Inhalt 1 Einleitung S. 2 2.1. Abgrenzung des Begriffs Stimmung in Text und Musik der Winterreise S. 4 2.2. Abgrenzung der Begriffe Raum und Zeit in Text und Musik der Winterreise S.6 2.3. Raum, Zeit und Stimmung in Winterreise S.10 2.3.1. Gute Nacht S.10 2.3.2. Die Wetterfahne S.14 2.3.3. Gefrorne Tränen S.17 2.3.4. Erstarrung S. 19 2.3.5. Der Lindenbaum S. 22 2.3.6 .Wasserflut S.26 2.3.7. Auf dem Flusse S.29 2.3.8. Rückblick S.32 2.3.9. Irrlicht S.35 2.3.10. Rast S.37 2.3.11. Frühlingstraum S.40 2.3.12. Einsamkeit S.44 3 Fazit S.47 Literaturverzeichnis S.49 1 1 Einleitung Wer den im Jahre 1827 abgeschlossenen Liederzyklus Die Winterreise (op. 89, D.911) von Franz Schubert (1797-1828) und Wilhelm Müller (1794-1827) kennt, wird beim Lesen der Müller-Gedichte eine fast noch erweiterbare Einfachheit erfahren. Die Winterreise als Gedichtzyklus kennzeichnet sich durch die schlichte Volksliedform (in Reim, Metrum und Rhythmus). Diese Form umrahmt ein tragisches Wanderthema, von einer naiv- poetischen Unmittelbarkeit geprägt. Ausschluss aus der Gesellschaft und enttäuschte Liebe und Ideale sind die Hauptthemen. Die Musik Franz Schuberts bietet eine innovative, frühromantische Intensivierung dieser von Wilhelm Müllers konzipierten Wander-Geschichte. Sie füllt musikalisch die Gedichte mit Stimmungen, die aber doch eigentlich von Müller, wenn man gut liest, schon vorgegeben sind. Schubert gestaltet aber die Lieder so genial und in seiner Zeit musikalisch erneuernd, dass Müllers Gedichte immer im Schatten ihrer Schubertvertonungen stehen. Das Gesamtresultat ist aber einer der bekanntesten Liederzyklen des deutschen Sprachgebiets. Es stellt sich daher die Frage, wie der ästhetische Prozess so einer erfolgreichen literarischmusikalischen ‚Zusammenarbeit’ aufgebaut ist. Beim Rezipieren eines Kunstwerks ist der erste Vermittlungsfaktor die Stimmung. Auch bei schaffenden Künstlern spielt Stimmung eine wichtige Rolle: sie soll wesentliche Anregung vermitteln. So auch bei Franz Schubert, als er die ersten zwölf Gedichte der Winterreise in der Zeitschrift „Urania- Taschenbuch auf das Jahr 1823“1 las. Anscheinend herrscht in den Müller-Texten so eine ausgesprochene Stimmung, dass Schubert sie sofort verstanden hat und verwenden konnte. Stimmung scheint so ein geeigneter Untersuchungsfaktor eines Kunstwerks zu sein. Während des Entstehungsprozesses der Winterreise war Schubert „düsterer gestimmt und angegriffen,“2so erinnert sich sein adliger Freund Josef von Spaun (1788-1865). Überdies war Schubert von diesen Liedern „mehr angegriffen, als dieses bei anderen Liedern der Fall war.“3Müller kannte Schubert nicht, suchte aber, so zeigt ein berühmtes Zitat über seine Volkspoesie, eine gleich gesinnte musikalische Seele: 1 Arnold Feil: Franz Schubert. Die schöne Müllerin. Winterreise. Mit einem Essay “Wilhelm Müller und die Romantik” von Rolf Vollmann. Mit 88 Notenbeispielen. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1975. S. 26. 2 Otto Erich Deutsch: Schubert. Die Erinnerungen seiner Freunde. Gesammelt und hg. von O.E. Deutsch. Leipzig 1957. S. 160. 3 Ebd. S. 29. 2 Ich kann weder spielen noch singen und wenn ich dichte, so sing’ich doch und spiele auch. Wenn ich die Weisen von mir geben könnte, so würden meine Lieder besser gefallen als jetzt. Aber, getrost, es kann sich eine gleichgestimmte Seele finden, die die Weisen aus den Worten heraushorcht und sie mir zurückgiebt..4 Stimmung existiert aber nicht an sich, sie wird ausgelöst. Inspiriert von der Chronotopos-Idee des russischen Formalisten und Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin (1895-1875) – ‚Raum‘und ‚Zeit‘ sind im literaturwissenschaftlichen Sinn als eine Einheit zu behandeln – sollen ‚Raumzeiten‘ als ‚Stimmungsbestimmer‘ dienen. Thema dieser Arbeit ist daher auch: Die ästhetische Verwendung von ‚Raum und Zeit’ zur Gestaltung der Stimmung im Liederzyklus Winterreise (Franz Schubert/Wilhelm Müller). Die dazu gehörende Fragestellung wäre dann: Wie werden ‚Raum und Zeit’ in diesem Liederzyklus eingesetzt um die Stimmung zu gestalten? Dabei wird von der Tatsache ausgegangen, dass der Text als erstes entstanden ist. Erst werden die Begriffe ‚Stimmung‘, ‚Raum‘ und ‚Zeit‘ in Text und Musik abgegrenzt. Dann folgt die eigentliche Analyse mit Fazit, wobei jeweils Text und Musik wechselseitig besprochen werden. In der Analyse wird der Reihenfolge des Liederzyklus gefolgt, also Schuberts Reihenfolge. Wegen der Größe der Aufgabe beschränkt sich diese Analyse auf die ersten zwölf Lieder – bekannt als die ‚Erste Abteilung.‘ Literatur über Winterreise als Liederzyklus gibt es ausreichend. Wichtige Werke, welche die Arbeit musikwissenschaftlich unterstützen können, sind unter anderem Abhandlungen von Arnold Feil5 und Ludwig Stoffels.6 Weiter werden Betrachtungen der berühmten Schubertinterpreten Bariton Dietrich Fischer-Dieskau7(1925-2012) und Pianisten Gerald Moore8 (1899-1987) verwendet. Dazu sind schriftliche Werke von der Musikwissenschaftlerin Marie-Agnes Dittrich9 sowie des Komponisten und Kirchenmusikers 4 Wilhelm Müller: Diary and Letters of Wilhelm Müller. Hrsg. von Ph. Sch. Allen; J.T. Hattfield. Chicago 1903. S. 5f. 5 Arnold Feil: Franz Schubert. Die schöne Müllerin. Winterreise. Mit einem Essay “Wilhelm Müller und die Romantik” von Rolf Vollmann. Mit 88 Notenbeispielen. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1975. 6 Ludwig Stoffels: Die Winterreise I. Bd.1: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung. Bonn: Verlag für systematische Musikwissenschaft 1987. 7 Dietrich Fischer-Dieskau: Auf den Spuren der Schubert-Lieder. Werden-Wesen-Wirkung. Mit 76 Abbildungen. Wiesbaden: F.A. Brockhaus 1971. 8 Gerald Moore: Schuberts Liederzyklen. Gedanken zu ihrer Ausführung. Gemeinschaftliche Ausgabe. KasselBasel-Tours- London: Bärenreiter-Verlag. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1978. 9 Marie-Agnes Dittrich: Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern. In: Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft. Constantin Floros (Hrsg.). Hamburg: Verlag der Musikalienhandlung Karl Dieter Wagner 1991. 3 Wolfgang Hufschmidt 10miteinzubeziehen. Für die Musik Schubert ist eine FaksimileAusgabe herangezogen. Der Text Müllers wird einer kritischen Ausgabe entnommen.11 Für den Begriff ‚Stimmung‘ wird ein Aufsatz des Literaturkritikers David E. Wellbery (1947) im Lexikon Ästhetische Grundbegriffe12 herangezogen, der den Begriff in seinem historischen Wandel beschrieben hat. In dieser Arbeit wird nicht direkt aus folgendem Buch zitiert, aber es spielt im Hintergrund mit: Hans Ulrich Gumbrechts Stimmungen lesen,13der sich unter anderem auf Wellberys Abhandlung basiert. Der Begriff ‚Raum‘ wird ebenfalls im Lexikon Ästhetische Grundbegriffe, diesmal von Michaela Ott14 besprochen. In diesem Aufsatz wird auch die Einheit von Raum und Zeit hervorgehoben. Dies lässt sich auf die textliche Analyse anwenden. Für die musikalische Auslegung der Begriffe ‚Raum‘ und ‚Zeit‘ und deren Einheit wird unter anderem Helga de la Motte-Habers15Musik und Bildende Kunst herangezogen. 2.1. Abgrenzung des Begriffs Stimmung in Text und Musik der Winterreise Stimmung hat als ästhetischer Begriff, wenn man den Begriffswandel des Worts im Lexikon Ästhetische Grundbegriffe studiert, historisch viele Schichten und Bedeutungen. Stimmung ist aber auf jeden Fall, wenn man sie ästhetisch auffasst, ein Zustand, der von anderen (ästhetischen, persönlichen, äußerlichen) Faktoren bestimmt wird. Man wird in eine Stimmung gebracht. So ist auch in dieser Analyse der Begriff Stimmung zu verstehen: sie ist Resultat der Gestaltung von den Künstlern Müller und Schubert, die eine Verbindung zwischen ihren eigenen Stimmungen und den der Rezipienten schaffen können. Die Stimmung des Rezipienten wird ebenfalls analysiert. 10 Wolfgang Hufschmidt: Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn? Zur Semantik der musikalischen Sprache in Schuberts Winterreise und Eislers Hollywood-Liederbuch. Saarbrücken: PFAU-Verlag 1993. 11 Wilhelm Müller: Gedichte. Vollständige kritische Ausgabe. Mit Einleitung und Anmerkungen besorgt von James Taft Hatfield. Nebst Porträt und einer Facsimilebeilage. Berlin: B. Behr’s Verlag 1906. 12 David E. Wellbery. Stimmung. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hrsg. von Karlheinz Barck. Stuttgart: Metzler Verlag 2000-2005. Band 5. S. 703-733. 13 Hans Ulrich Gumbrecht: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur. München: Carl Hanser Verlag 2011. 14 Michaela Ott: Raum – ein heterogenisierender Relationsbegriff. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hrsg. von Karlheinz Barck. Stuttgart: Metzler Verlag 2000-2005. Band 6. S. 113149. 15 Helga de la Motte-Haber: Musik und bildende Kunst. Von der Tonmalerei zur Klangskulptur. Laaber: Laaber Verlag 1990. 4 Raum und Zeit im Text und in der Musik stellen sich als hervorragende Analysebegriffe heraus, um den Weg zur Stimmung zu begreifen. Sie sind innerhalb der diffusen Umschreibung von Stimmung sehr konkrete, kulturell-historisch ausgefüllte ästhetische Begriffe, die mit bestimmten Stimmungen in Verbindung stehen: so hatte jede Zeit ästhetische ‚Lieblingsstimmungen‘, die mithilfe der Begriffe Raum und Zeit analysiert werden können. In der Romantik lässt sich eine „Stimmung als radikale Innerlichkeit“16 deuten, von der auch Winterreise geprägt ist. Der Ich-Raum stand damals zentral, die Veräußerlichung des Inneren, wobei die Zeitkunst Musik als hervorragende Sprache der Seele an ‚stimmiger‘ Bedeutung gewann, da sie eine „Vergleichsbasis für die Kennzeichnung von Stimmungen“17 wurde. In der Analyse wird dies weiter ausgearbeitet. Raum-zeitliche Aspekte, die die Stimmung in der Romantik mitgestalteten und die für Winterreise wichtig sind, sind die „Phänomenbereiche[...] die Landschaft und das Wetter, in denen man objektive Korrelate der inneren Stimmung erkennt.“ 18Winterreise als Liederzyklus hat mehrere Stimmungen: die Stimmung der verlorenen Liebe, die der verlorenen Ideale, Stimmung des Einzelnen in einer abweisenden Welt; Stimmungen die überhaupt die Entwicklung des ‚Österreichischen/Deutschen Lieds‘ bestimmt haben, so wie z. B. bei Gustav Mahler (1860-1911). Diese Stimmungen sind aus den Hintergründen der Zeit und dem persönlichen Lebenswandel der Künstler zu erklären, wie Reinhold Brinkmann im Aufsatz Schubert’s Political Landscape in A new history of German literature den Zyklus analysiert: The one, specific journey thus becomes „Winterreise“ as a general condition, a metaphor indicating the troubled relationship between- in the terminology of German Idealism- the individual and the world. It seems that Wilhelm Müller concieved of die Winterreise as allegorical diagnosis of his actual present. The practice of censorship would explain the encoding of the lyrical presentation. Indeed, Müller made many theoretical statements that point to this enlightened sense of political responsibility. They all suggest that Winterreise was more than a private love story. That Schubert likewise understood his own Winterreise as an 16 Wellbery 2000-2005. Band 5: 712. Ebd. S. 713. 18 Ebd. S. 713. 17 5 encoded parable of the sociopolitical conditions of Austria under the restrictive Metternich System, can only be inferred. 19 Die Mehrschichtigkeit der Stimmungen in Winterreise weisen in der Tat in eine Richtung einer ‚vollkommenen’Geschichte: einer Lebenseinstellung. Das ist aber kein politisches Statement und das war eben auch schwierig zu Müllers und Schuberts Zeiten. Die notwendige verschlüsselte Sprache der Unzufriedenheit hat eben noch mehr die Vorstellungskraft der Künstler angeregt, Stimmungen in ‚Kunststimmungen‘zu übersetzen in so einer Form, dass man sich heute noch in sie hineinversetzten kann. In dieser Analyse liegt der Nachdruck auf diesen Kunststimmungen und wie sie gestaltet sind in Musik und Text, nicht so sehr auf der Beschreibung des historischen Anlasses dieser Stimmungen. Räumliche und zeitliche Elemente spielen also eine Rolle bei der Gestaltung der Stimmung. Im folgenden Abschnitt wird erklärt, wie sie genau die Stimmung mitgestalten. 2.2. Abgrenzung der Begriffe Raum und Zeit in Text und Musik der Winterreise In dieser Analyse wird davon ausgegangen, dass die Begriffe Raum und Zeit in einem untrennbaren Zusammenhang stehen, sowohl im Text als in der Musik. Die räumlichen und zeitlichen Aspekte in Winterreise werden darum auch gesamt und wechselseitig besprochen. Wie Michaela Ott in ihrem Aufsatz Raum – ein heterogenisierender Relationsbegriff20 in Ästhetische Grundbegriffe ein Zitat aus Philosophie der symbolischen Formen vom DeutschJüdischen Philosophen Ernst Cassirer (1874-1945) hervorhebt: Raum und Zeit sind keine Substanzen, sondern vielmehr ‚reale Relationen‘; sie haben ihre wahrhafte Objektivität in der ‚Wahrheit von Beziehungen‘[...]21 Zu Schuberts und Müllers Zeiten, in der Frühromantik, war diese Untrennbarkeit theoretisch noch nicht so weit entwickelt wie ab dem 20. Jahrhundert, obschon die deutsche Musikwissenschaftlerin Helga de la Motte-Haber (1938) in der romantischen „universale[n] Kunststauffasung[...]eine Umwertung des klassizistischen ästhetischen Kanon“22erkennt. Dadurch wurde die „Trennung der Kunstgattungen“23vager und dazu die „strenge Scheidung 19 Reinhold Brinkmann: Schubert’s Political Landscape. In: A new history of German Literature. David E. Wellbery (Hrsg). Cambridge: Harvard University Press 2004. S. 541-546, hier S. 541. 20 Michaela Ott 2000-2005. Band 6: 115. 21 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Bd.3. Berlin: 1929. S. 166f. 22 Motte-Haber 1990: 12. 23 Ebd. S. 12. 6 der Ausdrucksmittel“24der an der Klassik orientierten Aufklärung aufgehoben. Dies hat mit Raum und Zeit zu tun, weil Raum mehr visuell und Zeit mehr musikalisch konnotiert ist. Wenn Kunstgattungen in einander verflochten werden, verflechten diese Begriffe auch. Für Winterreise bedeutete das z. B. konkret, dass Müller seine Geschichte in der bei den Frühromantikern so beliebten Volksliedform erzählte, also er schrieb Texte mit vielen musikalischen Eigenschaften, wie ein bestimmtes Metrum. Schubert seinerseits schuf mit seinen Liedern teilweise „bildnerische Kompositionen,“25in den die subjektiv-optische Müllerlandschaft musikalisch zur Entfaltung kommt. Es findet sich konkret Raum in der Musik und musikalische Zeit in der Poesie. Es gibt aber noch viel mehr an Verbindung in der komplexen Synthese Raum-Zeit in Text und Musik, die in der Analyse besprochen werden. In dieser Analyse wird davon ausgegangen, dass der textlicher Raum folgende sieben Aspekte umfasst: - Geschilderter Raum, in dem der lyrische Protagonist sich bewegt (und Begegnungskörper im Raum) - Ortsbestimmung des lyrischen Protagonisten - „Innenräume“26: die Fokussierung des lyrischen Protagonisten aufs Innerliche - Innertextliche Räume: Vorstellungsräume des Dichters - Vorstellungsraum des Rezipienten (Leser, Zuhörer) - Außertextliche Räume: Publikation, Leseraum - Form des Gedichts Dazu sind bei der ‚textlichen Zeit’ die folgenden vier Punkte mit in Betracht genommen: - Zeitliche Aspekte des lyrischen Protagonisten (Reise, Bewegung, Tod, Moment u.s.w.) - Aufbau des Zyklus (Gedichtreihenfolge, Geschichtsverlauf, Entwicklung) - Syntax (Satzbau) 24 Ebd. S. 12. Ebd. S. 12. 26 Michaela Ott 2000-2005. Band 6: 130. 25 7 - Metrum Für die Musik liegt es weniger auf der Hand, ‚Raum‘ zu determinieren, weil Musik ihrem Wesen nach „eine Kunst [ist], die sich in der Zeit abspielt,“27wie Komponist Arnold Schönberg (1874-1951) feststellt. Die wenige Sekundärliteratur, die über Musik und Raum zu finden ist, ist erst im 20. Jahrhundert entstanden, als sich die musikalische Avantgarde von allen traditionellen Auffassungen lösen wollte und aus einem neuen Konzept heraus denken musste, wobei es auch üblicher war, als Komponist bewusst theoretisch durchbrechen und schriftlich determinieren zu wollen.28Die musikalischen Räume, die in der Sekundärliteratur erwähnt werden, wären aber teilweise auch auf ein frühromantisches Werk wie Winterreise anwendbar. Es gibt einige wesentliche Unterschiede zwischen Text erleben und Lied hören. Die Musik hat die Eigenschaft, eine Zeitkunst zu sein, das heißt, dass sie den Rezipienten gleich in der Zeit und in der Stimmung ‚aufnimmt.‘ Im Text ist das Erleben hinterher, wenn man die Konstruktion der Textgedanken ‚fertiggelesen‘ hat. Wo das Gedicht das optische Vorstellungsvermögen des Lesers erregt, hat dieses aber nur eine Erzählperspektive, nur eine Schicht. In der Gattung Lied sind ein zweiter und dritter Erzählraum anwesend: die Klavierbegleitung bildet bei Schubert einen selbstständigen instrumentalen Leitfaden, der die Gesangsmelodie – auch als Erzählraum zu deuten – unterstützt, ergänzt. Sie gestaltet Stimmung als ‚unabhängiges Abhängiges‘ mit. Zu Schuberts Zeiten war diese „neuartige Funktion der instrumentalen Satzschicht und die reichen Möglichkeiten im Zusammenwirken von Gesang und Klavier“29ein noch nicht gebahnter Weg. Es ist aber eben dieser Weg, der dem Deutschen Lied seine endgültige Bedeutung in der internationalen Musiktradition gab und mit der musikalischen Sublimierung des Persönlichen zusammenhängt. Im musikalischen Stil Schuberts wird diese neue persönliche Sprache30 mehr als bei seinem großen Vorbild dem Klassiker Beethoven prononciert. Der persönliche Raum prägt Schuberts Lieder und Kammermusik noch mehr als seine orchestralen Werke. 27 Hans Heinz Stukenschmidt: Schönberg – Leben, Umwelt, Werk. Zürich und Freiburg 1974. S. 286. Vgl. Motte-Haber 1990: 25. 29 Stoffels 1987: 153. 30 Jacobus Pop: Schubert als interpretator van gedichten. Schubert als Interpret von Gedichten (mit einer Zusammenfassung in deutscher Sprache). Proefschrift. Utrecht: Joachimsthal Publishers 1982. S. 30f. 28 8 Die Besetzung eines Liedduos (Klavier und Gesang,) ist an sich ein intimes Ensemble. Darüber hinaus spielen Aufführungsraum und die daran gekoppelte Funktion eine Rolle: die Lieder Schuberts wurden für Zuhörer der heute so berühmten Schubertiaden gesungen. Diese Schubertiaden waren salonartige musikalische Veranstaltungen im privaten Rahmen, also Hauskonzerte für interessierte Bürger. Diese Bürger waren oft Freunde und Bekannten Schuberts, also die Wahl für einen persönlichen Ich-Text wie Winterreise von Müller und die musikalische Sublimierung dessen Stimmung – Bariton und Schubertinterpret Dietrich Fischer Dieskau beschrieb den Zyklus sogar als „ein intimes Tagebuch der Seele“31- hängt damit zusammen. Es sind folgende ‚musikalische Räume‘ aus diesen Vorbetrachtungen und der Sekundärliteratur zu destillieren: - „Die räumliche Anschauung der Töne“ 32(Intervalle, Tonhöhe und deren Charakter) - Dynamik - Harmonischer Raum (oder Tonraum) - Form (Pro Lied, Zyklusaufbau) - „Innermusikalischer Raum:“33Vorstellungsraum des Komponisten - „Virtueller Raum:“34räumliche Vorstellungen in der Musik - „Gefühlsraum“35 – musikalische Ausdrucksform für die Gefühle der Hauptfigur. - Klavierraum – Klavierpartie - Gesangsraum – Gesangspartie 31 Fischer-Dieskau 1971: 299. Motte-Haber 1990: 44. 33 Gisela Nauck: Musik im Raum- Raum in der Musik. Ein Beitrage zur Geschichte der seriellen Musik. Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft. Hg. v. Hans Heinrich Eggebrecht in Verbindung mit Reinhold Brinkmann, Ludwig Finscher, Kurt von Fischer, Wolfgang Osthoff und Albrecht Riethmüller. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1997. S. 19-29. Hier S. 19. 34 Motte-Haber 1990: 44. 35 Helga de la Motte-Haber: “Ich möchte am liebsten drieeckige Musik machen...”Aspekte musikalischer Raumwahrnehmung. Positionen. Beiträge zur neuen Musik. Musik und Raum. Nr. 8 1991. S. 3. 32 9 - Außermusikalischer Raum: Aufführungsraum, indirekt mit dem Komponierstil verbunden Die musikalische Zeit wäre dann: - Taktangabe - Gesamte Rhythmik - Tempobezeichnungen - Art der musikalischen Bewegung - Agogik - Text auf Melodie (Textplatzierung, Textänderungen Schuberts) - Dauer (des Lieds, Zyklus als Ganzes) - Phrasierung 2.3 Raum, Zeit und Stimmung in Winterreise 2.3.1. Gute Nacht Im Eröffnungsgedicht des Zyklus Gute Nacht sind die ersten zwei der 8-Zeiligen Strophen (von den es vier gibt) von einer intimen Introvertiertheit geprägt. Der Leser wird gleich mit dem stark prononcierten Ich-Raum des Protagonisten vertraut gemacht und liest wie in einem Tagebuch. Die Geschichte wird erzählt, Vergangenheit, Realität und Zukunft sind in diesem längeren Exposégedicht Führung durch die Erzählung. Perfekt und Präsens bilden in dieser persönlichen Stimmung einen natürlichen Erzählrahmen: Fremd bin ich eingezogen/Fremd zieh ich wieder aus. Die Vergangenheit ist im Kontext des Gedichts beladen und endgültig abgeschlossen, das wird noch mal mit dem Präteritum unterstrichen: Der Mai war mir gewogen/Mit manchem Blumenstrauß./Das Mädchen sprach von Liebe,/Die Mutter gar von Eh‘. In den letzten zwei Strophensätzen wird jeweils – außer der letzten Strophe- die subjektivierte Gegenwart als Folge der vorgehenden sechs Zeilen geboten (z. B. Nun ist die Welt so trübe,/Der Weg gehüllt in Schnee). Der Zeitpunkt, an dem der lyrische Protagonist gehen muss, ist nicht freiwillig: Ich kann zu meiner Reisen/Nicht wählen mit der Zeit und impliziert ein bestimmtes Getriebensein. Dass 10 seine Flucht ein unbekannter, ungeführter Weg wird, bestätigen die Sätze: Muß selbst den Weg mit weisen/In dieser Dunkelheit. Ein erster Strich des Anthropomorphismus wird aus der folgenden schaurigen Zeile deutlich: Es zieht ein Mondenschatten/Als mein Gefährte mit. Mit einem Präsens wird in diesem Fall Gegenwart und Zukunft verflochten. Und auf den weißen Matten/Such ich des Wildes Tritt. Die Stimmung in der dritten Strophe ist eine einer beleidigten Abweisung als Folge seíner Abweisung: Was soll ich länger weilen,/Bis man mich trieb hinaus?/Laß ihre Hunde heulen/Vor ihres Herren Haus! Wegen Ausrufezeichen lässt der Leser den introvertierten Raum kurz los und dies führt zu den vom Selbst entfernten, halb- ironischen Zeilen Die Liebe liebt das Wandern,-/Gott hat sie so gemacht-/Von einem zu dem andern-/Fein Liebchen, Gute Nacht ! Ob hier wieder eine aufrechte liebende Atmosphäre geschildert wird, ist in der Sekundärliteratur umstritten: Will dich im Traum nicht stören,/Wär Schad um deine Ruh,/Sollst meinen Tritt nicht hören-/Sacht, sacht die Türe zu! Wenn das so wäre, ist es eine liebende Stimmung mit doppelter Bedeutung, die Vergangenheit ist ja beladen. Machtlos wie die lyrische Hauptfigur ist, bleibt ihm eigentlich nur noch Ironie übrig, in Zeilen die auch den Titel nennen: Ich schreibe nur im Gehen/Ans Tor noch ‚Gute Nacht,‘/Damit du mögest sehen,/Ich hab an dich gedacht. Die Musik greift die persönliche Stimmung unmittelbar vor. Die Intimität gestaltet sich gleich zu Anfang in der piano gespielten Klavierpartie in der (originalen) D-Moll Tonart mit verletzbarer, gehender Bewegung, wobei aber der Darsteller weiß […] dass der Zyklus großzügig behandelt werden muss und nicht aus einer Reihe Miniaturen besteht. 36 Die räumliche Lage des lyrischen Protagonisten ist schon ab dem ersten Satz des Gedichts Gute Nacht klar: er begegnete dem Glück als Fremder und wurde als unerwünschter Gast wieder rausgeworfen. Die räumliche Trennung, des Fremdseins zufolge, hat Schubert mit dem innerhalb der Melodieskala relativ hohen Anfangston auf dem Wort ‘fremd’ zweimal bestätigt: in Takt 7 und 9, da wo die Gesangsstimme anfängt und die persönliche Geschichte der Winterreise als gesungenes Gedicht beginnt. Die Melodie fällt also von oben nach unten ab; in den anderen Sätzen dieses variierten Strophenlieds wird sie dann in der Wiederholung in Moll auf anderem Text in einer Klage verwandelt, wobei ständig – unabhängig welches Wort auf diesem Ton hervorgehoben wird – die Erinnerung ans Wort ‘fremd’ nachschallt. Die 36 Moore 1978: 106. 11 musikalische Phrase führt nach unten – Symbol für das im Englischen so treffend formulierte ‚feeling down‘ –wobei eben auf dem untersten Ton (hier unterstrichen) ‚gezogen‘ ein kleiner Phrasenhöhepunkt zu erfahren ist.37In der Melodie ist so das Fremdsein und die Traurigkeit die es auslöst, vertont. In der dritten Strophe wird der Mut der Realitätsakzeptanz als Frage zentral gestellt und befindet der Leser sich im Jetzt. Was soll ich länger weilen,/Bis man mich trieb’hinaus? Es ist ein Vorhaben, das danach geäußert wird: Lass irre Hunde heulen/Vor ihres Herren Haus! Schubert vermeidet hier die abfallende Melodie: trieb hinaus folgt der natürlichen Fragewendung nach oben. vor ihres Herren Haus! ist die gleiche musikalische Wendung nach oben, aber gestaltet so ein Statement des Muts. Dieser Fall zeigt exemplarisch die Interaktivität des Musik- und Textraums: Die Musik sagt zweimal das gleiche, der Text gebietet in dieser Passage Hörern und Darstellern eine andere Stimmung. Die von Müller geschilderte winterliche und nächtlich-dunkele Landschaftlichkeit stimmt mit der traurigen Stimmung des lyrischen Protagonisten überein. Diese optische Landschaft kann die Musik nicht buchstäblich wiedergeben, auch der Tagesteil ist in der Musik unaussprechbar, wohl kann aber sie die dadurch ausgelöste Stimmung wiedergeben. Schubert verknüpft dafür die Aussagekraft der musikalischen Zeit mit dem harmonischen Tonraum (Orig. D-Moll); der Wanderer läuft schwermütig durch eine Landschaft, wobei Schwermut im langsam getriebenen Wander-Rhythmus gestaltet wird. Nahezu direkt wird der Zuhörer von der Klavierpartie zweischichtig bedient: über den anhaltenden Wanderrhythmus in einer eckigen 2/4 Taktart „mit durchgehender Achtelunterteilung“38 wird die hinabfallende Moll-Melodie vorgegeben, die der Sänger im siebten Takt aufgreift. Dieses Zeiterleben durch den Wanderrhythmus ist kennzeichnend für die ganze musikalische Zeitdimension Schuberts Auslegung der Winterreise-Texte. Dieser Rhythmus repräsentiert aber keine muntere vorwärts Bewegung, sondern eine die „gleichsam in Kreise führt:“39Der Wanderer kann seine depressiven Gedanken – die ihm während dieser Wanderbewegung fortwährend durch den Kopf gehen – nicht loswerden und findet keinen Ausweg; er entscheidet sich nicht. Er durchlebt nur die Depression und kommt nicht aus sich selbst heraus. 37 Vgl. Ebd. S. 106. Feil 1975: 101. 39 Ebd. S. 101. 38 12 Die von Schubert gewählte Bewegung in der gesamten Winterreise vertont diese Müllersche Vorstellung eines wanderenden Irrefahrenden. Die Tempoandeutungen – passend zu dieser Bewegung- kreisen sich dabei um Mäßig, Langsam, nicht zu geschwind, ziemlich schnell.40 So bemerkt Arnold Feil in seiner Analyse zurecht, dass „mit dem ersten Lied trotz ‚gehender Bewegung’ nichts in Gang gesetzt [ist]“41 und weiter, dass Schubert an eine „Grundstimmung[...]eine Grundbewegung knüpft.“42Marie-Agnes Dittrich spürt dazu eine metrische und harmonische Unsicherheit ab der Durstrophe Will dich im Traum nicht stören.43Vermutlich spielt die unsichere Stimmung im ganzen Lied eine Rolle, und das hat unter anderem mit den häufigen Akkord(Lage)wechseln im Laufthema (wie z. B. ab Takt 7) und mit der immer zurückkehrenden Bewegung der Sechzehnten auf der schwachen Taktzeit (wie in Takt 16) zu tun, als wäre das ein leichtes Stolpern. Harmonisch gesehen dominieren in Winterreise die Molltonarten und das Anfangslied setzt den Trend. Das Spiel mit den harmonischen Moll- und Dur-Räumen ist in Winterreise oft scheinbar eindeutig analysiert: die Moll-Tonarten vertreten die traurige Gegenwart und die Dur-Strophen beziehen sich vornehmlich auf die Erinnerung.44Im Großen und Ganzen stimmt das, aber die Dur-Tonarten sind dabei doppeldeutig: sie stehen im Schatten der Realität. Die Erinnerungen sind nicht bloß Erinnerungen, sondern auch (Selbst)Täuschungen,45 Idealisierungen und Sehnsüchte des Wanderers und der Außenwelt. Ein Beispiel: Die ersten drei Strophen in Gute Nacht sind in Moll, dann, den Satz Will dich im Traum nicht stören antizipierend, verwandelt sich dies in eine Dur-Tonart, die sich die ganze vierte Strophe durchsetzen wird. Dittrich bemerkt zurecht, dass der tatsächliche Abschied vom Protagonisten gerade auf diesem Dur-Punkt stattfindet und es wäre eigentlich unlogisch, die Phrase als nur positiv und lieblich zu interpretieren,46wie das mit der textlichen Interpretation auch ein Problem ist. Sie hebt ein Zitat der Musikwissenschaftlerin GürschigPfingsten hervor: Der Abschied von der Liebe ist hier ein Abschied von der Welt. Für den höchsten Schmerz, der in Worten nicht mehr benannt, nur mehr umschrieben werden kann, findet in der Musik 40 Vgl. Feil 1975: 101. Ebd. S. 101. 42 Ebd. S. 102. 43 Vgl. Dittrich 1991: 151. 44 Vgl. Ebd. S. 148. 45 Vgl. Ebd. S. 176. 46 Vgl. Ebd. S. 150. 41 13 ein Moll jenseits von Moll, ein Übermoll, das nur noch für den, der der überlieferten gegensätzlichen Bedeutung der Tongeschlechter nachhängt, wie Dur klingen kann.47 Wo der Text sich hier vielleicht ironisch äußert, unterschreibt die Musik die Schmerzen, die mit Ironie in Verbindung stehen. Wenn nämlich die Realität zu nahe kommt, ist Ironie ein dankbarer Ausweg. Mit scharf punktiertem Rhythmus und einem scharfen Akzent auf ‚Gute Nacht‘ verweist Schubert in dieser letzten Strophe auf eine ironische Geste. Auch die Sehnsucht nach einer anderen Welt hängt mit dieser Verwandlung in Dur zusammen und dies äußert sich im schwebenden pianissimo-Cantabile, das von dem Sänger gefragt wird. Ironie und Sehnsucht sind beide ein Wegwollen aus der Realität. In der Wiederholung der letzten Zeile an dich hab ich gedacht befindet das Lied sich wieder im Moll-Raum – die aufrechte Grundstimmung dieses Strophenlieds – die Maske der Heiterkeit und der Schleier der Sehnsucht fallen und das Moll-Nachspiel dient als den wirklichen Auftakt zum restlichen Verlauf der Geschichte. Von den drei kleinen Textänderungen die Schubert durchführte, ist in diesem Kontext vornehmlich der letzte Satz – immer wichtig in der Musik in welcher Stimmung man endet – zu erwähnen: Müller schreibt als letzte Zeile Ich hab an dich gedacht. Schubert komponierte aber An dich hab ich gedacht (musikalischer Akzent hier unterstrichen) und nuanciert nur marginal den Ich-Raum und hebt das ‚Du‘ des Liebchens hervor. Die gleiche Entfernung vom Ich-Raum macht Schubert beim Satz Schreib im Vorübergehen, als Ersatz für Müller Ich schreibe noch im Gehen. Die Änderungen sind aber wahrscheinlich zugleich musikalischsyntaktische, oder anders gesagt, kompositionstechnische Anpassungen gewesen. Es lief einfach so besser, weil die Aussagekraft des hier Gesagten direkter ist als in Müllers Zeilen. 2.3.2. Die Wetterfahne Im Kontext der Geschichte kann der Leser sich jetzt das Haus der Geliebten vorstellen, vor dem der lyrische Protagonist steht: Der Wind spielt mit der Wetterfahne/Auf meines schönen Liebchens Haus. In diesem zweiten Gedicht des Zyklus schildert Müller in drei Vierzeilern die Stimmung des lyrischen Protagonisten: zunächst die Enttäuschung in dem Mädchen und dann die Enttäuschung über die falsche Einschätzung ihrer Verwandten (So hätt‘ er nimmer suchen wollen/Im Haus ein treues Frauenbild). Auch sich selbst bestraft er: Er hätt es eher bemerken sollen,/Des Hauses aufgestecktes Schild. Aus diesem letztgenannten Satz wird 47 Ingeborg Gürschig-Pfingsten: Dur und Moll als musikalische Ausdrucksmittel. In: Musica 38 (1984). S.22. 14 weiterhin klar, dass der Raum des Hauses überhaupt eine Unzugänglichkeit für ihn bedeutet: er darf nicht (mehr) rein. Die von dem Wind bespielte Wetterfahne oben auf dem Dach des Hauses symbolisiert für den Fahrenden den unsicheren Charakter des Mädchens und ihrer Familie: Der Wind spielt drinnen mit den Herzen,/Wie auf dem Dach, nur nicht so laut. Zugleich ist sie ein Objekt seiner Verspottung: Da dacht ich schon in meinem Wahne/Sie pfiff den armen Flüchtling aus. Schuberts Vertonungszentrum im Klaviervorspiel ist diese Schwankung. Er greift die Beweglichkeit des Windes- und dabei die Idee der Unzuverlässigkeit- in einer 6/8 Taktart auf, in zweimal drei Achteln unterteilt. Als Auftakt gelten die drei Sechzehnte als eine rhythmische Imitation des Windheulens. Schubert wählt innerhalb des ‚Schwankens‘ zwei Basisbewegungen: die schon erwähnte runde, durchgehende Achtelbewegung und die eckige Unterteilung in zweimal drei. Diese eckige Bewegung äußert sich in diesem Lied als punktierte Viertel, 6/8-Takt wird so in einer Zwiebewegung unterteilt. Die Runde verwendet er für die Beschreibung des Winds – diese schwerpunktlose Bewegung scheint für Naturerscheinungen geeignet, auch das Wasser wird von Schubert oft rund in drei gedacht, so wird sich später zeigen. Drei -Bewegungen können sich in der Wahl der Taktart äußern (3/4Takt, 6/8 -Takt z. B.), können aber auch in einer 2- oder 4- basierten Taktart vorkommen, beispielsweise in der Form einer oder mehreren Triole. Die eckige 2 -Bewegung innerhalb dieses Lieds steht für die Verbissenheit und verlorene Ehre des Protagonisten. Die Basis-Bewegung in Wetterfahne ist aber hauptsächlich eine Drei-Bewegung. In Gute Nacht ist die Basis eine Zwei-Bewegung (2/4-Takt). In Gute Nacht steht eher die Realität zentral; das Weggehen und Wegwollen, in Wetterfahne die Erinnerung. Die runden DreiBewegungen im ganzen Liederzyklus haben weiterhin eine Relation zur Erinnerung an die täuschende Liebe und den Frühling, wie sich im Verlauf der Analyse weiter herausstellen wird. Vergangenheit (Drei-Bewegung, rund) und Realität (Zwei-Bewegung, eckig) kommen in den Liedern selbst aber auch ständig beisammen, mit der Folge, dass die Gefühle in Bezug auf die Frühlingszeiten und Ideale kompliziert und doppeldeutig werden. In Wetterfahne wird im Text in der Tat an die vergangene Zeit erinnert, hauptsächlich aus der heutigen Perspektive des lyrischen Protagonisten: mit Schmerzen der Enttäuschung, aber am Anfang des Gedichts sicherlich auch mit Zärtlichkeit und Liebe (Auf meines schönen Liebchens Haus). Im Satz Da dacht ich schon in meinem Wahne,/Sie pfiff den armen Flüchtling aus wird der Taktbeginn (und die dazu gehörenden Akzente, im Text 15 unterstrichen) von Klavierakkorden mit akzentuiert. Die Eckigkeit der Bewegung setzt sich in der Vertonung des Auspfeifens in der rechten Hand der Klavierbegleitung fort: gleich nach dem Taktschlag in Takt 14 wird das Heulmotiv aus Takt 1 ein Auspfeif-Motiv, indem es von einem scharfen Vorschlag in einer triezenden Wiederholung ersetzt wird. Die eckige Bewegung und dazu gehörende verbissene Stimmung ist auch im Satz Was fragen sie nach meinen Schmerzen? zu erfahren. Schubert hebt dazu diesen Satz und den darauf (Ihr Kind ist eine reiche Braut) in einer melodiesteigernden Textwiederholung hervor, wobei das Wort reich in der Tat reichlich melismierend ornamentiert wird. Wie der Wind schnell in unregelmäßigen Böen kommt und geht, geht auch die Gesangsmelodie auf den durchgehenden Achteln unisono mit dem Klavier auf dem ersten Satz Der Wind spielt mit der Wetterfahne/Auf meines schönen Liebchens Haus in einer runden Melodiestruktur hoch und tief und die Dynamik (in diesem Fall) dementsprechend stark (Wind nahe) und leise (Wind fern). Hier zeigt sich, dass die raumzeitlichen Elementen sich einheitlich benehmen um zu einer bestimmten Stimmung anzugelangen. In der Klavierbegleitung wird am Anfang – wie die Bewegung das auch macht – im Klangraum den pfeifenden Wind imitiert: der Auftakt ist auch melodisch ein ausgeschriebener Heulbeginn vom Wind. Dieses Heulmotiv wird in den letzten Takten des Lieds in der Klavierbegleitung chromatisch expandiert – hier Symbol für einen langen mühsamen instrumentalen Anlauf – und zwar auf und gleich nach dem Satz: Ihr Kind ist eine reiche Braut, an dem der laut gesungene Satz Was fragen sie nach meinen Schmerzen voran geht. Allen Grund zum Heulen: der lyrische Protagonist ist Opfer des gesellschaftlichen Ausschlusses und sieht erst in der Betrachtung von außen – Müller lässt das lyrische Ich in diesem Gedicht teils in der dritten Person über sich selbst und seine eigenen Fehler reden. Das tut weh. Bestimmte Ortsangaben Müllers sind in der Musik klanglich und dazu auch optisch in der Partitur wiedergegeben: Der Wind spielt drinnen mit dem Herzen/ Wie auf dem Dach ist ein schlangenartiger Aufstieg – wie die Wackelei der Familie der Geliebten- zum melodischen Höhenpunkt Dach, worauf eine Fermate geschrieben ist; es ist bei diesem lyrischen alswieVergleich bei dem Schubert der Protagonist kurz still stehen lässt. Die darauf pianogesungene Feststellung nur nicht so laut bezieht sich nicht mehr auf die optischen Gegebenheiten im Text, aber lässt den Protagonisten wieder zu sich selbst kommen. Auch ist eine psychologische Ortsangabe zu entdecken. Im Text dreht sich die Schuldperspektive von 16 außen (Sie pfiff den armen Flüchtling aus) nach innen (Er hätt‘ es eher bemerken sollen) Schubert vertont diesen letztgenannten Satz in einer relativ tiefen Lage, als ob jemand geärgert etwas zu sich selbst sagt, während die äußere Beschuldigung höher ausgesungen wird, um Konfrontieren zu wollen. Der tonale Raum der schwebenden Bewegung und hie und da Chromatik – musikalisch ist Chromatik als eine Art ‚Schwebung‘ zu sehen –bringen eine unsichere Stimmung hervor. Dies äußert sich auch textlich in den Minderwertigkeitsgefühlen des Protagonisten. Der Abgewiesene sei doch nicht wichtig für diese Leute: Was fragen sie nach meinen Schmerzen?/Ihr Kind ist eine reiche Braut. Schubert hat eine (melodische und rhythmische) Raumbewegung mit mehreren Bedeutungen geschaffen, für die Vollständigkeit noch mal zusammengefasst: die vertonte (Ton)Raumbewegung des Windes steht mit der Unzuverlässigkeit der Anderen und der eigenen Unsicherheit im Zusammenhang. Darein ist die Doppeldeutigkeit der Erinnerung (als runde Bewegung) in der Realität (als ‚eckige‘ Zwei-Bewegung) verflochten. 2.3.3. Gefrorne Tränen Der Wanderer ist draußen, er weint und läuft höchstwahrscheinlich. Der Text ist nicht eindeutig über Ort und Zeit/Bewegung. Es verdient Beachtung, dass in diesem Text nicht von irgendeiner Erinnerung die Rede ist. Die Fokussierung liegt ganz auf der Spiegelung der inneren Räume in der jetzigen Umgebung. Der innere Zustand und die Jahreszeit kommen als Synonyme hervorragend beisammen; die Umwelt dient als Spiegel für das Ich. Die eigenen Tränen der Hauptfigur – Symbol für die Möglichkeit zu Trauern – vereisen, wenn sie der Winterkälte begegnen. Die Winterzeit symbolisiert einen Stillstand, und je nach der Interpretation ist dieser psychologische menschliche Stillstand auch ein politischer (der Restauration).48 Eine gewisse Selbstbeschuldigung prägt in der zweiten Strophe die Stimmung des Protagonisten, und zwar so, dass die Tränen sich als zu lau herausstellen, den Winter als Ort und Zeit und als inneren Zustand zu überwinden: Ei, Tränen, meine Tränen,/Und seid ihr gar so lau,/Daß ihr erstarrt zu Eise,/Wie kühler Morgentau?. In der ersten Strophe ist diese Selbstschuld mit einem Strich von Selbstmitleid, in dem verfremdeten Satz Und ist’s [Schubert: Ob es]mir denn entgangen,/ Daß ich geweinet hab? auch anwesend. Die heiße 48 Vgl. Hufschmidt 1993: 98. 17 Quelle aus der die Tränen fließen, repräsentiert zugleich die Welt der inneren Ideale, die anscheinend noch immer nicht versiegt ist, weil Müller seinen Wanderer sagen lässt: Und dringt doch aus der Quelle/ Der Brust zu glühend heiß,/ Als wolltet ihr zerschmelzen/ Des ganzen Winters Eis. In mancher Sekundärliteratur wird in der Bewegung eine Verbindung zum ersten Lied Gute Nacht gesehen.49 Die Zwei-Bewegung, hier als eine Allabreve Taktart gestaltet, könnte man sich als eine Art stockende Wanderbewegung vorstellen, aber lässt sich ebenso gut mit dem tropfenden vereisten Tränenlauf verbinden. Arnold Feil verbindet diese Interpretationen: So aber torkelt er in Schritten an, wie Tränen in den Schnee tropfen.50 Mit einem Auftaktbeginn in der Klavierbegleitung, pianissimo staccato und der zweite Schlag mit Akzent zu spielen, spiegelt sich das erste Motiv der rechten Hand danach in der Linke. Die rechte Hand nimmt das Motiv wieder auf und lässt den Abgesang des Vorspiels in einer Art teilweise dissonant Kontinuierliches – dem Tränenfluss vorgreifend – beginnen und wieder in der stockenden Bewegung enden, nachdem die Gesangspartie einsetzen kann. Die Stockung in der Musik lässt Einen physisch die erstarrende Kälte erfahren. Die Spiegelung der Motive erwirkt einen spielerischen Raumeffekt oder ‚Ortswechsel‘ – hier fällt eine Träne, da fällt eine andere. Dieses Vorspiel wiederholt Schubert als Begleitung für die Gesangspartie, die mit einer Legatomelodie einen ganz eigenen Stimmungsraum hat. Wo die Klavierpartie das äußerliche Geschehene schildert, ist die Gesangspartie das reuende innere Selbst. Diese Reue äußert sich auch in der Moll-Tonart (Orig. F-Moll). Erst ab dem Satz Und dringt doch aus der Quelle/ Der Brust so glühend heiß (Takt 30) ist von einer gemeinsamen cantabile-Phrasierung die Rede, die dann als zeitliche Erlösung des Stockens dient – Schubert sowie Müller haben das Fließen von den Tränen als Zeichen für das ‚warme’ Leben aufgefasst. Dieses Kontinuum ist in der meditativen Textwiederholung der in Dynamik anschwellenden Sätze Als wolltet ihr zerschmelzen/Des ganzen Winters Eis musikalisch verinnerlicht. Das Gebet stellt sich aber als umsonst heraus: das eisige Stocken prägt wieder das Nachspiel vom Klavier, das dem Vorspiel nahezu gleicht. Die Kreisbewegung wie besprochen im Abschnitt 2.3.1. äußert sich ebenfalls in der Liedform. 49 50 Vgl. Feil 1975: 102. Vgl. Moore 1978: 115. Feil 1975: 103. 18 Die Stimmung beschrieb Pianist und Schubertinterpret Gerald Moore (1899-1987) wie folgt treffend: Im ganzen Zyklus schien kein anderes Lied – ausgenommen die erste Seite von „Auf dem Flusse“- den Eindruck so grimmiger Kälte zu vermitteln wie „Gefrorne Tränen.“Das Fleisch zieht sich zusammen und das Blut gefriert bei diesen spitzigen, losgelösten Akkorden im Klavierpart und bei den falschen Akzenten, die eher darauf schließen lassen, daß der Wanderer erschauert, als daß sein Gang schwankend ist.51 Die stockende Bewegung (in diesem Moll-Tonraum), das Herauswollen aus der Kälte mittels eines vergeblichen erwärmenden Legatos in Dur, die Rückkehr zur kalten Moll-Stockung erwirkt eine alles umringende Vergeblichkeit und Verfremdung, weil Kälte Abstand bedeutet. In diesem Fall Abstand von Menschen, Gesellschaft, Liebe und Idealen. Diese Verfremdung nimmt die Stimmung im letzten Lied des Zyklus Leiermann, der außerhalb der Gesellschaft Lebende, vorweg. 2.3.4. Erstarrung Der Titel lässt eine Weiterentwicklung dieser Stockung und dieses Abstands vermuten, aber sowohl Text als Musik ästhetisieren einen innerlich bewegten Verzweiflungsschrei durch die Erstarrung: Ich such im Schnee vergebens/Nach ihrer Tritte Spur. Müller bedient sich formell wieder der Vierzeiler, dies mal fünf, wobei sich die zweite und vierte Zeile reimen. Das lyrische Ich befindet sich nun bei einem Erinnerungsort der vergangenen Frühlingsliebe: Hier, wo wir oft gewandelt [Schubert: wo sie an meinem Arme] /Selbander durch die Flur [Schubert: durchstrich die grüne Flur]. Dieser Ort wurde durch den ‚heutigen‘ Winter eingenommen: Wo find ich eine Blüte,/Wo find ich grünes Gras?/Die Blumen sind erstorben,/Der Rasen sieht so blaß. Der Verzweifelte sucht und wieder wünscht er sich seine Tränen so stark, Eis und Schnee schmelzen zu lassen. Ich will den Boden küssen,/Durchdringen Eis und Schnee/Mit meinen heißen Tränen/Bis ich die Erde seh‘. Die räumliche Verwandlung des Liebesortes macht ihm Angst seine Liebe zu vergessen und selbst innerlich zu ‚erfrieren‘, das heißt, seine Schmerzen sind sein Andenken an Liebe und Ideale: Soll denn kein Angedenken/Ich nehmen mit von hier?/Wenn meine Schmerzen schweigen,/Wer sagt mir dann von ihr? In der letzten Strophe ist ein aufmerksames Fazit poniert, das Bild des Mädchens ist im Herzen des Wanderers eingefroren und wird 51 Moore 1978: 114. 19 verschwinden, wenn sein Herz ‚auftaut‘: Mein Herz ist wie erfroren[Schubert erstorben],/Kalt starrt ihr Bild darin;/Schmilzt je das Herz mir wieder,/Fließt auch das[Schubert: ihr]Bild dahin. Thematisch liegt dieses Gedicht dicht an dem vorigen, wo der Gegensatz zwischen Flüssigkeit als warmes, gewünschtes Leben und Erstarrung als Folge der Enttäuschung der Hauptfigur hervorgehoben wird. Die Stimmung des Protagonisten ist in diesem Gedicht Erstarrung aber wesentlich anders: er gibt seinem Gemütszustand aus Gefrorne Tränen eine streitbare Antwort. Sein Wille den Winter zu verjagen, setzt er bewusst ein (Ich will den Boden küssen/Durchdringen Eis und Schnee), er wird nicht wie in Gefrorne Tränen von seinem Verdruss überfallen, ist jedoch wie erwähnt, verzweifelt. Der Zyklus bildet hier also auch eine Art Selbstgespräch. Dieser Unterschied wird in der Musik aufgegriffen, indem Schubert das bewegte Gemüt der Verzweiflung als eine Art Widerstand gegen die Erstarrung aufgefasst hat und gestaltete, während er im dritten Lied die Stockung auswirkte. Schubert schildert ein verzweifeltes Suchen und verwendet dafür eine unruhige DreiBewegung innerhalb einer 4/4-Taktart. Wieder steht ein Erinnerungsort oder Erinnerung mit der Drei-Bewegung in Verbindung. Die unaufhörlichen Triolen, beginnend in der rechten Hand der Klavierpartie, erwirken die Stimmung anlässlich einer unbefriedigenden Suchaktion und dies wird vom ersten Satz in Takt 7 Ich such im Schnee vergebens bestätigt. Im Vorspiel spielt die linke Hand die führende Melodie, die konsequent auf der vierten Taktzeit in der Bewegung der rechten Hand mitgeht. Wo die Unruhe der Triolen in der durchgehenden Bewegung liegt, könnte das plötzliche Aufleben der Melodie auf der vierten Taktzeit als eine Art Bibbern gesehen werden. Es ist ein Zittern vor Kälte, zugleich ein Zittern vor Angst, das Innerliche erfrieren zu lassen. Die Textwiederholungen, derer sich Schubert in anderen Liedern auch bedient, sind in diesem Lied bei jeder Strophe anwesend, wobei jede Variation eine eigene Verzweiflungsstimmung hat. Gerald Moore sagt dazu: 20 Die Struktur jeder wiederholten Strophe – ihr Verschmelzen von Musik und Text – ihr unvermeidlicher und allmählicher Anstieg zur letzten Steigerung verbinden sich, um aus diesem Lied eine Art architektonisches Wunderwerk zu machen.52 Die musikalische Bewegung benimmt sich wie die unterschiedlichen Stimmungen im Text. Dies hängt auch mit der harmonischen Umgebung zusammen: ab dem Satz Wo sie an meinem Arme/Durchstrich die grüne Flur ist die Grundbewegung(Triolenbewegung) dieses Lieds von einer schönen Frühlingserinnerung angehaucht. Die Melodie führt nach oben zu einem MollSeptime Akkord auf dem Wort Arme, das in diesem Fall nur das Bedauern einer vorbeigegangenen, wunderschönen (semi-erotischen?) Erinnerung bedeuten kann. Der Satz ist melodisch eine Variation der vorigen Zeile Ich such im Schnee vergebens/nach ihre Tritte Spur. Moore bemerkt zurecht, dass Schubert in der Variation einen effektvolleren Moment schuf, mehr als wenn er die Melodie einfach wiederholt hätte,53was zu Schuberts Zeiten im Strophenlied üblich war. Darüber hinaus ändert Schubert in dieser Phrase den Text (siehe Textanalyse S. 19) und hebt mehr als Müller die physische Nähe hervor, was musikalisch mit der steigerenden Melodie – Symbol fürs dadurch erwärmte Gemüt – zusammenhängt. Der darauf folgende Satz Ich such im Schnee vergebens bringt die Tonika und die Anfangsstimmung wieder zurück. Bei der Wiederholung vom Satz Wo sie an meinem Arme/ Durchstrich die grüne Flur (Takt 19) wird die Harmonik zum Dur-Akkord auf die dritte Tonstufe geführt, in dem Akkord die erste Erscheinung des Satzes echot. Die Bewegung geht aber unverdrossen weiter und landet im starken Willen der Hauptfigur, Eis und Schnee mit heißen Tränen zu vernichten. Die linke Hand in der Klavierbegleitung nimmt nun die Triolenbewegung auf sich. Die rechte Hand modelliert eine Melodie in einer höheren Lage und ist so eine untrennbare Gegen- und Mit-Stimme der Gesangsmelodie, wenn die ab dem dynamischen Höhenpunkt Mit meinen heißen Tränen in eine abfallende Richtung das Decrescendo auf bis ich die Erde seh realisieren muss, und danach die gleichen Sätze wieder aufs Neue aufbauen soll. Harmonisch endet die Phrase wieder auf der Tonika, die aber ab dem Satz Wo find ich eine Blüte in eine Dur-Tonart verwandelt. Die folgende dritte Strophe klingt so viel unbesorgter als die vorgehenden, in den die MollTonarten die Hauptrolle spielen. Schubert lässt hier die in dieser Tonart verkapselte Traurigkeit als Grundstimmung los und die Bewegung verwandelt sich in einen ornamentierten Frühlingstraum, aber mit den verzweifelten Fragen Wo find ich eine 52 53 Ebd. S. 118. Vgl. Ebd. S. 118. 21 Blüte?/Wo find ich grünes Gras? ist die Stimmung nicht wirklich unbesorgt. Der positivierende Effekt dieser Dur-Stimmung innerhalb der Molltonart ist jedoch sehr stark. Wenn die ersten zwei Sätze der dritten Strophe noch mal wiederholt werden, wird in einer kurzen Kadenz die Modulation zur Tonika Moll-Tonart vorbereitet: die Verzweiflung ist eigentlich nie weg gewesen. Bei Soll denn kein Angedenken ist die Moll-Tonart wieder wie am Anfang dominierend und das bleibt so bis am Ende dieses Lieds. Der Anfang des Lieds wird wiederholt für die folgenden Strophen und die gleiche Phrase als Wo sie an meine Arme/Durchstrich die grüne Flur wird nun mit dem Text Wenn meine Schmerzen schweigen,/Wer sagt mir dann von ihr?gesungen. Es ist hier eine gebetartige Verzweiflung, die eben dadurch mit der Erinnerung in Verbindung steht. Im Satz Schmilzt je das Herz mir wieder,/Fließt auch ihr Bild dahin ist der Textinhalt anders als beim ersten Mal Mit meinen heißen Tränen/bis ich die Erde seh‘. Es schimmert in beiden Fällen eine Bestimmtheit vom lyrischen Protagonisten, die von der musikalischen Phrasierung nach oben, das Crescendo nach unten, von der unverdrossen, fast heroischen Triolenbewegung gestaltet wird, was einigen Klaviersonaten Beethovens ähnelt. Das Wort dahin wird in der letzten Gesangsphrase ausgedehnt, die Klavierpartie nimmt die Rechtehandmelodie in einer steigernden Bewegung nach oben, als verschwände das Bild mit in diese Richtung. Beim Ritardando in den letzten Tönen der Gesangsstimme sinkt die Stimmung der Hauptfigur wie die Melodie und Dynamik, nachdem das Klavier, in einem diminuierenden Pianissimo der Triolenbewegung, das Bild des Mädchens und Szenenbild ausblenden lässt. Die musikalische Bewegung im harmonisch-melodischen Raum hat also mehrere Stimmungsschichten: bewegtes Gemüt durch Verzweiflung, Unruhe durch Suchen, Zittern vor Kälte und Angst, heroischer Übermut einerseits, glückliche, jedoch beladene Frühlingserinnerung andererseits. 2.3.5. Der Lindenbaum Hier kreierte Müller ein Bild, das manchem Frühromantiker gleich gefiel: die erste Strophe von Müllers Gedicht mit Schuberts erster Strophenmelodie wurden in einer Bearbeitung für Männerchor vom romantischen deutschen Komponisten Friedrich Schilcher (1789-1860) als eingebürgtes ‚deutsches Volkslied‘ bekannt. ‚Der Lindenbaum‘ war zu Müllers Zeiten traditionelles Ortssymbol für Fruchtbarkeit, Begegnungsort der Liebe, Geborgenheit, Ruhe, das Mütterliche kurz: Quelle des Lebens. In der Romantik wurde die Linde zum ‚Baum der Deutschen.‘ In altgermanischen Zeiten war der Baum ebenfalls Gerichtslinde, also ein 22 Gemeindeort und er steht im literaturwissenschaftlichem Sinn als Sinnbild eines bevorzugten Selbstmordorts bekannt.54 In mancher literarischen Rezeption wird Lindenbaum ebenfalls mit dem Tod in Verbindung gebracht, Thomas Mann z. B. hat in Zauberberg das Lied im kriegsgeschwängerten Anfang des 20. Jahrhunderts in diesem Licht analysiert.55 In sechs einfachen, streng geformten Vierzeilern (a-b-c-b-Reimform mit Alternanz) wird in der ersten Strophe die vorübergegangene Relation zum Baum in einem abgeschlossenen Präteritum beschrieben. Die Linde steht nicht in der freien Natur, sondern bei einem Gemeindeort, einem (Stadt)Tor. Der Brunnen, der in der Nähe des Baums steht, hängt mit der Quellenkonnotation der Linde zusammen. In der Geborgenheit der Schatten wurde Ruhe gesucht und mancher schöner idealer Traum geträumt: Am Brunnen vor dem Tore/Da steht ein Lindenbaum/Ich träumt in seinen Schatten/So mancher süßen Traum. In Liebe und Leid war der Baum soziales, anziehendes, beruhigendes Material: Ich schnitt in seine Rinde/So manches Liebe Wort;/Es zog in Freud und Leide/Zu ihm mich immer fort. Die ‚publike Funktion‘ des Baums einerseits und die Konnotation der (ewigen) intimen Ruhe andererseits lässt die Idylle des Lindenbaums für den Protagonisten in seiner Gegenwart doppeldeutig werden: er wurde ja aus der Gesellschaft weggetrieben, oder hat sich wegtreiben lassen. Die Konfrontation mit dem Baum – voller gesellschaftlichen Traditionssymbole – in der heutigen nächtlich-winterlichen Umwelt scheint der Hauptfigur nicht nur ein reines Vergnügen zu sein, obschon er sich doch auch zurücksehnt nach den Zeiten, als das wohl so war: Ich mußt auch heute wandern/Vorbei in tiefer Nacht./Da hab‘ ich noch im Dunkel/Die Augen zugemacht. Die Verlockung der ewigen Ruhe des Baums einerseits und die falsche Brüderlichkeit der sozialen Tradition andererseits hängen damit zusammen: Und seine Zweige rauschten,/Als riefen sie mir zu:/‘Komm her zu mir, Geselle,/Hier find‘st du deine Ruh!‘ Müller schafft darauf folgend eine Gedankenbrücke, so dass es scheint, dass Wetter und Umgebung das lyrische Ich von der Rückkehr zum Baum bewahren wollen, zugleich formt dieser Satz den Umbruch zur winterlichen Realität: Die kalten Winde bliesen/Mir grad ins Angesicht,/Der Hut flog mir von Kopfe,/Ich wendete mich nicht. Es ist, wenn man die Interpretation des Selbstmordortes unterschreibt, eine gleiche Abweisung vom Tod wie im 21. Lied Das Wirtshaus (zweite Abteilung). Der Wanderer wählt letztendlich selbst nicht den Selbstmord, seine Empfindungen der Umgebung deuten nur auf die Überlegungen in diese Richtung. Die Handlung in diesem Sinn fehlt. Der Fahrende lässt den Baum hinter sich und 54 55 Vgl. u.a. Hufschmidt 1992: 85. Dittrich 1991: 155. Vgl.Thomas Mann: Der Zauberberg. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurt 1981, Band 6, S. 916f. 23 zieht weiter, wie im Gedicht Wirtshaus. Sei es, dass er noch immer aus der Ferne verführt wird: Nun bin ich manche Stunde/Entfernt von jenem Ort,/Und immer hör ich’s rauschen:/Du fändest Ruhe dort! Die harmonische Kreisform dreht sich hier zum ersten Mal um: das Lied fängt in E-Dur an und moduliert nach G-Moll in der dritten Strophe. Mit einem kleinen Ausflug nach E-Moll in der vierten Strophe endet das Lied wieder in E-Dur. Dass den Freunden Schuberts dieses Lied als Einziges gefiel, als er seinen Liederzyklus zum ersten Mal vorspielte, mag damit zusammenhängen.56 Wenn man aber die Übermoll-Theorie (erwähnt im Abschnitt 2.3.1.) dazu in Betracht zieht, dann ließe sich im Kontext der Geschichte das Dur mit der Sehnsucht nach der ewigen Ruhe verbinden, das als „Vision des Glückes“57vorgestellt wird. Die Triolenbewegung als das Erinnerte und Gesehnte spielen in diesem Lied wie in Erstarrung ebenfalls eine Hauptrolle, sei es, dass sie nun im zarten Klaviervorspiel die üppigen Zweigen in galanter Bewegung einer Frühlingsbrise vorstellen. In Takt 7, ein Takt vor dem Einsatz der Gesangsstimme, klingt ein ‚Hornmotiv‘: eine punktierte rhythmische Figur, die mittels Terzen in einer reinen Quinte endet, die Naturtöne imitierend. Das Horn „vereint drei der wichtigsten romantischen Motivfelder: den Wald, das Reisen und die Nacht.“58In Winterreise sind all diese Motive verflochten. Dazu kann man das Hornthema auch als Warnungsinstrument interpretieren, als Anregung zur Aufmerksamkeit zur Vorstellung dieser anscheinend unschuldigen Idylle; die Idylle, die die Hornimitation mit seiner landschaftlichen Konnotation- auffälligerweise ebenfalls mitgestaltet. Die Begleitung der Gesangsstimme vom Klavier ist recht feierlich, die Akkorde könnten von einem Orgel gespielt werden, der Rhythmus des 3/4-Takts wird hier erst ‚leicht’ nachvollziehbar. Die Melodie ist einfach, zart und leicht mitzusingen. Auf dem Wortteil Linden ist eine ausgeschriebene Triole, die mit der musikalischen Beschreibung der Üppigkeit der Zweige zusammenhängt. Das Wiegen der Zweige im Wind wird im 12. Takt trotz der Notation in einer 3/4-Takt als zwei Mal drei phrasiert – statt drei Mal zwei – was die runde Bewegung kontinuierlich macht. Das punktierte Hornmotiv wird auf den Wörtern Rinde und Leide in variierter, rhythmischer Form imitiert, nach den Wörtern Wort und fort auch, sei es melodisch anders als im Vorspiel. Die Terzen und reine Quinten und das variierte Hornmotiv 56 Vgl. Dittrich 1991: 155. Ebd. S. 154. 58 Christian Bielefeldt: Hans Werner Henze und Ingeborg Bachmann: Die gemeinsamen Werke. Beobachtungen zur Intermedialität von Musik und Dichtung. Bielefeld: Transcript Verlag 2003. S. 136. 57 24 bringen die Stimmung des Landschaftlichen in diese Phrase. Eine Moll-Variation des Anfangsvorspiels ist der Übergang zur dritten Strophe, wo eine verlangsamte Triolenbewegung in Moll die sanfte Schwermütigkeit einer Wanderbewegung des Grübelnden hervorruft. Die Verlockung der Zweige danach(Und seine Zweige rauschten) ist in Dur, die langsame Wandergrübelei wird zu einer reinen Naturstimmung. Plötzlich ändert sich die Bewegung ‚der üppigen Zweige‘ in die kalten Winde bliesen: das Motiv wird sforzando in E-Moll angesetzt, die Triolen bewegen sich, als käme ein plötzlicher Windstoß und ließe die Zweige des Baums durcheinanderschütteln. Ein zweiter Windstoß auf Der Hut flog mir von Kopfe wird musikalisch in einem Crescendo der gleichen Windbewegung dargestellt, mit chromatischen Eigenschaften, die die Unruhe und Unvorhersagbarkeit dieses kalten Winterwindes ausdrücken. Zugleich ist die Chromatik mit der bedrohenden Verlockung zum Selbstmord verbunden, die als Reaktion auf die vorigen Strophe (Komm her zu mir Geselle,/Hier findst du deine Ruh) gesehen werden kann.59 Der Hut wird buchstäblich weggeblasen. Die Chromatik hält im Klavierzwischenspiel an, bis sie zur Ruhe kommt und im warnenden, forte piano, dann sanft echoenden pianississimo Hornmotiv verfließt. Nach einer Fermate wird der Dur-Raum wieder aufgegriffen und die Triolenwanderbewegung in der Klavierpartie eine Oktave höher eingesetzt. Die verlockenden Zweige rufen noch aus der Ferne: hier als das vom Klavier pianissimo hoch ausgespielte, runde Wandermotiv musikalisch gestaltet. Die Beladenheit der vorigen Lieder verwandelt sich bei Lindenbaum in eine nostalgische Idylle, so dass mithilfe kleiner musikalischer Figurationen der Ausdruck außerhalb des Gemüts des Protagonisten liegt. Im Kontext des Zyklus ist das Lied zwar beladen, aber es erwirkt diese Beladenheit nicht in der Konfrontation des Innerlichen, sondern in der Schilderung des Äußerlichen im Kontext. Diese scheinbar unschuldige, äußere Nostalgie könnten die Freunde Schuberts als eine angenehme Stimmung erfahren haben und erklärt auch die Zugänglichkeit für die Entwicklung zum Volkslied. Dies und die Tatsache, dass Lindenbaum hauptsächlich einen Dur-Tonraum vergegenwärtigt, ließe sich mit Dittrichs These verbinden, dass sich das Dur „[...] in mehreren Liedern der Winterreise auf andere Menschen oder die Außenwelt bezieht.“60Sie erwähnt dazu die „negative[n] 59 60 Vgl. Dittrich 1991: 104. Ebd. S. 163. 25 Anklängen“61dieses Durs, sei es, dass sie das Lindenbaum-Dur nicht miteinbezieht, trotz der doppelten Deutung des Lieds. 2.3.6. Wasserflut In diesem Gedicht (vier Vierzeiler, Kreuzreim) kehrt der lyrische Protagonist wieder ganz zum Innenraum zurück: Müller schildert den stillstehenden, weinenden Wanderer und eine leere Schneelandschaft, mit einem einzigen Bächlein in der Nähe oder Ferne, das ist nicht eindeutig. Der Text ist von einem fast lethargischen Heimweh geprägt, wobei der Titel nach der Tränenflut und dem Bächlein verweist, das in der Vorstellung des Wanderers seine Tränen Richtung Haus der Geliebten fließen lassen soll. Die Lethargie ist Folge der wehrlosen, introvertierten Wiederholung vom Wunsch nach Erstarrung: das Eis und Schnee mit Tränen schmelzen lassen zu wollen. Nun überlässt das lyrische Ich aber seiner Umwelt, dies geschehen zu lassen. Die autonome Kraft aus Erstarrung kann er nicht mehr aufbringen.62 Die erste Strophe beschreibt nur den Verdruss des Wanderers und die verschlingende Wirkung des Winters auf ihn: Manche Trän aus meinen Augen/Ist gefallen in den Schnee;/Seine kalten Flocken saugen/Durstig ein das heiße Weh. Wenn seine Umwelt möchte, dann würde seine Hoffnung wahr: Wenn die Gräser sprossen wollen/Weht daher ein lauer Wind,/Und das Eis zerspringt in Schollen/Und der weiche Schnee zerrinnt. Von Antropomorphismus wird hier fast Pantheismus: der Schnee wird eins mit den Tränen und wird zum Verdrussbote im fließenden ‚All‘ des Wassers: Schnee, du weißt von meinem Sehnen,/sag [Schubert streicht: mir], wohin [Schubert fügt hinzu: doch] geht dein Lauf?/Folge nach nur meinen Tränen,/Nimmt dich bald das Bächlein auf. Die Tränen, aufgenommen vom Wasser, werden ‚heißer‘ beim Haus der Geliebten und der Schnee ist der ‚Gefühlszeuge.‘Die Munterheit der Stadt wird als Gegensatz zur Einsamkeit des Protagonisten unterstrichen: Wirst mit ihm die Stadt durchziehen/Muntre Straßen ein und aus;/Fühlst du meine Tränen glühen,/Da ist meiner Liebsten Haus. Die extreme Subjektivierung in diesem Text geht mit dem Bedürfnis Hand in Hand, eins zu werden mit der Umgebung, die die Einsamkeit ersetzen soll. Das lyrische Ich versucht sich so mit dem Winter, der gegenwärtigen Realität, anzufreunden. Der Verdruss steht aber im Text zentral, Folge der unerfüllten Sehnsucht nach der Geliebten, der Stadt, Glück und Frühling. 61 Ebd. S. 163. Die Müller-Reihenfolge ist anders als die bei Schubert. In beiden Fällen erscheint aber Wasserflut nach Erstarrung. 62 26 In den ersten Takten des Klaviervorspiels wird, wie fast in allen Liedern Schuberts, die Stimmung eingeführt. Schubert wählt eine Triole für die Darstellung des ‚Tränenrollens’ im Schnee, die der rechte Hand-Kaviertriole in der letzten Strophe des Lindenbaums (es geht um die verlockenden Zweige) ähnelt, sei es nun in einer durchgehenden Molltonart (Orig. E Moll) und liegend in der Gesangspartie. Sie ist darüber hinaus die zentrale Rhythmusfigur im Lied, die in jedem Takt wieder auftaucht; in der linken oder rechten Hand der Klavierpartie und in der Gesangsmelodie. Diese Triole in Moll benimmt sich, rund und schwebend wie sie wirkt, wie ein kleines Perpetuum Mobile der Traurigkeit. Über die rhythmische Figur in der linken Hand ab Takt 1 sind die Meinungen unterschiedlich: Sie ist in Schuberts Handschrift als eine punktierte Achtel mit Sechzehnten- Figur (in 3/4Takt) notiert,63aber wird in der Ausführungspraxis von manchen Pianisten als eine punktierte Triolenfigur interpretiert, die sich in die Gesangtriole einfügt, da zu Schuberts Zeiten die unterteilte Triole noch nicht notiert werden konnte. Die Interpretation dieser Figur ist also eine Geschmackssache. Man kann auch beide Figuren als Variation anwenden. Der Unterschied ist eine runde, fließende Total-Bewegung versus eine Zweischichtigkeit einer eckigen Punktiertheit im Zusammenklang mit einer runden Cantabile-Phrase. In der zweiten Version symbolisiert „die nachhinkende Sechzehntel“64vielleicht mehr „die müden, mühsamen Schritte des Wanderers“65so Gerald Moore in seinem Aufführungshandbuch zu Schuberts Liederzyklen. Dittrich spricht sich ebenfalls für die scharfe Punktierung aus, indem sie in Lindenbaum die „rhythmische[n] gegenläufige[n] Akzente“66 in der letzten Strophe in der Klavierpartie als Vorausweisung auf Wasserflut betrachtet.67Die Zweischichtigkeit ist auch in der Melodie zu finden: Triole, punktierte Viertelnote, Achtel, Triole usw. Die Zweischichtigkeit der eckigen und runden Bewegungen passen zum Totalbild der Bewegung in Winterreise. Diese Version erlaubt mehrere ‚Bedeutungsschichten,‘ auch lässt sie den Wanderer mehr stocken. Die unterteilte Triole-Version stellt aber, wie im Text, den durchfließenden Verdruss zentral und fördert den allgemeinen Liedfluss, was die Aufführung natürlicher machen kann. Zu beiden Auffassungen ist etwas zu sagen und der Stimmungsunterschied ist bedeutend, jedoch nicht wesentlich, sicherlich wenn diese Bewegungen beides in Variation verwendet werden. 63 Franz Schubert: Die Winterreise. Faksimile-Wiedergabe nach der Originalhandschrift Franz Schubert. Kassel: Bärenreiter, 1966. O.S. 64 Moore 1978: 129. 65 Ebd. S. 129f. 66 Dittrich 1991: 156. 67 Vgl. Ebd. S. 156. 27 Die punktierte Bewegung in der linken Hand ist ein Verlängerungsstück des mühsamen Wandermotivs, zugleich aber –in beiden Rhythmusvariationen- erinnert sie innerhalb des Moll-Tonraums an einen Begräbnismarschrhythmus. Die Phrasierung geht zum Akzent auf die zweiten Taktzeit hinzu und beginnt dann wieder aufs Neue, endet wieder im Akzent auf Schlag Zwei und sie schließt im punktierten Rhythmus ab, wobei die Hinführung zum Schlussakkord der Phrase wieder eine ganze Triole ist. Der 3/4 -Takt hat in diesem Lied darum kein Zentrum, weil der Akzent auf zwei kommt und einer Triole vorausgeht, die auftaktig in der Wiederholung wieder aufgegriffen wird. Dies verursacht eine zeitlose Schwebung. Das Perpetuum Mobile der Drei-Bewegung ist darüber hinaus auch in der Satzstruktur der einzelnen Phrasen zu erkennen: diese Phrasierung in Barform (A-A-B oder Stolle, Stolle Abgesang), im Klaviervorspiel eingeführt, wird im Lied durchgehend meditativ wiederholt. Die Wiederholung ist auch wesentlicher Teil um die Stimmung der endlosen Bewegung. Die Gesangpartie nimmt ab Takt 5 die Partie der rechten Hand des Klaviers auf und wiederholt die Barform-Phrase in einer Variation. Müller verwendet die Einteilung in Vierzeilern, Schubert gestaltet jeweils zwei Zeilen einer Strophe in einer dreiteiligen musikalischen Phrase, so dass musikalisch gesehen in zwei Zeilen drei Stimmungen entstehen, die dichter an der Deklamation als am quadratischen Textbild liegen. In den ersten zwei Zeilen des Lieds z. B. sind die drei musikalischen Hauptakzente wie folgt: Manche Trän aus meinen Augen/Ist gefallen in den Schnee. Die unterstrichenen Worten sind mit längerer Tondauer ausgerüstet und sorgen für einen Ministillstand innerhalb des musikalischen Verlaufs, der auch zur Lethargie und buchstäblichem Stillstand der Hauptfigur passt. Für Darsteller ist es jedoch wichtig, nicht wirklich still zu stehen, sondern dies nur zu suggerieren. Der ganze musikalische Aufbau ist jedoch ‚quadratisch‘: ABAB, wobei die zweite Zeile des jeweiligen B- Teils (Weht daher ein lauer Wind und Muntre Straßen ein und aus) Wunschund zugleich Dur-Sätze sind. Die vierte Zeile der jeweiligen B-Teile (Und der weiche Schnee zerrinnt und Da ist meiner Liebsten Haus) sind ebenfalls Dur-Sätze, die Schubert in einer Textwiederholung in Moll-Sätze verwandelt. Hier sind die Moll-Zeilen eine realistische, einsame Antwort auf Selbsttäuschung und falsche, enttäuschte Idealisierung, die, wie in den vorigen Liederanalysen auch schon bemerkt wurde, in Winterreise oft mit Dur in Verbindung stehen. 28 Jeweils die letzten Zeilen jeder Strophe werden von Schubert nach einem musikalischen und tonalen Höhenpunkt getrieben und wieder abgebaut. Dies wird konsequent viermal durchgeführt und trägt, zusammen mit der führenden Melodie und dem dominierenden ‚MollTonraum‘ zur traurigen, meditativen, kreisartigen Atmosphäre bei, die in diesem Fall mit der Lethargie und Initiativlosigkeit im Text unmittelbar zusammenhängt. Die dadurch ausgelöste Stimmung beschreibt Arnold Feil als ein End-Gefühl: Mit Wasserflut ist der Zyklus an einen Punkt gelangt, an dem sich der mitgehende Hörer fragt, ob es auf dieser Winterreise nun überhaupt weiter gehen kann. Jeglicher Wille dazu scheint ja doch erlahmt, jegliches Sprechen über den einfachen Erzählton hinaus sich in Ausdruck von Schmerz verströmen zu wollen. Schubert scheint die gehende Bewegung und damit verbundene, daran anknüpfende oder erinnernde Bewegungsvorstellungen für die Durchstrukturierung des Zyklus ebenso aufgegeben zu haben wie das Element einer bestimmten Art von Rede[..]68 2.3.7. Auf dem Flusse Winterreise geht aber weiter, das Bächlein antizipierte das Thema des Flusses.69Müller verwendet im Gedicht Auf dem Flusse wieder die Metapher des gefrorenen Wassers für die Angst vor dem erstarrten Herz. Gerald Moore beschreibt die Geschichte sehr akkurat: Der Wandersmann bewegt sich [...]und sinnt darüber nach, wie der klar strömende Fluss, der einst so fröhlich glänzte, nun kalt und bewegungslos unter der Eisschicht liegt. Er ritzt in die harte Eisdecke mit einem Stein den Namen der Geliebten, die Gedenktage ihres ersten Zusammentreffens und seines Abschieds[...]“Mein Herz“, fragt er, „in diesem Bache erkennst du nun dein Bild? Ob’s unter seiner Rinde wohl auch so reißend schwillt?“70 Das Verhältnis zwischen Realität und Vergangenheit ist in diesem im Frühling und Winter erlebten Erinnerungsort, wie die Wiese in Erstarrung, zusammengefasst. Hier bemerkt man aber, im Gegensatz zu Erstarrung beim lyrischen Protagonisten, einen Abstand zum Geschehenen, welcher im Gedicht von der Eisdecke des Flusses repräsentiert wird. Wo in Erstarrung der Erinnerungsort noch zur Unruhe führte, ist die rhetorische Frage ob’s unter seiner Rinde/Wohl auch so reißend schwillt Beweis dafür, dass die Unruhe im Herzen nun ‚überdeckt‘ ist. Der Charakter der ersten zwei Strophen ist – passend zu diesem Abstand – relativ feststellend. Die ersten zwei Strophen des 5-Strophigen Vierzeilergedichts 68 Feil 1975: 115. Auch in der Müller-Reihenfolge steht Auf dem Flusse nach Wasserflut. 70 Moore 1978: 133. 69 29 beschreiben den gefrorenen Zustand des Flusses, hier die erste Strophe: Der du so lustig rauschtest,/Du heller, wilder Fluß,/Wie still bist du geworden,/Gibst keinen Scheidegruß. Dieser feststellende Charakter gilt in den dritten und vierten Strophen auch, wenn es die Handlungen des Protagonisten selbst betrifft, z. B. in diesem ersten Satz der dritten Strophe: In deine Decke grab ich/Mit einem spitzen Stein/Den Namen meiner Liebsten/Und Stund und Tag hinein. Der Erinnerungsort ist im Gegensatz zu Erstarrung aber personifiziert; der Fluss wird mit ‚Du‘ angesprochen, während in Erstarrung die Umwelt noch abstrakter ist. Auch wird in diesem Lied vom lyrischen Protagonisten die Liebesgeschichte zeitlich konkret festgelegt – in der Eisdecke des Flusses – während in Erstarrung nur das abstrakte Bild des Herzens Beweis der Liebe ist. In Auf dem Flusse wird aber der ‚Fluss‘ Metapher fürs Herz, das Herz wird von außen betrachtet, als Teil der subjektivierten Umwelt. Die letzte Strophe ist bewegt, hier dreht sich auch die Anrede der Umwelt wieder zum Selbst, mit der im Moore-Zitat erwähnten rhetorischen Frage ans eigene Herz. Schubert setzt in diesem Lied den rezitativischen Stil71ein, um den feststellenden Charakter im Text form zu geben, dies im Gegensatz zum mehr Cantabile komponierten Lied Wasserflut, mit dem Auf dem Flusse harmonisch und textlich thematisch in Verbindung steht. Beide haben den Fluss oder das Bächlein als Hauptmetapher und beide sind original in EMoll komponiert. In Opern und Oratorien ist traditionell der Unterschied zwischen Handlungsbewegung (Rezitativ) und (innerlicher) Betrachtung der Situation (Arie) auch anwesend. Auf die gleiche Art könnte man den Unterschied zwischen Wasserflut und Auf dem Flusse auch sehen: Wasserflut ist die Betrachtung, hat mehr die Form einer Arie, Auf dem Flusse hat mehr rezitativische Eigenschaften. Dieser rezitativische Stil ist ebenfalls mit der rhetorischen Frage am Ende des Gedichts Auf dem Flusse zu verbinden. Musikalisch äußert sich der rezitative Stil in der von Schubert genau nachgefolgten, nicht ausgedehnten Wiedergabe des Satzmetrums. Den Abstand zum Geschehenen führt Schubert in einem 2/4-Takt mit pianissimo Staccato zu spielen Achteln ein. Keine runden Drei-Bewegungen in der ersten Strophe. Die vorgeschriebene Dynamik schwebt zwischen pianissimo und pianississimo, welche den vereisten und stillgewordenen Fluss mitgestaltet. Im Klaviervorspiel ist ansonsten das 71 Vgl. Feil 1975: 115. 30 zurückkehrende, umgekehrte Tonikaakkord (Orig. E Moll) Beweis für die relative Unbeweglichkeit in der Harmonie – in den ersten sieben Takten zumindest. Das vorgeschriebene ‚Langsam‘ unterschreibt das „Trauermarschtempo“72des Wanderers, in dem das Staccato das Knirschen des Schnees ausdrücken könnte. Auffällig genug kommen hier in den ersten Takten also Bewegung und eine Art ‚Unbeweglichkeit‘ beisammen, als kreierte Schubert hier eine auditive dreidimensionale Welt, in deren unbeweglicher Landschaft der Wanderer sich bewegt. Die unterliegende Unruhe des Herzens im weiteren Verlauf der ersten Strophe wird mittels kleiner Ornamente in der Gesangsmelodie auf gibt keinen Scheidegruß und im Sande ausgestreckt vorweggenommen. Der Vorschlag des Motivs ist ein Zittern des inneren Gemüts. Das Motiv selbst von jeweils vier Sechzehnten ist als Einführung der zweiten und dritten Strophe ebenfalls musikalische Indizes dafür, dass die Unruhe in der Musik stets stärker wird. Das führt zur dritten Strophe, in der die Sechzehntel-Bewegung die einschneidenden Liebesdaten immer wiederkehrend symbolisiert, was mit dem steigernden Gemüt der Hauptfigur einher geht. Diese dritte und vierte Strophe werden von E-Moll zu E-Dur überleitet, wodurch zugleich die schöne Vergangenheit erinnert wird. Die Triolenbewegung als Ersatz für die Sechzehnten erscheinen beim Satz Der Tag des ersten Grußes, als die Vergangenheit textlich präzise erlebt wird. Dass im Text von einem zerbrochenen Ring gesprochen wird, mag auch mit den runden Bewegungen zusammenhängen. Ab dem Einsatz der letzten Strophe, die Schubert als ganzes wiederholt, kommt der harmonische Moll-Anfang wieder zurück, jedoch die Bewegung ist wesentlich anders: die linke Hand spielt nun die Gesangsmelodie vom Beginn, cantabile, weil Schubert Bogen vorschreibt, jedoch die Akkorde in der rechten Hand bleiben staccato. Staccato versus Bogen, vertikale versus horizontale Bewegung repräsentieren hier Kälte versus Wärme, Stillstand versus Fließen. In Kontrapunkt zu dieser Klavierpartie singt der Sänger hier die Wesensfrage dieses Lieds: Mein Herz, in diesem Bache/ Erkennst du nun dein Bild?/ Ob’s unter seiner Rinde/wohl auch so reißend schwillt? Ab Bild (Takt 17) wird das ‚Schwell-Motiv‘ in Zweiunddreißigsten in einem Crescendo und führend zum Akzent auf der zweiten Taktzeit auskomponiert. Das Gemüt der Hauptfigur wird heftiger, das Schwellen des Herzens stärker als die linke Hand die Melodie in einem Forte ausspielt, von den heftigen Zweiunddreißigsten ab Takt 48 in der rechten Hand geantwortet, 72 Moore 1978: 133. 31 jedoch das ‚Kälte-Staccato‘ verschwindet nicht. In der Wiederholung dieser Strophe wird diese für die Hauptfigur beunruhigende Frage noch mal aufgebaut, die Gesangspartie ist dabei die ‚Seele‘ des lyrischen Protagonisten, während das Klavier hier das ‚vergebliche Schwellen des Herzens‘ ausdrückt. Als das Schwell-Motiv im Nachspiel in einem Decrescendo völlig ausblendet und als Ersatz in den letzten drei Takten die Staccato-Tonika-Akkorden wieder zurückkehren, hat Schubert indirekt die Antwort auf die Frage des lyrischen Protagonisten gegeben: die Unbeweglichkeit der Eisdecke und Kälte haben das letzte Wort. 2.3.8. Rückblick Die Kälte und Unbeweglichkeit des gefrorenen Flusses ersetzt Müller hier durch eine fieberhafte Menschenflucht aus der Stadt in fünf Vierzeilern mit Alternanzreim. Das Gedicht beinhaltet den tatsächlichen Abschied des lyrischen Protagonisten von der Stadt. Mit den ersten zwei Sätzen Es brennt mir unter beiden Sohlen,/Tret ich auch schon auf Eis und Schnee bringt Müller den Gegensatz warm – kalt ins Gedicht ein, was auf das ‚verheizte‘ Innere der Hauptfigur trotz der Winterkälte deutet, in der die täuschende warme Liebe und kalte Abweisung mitsymbolisiert sind. Die Stimmung wird für den einfühlenden Leser eine der Unruhe wegen der von Müller beschriebenen Atemlosigkeit. Die Türme sind hier die Stadttürme: Ich möcht nicht wieder atemholen,/Bis ich nicht mehr die Türme seh. Die Gedanken des Protagonisten der zweiten Strophe müssen darum in der Vorstellung des Lesers kurz darauf gedacht werden, weil dieser Flüchtling so eine Eile suggeriert. In dieser Eile denkt die Hauptfigur zurück, erst an die Fehler und dann an die Unerwünschtheit. Die Zeilen der zweiten Strophe, obschon in Präteritum als abgeschlossene Vergangenheit geschrieben, lassen den Leser in der Stimmung der ersten Strophe wegen der erzählenden, hetzenden Aktion: Hab mich an jedem Stein gestoßen,/So eilt ich zu der Stadt hinaus/Die Krähen warfen Bäll und Schloßen/Auf meinen Hut von jedem Haus. Stein und Krähe sind alle symbolische Gegenstände des Widerstands. Der Protagonist erfährt auch innerlichen Widerstand gegen seine Flucht und gegen sein Wunschbild. In der dritten Strophe werden täuschende Erinnerung und Wunschbild zusammengebracht: Wie anders hast du mich empfangen,/Du Stadt der Unbeständigkeit!/An deinen blanken Fenster sangen,/Die Lerch und Nachtigall im Streit. Ein Reminiszenz an Lindenbaum schimmert durch die nächste Strophe, das ganze Stadtbild verwandelt sich in einen lieblichen Frühlingstag. Hier wird auch im Text das Wort ‚rund’mit den positiven Erinnerungen in Verbindung gebracht, die Wärme der Liebe im Wort glühten noch mal unterstrichen. Zugleich 32 ist in der Strophe das ironisch formulierte Verhängnis der Geschichte miteinbezogen, wie alle Erinnerungen in Winterreise nicht rein positiv konnotiert sind: Die runden Lindenbäume blühten,/Die klaren Rinnen rauschten hell,/Und auch zwei Mädchenaugen glühten!-/Da war’s geschehn um dich, Gesell! Dann macht Müller eine Konjunktivstrophe, in der er vielleicht daran zweifelt, ob der Tag je noch in seinen Erinnerungen erscheinen wird: Kömmt mir der Tag in die Gedanken,/Möcht ich noch einmal rückwärts sehn. Weil Müller hier syntaktisch unlogisch, musikalischmetrisch aber sehr logisch, das Wort zurücke isoliert, wird eben der Gedanke an das Zurückgehen unterstrichen, das in Bedeutung und Metrum mit dem Wort stille verschmilzt, hier die Akzente unterstrichen: Möcht ich zurücke wieder wanken,/Vor ihrem Hause stille stehen. Weil das lyrische Ich nach seinem Ziel wankt, wird der Gegensatz wanken als mühsames Ereignis und stille stehen als letztendlich erreichtes Endziel hervorgehoben. Das ganze Gedicht deutet auf eine Bewegung des Widerstands; gegen die notwendige Flucht, gegen Loslassen der Täuschung der Liebe, gegen das Verlassen vom Ort der Liebe, das ist die unbeständige Stadt. Wie der Titel aber impliziert, ist diese Stadtzeit notwendigerweise nun endgültig in brennender Flucht abgeschlossen, es bleibt nichts als ein Rückblick übrig. In der Bewegung der Musik ist diese Zweischichtigkeit der Flucht und Zurückkehr-Sehnsucht ausgearbeitet. In den ersten Takten des Klaviervorspiels dieses Lieds in original G-Moll werden Geschwindigkeit und Beträchtlichkeit vertont: Im ersten Takt macht die rechte Hand im Bassschlüssel (F -Schlüssel) eine fast chromatische ‚Hinterher`- Bewegung mit den parallel steigenden Zwieklängen der linken Hand. Weil sie chromatisch in einer tiefen Lage stattfindet, klingt die Bewegung recht ungeschmeidig, aber sie wird – wie der lyrische Protagonist – voraus getrieben, wie die Dynamik auch bis zu einem Forte mit schwillt. Tempoangabe ist „Nicht zu geschwind,“73welche mit der Anzahl der zu artikulieren Worten des Sängers zusammenhängen muss,74welche an sich auch eine Stimmung des Widerstands hervorruft. Im zweiten Takt wird nur das D in einem Fortepiano in allen Klaviertönen in ausgedehnten Nachholbewegung wiederholt, der Takt schwebt, als ob jemand kurz stillsteht, wieder zu Atem kommt und betrachtet: eine Art ‚Beträchtlichkeitsmotiv.‘In den ersten zehn Takten werden diese zwei Bewegungen jeweils nacheinander wiederholt. Harmonisch ist die 73 Franz Schubert: Schubertalbum. Gesänge für eine Singstimme mit Klavierbegleitung. Nach dem ersten Druck revidiert von Max Friedlaender. Band I. Ausgabe für mittlere Stimme. Leipzig: Edition Peters 1928. S. 78. 74 Vgl. Moore 1978: 139f. 33 Bewegung ab Takt fünf in einer höheren Tonstufe, um vor dem Einsatz des Sängers wieder auf der Tonika zu landen: Die Hauptfigur kann ihre Geschichte erzählen. Feil bringt den Gedanken vor, dass man den Versrhythmus auch in einem 2/4 -Takt unterbringen kann und er äußert dazu, dass dann zum Beispiel „die wenig schöne Betonung „Atem holen“[...]bei der Deklamation in einem 2/4-Takt vermieden wäre“.75Schubert wählt aber einen 3/4-Takt und das hat unter anderem mit dem musikalischen Bogen der Gesangslinie zu tun; der Sänger wird gezwungen, die unlogischen Akzente so viel wie möglich zu vermeiden und sich aufs Ende der langen Phrase zu konzentrieren, die zwei Strophenzeilen beinhaltet. In anderen Liedern komponiert Schubert meistens nur eine Verszeile pro Phrase, oder sogar Teile der Verszeile. Dies bringt eine „atemlos forthastende“76 Stimmung hervor, die noch vom Gegensatz der unruhigen, in 3/4 notierten Klavierpartie gegen die ‚2/4- Takt gedachte‘ Gesangspartie verstärkt wird.77 Der Übergang der zweiten Strophe (ab Hab mich an jedem Stein gestoßen) ist in der Musik wie im Gedicht momentdicht, wobei in der Klavierbegleitung die Hinterherbewegung weitergeht, wie die chromatisch vorausgetriebene Bewegung auch, indem das Beträchtlichkeitsmotiv hier ebenfalls eingesetzt wird. So ist der innerliche Streit des Protagonisten auskomponiert. Die zwei Bewegungsarten bringen dazu die Assoziation des sprichwörtlich scharfen Winds als Missgeschick hervor, was sich auch leicht mit dem im Liederzyklus zentral stehenden Winterwetter verbinden lässt. Die ‚Hinterherbewegung’verstärkt Schubert in den Zeilen die Krähe warfen Bäll und Schloßen/ Auf meinen Hut von jedem Haus mithilfe scharfer Akzente, die auf den gesungenen Worten Bäll und Schloßen liegen und in der Klavierpartie geantwortet werden. Nach dieser Strophe folgt eine Fermate auf der Tonika, wobei dann die Erinnerungsstrophe in der DurVariation dieser Tonika eingesetzt wird. Das Beträchtlichkeitsmotiv aus dem Klaviervorspiel ist hier der konstante rhythmische Faktor in der rechten Hand, ohne Hinterherbewegung, obschon harmonisch die Geschichte nicht stillsteht. Es entfaltet sich eine „liedhaftschlicht[e],[...]gar zu freundlich[e]“78Melodie die motivisch mit den vorigen Strophen zusammenhängt, nun in der Dur-‚Frühlingsvariation‘und rhythmisch unisono mit der Basslinie der linken Hand. Dittrich analysiert sie als „geradezu schulmäßig[...]mit der 75 Feil 1975: 45. Ebd. S. 46 77 Vgl. ebd S. 45f. 78 Dittrich 1991: 160. 76 34 deutlichen Trennung der einzelnen Phrasen und dem Phrasenbezug zwischen Vorder- und Nachsatzbeginn.“79Die ‚Hinterherbewegung’erscheint ab den Sätzen Und ach, zwei Mädchenaugen glühten wieder, wie auch die Chromatik und Verweisungen nach der MollTonart. Der ironische letzte Satz dieser Strophe da war’s geschehn um dich, Gesell! wird von Schubert in Dur, mit einem hohen ge von geschehn – das ist ein unbetonter Wortteil und eine unbetonte Taktzeit -als relativ ironisch-humoristischer ‚Ausrutscher‘ (also scheinbar, nicht tatsächlich in der Ausführung gleitend) interpretiert. Das Lied moduliert wieder nach Moll bei Kömmt mir der Tag in die Gedanken und ist dabei eine Wiederholung vom Beginn. Der Zweifel, den Müller in den Konjunktivsätzen Kömmt mir den Tag in die Gedanken,/Möcht ich noch einmal rückwärts sehn äußert und das ‚Wanken‘ der folgenden Zeile vertont Schubert in erster Instanz nicht. Die Melodie befindet sich, wie am Anfang des Lieds, in der unwilligen Fluchtstimmung. Hier klingt sie aber mit dem anderen Text mehr wie ein Schreckbild, der Zweifel kommt erst ab der Wiederholung dieser Phrase: die Melodie liegt in einer höheren Lage und soll pianissimo gesungen werden, wobei die Klavierpartie ein Echo des Beträchtlichkeitsmotivs spielt. Wie das Gedicht in einem Wunschbild endet, so schließt das Lied diesmal in einer Dur-Tonart (ab der Wiederholung der Zeile Möcht ich zurrüke wieder wanken) ab, wobei die Triole auf vor ihrem Hause den allerletzten Wunschtraum dieses Lieds musikalisch mitgestaltet. Das wanken zeigt sich musikalisch in der durchgehenden Hinterherbewegung bis zum Abschlussakkord. 2.3.9. Irrlicht Der Ton dieses dreistrophigen Gedichts – wieder Vierzeiler und Alternanzreim- ist lässig. In den ersten zwei Zeilen wird der Gegensatz zwischen dem Bildraum der tiefen Felsengründe, wo ein Irrlicht den Wandersmann gelockt hat, und dessen Desinteresse, hier wieder herauszukommen, eben im sogenannten unschuldigen Volksliedrhythmus und -form hervorgehoben: In die tiefsten Felsengründe/lockte mich ein Irrlicht hin:/ Wie ich einen Ausgang finde,/Liegt nicht schwer mir in dem Sinn. Ab der zweiten Zeile klingt eine Art Volksweisheit, hinter der das lyrische Ich seine Gleichgültigkeit verbirgt: Bin gewohnt das Irregehen,/‘s führt ja jeder Weg zum Ziel:/ Unsre Freuden,unsre Wehen [Schubert Leiden]/Alles eines Irrlichts Spiel! 79 Ebd. S. 160. 35 Die Andeutungen der Wege und Ziele werden allgemein und vage, weil am Ende aller Wege der Tod steht. Auch der Leser befindet sich in einer Art Labyrinth Der Leser erfährt Beunruhigung bei der letzten Strophe: ein depressiver Wanderer läuft, seinem Leben gleichgültig gegenüber, so sollte das Wort ‚ruhig’ interpretiert werden, irgendwo bei oder in einem Felsenabgrund. Er kommt zu einem trockenen Bergstrom, durch den er nach unten geht: Durch des Bergstroms trockne Rinnen/ Wind ich ruhig mich hinab. Es klingt nur für einen schwer Deprimierten der erlösende Gedanke in Form eines Wandspruchs: alles hat sein Endziel. Das Fließen des Wassers symbolisiert hier wieder das Leben, das wie der Mensch und sein Leiden sein Endziel hat: Jeder Strom wird’s Meer gewinnen,/Jedes Leiden auch ein[Schubert: sein] Grab. Hier wird zum ersten Mal im Zyklus auf den Tod verwiesen. Das heißt aber dann in der Reihenfolge Schuberts. Dessen Dramaturgie ist nicht Müllers Wahl.80 Bei Müller steht dieses Gedicht als Nummer 18, also dichter Richtung Ende des Zyklus. Von daher wäre die Tragweite des Satzes Bin gewohnt das Irregehen bei Müller etwas anders als bei Schubert: in der musikalischen Reihenfolge wäre das Irregehen mehr auf die irr geführten sozialen Gegebenheiten zu beziehen, die in Erstarrung mit dem Abschied der Stadt endgültig abgeschlossen sind, während bei Müller das buchstäbliche ziellose Wandern eher zentral steht; der Wanderer ist bei Müller schon länger unterwegs. In beiden Fällen haben sie aber die Symbolik des ‚Irrens im Leben‘ oder ‚Täuschung‘ inne: Der Wanderer befindet sich räumlich in einem Irrgarten, der mit der Zeit, gleichgültig welche Richtung er wählt, im Ausgang vom Grab endet. Beim Zuhören scheint hier der Nachdruck auf der räumlichen Ton-Gestaltung zu liegen: die Gesangsstimme hat hier im Vergleich zu den anderen Liedern eine Amplitude zu leisten. In der ersten Gesangsphrase werden die Wörter tief und -gründe (von Felsengründe) mit den tiefsten Tönen des Lieds (in der Originaltonart H Moll ist das die Tonika H im kleinen 80 Winterreise ist in zwei Teilen verfasst worden: Schubert vollendete im Februar 1827 seine Vertonung der Erstpublikation (1822) Müllers Gedichte in der Zeitschrift Urania. Diese Reihenfolge hat Schubert lückenlos übernommen und ist als die ‘Erste Abteilung’ des Winterreise Liederzyklus bekannt. 1823 verlegte Urania dann die zweite Sammlung mit zehn weiteren Gedichten mit der Anmerkung Müllers, dass diese Gedichte zu der 1822 herausgegebenen Winterreise gehören. Die Zwischenpublikation hat Schubert wahrscheinlich nicht gekannt. Der ganze Gedichtzyklus wurde 1824 im zweiten Band der Gedichte aus dem hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten herausgegeben und um zwei Texte erweitert, wobei Müller seine endgültige Reihenfolge gewählt hat. Bis 1827 vertonte Schubert die Gedichte aus dieser Publikation ebenfalls. “Da sie [die Gedichte] aber nicht einfach an die schon komponierten Gedichte aus der Urania angehängt, sondern eingeschoben worden waren, ergab sich für Schubert die Alternative, diesem Verfahren zu folgen oder die neuen Lieder gänzlich abzutrennen. Er entschied sich für das letzere und stellt uns damit vor die Frage, ob er eher die von Müller intendierte Reihenfolge ignorierte oder aber den bereits geschaffenen Zyklus von zwölf Liedern, den er ja für abgeschlossen gehalten hatte, nicht zerreißen wollte. “ Ludwig Stoffels: Die Winterreise. Band I: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung. Bonn: Verlag für systematische Musikwissenschaft GmbH 1987. S. 174f. 36 Oktaven) gestaltet. Diese Oktavenweite der Gesangspartie bringt eine Räumlichkeit hervor, so wie das Wiederholungszentrum des Tonikatons eine Echo-Wirkung hervorruft. Die Melodie wird im Klaviervorspiel vorgegeben und das legt mit ausgeschriebenem Akzent den Nachdruck auf der ersten, am höchsten gelegenen Achtelnote (das Lied ist in einer 3/8Taktangabe komponiert), was die Gesangsstimme einigermaßen imitieren muss: hoch und tief sind gleich wichtig, oder, wenn man so will, innerhalb der gleichgültigen Stimmung ‚alle Wege führen zum Grab‘ gleich unwichtig. Zugleich repräsentiert dieses räumliche Wandern in Tonhöhen das Spiel des Irrlichts, das den Wanderer willkürlich hin und her, oben nach unten, durch hohe Felsen und niedriger gelegene Strombette führt. Die isolierte Funktion der Gesangspartie ist in diesem Lied auffällig: sie liegt offener als in den vorigen Liedern, das Klavier hat eine weniger ausgefüllte Partie als vorher, so beginnt es zum Beispiel in einzelnen Oktaven und eine Wanderbewegung gibt es im Lied kaum. Die Akkordlösung (öfter Dominant – Tonika) im Klavier will ständig nach oben, so wie sich das lyrische Ich in dünner Luft der Höhe befindet. Die Stimme wird ‚einsamer‘, die Stimmung wird ‚geheimnisvoller,‘die Welt wird ‚stiller.‘ Die Rhythmik ist aber gleich wichtig, auch wenn sie in diesem Lied weniger an der Oberfläche liegt: Die Unterteilung in drei und die verlockenden Staccato-Triolen im Klaviervorspiel sind hier die eindeutige Ergänzung von Schuberts Interpretation des Irrlichts. Diese Bewegung ist für Gestaltung der Naturerscheinungen, wie fließendes Wasser und blasender Wind geeignet, weil sie ihrem Wesen nach schwebend, ohne Schwerpunkt ist. So eignet sie sich auch wieder für charmante, irreführende, ziellose Bewegungen. In der ersten Zeile wird das Wort Irrlicht selbst als Triole vertont. Ansonsten sind die schärfer punktierten rhythmischen Figuren wichtig, sie werden in den ‚gleichgültigen‘ Sätzen mehrmals verwendet: liegt nicht schwer mir in den Sinn und alles eines Irrlichts Spiel, was eine lässige Leichtigkeit zur Folge hat, mit den dazugehörenden körperlichen Bewegung des Schulterzuckens zu vergleichen. Diese Sätze werden beide in sowohl Moll als auch Dur gesungen, wobei die Moll-Version in einer Legato aufwärts Bewegung mit einer Triole komponiert ist, während das Dur die scharfe Punktierung inne hat. Die Legato Moll-Version verrät die unterliegende Ursache dieser Gleichgültigkeit: sie kommt aus einem großen Verdruss hervor, was die Original Tonart H- Moll auch noch mal bestätigt. 2.3.10. Rast 37 So wie bei Müller als auch bei Schubert steht dieses Gedicht nach Irrlicht. Der lyrische Protagonist hat seine übermütige Felsenwanderung hinter sich gelassen und findet ein kleines Häuschen, wo er sich ausruht. Im Gedicht wird das Thema ‚Rast‘ paradox verwendet: die Ruhe, das Aufhören der Wanderbewegung lässt den Körper erschöpfter anfühlen, als während der Bewegung, die eigentlich wie eine Art Schmerzmittel für den Protagonisten funktioniert. Allmählich wird auch deutlich, dass die Wanderschaft an sich eine Ablenkung von den innerlichen Qualen der Hauptfigur ist. Jetzt fühl ich erst wie müd’ich bin,/ Da ich zur Ruh mich lege;./Das Wandern hielt mich munter hin/Auf unwirthbaren Wege. Mit dem Abschied der Stadt scheint der Winter zur Kraft zu werden. Die Kälte betäubt und der Wind hilft dem lyrischen Protagonisten ‚voraus‘: Die Füße frugen nicht nach Rast,/Es war zu kalt zum Stehen,/der Rücken fühlte keine Last,/Der Sturm half fort mich wehen. Der Ort, wo der Protagonist gelandet ist, um sich auszuruhen, ist wenig aufmunternd: dunkel und eng. Müller verwendet das Paradoxon der wenig anzüglichen Vorstellung dieses ärmlichen Häuschens und die Tatsache, dass der lyrische Protagonist hier recht dankbar scheint, so einen Ort gefunden zu haben: In eines Köhlers engem Haus/ Hab Obdach ich gefunden;. In dieser Ruhe brennen die Wunden des Körpers wie die Wunde im Herzen, der Ich-Raum findet keine Ruhe in sich selbst, die Bewegungszeit im Kopf dreht immer weiter: Doch meine Glieder ruhn nicht aus:/so brennen ihre Wunden./Auch du, mein Herz, im Kampf und Sturm/So wild und so verwegen,/Fühlst in der Still erst deinen Wurm/Mit heißem Stich sich regen! In der Vorstellung des Komponisten wandert die Hauptfigur in seiner Rast noch immer. Die Bewegung ist aber, wie im ganzen Zyklus, mehrschichtig. Sie bedeutet die mühsame Wanderbewegung, so wie das Stechen der Schmerzen - das wieder mit dem Herzklopfen einher geht. Das Lied ist in 2/4-Takt geschrieben und Schuberts Tempoangabe ist „Mäßig“81wie im ersten Wanderlied Gute Nacht, was die mühsame Wanderbewegung unterschreibt. Schubert setzt im Klaviervorspiel jeweils auf den zweiten Taktschlägen einen Akzent und der Auftakt im Bass ist jeweils staccato. Das Vorspiel endet vor dem Gesangseinsatz in einer Fermate. Gerald Moore deduziert diese rhythmischen Gegebenheiten zur folgenden Stimmung im Klaviervorspiel. Eine Vorstellung, die, seiner Meinung nach, von dem Pianisten gefragt wird, um zu einem überzeugenden Ausführungsresultat anzugelangen: [...]die Vortragenden fragen sich, wie sie gehen würden, wenn sie hundemüde wären. Würde jeder Schritt gleich lang, jeder Tritt gleichförmig sein? Es ist ein strauchelnder Gang mit einer 81 Franz Schubert: Die Winterreise. Faksimile-Wiedergabe nach der Originalhandschrift Franz Schubert. Kassel: Bärenreiter, 1966. O.S. 38 kaum merklichen Unregelmäßigkeit, die, wenn sie übertrieben wird, lächerlich wirkt: der Pianist muß auf der Hut sein. Es ist eine der Passagen, die man nie zweimal auf die gleiche Art spielt. Nur eines ist sicher, nämlich dass man gegen Ende ein rallentando machen muß und eine lange Pause in Takt 6, als wollte man sich an einen Baumstamm lehnen, um neu Atem zu schöpfen. 82 Die Gesangsstimme übernimmt die Stimmung der Müdigkeit, indem sie in kleinen Schritten geht. Die sechzehnte Note tritt dabei in einer guten Ausführung deutlich hervor, um die Schwerfälligkeit der Intervalle zu betonen.83Beim Wort Ruh angekommen, ist die Klavierpartie nach einem chromatischen Aufstieg kurzfristig im kleinen Niedergang zum Moll-Akkord angelangt, wo der Aufstieg begann. Müdigkeit wird zur Traurigkeit. Die Bewegung des Klaviervorspiels geht weiter, der Akzent war nur im Klaviervorspiel, um die energielose, müde Stimmung in der Gesangspartie nicht zu unterbrechen. Der Satz Das Wandern hielt mich munter hin/ Auf unwirtbarem Wege ist eine temporale Dur-Wendung, was mit der Betäubung der Kälte zu tun hat. Als die Erinnerung – von dem Sänger in rezitativischem Stil gesungen – an das Wandern zurückkehrt, ist auch der Akzent in der Klavierpartie wieder da. Hier wird eine Vergangenheit innerhalb der Reise vermittelt, die nichts mit der Frühlingsvergangenheit zu tun hat; so gehören der rezitative Stil und die Zweierbewegung zur Stimmung dieses Gedichts. Ab dem Satz Der Rücken fühlte keine Last wird die Betäubung selbst musikalisch ausgedrückt: die piano-Melodie führt in einem dünnen Legato hoch und endet auf dem halben Leitton der Tonika. Sie schwebt sowohl harmonisch als auch in ihrer Bewegung, von den pianissimo-Dynamik verstärkt. Die Tonika wird ab der ‚forte‘ zu singen der Sturm half fort mich wehen wieder aufgegriffen, aber von diesem chromatischen halben Abstand des Leittons ständig umspielt. Das Wort fort liegt dabei anderthalb Oktave höher als half, was eine Vorwärtsbewegung- vom Intervallsprung gestaltetbedeutet. Diese zwei Sätze, piano und forte, werden als Abschluss der ersten Hälfte dieses Lieds wiederholt. Gleich aber führt das Klavier im leicht variierten Klaviervorspiel die zweite Hälfte ein, wobei die Fermate dann das Stoppen (oder die Erinnerung daran) vor dem Haus des Köhlers suggeriert. Die Gesangspartie legt einen melodischen Akzent auf engem, was Müllers Vorstellung der ärmlichen Unterkunft hervorhebt. Das piano Melisma auf ich gefunden suggeriert aber eine zärtliche Dankbarkeit für das einfache Obdach. Der Satz Doch 82 83 Moore 1978: 149. Vgl. ebd S. 149. 39 meine Glieder wird nicht auftaktig auskomponiert, wie auf der gleichen Melodie der ersten Hälfte Das Wandern hielt. Das doch bekommt einen natürlichen Akzent, weil er auf dem ersten Taktschlag fällt und hebt so das textliche Paradox des Nicht-Ausruhens in der Ruhe hervor. Schubert verfolgt die Melodie in Moll auf so brennen meine Wunden; diese kleine Variation mag für sich sprechen: die Schmerzen sind Moll. Dieses Moll führt im Ansprechen vom Herzen weiter, was Müller anscheinend im ironisch-traurigen rhetorischen Stil geschrieben hat, weil der Protagonist sich selbst hier von außen betrachtet, oder auf jeden Fall sein Herz als Ansprechpartner isoliert. Schubert greift aber keine ironische Stimmung auf, er vertont dies ernst, so man will mit einer leisen Spur des Selbstmitleids. Wie in der ersten Hälfte, am selben Punkt, kommt hier dann der rezitative Stil, welcher sich mit diesem Ansprechen in Stimmung einblendet. Fühlst in der Sturm wird der ‚Wurm des Schmerzens‘ und die ‚Stille‘ in der dünnen, melismierenden Melodie wird ebenfalls musikalisch gestaltet. Im Gedichtzusammenhang scheint die Melodie in der Wiederholung, wie die Bewegungen auch, also für mehrere Stimmungen empfänglich zu sein. Diese verschiedenen Stimmungen sollten in einer Ausführung dann optimal dargestellt werden. Der Intervallsprung auf fort aus der ersten Hälfte wird nun von Stich ersetzt, was sich empfindlich miteinander verbinden lässt: ein Stoß vorwärts oder ein Stich, dadurch dass im Klang des Worts Stich das ‚t‘ ein stockender Konsonant ist; die Luftzufuhr wird unterbrochen, was die stechende Bewegung in der Ausführung mitgestalten kann. Das ‚f‘ von fort hat in der Deklamation das Blasen vom Wind inne und kann in der Ausführung leicht ausgenützt werden. Das Klaviernachspiel setzt das Kontinuum der Wanderbewegung fort, in einer Abschlussvariation des Vorspiels. In einem meditativen Decrescendo schlummert der ruhende Wanderer vielleicht dann doch ein, sei es in Schuberts Reihenfolgeversion84als Auftakt fürs folgende Lied Frühlingstraum. 2.3.11. Frühlingstraum In diesem Gedicht erlebt das lyrische Ich einen ‚rührenden‘ Wunschtraum, aus dem er gnadenlos erwacht wird. Der sechsstrophige Text, der aus wiederum Vierzeilern besteht, ist 84 Bei Müller ist Frühlingstraum als Nummer 21 gedacht, zwischen Nebensonnen (Lied 20) und Einsamkeit (Lied 22). Einsamkeit steht bei Schubert ebenfalls nach Frühlingstraum. 40 thematisch in zweimal drei Stimmungen zu unterteilen, wobei die letzten drei „den ersten entsprechen.“85Der Zusammenhang zeigt sich in Thematik und Form. In der ersten und vierten Strophe ist die Beschreibung in einem abgeschlossenen Präteritum des tatsächlichen Wunschtraums, wobei die erste Strophe den Frühling in der Vorstellung des Protagonisten hervorruft. Sie ist eine Beschreibung der Natur. Der dreihebige jambische VersRhythmus (mit den Strichen angedeutet) enthält hie und da Alliterationsreim: Ich träumte von bunten Blumen,/So wie sie wohl blühen im Mai;,/Ich träumte von grünen Wiesen,/Von lustigem Vogelgeschrei. Verwandt mit dieser Strophe ist die vierte, sie enthält einen ähnlichen Vers-Rhythmus und Form. So wird thematisch der (in der ersten Strophe beschriebene) Frühling dem idealistischen Liebestraum gleichgesetzt. Wie die erste Strophe, beginnt die vierte mit Ich träumte von: Ich träumte von Lieb um Liebe,/Von einer schönen Maid,/Von Herzen und von Küssen,/Von Wonn‘[Schubert:Wonne] und Seligkeit. Nur der dritte und vierte Satz weichen leicht im Rhythmus ab. Man könnte sich aber innerhalb der Deklamation bei der dritten Strophe Von Herzen und von Küssen noch eine leichte Dehnung auf und vorstellen, so dass dieser Satz doch dreihebig wirkt. Die zweite und fünfte Strophe haben ebenfalls einen dreihebigen Jambusrhythmus. Diese Strophen enthalten mehr einsilbige Wörter, vornehmlich in den ersten und dritten Zeilen, was zu der ‚eckigen‘ Realität passt. Verbreite Alliteration findet man jeweils in der zweiten Zeile (in beiden Fällen: ward-wach). Beide Strophen beginnen mit Und als die Hähne krähten, beide Strophen enden auf wach, es steht in beiden Strophen thematisch also das Aufwachen zentral. In der zweiten Strophe bedeutet das das buchstäbliche Erwachen: Und als die Hähne krähten,/Da ward mein Auge wach;/Da war es kalt und finster,/Es schrien die Raben vom Dach. In der fünften Strophe wird das Aufwachen des Herzens gemeint, das der Enttäuschung in der Liebe gleichzusetzen ist: Und als die Hähne krähten,/Da ward mein Herze wach;/Nun sitz ich hier alleine/Und denke dem Traume nach. Die dritte und sechste Strophe enthalten das Thema vom Zurückwollen zum Traum. Auffällig sind die für Winterreise existenziellen Fragen, die in diesen Strophen eine Rolle spielen. Es handelt sich um ein Festhalten am Glauben an die Welt, trotz der trübseligen Gegenwart. Der lyrische Protagonist sieht Eisblumen als Blumen des Frühlings. Der Protagonist wendet sich hierbei in der dritten Strophe auch direkt an die Leser, als wären sie Teil dieser Gegenwart, 85 Dittrich 1991: 180. 41 die ihn auslacht, was zugleich die Einsamkeit des Protagonisten weiter bestätigt: Ihr lacht wohl über den Träumer,/Der Blumen im Winter sah? In der sechsten Strophe spricht das lyrische Ich seinen Wunschtraum aus, dies aber aus der totalen innerräumlichen Perspektive eines enttäuschten, aber noch hoffenden ‚Erwachten:‘ Wann grünt ihr Blätter am Fenster?/Wann halt ich dich [Schubert: mein] Liebchen im Arm? In diesen Strophen verschieben die Schwerpunkte der Hebungen sich Richtung Anfang der Zeile, weil in einem direkten Fragesatz das Adverb Wann und Interrogativpronomen Wer am akzentuierten Anfang stehen. Die Wörter doch und noch am Anfang eines Satzes haben ebenso einen Akzent: Doch an den Fensterscheiben,/Wer malte die Blätter da?/Ihr lacht wohl über den Träumer,/Der Blumen im Winter sah?. Vergleich dazu die sechste Strophe: Die Augen schließ ich wieder,/Noch schlägt das Herz so warm./Wann grünt ihr Blätter am Fenster?/Wann halt‘ ich dich[Schubert mein]Liebchen im Arm? Diese Anfangsakzente haben rhythmisch eine klagende Konnotation, weil die Fragen nicht beantwortet werden.86 Im Kontext des ‚verunmöglichten Idealismus’erwirken diese Strophen eine verletzbare, mitleidserweckende Stimmung. Das Lied hat einen wiegenden 6/8 -Rhythmus, der als zwei mal drei Achtel traditionell dem Gondellied gehört (Barcarolle). Diese Barcarolle ist in der Romantik eine viel verwendete musikalische Form, die sowohl in vokalen als instrumentalen Werken angewendet wird. Dies lässt sich hervorragend mit dem Thema der Liebe verbinden, als auch mit Schuberts ständigem Gebrauch der dreier Bewegung für Liebe, Täuschung und geistliches Ideal. Im Text ist aber nicht die Rede vom Wasser, wie in Schuberts Gondellied Auf dem Wasser zu singen (Op. 72). Wohl könnte aber die Musik hier unausgeschriebene Ergänzung vom Text geben: die Stimmung eines erinnerten Frühlingstags im Bot mit der Geliebten vielleicht. Auf jeden Fall sind die Motive des Fließenden Wassers als Leben und Liebe in der musikalischen Form impliziert. Die Bewegung im Klaviervorspiel enthält noch einen Vorschlag vor der zweiten Taktzeit, welche mit dem ‚Vogelgeschrei’im Text zusammenhängen könnte. Das Staccato in der Basslinie des Klaviers trägt zu der Leichtigkeit der Bewegung bei, der Dur-Tonraum (Original 86 Vgl.Feil 1975: 124. 42 A-Dur) und hohe Lage der rechten Handpartie dazu gibt dem Lied innerhalb Winterreise als Zyklus die Ausstrahlung eines „Lichtblick[s].“87 Diese Drei-Bewegung (in zwei Taktschlägen) ist aber erstens mit dem innerlichen Traumraum in Winterreise zu verbinden. Feil bemerkt im unterstehenden Zitat zurecht, dass die Wanderbewegung in diesem Lied nicht anwesend ist. Im Kontext des Zyklus ist ebenfalls zu verteidigen, dass der Wanderer sich tatsächlich ausruht (siehe auch das vorige Lied Rast) und so eben geträumt hat: Wenn Frühlingstraum in gewisser Weise aus dem Zyklus herausfällt, so einzig dadurch, daß hier und nur hier keinerlei Bewegungsvorstellung Anteil hat, dass hier die Zwangsvorstellung des Gehens „weiter und immer weiter“aufgehoben ist- im Traum. 88 Die Musik gestaltet die drei textlichen Strophe-Stimmungen in einer Wiederholung von drei Liedteilen. Der erste Liedteil zeigt, dass die oben erwähnten textlichen Akzente und die Wörter dazwischen sich genau im 6/8-Takt einfügen lassen, wobei jede Hebung auf einem Taktschlag fällt. Innerhalb dieser textlichen Ruhe und des Müllerbilds vom Frühling, schildert auch die Musik anfangs eine - wie in Lindenbaum- zu einfache, schlichte, sorgenfreie Melodie, mit Schuberts Tempoangabe„Etwas Bewegt.“89 Das Klavier gondelt in jeweils zweimal drei Achteln seine Begleitung. Die vierte Strophe ist auch in dieser Melodie, der Ausdruck des Textes ist hier aber intensiviert. Das zeigt sich meistens in der Ausführung in mehr prononcierter Diktion und etwas mehr Mezzopiano, als das vorgeschriebene piano. Im zweiten Liedteil Und als die Hähne krähten spielt das Klavier nur auf den zwei Taktschlägen. So wird die Dreierbewegung eliminiert, wie das Dur auch von Moll ersetzt wird. Eine Sechszehnteltriole in der rechten Hand (Takt 17) imitiert das Krähen der Hähne, das plötzliche Öffnen vom Auge/Herzen und den Schreck der entzauberten Welt. Der Akkordschlag auf der zweiten Taktzeit geht weiter auf Es schrieen die Raben vom Dach. In der fünften Strophe ist dies der Satz Und denke dem Traume nach. Auf dem letzten Wort schlägt ein Sforzando, als Ansatz für die dramatische Bewegung in der Basslinie des Klaviers. In einer durchgehenden Sechszehntelbewegung wird das entsetzte Innere der Hauptfigur als Folge des Erwachens in der Realität und seiner Einsamkeit (da war es kalt und finster aus Strophe 2 und nun sitz ich hier alleine aus Strophe 5) musikalisch umgesetzt. Ab dem letzten 87 Ebd. S. 124. Ebd. S. 124. 89 Franz Schubert: Die Winterreise. Faksimile-Wiedergabe nach der Originalhandschrift Franz Schubert. Kassel: Bärenreiter, 1966. O.S. 88 43 Wort dieses Liedteils Dach (Strophe 2) und nach (Strophe 5) wird in Terzen steigenden, separat ausgespielten Oktaven eine Art höhnendes Geschrei dargestellt: in der zweiten Strophe das von den Raben, in der fünften Strophe könnte es eine ironisch-bittere Selbstbetrachtung darstellen (Nun sitz ich hier alleine/Und denke dem Traume nach). Das Dur wird in der dritten und sechsten Strophe wieder aufgegriffen, jedoch die Bewegung ändert sich in einem 2/4-Takt und ähnelt dem Beträchtlichkeitsmotiv aus Rückblick. Schubert schreibt hier „Langsam“90 als Tempoandeutung. Wegen der ständigen Wiederholung der Tonika und Dominantakkorde und der meditativen Wiederholung der Bewegung im Klavier scheint die Welt still zu stehen, was für diese Strophen eine geeignete Stimmung ist: beide beinhalten nämlich eine Wunschtraumwelt. Obschon die Strophen auftaktig beginnen, werden die Phrasen ziemlich akzentlos gesungen, was das zeitlose Schweben mitgestaltet. Der Text hilft, weil sowohl in Strophe 3 als auch in Strophe 6 die natürlichen Akzente vorne liegen. In Strophe 3 auf doch, in Strophe 6 auf den Anfangsworten noch und Wann. Die plötzliche Modulation zum Moll-Subdominant ab dem pianissimo zu singen Satz Ihr lacht wohl über den Träumer der dritten und Wann grünt ihr Blätter am Fenster der sechsten Strophe, unterschreibt die textliche Einsamkeit, den Idealismus und die vergebliche Hoffnung des lyrischen Protagonisten (siehe oben Textanalyse) und ist vielleicht darum einer der ‚rührendsten‘ Momente in Winterreise. Der Akkordwechsel löst Mitleid aus. Das Klavier äußert sich in einem Diminuendo, währenddessen die Gesangslinie der Blumen im Winter sah (Strophe 3) oder Wann halt ich mein Liebchen im Arm (Strophe 6) den Text erst als Frage nach oben aus singt und dann noch einmal betrachtend dieselbe Frage auf der Tonika enden lässt. Eine Antwort auf diese Fragen gibt Schubert auch nicht, er wählt für ein Nachspiel im träumenden, diminuierenden Beträchtlichkeitsmotiv, abschließend in einem sanft runden Arpeggioakkord, als wollte er auf jeden Fall den Träumer nicht aufwachen. 2.3.12 Einsamkeit Sowie bei Müller als auch bei Schubert steht dieses Gedicht (drei Strophen, Vierzeiler) nach Frühlingstraum. Hier wird – Titelgemäß - die Einsamkeit des Wanderers gegen Dekor des heiteren Lebens beschrieben. Die einsame Stimmung spielte bis jetzt im Zyklus eine prägnante Rolle, aber wird durch Frühlingstraum intensiviert, weil der Leser ab nun Teil der äußeren Welt ist, in der der lyrische Protagonist sich nicht wohl fühlen kann. Die Rast aus 90 Ebd. O.S. 44 Frühlingstraum und Rast wird hier wieder vom Wandern, dem sich ‚Bewegen durch die Welt,’ersetzt. Die erste und zweite Strophe sind voller Gegensätze. Wie in Frühlingstraum wird in der ersten Strophe das Innere mithilfe romantischer als-ob-Vergleiche91der Natur beschrieben. ‚Die trübe Wolke‘ seines Selbst zieht durch heitre Luft, ein ziemlich visueller Vergleich. In der ‚Tanne Wipfel‘ weht ein mattes Lüftchen, dass das Selbst als physische Erscheinungsform repräsentiert: man fühlt die ‚matte Stimmung‘ der Depressivität. Wie eine trübe Wolke/Durch heitre Lüfte geht,/Wann [Schubert:Wann]in der Tanne Wipfel/Ein mattes Lüftchen weht:. Der Doppelpunkt verweist auf die innere Auslegung dieser Naturbilder: So zieh ich meine Straße,,/Dahin mit trägem Fuß,/Durch helles, frohes Leben,/Einsam und ohne Gruß. Müller schildert hier einen weiteren, mit der ersten Strophe zusammenhängenden Gegensatz zwischen dem ‚trägem Fuß‘ und ‚hellem’und ‚frohem‘ Leben, letztgenanntes bringt in Stimmungsassoziation eine Leichtigkeit mit sich. Im letzten Satz ernennt er ‚einfach‘die Ursache: er wird nicht gekannt. Die dritte Strophe ist ein klagender Ausruf, dem die ziemlich objektive erste und zweite Strophe in Stimmung gegenüber steht. Ach, daß die Luft so ruhig!/Ach, daß die Welt so licht!/Als noch die Stürme tobten,/War ich so elend nicht. Hier ist der Beweis, dass der Protagonist sich mit der Realität der winterlichen Umwelt anfreut. Die Realität trügt nicht, das Licht und die Ruhe schon, was sich in Lindenbaum auch schon herausgestellt hat. Das Statement, das der lyrische Protagonist aber hier macht, ist dermaßen ‚heftig‘, dass ein ‚Follow-Up‘ notwendig scheint. Innerhalb der Philosophie der ‚Einsamkeit als (notwendige) Lebenshaltung‘, wie in Abschnitt 2.1 besprochen, ist ein Klageausruf als Ende nicht ausreichend: es sollte mehrere Entwicklungsschichten ausgearbeitet werden. Müller schrieb dieses Lied als Abschluss seiner ersten ‚Abteilung’Winterreise-Gedichte, aber es scheint nicht mehr als logisch, dass hiernach noch einige folgten. Es ist hier in der Musik wieder die Rede von einer Wanderbewegung, wie Gute Nacht hat dieses Lied eine 2/4-Taktangabe. Das Klaviervorspiel ist mit schlichten, im Staccato gebundenen Akkorden gestaltet, die das einsame Schleppen des Wanderers darstellen sollen. Die Bögen über den Staccato-Akkorden machen die Bewegung leicht, damit schwer von Einsamkeit zugleich. Der Akzent im dritten Takt auf dem zweiten Taktschlag leitet das Motiv des Inneren Klagens des Fahrenden ein. Dieses Motiv mit zwei Tönen in Achtel-Sechzehnte91 Vgl. Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre. München: Carl Hanser Verlag 2008: S. 193. 45 Sechzehnte, klingt erst in tiefer Mittellage und bewegt sich ab dem Akzent nach unten. Das zweite Mal wird der Akkord umgekehrt, so dass das Motiv (eigentlich einen Ton höher) um eine Oktave höher klingt, so wird die Klage intensiver. Die schlichte Wanderbewegung begleitet die erste Strophe der Gesangslinie, die der Bedeutung der Worte gemäß auf ‚Wolke‘ und ‚Wipfel’ mit hoch geht. In der ersten Strophe wird jeweils in der zweiten Zeile dieselbe Melodie gesungen. So zieh ich meine Straße ist dem Klagemotiv im Klaviervorspiel verwandt, dadurch, dass die Gesangsmelodie die Klage nach oben aus singt, was auch mit der Ausbildung der äußerlichen Umwelt und der isolierten Position des traurigen Wanderers zu tun hat. Es wird auf diesselbe Melodie durch helles, frohes Leben gesungen. Schubert komponiert das ganze Lied in H-Moll und moduliert hier das äußerliche Leben eben nicht nach Dur: er stellt den Verdruss des lyrischen Protagonisten in den Mittelpunkt. In der dritten Strophe wird das Klagemotiv im Klavier und Gesangslinie weiter in den forteMittelpunkt gerückt. In einer tremolierenden Wiederholung in der Basslinie des Klaviers wird der Gegensatz zu Ach, dass die Luft so ruhig gestaltet. Das Klavier antwortet auf die Gesangslinie mit einem Fortepiano, einer komprimierten Form des Klagemotivs, einer Art Seufzer-Figur. Ach, dass die Welt so licht wird auch tremoliert im Klavier begleitet. Dann übernimmt das Klavier die Triole-Bewegung für den Satz: Als noch die Stürme tobten, sei es in einer tiefen in Dynamik anschwellenden ‚Grübellage‘. Hier wird die Drei-Bewegung wieder für eine Naturerscheinung verwendet: den Sturm. Textlich ist in diesem Fall der Sturm nicht rein negativ, er ist die bevorzugte Realität, der echte Spiegel des Selbst. Das Wort tobten wird mit zwei Akkordschlägen des Klaviers begleitet, das danach gleich das Klagemotiv kontinuierlich weiter spielt auf War ich so elend, so elend nicht (Schubert wiederholt das Wort elend). Einen Ton tiefer wird der Satz Ach, daß die Luft so ruhig noch mal wiederholt, die Ruhe wird so musikalisch unterstrichen, dabei ist diese Tonhöhe spannender Beginn eines neuen Aufbaus der Wiederholung dieser dritten Strophe, als wenn die Strophe einfach lückenlos wiederholt würde. Ach, daß die Welt so licht ist dann einen Ton höher als der vorige Satz, was mit der Gestaltung der ‚lichten Welt’zusammenhängt. Die Strophe kontinuiert mit einer Wiederholung des Sturmsatzes und –bewegung. Mit dem Klagemotiv werden die letzten Ausrufe des Wanderers, in der Gesangslinie nun hoch gesungen, intensiviert. Als Schubert die 46 letzten Töne des Wanderers ausblenden lässt, endet das letzte Lied dieser Ersten Abteilung in diminuierendem, traurigen H-Moll mit der Anfangs-Wanderbewegung. 3 Fazit Wie Müller hat Schubert die Idee aufgegriffen, dass Winterreise noch nicht fertig war; er hätte ja die anderen Gedichte Müllers liegen lassen können. Sie sind im Liederzyklus als ‚Zweite Abteilung‘ bekannt. In dieser zweiten Abteilung, die hier nicht weiter ausführlich besprochen werden kann, wird kurz gesagt am Thema der Suizidgedanken vorbei, nach Isolation der Gesellschaft geführt. Auch hier ist der Protagonist kein Initiator, er lässt sich im Gedicht Das Wirtshaus vom Tode abweisen und von der doppelgängerischen Begegnung mit dem ‚Leiermann‘ überfallen. Die Abweisung vom Tod im Zyklus hängt mit der Tatsache zusammen, dass der Tod auch ein soziales Geschehen ist: das Friedhof im Gedicht Das Wirtshaus wird von Müller nicht umsonst als ‚Wirts- oder Gasthaus‘ metaphorisiert. Es ist der Leiermann, der außerhalb der Gesellschaft Lebende, der Isolierte, der Abgewiesene und Abweisende, der totale Einsame, der das letzte Wort hat. Er ist mit dem armen, heimatlosen Akkordionisten beim Bahnhof, bettelnd um Geld, zu vergleichen. So ist im Sinne der Stimmung thematisch Einsamkeit als Abschluss des ersten Teils mit dem letzten Gedicht aus dem zweiten Teil in Verbindung zu bringen. Weil aber im Zyklus das lyrische Ich keine endgültigen Entscheidungen trifft, sind diese Ausarbeitungen innerhalb der ‚Philosophie der Einsamkeit‘ eine Kreisform an Wahlmöglichkeiten, die dem Rezipienten angeboten werden. Es ist von daher nachweisbar, dass ‚ein Weg heraus‘ eben nicht die Absicht dieses Kunstwerks ist. Es stellt eher die innere ‚Verkraftung der Einsamkeit‘ in den Mittelpunkt, was sich auch mit dem großen Ich-Raum Müllers und der persönlichen musikalischen Sprache Schuberts verbinden lässt. Indem die textliche Sprache Müllers notwendigerweise verschlüsselt war und die Liebe als Idealtäuschung geschildert wird und nicht nur eine reine Liebesgeschichte oder ‚Love-Story‘ beinhaltet, kann diese Einsamkeit mehrere Gründe haben: sie ist auch im heutigen ‚Stimmungsbild‘ noch zu verstehen, dank dieser Verschlüsselung in einer sublimierten musikalischen und textlichen Form. Die Einheit in Zeit und Raum ist bei Müllers Texten sichtbar. Räumliche und zeitliche Elemente sind bei der musikalischen Interpretation Schuberts der Müllertexte ebenfalls als eine stimmige Einheit zu sehen. Die Ton- und Rhythmik-Qualitäten gehören zusammen und 47 führen zu der für Winterreise so typischen Atmosphäre. Eine erweiterte Untersuchung der übrigen 12 Lieder auf dieser Art und Weise, wäre wünschenswert, weil sich so die völlige musikalische und textliche Geschichte der Winterreise entfalten könnte. 48 LITERATURVERZEICHNIS Bielefeldt, Christian: Hans Werner Henze und Ingeborg Bachmann: Die gemeinsamen Werke. Beobachtungen zur Intermedialität von Musik und Dichtung. Bielefeld: Transcript Verlag 2003. Brinkmann, Reinhold: Schubert’s Political Landscape. In: A new history of German Literature. David E. Wellbery (Hrsg). Cambridge: Harvard University Press 2004. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Bd.3. Berlin: 1929. Deutsch, Otto Erich: Schubert. Die Erinnerungen seiner Freunde. Gesammelt und hg. von O.E. Deutsch. Leipzig 1957. Dittrich, Marie-Agnes: Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern. In: Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft. Constantin Floros (Hrsg.) Verlag der Musikalienhandlung Hamburg: Karl Dieter Wagner 1991. Feil, Arnold: Franz Schubert. Die schöne Müllerin. Winterreise. Mit einem Essay “Wilhelm Müller und die Romantik” von Rolf Vollmann. Mit 88 Notenbeispielen. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1975. Fischer-Dieskau, Dietrich: Auf den Spuren der Schubert-Lieder. Werden-Wesen-Wirkung. Mit 76 Abbildungen. Wiesbaden: F.A. Brockhaus 1971. Gumbrecht, Hans Ulbrich: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur. München: Carl Hanser Verlag 2011. Gürschig-Pfingsten, Ingeborg: Dur und Moll als musikalische Ausdrucksmittel. In: Musica 38 (1984). Hufschmidt, Wolfgang: Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn? Zur Semantik der musikalischen Sprache in Schuberts Winterreise und Eislers Hollywood-Liederbuch. Saarbrücken: PFAU-Verlag 1993. Moore, Gerald: Schuberts Liederzyklen. Gedanken zu ihrer Ausführung. Gemeinschaftliche Ausgabe. Kassel- Basel-Tours- London: Bärenreiter-Verlag. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1978. Motte-Haber, Helga, de la : Musik und bildende Kunst. Von der Tonmalerei zur Klangskulptur. Laaber: Laaber Verlag 1990. 49 Motte-Haber, Helga, de la: “Ich möchte am liebsten drieeckige Musik machen...”Aspekte musikalischer Raumwahrnehmung. Positionen. Beiträge zur neuen Musik. Musik und Raum. Nr. 8 1991. Müller, Wilhelm: Diary and Letters of Wilhelm Müller. Hrsg. von Ph. Sch. Allen; J.T. Hattfield. Chicago 1903. Müller, Wilhelm: Gedichte. Vollständige kritische Ausgabe. Mit Einleitung und Anmerkungen besorgt von James Taft Hatfield. Nebst Porträt und einer Facsimilebeilage. Berlin: B. Behr’s Verlag 1906. Nauck, Gisela: Musik im Raum- Raum in der Musik. Ein Beitrage zur Geschichte der seriellen Musik. Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft. Hg. v. Hans Heinrich Eggebrecht in Verbindung mit Reinhold Brinkmann, Ludwig Finscher, Kurt von Fischer, Wolfgang Osthoff und Albrecht Riethmüller. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1997. Mann, Thomas: Der Zauberberg. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurt 1981, Band 6. Ott, Michaela: Raum – ein heterogenisierender Relationsbegriff. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hrsg. von Karlheinz Barck. Stuttgart: Metzler Verlag 2000-2005. Band 6. Pop, Jacobus: Schubert als interpretator van gedichten. Schubert als Interpret von Gedichten (mit einer Zusammenfassung in deutscher Sprache). Proefschrift. Utrecht: Joachimsthal Publishers 1982. Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre. München: Carl Hanser Verlag 2008. Stoffels, Ludwig: Die Winterreise I. Bd.1: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung. Bonn: Verlag für systematische Musikwissenschaft 1987. Stukenschmidt, Hans Heinz: Schönberg – Leben, Umwelt, Werk. Zürich und Freiburg 1974. Wellbery, David E.: Stimmung. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hrsg. von Karlheinz Barck. Stuttgart: Metzler Verlag 2000-2005. Band 5. 50 Partitur Schubert, Franz: Die Winterreise. Faksimile-Wiedergabe nach der Originalhandschrift Franz Schubert. Kassel: Bärenreiter 1966. Schubert, Franz: Schubertalbum. Gesänge für eine Singstimme mit Klavierbegleitung. Nach dem ersten Druck revidiert von Max Friedlaender. Band I. Ausgabe für mittlere Stimme. Leipzig: Edition Peters 1928. 51