Lauter Vorzeigekinder

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Auszug aus dem Artikel von Miklos Gimes im Tagi-Magazin vom 2.11.12
Lauter Vorzeigekinder
Die Franzosen machen uns vor, wie man Kinder erzieht. Wer hätte das
gedacht?
Ich lese gerade ein Buch mit dem Titel „ French childern don’t throw food“. Die
Autorin, Pamela Druckerman, ist eine amerikanische Journalistin, die in Paris lebt,
mit ihren drei kleinen Kindern und ihrem Mann. Es ist kaum zu glauben, aber nur
wenige hundert Kilometer Richtung Westen, in Frankreich, haben die Menschen
ganz andere Vorstellungen. Dort hält man fest an der Idee, dass ein Kindergärtner in
der Lage sein soll, im Restaurant anständig zu essen und ihre Väter und Mütter
nachts schlafen zu lassen und auch nicht zu quengeln, während die Eltern
telefonieren. Es scheint zu funktionieren.
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Sie lernt, dass man Babys nicht gleich beim ersten Schreien in den Arm nehmen
soll.“Man muss den Kindern beibringen, Frustrationen auszuhalten“, hört sie immer
wieder. “Du bist es auch, die das letzte Wort hat“, sagen ihre französischen
Freundinnen. Sie entdeckt, wie Französinnen es schaffen, Mutterschaft und einen
Hauch Glamour zu vereinen, als wären sie alle ein bisschen Catherine Deneuve.
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Doch wie schafft es eine ganze Nation, dass die Kinder nicht nur durchschlafen,
sondern auch zuhören ? Dass die Eltern am Frühstückstisch nicht schreien müssen
? Druckerman spricht von „Lektionen in Selbstvertrauen“. Es beginnt mit dem „
Warte!“, „attends!“ wenn das Baby hingefallen ist, wenn es Hunger hat oder
unbedingt etwas will. Es geht weiter mit dem „cadre“, dem Rahmen, den die Eltern
setzen, um die Freiheit abzustecken.
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„ Die Kinder brauchen das Nein, um sie vor der Tyrannei der Begierden zu retten“,
zitiert Druckerman die Psychoanalytikerin Caroline Thompson. Thompson ist
aufgefallen, dass Eltern aus dem englischen Sprachraum die Wut ihrer frustrierten
Kinder schlecht ertragen.
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Ende der Sechzigerjahre führte Psychologe Walter Mischel einen berühmten Test
durch, bei dem die Geduld und Frusttoleranz von Kindergärtnern auf die Probe
gestellt wurde. „Ich gehe jetzt für eine Viertelstunde raus“, sagte er, „wer es schafft,
den Marshmallow auf dem Tisch nicht zu essen, bis ich zurück bin, kriegt als
Belohnung noch einen dazu.“ Zwei Drittel der Kinder hielten nicht durch. Als Michel
fünfzehn Jahre später seine Kandidaten nochmals aufsuchte, zeigte sich, dass
diejenigen, die den Test damals bestanden hatten, besser denken, sich besser
konzentrieren konnten und unter Stress weniger schnell aufgaben.
Michel stellte auch fest, dass Kinder, welche sich selber beschäftigen konnten,
Frustrationen besser ertrugen.
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Geht man in Frankreich zu einer Einladung bei einer befreundeten Familie mit
Kindern, hört man keine Bravorufe, niemand kommentiert die Geschicklichkeit der
Kinder. Das errinnert mich an die Stelle im Buch, wo Druckerman beschreibt, wie
amerikanische Mütter dauernd ihre Kinder loben, jede Belanglosigkeit hervorheben,
in der Überzeugung, so das Selbstwertgefühl der Kinder beeinflussen zu können.
„Die Franzosen sind zurückhaltender“, schreibt Druckerman,“ sie glauben, dass die
Kinder an Zuversicht gewinnen, wenn man sie einfach machen lässt.“
Aber es geht um mehr. “Eltern der amerikanischen Mittelklasse sehen ihre Kinder als
Projekt“, zitiert Druckerman die amerikanische Soziologin Lareau, „ sie möchten die
Begabungen ihrer Kinder auf alle möglichen Arten fördern.“ Das dauernde Lob
versteckt nur die Ungeduld und die Ambitionen der Eltern. „Die Franzosen sind da
gelassener. Sie haben nicht die Haltung der Tigermütter, die Erziehung als
Investition zu betrachten.“
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Das Paradoxe der französischen Erziehung liegt darin, dass man die Kinder dadurch
Kinder sein lässt, dass man ihnen einen festen Rahmen vorgibt. Dieser feste
Rahmen, den ihm seine Eltern erlauben, befreit das Kind.
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Mit dieser Autonomie übernehmen die Kinder die Werte der Gesellschaft. Dass man
zum Beispiel tapfer zu sein hat und die Zähne zusammenbeisst, wenn man Schläge
einstecken musste. Oder dass man andere nicht anschwärzt. Dass man keine
Namen herausgibt. Druckerman berichtet, wie ihre Tochter nach einem Streit mit
blauen Flecken nach Hause kommt, ohne dass die Kleine oder die Schulleitung
Aufhebens drum machen. “In Amerika würden sich Anwälte um den Fall kümmern“,
schreibt sie.
...
Auf der Rückreise über Paris bin ich mit Elisabeth Badinter verabredet, der grossen
Philosophin, die ihr Leben lang über Mutterschaft und die Rolle der Frau geforscht
hat. Sie sagt zum Thema, warum französische Mütter anderes erziehen als viele
Mütter in Amerika: „Wir haben keine Lust, vierundzwanzig Stunden lang von den
Kindern in Anspruch genommen zu werden. Das Leben einer Mutter kann sich nicht
darin erschöpfen, in den Park zu gehen. Ich liebe meine Kinder doch ich habe immer
auch gemacht, was mich interessierte. Vielleicht war das zu egoistisch. Aber wir
Erwachsenen haben auch das Recht auf ein eigenes Leben.“
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