„Suchtkranke Eltern, belastete Kinder - Verbesserung der Hilfen für Betroffene durch Bewusstseinsbildung und Vernetzung“ __________________________________ _ Dr. med. Matthias Wildermuth Gliederung 1. Ausgangslage 2. Risikofaktoren und Belastungen (allgemein) 3. Spezifische Belastungen 4. Störungen in der kindlichen Entwicklung 5. Frühintervention 6. Möglichkeiten und Grenzen der Arbeit mit vernachlässigenden, misshandelnden Eltern 7. Eckpunkte zur Verbesserung der Situation In Deutschland ist von 2,6 Millionen Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren auszugehen, die zumindest zeitweise mit einem alkoholabhängigen Elternteil leben. Jedes siebte Kind ist somit von der Alkoholstörung eines Elternteils betroffen. Mehr als ein Drittel aller Drogenabhängigen hat Kinder – demnach haben fast 40.000 Kinder Eltern, die von illegalen Drogen abhängig sind. Jedes 300. Neugeborene ist von Alkoholembryopathie betroffen (eine durch chronischen Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft hervorgerufene vorgeburtliche Erkrankung des Kindes) – das sind ca. 2.200 Neugeborene pro Jahr. Es gibt ca. fünf bis sechs Millionen erwachsene Kinder suchtkranker Eltern; ein großer Teil von ihnen leidet im späteren Leben unter verschiedenen psychischen Beeinträchtigungen und Störungen. Ein Teil der Kinder suchtkranker Eltern neigt zu schädlichem Konsum von Alkohol und anderen Suchtmitteln und hat damit ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Abhängigkeiten. Mehr als 30 Prozent der Kinder werden selbst suchtkrank – meist sehr früh in ihrem Leben. Kinder suchtkranker Eltern gelten als die größte Risikogruppe bezüglich der Entwicklung eigener Suchterkrankungen ab dem Jugendalter. Zudem ist für diese Kinder das Risiko der Erkrankung an anderen psychischen Störungen deutlich erhöht. Dies betrifft besonders die Entwicklung von Angststörungen, Depressionen oder anderer Persönlichkeitsstörungen. Kinder suchtkranker Eltern sind während der Kindheit und Jugend häufig durch Hyperaktivität, Impulsivität und Aggressivität, durch Angstsymptome, gestörtes Essverhalten und depressive Symptome, durch Defizite in der schulischen Leistung und in der visuellen Wahrnehmung sowie durch starke innerfamiliäre Konflikterfahrung gekennzeichnet. Erfassung der Risikofaktoren von Kindermisshandlung und Frühprävention Das Kempe Family Stress Inventory besteht aus nur zehn Item, wobei deren Einstufung ein ausführliches Interview mit den Eltern voraussetzt (siehe Deegener und Körner, 2006, S. 251-252; Korfmacher, 2000): 1. Elternteil wurde als Kind geschlagen oder vernachlässigt. 2. Elternteil hat eine Vorgeschichte mit Kriminalität, psychischer Störung oder Substanzmittelmissbrauch. 3. Elternteil stand in der Vergangenheit unter Verdacht einer Kindesmisshandlung. 4. Elternteil mit sozialer Isolation, geringem Selbstwertgefühl oder Depression. 5. Vielfacher Stress/vielfache Krisen. 6. Gewalttätige Wutausbrüche. 7. Rigide, unrealistische Erwartungen an das Verhalten des Kindes. 8. Harte Bestrafungen des Kindes. 9. Schwieriges Kind und/oder provozierendes Kind, oder es wird so von den Eltern wahrgenommen. 10. Ungewünschtes Kind oder Risiko für schlechte Bindung zum Kind. Entwicklung von Risikoprozessen in der sozialen Fehlanpassung des Individuums Mangel an Dissoziative Prozesse Trauma Kontingenz (chaotische Störung der Interaktionen GedächtnisFunktion und Erlebnisverarbeitun g Störung der Affektregulation Irritabilität Reflexive Funktionen Störung der Entwicklung mentaler Modelle Handlungskontrolle Impulsivität Hyperaktivität Mangelnde Konflikt- und Traumaverarbeitung Empathie Soziale Perspektivenübernahme Folgen des Reagierens von Kindern auf verschiedenen Altersstufen auf die drohende Zerstörung der Bindungsperson - „Frühe Störungen“ durch schwere lang dauernde Depression und damit verbundene emotionale Zugänglichkeit der Mutter / des Vaters - Parentifizierung: Eltern, die selbst schwer krank / traumatisiert sind, können die Tendenz entwickeln, sich vom Kind „bemuttern“ zu lassen. Bei fixierter Dauerüberforderung führt dies u.a. zu einer zu frühen Autonomie und einem vorschnellen Ende der Kindheit. Wenn Kinder Parentifizierungen aufkündigen und der kranke Elternteil mit Vorwürfen reagiert, können klinisch schwere Schuldgefühle bis hin zu Selbstverletzungen auftreten. - Pathologische Identifizierung: Bei Kindern körperlich schwer kranker Eltern kann es zu Konversionsstörungen kommen, welche sich an der körperlichen Symptomatik des Elternteils orientieren. Im psychiatrischen Bereich ist der Endpunkt die Übernahme des Systems einer psychotischen Mutter im Rahmen einer „folie à deux“. Bei den Kindern fanden sich folgende Auffälligkeiten: - Reaktive Bindungsstörung (48 %) - Regulationsstörung (33 %) - Entwicklungsverzögerung (33 %) - Hyperaktivität, riskantes Verhalten (18 %) - Gedeihstörung (11 %) - Frühe Anzeichen für die Entwicklung eines falschen Selbst: Ängstlicher Gehorsam, übermäßige Fürsorglichkeit als Versuch, die Mutter zu kontrollieren (30 %). Störungen in der frühen Entwicklung der Kinder stehen in enger Beziehung zum elterlichen Interaktionsstil - Kinder, deren Mütter sensitiv oder rasch wieder sensitiv waren, zeigten lediglich vorübergehende Anpassungs-probleme - Kinder, deren Mütter mit aggressiv getönte, abrupt wechselndem Verhalten, zeigten die meisten Entwicklungsprobleme (Borderlinepersönlichkeitsstörungen der Mütter). - Kinder dieser unberechenbaren Mütter lernen, ihre Mütter genau zu beobachten, um evtl. bedrohliche Situationen rechtzeitig zu erfassen. Mit falsch positivem Affekt und Fürsorglichkeit versuchen sie, die Mütter zu kontrollieren, bei Anzeichen mütterlicher Aggression reagieren sie mit erschrecktem Erstarren und erzwungenem Gehorsam (Crittenden, 2000). Frühe Beziehungs- und Bindungserfahrungen • Frühe Bindungserfahrungen und frühe interpersonelle Interaktionen zwischen Hauptbezugsperson und Kind bilden die Grundlage der sozio-emotionalen Entwicklung. • Modifikationen der Affektregulation und Impulskontrolle. • Auffälliges Sozialverhalten und Veränderung bezüglich der Aufmerksamkeit, Selbstwahrnehmung und Kognition. • Somatisierungsstörungen und depressive Erlebnisweisen. sind Folgen unterschiedlicher Aktivierung des Bindungssystems und der damit einhergehenden inneren Arbeitsmodelle. Nach Fonagy (2005) wirken sich sozialer Stress, Aufmerksamkeitskontrolle und Probleme der Affektspiegelung im Sinne unterschiedlicher interpersoneller Bedeutungsgebungskompetenzen aus. Wir unterscheiden: - Fehlende Markiertheit in der Affektspiegelung - Markiertheit mit fehlender Feinfühligkeit und projektiver Identifkation - Fehlende Markiertheit und verzerrte Affektspiegelung inkl. Unterstimulierung. Retrospektive Sicht von mittlerweile erwachsen gewordenen Kindern aus Suchtfamilien: - Stark fixierte Rollenmuster - Problem- und Konfliktvermeidung - Gewalterfahrungen - Erhöhte Vulnerabilität gegenüber psychischen und physischen Entwicklungsstörungen - Erschwerungen der Entwicklung durch ablehnende, gleichgültige oder weitgehend mit sich selbst beschäftigte Eltern - Traumatische Erfahrungen, die den Eltern häufig nicht als traumatisch erscheinen • Dissoziales Familienklima mit negativen bzw. aversiven Erlebnissen und Ereignissen • Elterliche Streitigkeiten und Konflikte, die oft lautstark, bisweilen mit physischer Gewalt ausgetragen werden • Unzuverlässigkeit und fehlende Wertschätzung seitens der Eltern • Ein von Scham und Schuldgefühlen gekennzeichnetes Verhältnis zu den Bindungspersonen • Generationsgrenzstörungen und Parentifizierung • Introvertiertheit • Häufiges Erkranken mit Fehlzeiten in der Schule - Retardierung bei elterlichem Nikotinmissbrauch während der Schwangerschaft • Expansives Verhalten seitens der Jungen - Affektive Störungen seitens der Mädchen, jeweils mit emotional instabilem Verhalten - Kompensatorische Verleugnung, Wiedergutmachung, übersteigerte Leistungsanforderungen im Sinne der Bildung eines grandiosen Subjektes zum Schutz der Eltern oder auch Scham wegen der Eltern. - Unterschiedliche Entwicklung in Geschwisterbeziehungen (meist ältestes Mädchen als kompensatorische Leistungsträgerin) Störungsentwicklung Kinder alkoholkranker Eltern zeigen ein vermehrtes Auftreten von - Externalisieren der Störungsbilder - aggressivem, oppositionellem oder hyperaktivem Verhalten, - affektive und Angststörungen - Abweichungen in den Bereichen der Selbstwirksamkeit, des Selbstwerterlebens, der Handlungskontrolle - vermehrte depressive und psychosomatische Beschwerdebilder Kinder aus suchtbelasteten Familien sind die größte Risikogruppe für die Entwicklung - eigener Missbrauchs- und Abhängigkeitsrisiken - emotionaler und sozialer Vernachlässigung - unvorhersehbare, wechselnder und nicht kontrollierbarer Stimmungserfahrungen bei den Erwachsenen je nach deren emotionalen Zustand oder deren Suchtphase. Entstehungsbedingungen für impulsiv-aggressives Verhalten „Disruptives“ Kind • Affektiv-aggressiv • Trotzig • Schlechte Emotionsregulation Bezugsperson „Schwieriges“ Kleinkind • Überreaktiv auf Emotionen des Kindes • Wenig Forderungen ans Kind • Starke emotionale Schwankungen • Geringe Frustrationstoleranz • Überaktiv, fordernd Säugling • Intensives Schreien • schwierig zu beruhigen • schlechte Selbstregulation Bezugsperson • Schwierigkeiten, Signale des Säuglings zu entziffern • Tendenz zur Überstimulation © Schmeck [nach Keenan & Shaw (2003)] Entstehungsbedingungen für instrumentell-aggressives affektarmes Kind • Gehäufte Regelverletzungen • Stehlen, Lügen • Proaktive Aggression Bezugsperson • uninteressiert • Erziehung schwankt zwischen fehlenden / harten Konsequenzen Säugling • Wenig Reaktion auf Stimulation • Niedrige physiolog. Erregung „Schwieriges“ Kleinkind • Starkes Reizsucheverhalten • Schlecht lenkbar • Reagiert nicht auf Strafen Bezugsperson • Schwierigkeiten, Signale des Säuglings zu entziffern • Tendenz zur Unterstimulation © Schmeck [nach Keenan & Shaw (2003)] Drogenkranke Mütter und ihre Säuglinge: Interaktionsmuster und Einstellungen – Risiken und Chancen Beziehungsgestaltung und postnatale Entwicklung bei illegal drogenkranken Müttern und ihren Babys: Die ersten Lebensmonate sind besonders chancenreich, aber auch vulnerabel für die Ausbildung „gute“ Interaktionszyklen zwischen dem Kind und seinen primären Bezugspersonen. Bei illegaler Suchtproblematik der Mutter ist die Entstehung einer ungünstigen psychosozialen Entwicklung mit psychischer Auffälligkeit und Anfälligkeit des betroffenen Kindes für Suchtprobleme wahrscheinlich (mehr als 50 %). Frühzeitiges Erkennen und Behandeln von Interaktions- und Regulationsstörungen kann davor schützen. Ziel der Untersuchung von A. Trost (2005): 1. Aussagen zur Interaktion zwischen Mutter und Kind treffen 2. Die Einstellungen der Mütter zu ihren Säuglingen erfassen 3. Die Fähigkeit des Kindes zur Selbstregulation einschätzen Resultate: Die intuitiven elterlichen Kompetenzen waren bei den Drogenmüttern signifikant schwächer zugänglich. Auch wurde viel häufiger ein überregulierendes, sowie inadäquates, dysregulierendes Verhalten gegenüber den Babys beobachtet. Folgende Interaktionsmuster und Einstellungen traten auf: - Geringere Freude am Kind, mehr Ängstlichkeit und Unsicherheit in der Beziehungsgestaltung - Tendenz zu Überregulierung bei nicht Wahrnehmen der kindlichen Bedürfnisse - Ein geringes mütterliches Selbstvertrauen, kompensatorische Überfürsorge, rigide Beziehungsvorstellungen, erhöhte Tendenz zum Strafen - Eher depressives Selbstbild auf dem Hintergrund einer eigenen unsicheren Bindungsrepräsentation, Schuldgefühle – große, teils überwertige Hoffnungen, die an das Kind und an die neue Lebensphase geknüpft werden („Christkind“-Metapher), tendenzielle Rollenumkehr. In der Vorgeschichte gab es bei den Drogenbabys deutlich mehr Probleme mit Schreien und kindlicher Unruhe. Es fanden sich häufiger Symptome mit einer taktil-kinästhetischen Verarbeitungsstörung, in der Untersuchung waren die Drogenbabys irritabler. Schlussfolgerung: Wichtig für eine gute Entwicklung der Dyade ist die emotionale und psychosoziale Unterstützung und bindungsorientierte Begleitung der Mutter. Ansätze zur Prävention: - Endtabuisierung des Themas psychische Krankheit - Informationsvermittlung - Psychoedukation - Abbau von Ängsten und Schuldgefühlen sowohl bei den als auch bei den Kindern - Stärkung von Selbstwahrnehmung und Selbstwert - Förderung des emotionalen Austauschs - Stärkung von Selbstreflexion - Schützender Abstand bzw. Halbdistanz gegenüber unberechenbaren instabilen Elternteilen Eltern emotional - Unterstützung bei der Integration unvereinbarer Erfahrungen, Belastungen und emotionaler Instabilität des Kindes oder Jugendlichen. - Eltern-Kind-Interaktions-Therapie bei Problemen in der frühen Entwicklung. Erfassung folgender hochbelastender Verhaltens und Interaktionsmuster (Deneke & Lüders, 2003). - Ausreichend sind sensitives bzw. nach kurzer Störung rasch wieder normalisiertes Verhalten in 9 %. - Verminderte Responsivität, Unterstimulation in 45 %. - Kontrolle, Überstimulation in 18 %. - Abrupte Wechsel von Über- und Unterstimulation der frühen Entwicklung seitens der Mütter (Väter), aggressiv getönt in 28 %. - Stabilisierung der schwer kranken, traumatisierten Eltern zur Reduzierung der Parentifizierung und des Ausbruchsschuldgefühls der Kinder. Hierzu bedarf die Familie familiärer Bewältigungshilfen, die Kinder benötigen Hilfe bei der Nutzung von intrapsychischen Ressourcen (Hilfen beim altersund individuums-typischen Copings). 10 % aller Kinder gehören zur Risikopopulation, die mindestens eine Episode einer körperlichen oder psychischen Erkrankung eines Elternteils erlebt hat. Protektive Faktoren für die kindliche Entwicklung müssen identifiziert und genutzt werden: - Bezüglich der elterlichen Erkrankung: Weniger schwerer und chronifizierter Verlauf, gesunde Intervalle, späterer Beginn, Kind wird in ein elterliches Warnsystem nicht mit einbezogen. - Auf Seiten des Kindes: Gute biologische Ausstattung, unproblematisches Temperament, Selbstregulationsfähigkeit, Intelligenz, Attraktivität, gute soziale Kompetenz Zur Unterstützung betroffener Kinder Suchthilfe und Jugendhilfe sollten mit weiteren pädagogischen und medizinischen System eng zusammen arbeiten: - Zielgerichtete Qualifizierung der Fachkräfte der Jugendhilfe bezüglich des Umgangs mit Suchtproblemen in Familien erscheint unverzichtbar. - Kinderärzte, Gynäkologen und Geburtshelfer sollten ebenso wie Kinder- und Jugendpsychiater und Erwachsenenpsychiater in ein Präventions- und Frühinterventionsnetzwerk eingebunden werden. - Z.B. das Hamburger Modellprojekt „connect-Hilfen für Kinder aus suchtbelasteten Familien“ „connect“-Bausteine - Etablierung einer nachhaltigen Kommunikationsstruktur - Qualifizierung der MitarbeiterInnen vor Ort – Informationsveranstaltungen, Fachgespräche, Workshops sowie Praxis- und Fallberatung - Entwicklung und Intensivierung einer verbindlichen Kooperationsstruktur mit Ankopplung an bestehende Gremien - Entwicklung und Abschluss verbindlicher Kooperationsvereinbarungen - kontinuierlich begleitende Evaluation der bewährten Trias von Struktur-, Prozesse- und Ergebnisqualität. Interventionen - Sensibilisierung für das Thema - Qualifizierung zur Suchterkennung - Bedarf ermitteln und adäquat steuern (von der Versäultenstruktur der Arbeitsfelder zur breiten und bereichsübergreifenden Basis) - Selektive oder indizierte Prävention - Fokussiertes und intentionales Handeln - Fokussiertes und spezifisches Einwirken auf unterschiedliche Problemfelder, hierbei sozialräumlich familiennah mit Umsetzung von Hilfen für jede Art von familiären Belastungen - Motivation analysieren und gezielt fördern Struktur- und Wirkmechanismus der Projektmaßnahmen von connect Koordination der lokalen Strukturen Kommunikation der MitarbeiterInnen und Fachkräfte Kooperation Der Institutionen, Träger und Einrichtungen Diversifikation Von Hilfeangeboten Kinder aus suchtbelasteten Familien Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit