,
und indem ihr Lorbeern sammelt, erndet ihr hier den Segen aller redlichen
Bürger des Vaterlands ein.»
Amtlich befohlene Freundschaft
Für den Fall, dass nicht alle Schweizer diese Art von Metaphysik verstehen
sollten - die Unterwerfung unter eine fremde Macht wurde mit dem Tode
bedroht, die bereits im Lande befindliche hingegen sollte umarmt werden -,
sorgte das Direktorium vor. An Massena erging am 8. April die Aufforderung,
8000 bis 10'000 Franzosen im Landesinnern zu halten, eine Streitmacht
«immer bereit, an den Ort des Aufruhrs zu fliegen um ihn zu überraschen, Zu
S. 42:
erschrecken und, wenn nötig, zu bezähmen und zu bestrafen.» Masséna
bewilligte am 25. Germinal 1500 Mann Infanterie und 200 Kavalleristen unter
General Nouvion und versicherte dem helvetischen Direktorium
wunschgemäss, er werde nichts Versäumen, um die Rebellen zu unterwerfen.
Dieses lud General Nouvion ein, sein Hauptquartier in Luzern aufzuschlagen,
um «les ennemis de l'lntérieur» besser unterdrücken zu können.
In Gesetzesform gekleidete terroristische Entschlüsse
Zusätzliche Bestrafungen durch Absetzung der Pfarrer, Aushebung der
besonders Unruhigen, Geldbussen, Abschneiden der Seile der Kirchenglocken
und dergleichen sehen weitere Gesetze und Vorschriften des Monats April
vor. Nicht etwa, dass die helvetischen Behörden gezögert hätten, ihre in
gesetzliche Formen gekleideten terroristischen Entschlüsse in die Tat
umzusetzen.
Solothurn ist ein extremes Beispiel, aber es muss erwähnt werden, denn von
solchen, analog dem strategischen Terror Schauenburgs in Nidwalden im
September 1798, sollte ja auch 1799 die abschreckende Wirkung ausgehen.
Der Oltner Unterstatthalter Disteli sah sich am 30. März 1799 beim Versuch,
Truppen auszuheben, mit der Forderung konfrontiert, er solle «die Franzosen
forthan dann wollen sie für das Vaterland streiten.»
- 40 -
Die Franzosen fortzutun versuchten einzelne Solothurner im Distrikt Olten
damals gleich selbst: Zwei Gefallene und mehrere Verwundete sind die Bilanz
dieses Tages. Die Reaktion des helvetischen Direktoriums war am 2. April,
französische Truppen für den Einsatz in den Distrikten Olten, Biberist und
Balsthal zu erbitten und den Repräsentanten Huber als Regierungskommissär
in den Kanton Solothurn zu schicken. Huber verlangte Vollmacht, das
aufzustellende Kriegsgericht auch aus den ebenfalls in den Kanton
geschickten regierungstreuen helvetischen Truppen zu rekrutieren, weil sich
unter den Solothurnern nicht «deux personnes suffisamment éclairées et assez
patriotes» fänden.
Bluturteile
Dieses offenbar nun als aufgeklärt und patriotisch anzusehende Gericht fällte
in der Folge drakonische, ja Bluturteile, für die es glücklicherweise wenige
Parallelen in der Schweizer Geschichte gibt. Am 16. April verurteilte das
Kriegsgericht einstimmig Georg Schwaller von Recherswil zum Tode, weil er
«einer der Aufstifter, Urheber und Anführer des straflichen Aufruhrs in
Kriegstetten und Recherswyl gewesen sey und laut dem Gesetz vom 31. März
1799, welches den 3. April ihm selbst, als Agent, ist überschickt worden, solle
bestraft werden» Dieses Gesetz wird im Urteil wie folgt zitiert: «Die Urheber
und Mitwirker gegenrevolutionärer Bewegungen, Auflehnungen und
Empörungen sollen mit dem Tode bestraft werden.» In diesem Urteil wird klar
der Einfluss Hubers sichtbar, der am 14. April nach Bern bestellt wurde, um
von Schauenburg wichtige Mitteilungen zu empfangen. Schauenburg meldete
am 18. April dem helvetischen Direktorium, Huber sei am 16. April
erschienen und werde über die Besprechung Bericht erstatten. Das
Direktorium bedankte sich am 19. April bei Schauenburg und teilte mit, dass
es sich mit den Mitteln beschäftige, um gemäss den Vorschlägen des Generals
Verfahren zu können.
S. 43:
Das Gespräch Schauenburgs mit Huber fand am 16. April statt, am
Nachmittag des 17., 15.00 Uhr, wurde gemäss Hubers eigenem Bericht der
zum Tode verurteilte Georg Schwaller «heureusement» füsiliert.
Am 20. Mai floss das Blut von Friedrich Monney aus Villars-le-Grand, eines
Soldaten des nach Solothurn geschickten 1. Freiburger Elitebataillons, weil er
am 15. Mai im «Engel» zu Biberist erklärt habe: «Wenn ich ins Feuer gehe,
- 41 -
wird der erste Schuss, den ich abgebe, meinen Vorgesetzten gelten. »
Ferner floss am 9. Mai das Blut Joseph Raubers von Neuendorf, am 31. Mai
jenes des Urs Stampfli von Herbetswil, am 12. Juni wurde Joseph Rudolf
Rohr von Egerkingen erschossen. Urs Bohner von Herbetswil wurde wegen
Fällen eines Freiheitsbaumes zum Tode verurteilt, danach aber von den
helvetischen Räten begnadigt.
Es ist wahr, dass dieses Kriegsgericht in den helvetischen Räten auch sonst
kritisiert wurde, es ist aber auch wahr, dass es bei seiner Auflösung am 22.
Juli mit dem Dank und der Zufriedenheit des Direktoriums bedacht wurde.
Gewaltbereitschaft auf beiden Seiten
Es wäre freilich verkehrt, eine durchaus vor Blutvergiessen nicht
zurückschreckende Energie einzig auf Seiten der Regierung
S. 44:
zu vermuten. Statthalter Joneli berichtete am 29. März aus Thun, wenn er
keine Truppen erhalte, bestehe die Gefahr, dass der Hauptort, also Thun,
abgebrannt würde. Ähnliche Drohungen wurden auch in der Urschweiz
gegenüber verschiedenen Ortschaften laut, und es ist nicht vollständig
auszuschliessen, dass der Brand von Altdorf vom 5. April 1799 auf die
- 42 -
Umsetzung solcher damals durchaus zu hörenden konservativen Drohungen
zurückzuführen ist. Jedenfalls ist es für die Stimmung im Lande bezeichnend,
dass eine derartige Vorstellung damals weitherum Glauben finden konnte. Uri,
bis zu Massénas Überfall auf Graubünden am 6. März Grenzkanton der
Helvetischen Republik, wurde erstmals unruhig, als die Bündner Oberländer
Louis Henri Loison auf den Oberalp zurückwarfen. Sechs Tage nach dem
ersten Versuch gelangte freilich Loison, dank dem rheinaufwärts stossenden
Demont, am 12. März erfolgreich nach Disentis.
Unruhen in Glarus brachte das helvetische Direktorium bis zum 3. April, im
äusseren Oberland bis zum 25. April mehr oder weniger unter Kontrolle,
wenngleich es unter der Oberfläche weitermottete und die zwangsweise
ausgehobenen Soldaten nicht unbedingt als zuverlässige Stütze betrachtet
werden konnten, wie ja das traurige Exempel Friedrich Monneys zeigt.
In Uri trat am 26. April auf der Jagdmatt in Erstfeld eine Landsgemeinde
zusammen, welche beschloss «weib und Kinder hab und Guth - Religion und
Vatterland, vor dem zwang eines auf die ungerahtigsten weisse uns
aufgedrungenen Religionsschänderischen Constitution zu retten» und dem
«Oberheerführer des bewaffneten Ury», dem Historiker Franz Vinzenz
Schmid, den Treueid leistete.
April bis Mai 1799 Erfolglose Aufstände in der Innerschweiz und der Leventina
Dem Urner Beispiel folgten am 28. April im sogenannten «Hirthemdlikrieg»
die Schwyzer, welchen am 30. April 200 Urner unter Jost Heinrich Wolleb
zuzogen. Fast gleichzeitig mit Schwyz waren die Schweizer südlich des
Gotthard aufgestanden, am 1. Mai erhob sich die Leventina. Gian Antonio
Camossi, der Präsident des Leventiner Kriegsrates, suchte den Kontakt zu
Suworows Armee in der Lombardei. Die Schwyzer ergaben sich beim
Heranrücken der französischen Truppen unter Soult am 2. Mai kampflos bis
auf 200 Schwyzer und 70 Menzinger in ihrem Heer, die nach Uri gingen. Ein
Versuch, den Urnern über den Chinzigpass auf den Pelz zu rücken, blieb im
Schnee stecken, so dass es am 8. Mai zur Landung Soults mit rund 1200 Mann
kam, denen sich die Urner, unter Einschluss der 200 Schwyzer, 100
herzugeeilten Nidwaldner und der 70 Zuger vielleicht doppelt so stark,
entgegenstellten.
- 43 -
Schmid und Wolleb fielen früh, der Urner Widerstand brach nach Gefechten
in Altdorf, bei Attinghausen und am Kirchhügel in Bürglen zusammen. Zu
den 900 Mann, die bei Wassen im Felde ausharrten, stiessen am 9. Mai 200
Leventiner unter Giuseppe Antonio Camossi, 400 Walliser und einige Ursner,
von denen nicht alle freiwillig mitgingen. Nach einem unglücklichen Gefecht
bei Wassen zog sich das kleine Heer nach Göschenen zurück. Zur
vorgesehenen Zerstörung der Teufelsbrücke kam es angesichts des Ursner
Widerstandes nicht. Die Walliser marschierten über die Furka nach Hause und
die verbleibenden
S. 45:
- 44 -
S. 46:
400 bis 500 Urner und Leventiner hatten am 12. Mai ob Hospental keine
Chance gegenüber den weit überlegenen Franzosen. Im Tessin hatte Lecourbe
mittlerweile die örtlichen Aufstände niedergeworfen, so dass er Soult am 14.
Mai die Hand reichen konnte.
Sechsmalige Eroberung und Rückeroberung des Gotthardpasses
im Jahre 1799
Den Franzosen beziehungsweise den für diese amtenden helvetischen
Behörden durch aufständische Schweizer entwunden, war der Gotthard zum
erstenmal im Jahr 1799 von den Franzosen wiedererobert worden. Sie sollten
ihn bald an die austrorussische Armee Suworow erneut verlieren, gegen
dieselbe Armee Suworows im August wiedererobern, im September an
Suworow ein drittesmal verlieren und gleich danach ihrerseits erneut
behändigen. Sechsmal wechselte der Schicksalspass im Verlaufe des Jahres
1799 die Hand.
Als er am 12. Mai im Besitz der Franzosen war, waren diese und ihre
helvetischen Helfer auch auf dem Weg zur Unterwerfung des noch
widerborstigen Teils des Oberlandes gut vorangekommen: am 9. Mai hatten
die drei Kompanien französische Infanterie und 45 Berittenen Interlaken, am
10. Mai Wilderswil und Matten zur Unterwerfung gezwungen und Truppen
ausgehoben. Grindelwald war am 11. und 12. Mai an der Reihe, Meiringen am
13. Damit hatte die Regierung das Oberhasli unterworfen. Am 15. Mai war
diese Landschaft mit Ausnahme der Gemeinden Guttannen und Gadmen
entwaffnet, die Erhebung der in den Augen der Helvetik Schuldigen fiel
jedoch angesichts des passiven Widerstandes der mehrheitlich föderalistisch
gesinnten Oberhasler schwer. Das bezeichnenderweise von Schauenburg
eingesetzte Kriegsgericht aus sieben Offizieren traf am 16. Mai in Thun ein.
Das helvetische Direktorium legte, ein Aktenstück vom 21. Mai zeigt es
deutlich, Wert auf die Kommunikation über Grimsel und Furka zwischen
Hasli und Realp. Dies war jedoch unmöglich, für den 16. Mai ist eine Walliser
Wache von 8 Mann im Spital auf der Grimsel verbürgt, am 25. Mai nahm man
im helvetischen Thun zur Kenntnis, dass die Walliser ihre Truppenpräsenz auf
Grimsel und Gemmi verstärkten. Regierungskommissär Müller verlangte
Verhaltungsbefehle, habe er doch zwischen Guttannen und Kandersteg nur
drei Kompanien. Die Nähe des Wallis, so liess sich Müller am 27. Mai
- 45 -
vernehmen, ermuntere den Pöbel immer zu einiger Widerspenstigkeit.
Frutigen und Zweisimmen blieben zwei Brennpunkte des Widerstandes, der
von Zeit zu Zeit und je nach den Umständen auch auf die Alpen auswich. Das
Oberland blieb freilich generell föderalistisch. In Bönigen, das wie Brienz und
Erlenbach eher zu den Ausnahmen von dieser Regel gehörte, wurde in der
Nacht vom 11. auf den 12. Juni ein Flugblatt an den Freiheitsbaum geheftet,
worin das dürre Revolutionssymbol mit dem wohlgenährten Berner Bär
kontrastiert und die Naherwartung der Wende im föderalistischen Sinne
ausgedrückt wurde:
«Anstat dess Richen Und fettden Bärr
Kam diser Lärre Bumm dahärr
Ehr Soltte Bringen frücht der freiheit
Brachte Nur Schaden und Härtzenleid
Regänten Wolden sin Emporr
Die Niemals solten kommen forr
Dann Jeder Kühdräckschufler Wolt
S. 47:
Begabet Sin Mit Rodem Golt
Drum Ist Der Bärr jetz auf der Bann
Umm Wider an sinn Ordt zu stann.»
Dass in der föderalistischen Agitation die Frauen noch aktiver seien als die
Männer, wurde im helvetischen Thun mit offensichtlicher Missbilligung
konstatiert. In der Volkserinnerung blieben die bewegten Tage des Frühjahrs
1799 lange haften. Der Hasler Johann von Weissenfluh schreibt: «Es solten
nemlich auf die erste Nacht im Monat May alle Franken in ihren Quartíeren
uberfallen und ermordet werden.»
Widerstand im Oberwallis
Die Oberwalliser wollten ihre jungen Männer genauso wenig mit den
Franzosen zu Felde ziehen lassen wie viele andere Teile der Schweiz. Die
Gommer versammelten sich am 13. April 1799 in Ernen und schworen, keinen
Mann ziehen zu lassen. Peter Moriz Perrig leitete am 14. April eine
Versammlung der Leute von Mörel und Brig vor der Kirche von Glis.
- 46 -
Als sie sich geeinigt hatten, schworen sie in der Kirche, keinen Soldaten aus
dem Kanton ziehen zu lassen, nicht gegen den Kaiser zu kämpfen, einander
nicht zu verlassen und die heilige Religion in ihrem ganzen Umfange aufrecht
zu erhalten.
Der vom helvetischen Direktorium zur Unterdrückung der Unruhen entsandte
Regierungskommissär Buxtorf stand der Entwicklung machtlos gegenüber,
drohte am 11. April und zog am 18. April mit 800 Unterwallisern gegen
Sitten. Mittlerweile hatten die antihelvetischen Oberländer versucht, mit den
Oberwallisern in Kontakt zu treten. Es blieb beim Versuch, denn David
Schmid, Wirt von Schwarenbach, wurde vom Unterstatthalter von Leuk
gefangengenommen, was Buxtorf am 15. April ans helvetische Direktorium
meldete. Als Hinweis auf die notwendigerweise damals und auch danach noch
lange Jahre geheimgehaltenen und nicht zuletzt deshalb wohl nie mehr
vollumfänglich rekonstruierbaren Beziehungen - zwischen den verschiedenen
föderalistischen und konservativen Volksbewegungen des Frühlings 1799 ist
die Nachricht dennoch von Interesse.
Der Landsturm erging in den fünf oberen Zenden in der Nacht vom 21. auf
den 22. April, und am 25. stand das vielleicht rund 2500 Mann starke
Oberwalliser Heer bei Leuk. Leopold de Sepibus aus Mörel präsidierte den
Kriegsrat, Peter Moriz Perrig aus Brig kommandierte die Truppen. Ein
Zweigkriegsrat in Brig unter Oberst Kaspar Eugen von Stockalper und einer in
Münster unter Hyazint von Riedmatten sollten einerseits zum Simplon,
andererseits zu den Pässen im Goms Sorge tragen.
Am 2. Mai warfen die Oberwalliser ihren mittlerweile vielleicht auf 1500
Mann angewachsenen Gegner aus Siders, und am 3. zogen sie in Sitten ein.
Perrig forderte nun seinerseits alle Wehrfähigen unter die Waffen und
unterstrich dieses Aufgebot mit Drohungen, welche den entsprechenden
helvetischen Gesetzen an Schärfe keineswegs nachstanden. Martigny fiel am
5. Mai nach einem Oberwalliser Sieg an der Brücke bei Riddes - dabei gingen
19 Scheunen in Flammen auf. Einer Flankenkolonne gelang es ausserdem,
über den Col du Coeur ins Val de Bagnes zu gelangen, wo sie freundlich
aufgenommen wurde. Das Entremont freilich widersetzte sich: in
Sembrancher war die Brücke über die Drance abgebrochen und das
S. 48:
gegenüberliegende Ufer militärisch besetzt. Nach einem unentschiedenen
Gefecht bei La Verrerie zwischen Martigny und Vernayaz entschlossen sich
- 47 -
die Oberwalliser am 6. Mai zum Rückzug vor dem heranrückenden
französischen Bataillon der 110. Halbbrigade.
Am 8. Mai standen vielleicht 3000 Oberwalliser im Pfynwald und in Varen,
die Zenden Siders und Sitten waren grösstenteils vom Aufstand abgefallen.
Mittlerweile hatte sich auf der Gegenseite die gesamte 110. Halbbrigade, die
Unterwalliser Elite, einige französische Husaren sowie lémanische
Verstärkung zusammengetan, so dass sich die zahlenmässige Überlegenheit
erstmals klar auf die französisch-helvetische Seite neigte. Erste Angriffe der
Franzosen wurden jedoch am 9. Mai sowohl im Pfynwald wie in Varen
zurückgeschlagen.
2. Mai 1799: Der Walliser Schiner wird helvetischer Kriegsminister
Nun war seit dem 2. Mai ein Walliser helvetischer Kriegsminister. Dieser
Mann, Franz Joseph Ignaz Maximilian Schiner, erreichte in der Nacht vom 12.
auf den 13. Mai Sierre und verlangte bei Masséna zusätzliche Truppen.
Die Oberwalliser ihrerseits erhielten am 11. Mai Verstärkung durch 40
Austrorussen, die in Brig eintrafen und deren beide Generäle Graf Michael
Andrejewitsch Miloradowitsch und Joseph Philipp Freiherr Vukassowitsch
von dort aus in einer ebenso blutrünstigen wie wirkungslosen Proklamation
die Unterwalliser zur Unterwerfung aufforderten.
Worte nützten den Oberwallisern wenig, sie hätten lieber Truppen gehabt,
baten auch verschiedene Kommandostellen von Suworows Armee darum,
jedoch ohne rechtzeitigen Erfolg.
Die Franzosen wurden am 15. Mai im Pfynwald aufgehalten, vermochten aber
Varen einzunehmen und «oben bei den Leitern Kanonen aufzuführen.». Am
16. Mai versuchten die Franzosen, sich auch der Dalabrücke zu bemächtigen,
wurden jedoch zurückgeschlagen. Die folgenden Tage waren vergleichsweise
ruhig: Die Oberwalliser erwarteten austrorussische Verstärkung - rund hundert
Mann tauchten in jenen Tagen tatsächlich auf, aber dies reichte
begreiflicherweise keineswegs -, und die durch Krieg, Krankheit und
Desertion geschwächten Frankohelvetier unter dem helvetischen
Kriegsminister Schiner fürchteten, durch eine über den Grossen Sankt
Bernhard einbrechende Kolonne der Armee Suworows im Rücken gefasst zu
werden und hielten sich deshalb zurück.
- 48 -
Schiner holt den französischen General Xaintrailles
Schiner holte für seine Seite aus Lausanne den französischen General Charles
Antoine Dominique Xaintrailles, der an der Spitze von nach Italien
detachierten Truppen aus Massénas Armee marschierte und damit über
Truppen in Divisionsstärke verfügte. Zunächst erschien zusätzlich die 89.
Halbbrigade.
Zu einem letzten Erfolg der Oberwalliser kam es am frühen Morgen des 27.
Mai, als 300 Mann unter Bartholomäus Walther im Koly oberhalb Inden «den
Kamm der Dalaschlucht erklommen», die Posten bei den Leitern
überrumpelten und Varen im ersten Ansturm nahmen. Auf der linken Talseite
hatten die Oberwalliser gleichzeitig einen Ausfall aus ihren Schanzen bis
Chippis gewagt.
S. 49:
Erbarmungslose Kämpfe erbarmungslose Sieger
Am 28. Mai war es dann an Xaintrailles, anzugreifen. Die Franzosen drangen
in die Schanzen von Pfyn ein, eroberten Varen, nahmen die Dalabrücke und
standen bereits um 04.00 Uhr in Leuk.
Fast überall sonst hausten die Sieger erbarmungslos. Varen, Agarn, Briannen,
Unterems und Tschinjeren wurden ein Raub der Flammen. Aus einer Kapelle,
in die sich Verwundete geflüchtet hatten, wurde einer nach dem anderen
herausgeholt, erschossen und in die Rhone geworfen. Wer, wie viele, in die
Wälder oder auf die Alpen geflohen war, hatte nicht unklug gehandelt.
Die Oberwalliser versuchten die Linie der Vispe zu halten, wurden jedoch am
29. Mai auch hier geschlagen. Bartholomäus Walther, der Held von Varen,
fiel in diesem Gefecht. Seine letzten Worte waren: «Es lebe die alte Freiheit!»
Visp und Brig wurden zur Beute der Sieger. Von Brig ging ein Teil der
Oberwalliser auf der Simplon-, ein anderer auf der Furkaachse zurück. Die
Massabrücke sah am 1. Juni den Kampf des sehr zusammengeschmolzenen
Haufens von einigen hundert Oberwallisern gegen die Franzosen, die in
Schwung gekommen waren und sich auch hier durchsetzten.
In Schwung gekommen war daneben auch Xaintrailles besondere Art der
Kriegführung, die lebhaft an jene Schauenburgs in Nidwalden am 9.
September 1798 erinnert. So wurde im Dorf Mörel der kranke Joh. Mart.
Wellig durch Hinauswurf aus dem Fenster getötet, der 91 Jahre alte Alois
Thenen erschossen, in den Halten zwangen die Sieger Anna Maria Imhof, das
- 49 -
Bett ihres kranken Mannes anzuzünden, worauf sie selbst und ihr Sohn
umgebracht, ihre Tochter auf den Tod verwundet wurde. Terror schreckte die
Walliser von 1799 nicht, wenigstens nicht alle. «So waren bei zwanzig junge,
mutige Männer aus dem Dalathal, aus dem Leukerbad über das Gebirg in's
Lötschenthal und von dort über den Lötschen- und grossen Aletschgletscher
nach Fiesch geeilt und nahmen hier am Kampfe teil. So berichtete der nahe 90
Jahre alte Teilnehmer Joseph Lehner noch auf seinem Sterbebette.»
Am 3. Juni erreichte Xaintrailles nach weiteren Gefechten auf dem
Deischberg, am Laxgraben, im bereits genannten Fiesch und an der
Giebelegge Münster. Da er nun eine zunehmende österreichische Präsenz in
der Front feststellte und zudem in Gefahr stand, von den über den Simplon
herannahenden Austrorussen abgeschnitten zu werden, ging er in den Raum
Brig zurück.
Die Kämpfe waren erbarmungslos gewesen: Drei gefangene lémanische
Kirchenplünderer sollen in Varen von Oberwallisern durch Zertrümmerung
ihrer Schädel mit Schmiedehämmern getötet worden sein, die Metzeleien und
das Niederbrennen und die Plünderungen, die sich die Franzosen Xaintrailles
erlaubten, erinnern nicht nur an Nidwalden sondern auch an die noch junge
Drohung von Xaintrailles Chef Masséna. Am Simplon war Xaintrailles nicht
erfolgreicher als im Goms. Im Gefecht von Tafernen verloren die über den
Pass herangekommen Österreicher zwar 76 Mann, vermochten sich aber zu
behaupten.
Mittlerweile hatten, und darauf zählten jene Schweizer, die sich 1799 gegen
Frankreich erhoben, nur zu sehr, die Operationen der Grossmächte begonnen.
------------------------Der Text des Buches geht weiter mit der Beschreibung der verschiedenen
militärischen Operationen, welche bereits zur Genüge in dieser Sammlung
enthalten sind. Dieser Auszug beschränkt sich hauptsächlich auf die politische
Grosswetterlage. Für Anmerkungen und Fussnoten ist das Original
beizuziehen. (Kantonsbibliothek Graubünden, Sign. 15.60.12 m)
Internet-Bearbeitung: K. J.
Version 02/2014
--------
Herunterladen