S 44 © 2008 Schattauer GmbH Ambulante Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung und psychischen Auffälligkeiten Der Mobile Dienst des Heckscher-Klinikums E. Wriedt, M. Noterdaeme Heckscher Klinikum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Spezialambulanz für Entwicklungsstörungen, München (Direktor: Dr. F. J. Freisleder) Schlüsselwörter Keywords Geistige Behinderung, Kinder und Jugendliche, psychiatrische Störung, ambulante Behandlung Mental retardation, child and adolescent, psychiatric illness, consultant service Zusammenfassung Summary Der aufsuchende kinder- und jugendpsychiatrische Dienst ist ein diagnostisches, therapeutisches und beratendes Angebot an Schulen und Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Behinderung. Das Ziel ist, eine schnelle Intervention vor Ort zu gewährleisten. Die Ergebnisse zeigen, dass der Bedarf an kinder- und jugendpsychiatrischer Intervention groß ist. Es werden vor allem Kinder und Jugendliche mit externalisierenden Verhaltensweisen sowie autistischen Störungen vorgestellt. The consultant child and adolescent psychiatric service offers diagnostic, therapy and advisory services in schools and institutions for children with mental retardation. The goal is to provide a rapid intervention in the daily environment of the patient. The results show that the need for this type of service is quite important. Children with externalising problems and autistic behaviours are the main group presented for consultation. Consultant child and adolescent psychiatric service for children with mental retardation and psychiatric problems Nervenheilkunde 2008; 27 (Suppl 1): S44–S45 Einleitung Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung weisen ein erhöhtes Risiko für psychiatrische Erkrankungen auf (4). Bedürfen sie einer ambulanten oder stationären psychiatrischen Behandlung, bedeutet dies in der Regel für alle Beteiligten eine besondere Anforderung. Die Betroffenen, insbesondere mit mittelgradiger und schwerer geistiger Behinderung oder einer zusätzlichen autistischen Störung können sich in einer fremden Umgebung nur schwer orientieren, sodass eine Untersuchung in einer medizinischen Einrichtung beängstigend ist und damit eine große Belastung für sie bedeutet (1). Unter diesen Umständen können psychische Probleme und Verhaltensauffäl- ligkeiten, die zur Vorstellung führen, nicht oder nur unzureichend beurteilt werden und die psychiatrische Behandlung wird häufig zu spät veranlasst. Psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten, die nicht rechtzeitig erkannt oder behandelt werden, gefährden die soziale Integration der Kinder und Jugendlichen und können dazu führen, dass eine vollstationäre Unterbringung eingeleitet werden muss (3). Um angesichts dieser Problematik eine rechtzeitige und ausreichende psychiatrische Versorgung geistig behinderter Kinder und Jugendlicher zu gewährleisten, bietet das Heckscher-Klinikum seit 2005 eine aufsuchende, ambulante Behandlung in den Einrichtungen an. Aufbau des aufsuchenden ambulanten Dienstes Der „Mobile kinder- und jugendpsychiatrische Dienst“ wurde im Mai 2005 gestartet und betreut mittlerweile 17 Einrichtungen in ganz Oberbayern. Das Angebot wird hauptsächlich von Schulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung sowie von heilpädagogischen Tagesstätten und Heimen für geistig und mehrfach behinderte Kinder und Jugendliche im Alter von drei bis 21 Jahren in Anspruch genommen. Im Mobilen Dienst sind zwei ärztliche Kolleginnen und eine Sozialpädagogin tätig. Ergebnisse Patienten: Im Durchschnitt werden pro Quartal ca. 120 bis 140 Mädchen und Jungen (Erstvorstellungen und langfristige Behandlungen) betreut. Der Anteil der psychiatrisch auffälligen Kinder und Jugendlichen liegt in den Einrichtungen bei 10%. Die Daten von insgesamt 221 Kindern und Jugendlichen wurden für die anschließende Darstellung ausgewertet. Das Verhältnis von Mädchen zu Jungen beträgt in etwa 1:2 (30% Mädchen, 70% Jungen). Vorstellungsgründe: Gruppe 1: externalisierende Verhaltensauffälligkeiten (wie z. B. Hyperaktivität, Störungen des Sozialverhaltens, massive Stereotypien). Diese Symptome fanden sich bei 67% der untersuchten Stichprobe. Gruppe 2: Fremd- oder autoaggressive Verhaltensauffälligkeiten. Von den erfassten Kindern und Jugendlichen wurden 55% wegen fremd-, wenige wegen autoaggressivem Verhalten vorgestellt. Gruppe 3: internalisierende Symp- Nervenheilkunde 11a/2008 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. S 45 Wriedt, Noterdaeme: Ambulante Behandlung tome, wie Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, Ängste, depressive Verstimmungen. Hiervon waren 51% Kinder und Jugendliche betroffen. Gruppe 4: Kontaktstörungen, Kommunikations- und Interaktionsstörungen lagen bei 12% der Patienten vor. In dieser Gruppe befanden sich Kinder und Jugendliche mit bisher unbestätigtem Verdacht auf frühkindlichen oder atypischen Autismus. Gruppe 5: sonstige Symptome, wie sexuelle Entwicklungsstörungen, schwere Ess- und Schlafstörungen, Zwänge und Schreiattacken. Diese Symptome fanden sich bei insgesamt 30% der vorgestellten Patienten. Psychiatrische Diagnosen: Die Diagnosen der untersuchten geistig behinderten Kinder und Jugendlichen wurden nach den Kriterien der ICD-10 (2) gestellt. Bei insgesamt 27% der Kinder und Jugendlichen fanden sich Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen (F43). 12% erhielten die Diagnose einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung oder einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (F90). Störungen des Sozialverhaltens (F91/F92) und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit (F93) lagen bei jeweils 7% der Patienten vor. Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84) wurden in 35% der Fälle diagnostiziert. Bei 7% der untersuchten Kinder wurden sonstige Störungsbilder, wie hirnorganische Störungen (F06/F07), Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis (F20), depressive Störungen (F32/F33), Zwangsstörungen (F42) oder Störungen sozialer Funktionen (F94) festgestellt. Grad der geistigen Behinderung: Bei den meisten Kindern und Jugendlichen lag das Intelligenzniveau im Bereich der leichten (IQ 50 bis 69) (22%) oder mittelgradigen (IQ 35 bis 49) (40%) geistigen Behinderung. 17% der untersuchten Kinder wurden als schwer geistig behindert (IQ 20 bis 34) eingeschätzt. Bei weiteren 4% lag eine schwerste Intelligenzminderung (IQ < 20) vor und bei 9% konnte das Intelligenzniveau nicht bestimmt werden. Einige der untersuchten Kinder (6%) waren lernbehindert. Körperliche Symptomatik: Fast alle Patienten wiesen deutliche fein- und grobmotorische Auffälligkeiten auf. Von den untersuchten Kindern waren 16% zusätzlich hörsehbehindert, 8% waren schwerst mehrfach behindert. Ein pathologisches EEG oder eine Epilepsie fand sich bei 30% der Kinder. Bei 7% war bereits bei früheren Untersuchungen ein genetisches Syndrom diagnostiziert worden (z. B. Down-Syndrom, Fragiles-X-Syndrom, Klinefelter-Syndrom, Tetra-X-Syndrom) und weitere 5% der Kinder litten an angeborenen Fehlbildungen oder Syndromen, die nicht klar genetisch zugeordnet werden konnten. 20% der untersuchten Mädchen und Jungen waren ehemalige Frühgeborene (22. bis 36. SSW) und zumTeil durch die Folgen und Komplikationen der Frühgeburtlichkeit schwer beeinträchtigt. Behandlung: Zentrale Themen in der Beratung der Eltern und der Bezugspersonen (Lehrer, Erzieher, Therapeuten) in den Einrichtungen sind der Umgang mit externalisierenden Verhaltensweisen, insbesondere mit Aggressionen und Autoaggressionen. Bei 18% der bisher behandelten jungen Patienten wurde eine medikamentöse Therapie eingeleitet oder eine bereits begonnene Therapie modifiziert und fortgeführt. Die meist verordneten Psychopharmaka waren atypische Neuroleptika und Stimulanzien. Bei 7,6% der Patienten war eine stationäre kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung unbedingt notwendig. Diskussion Der vorliegende Artikel gibt einen Überblick über die Erfahrungen, die im Rahmen der aufsuchenden ambulanten kinder- und jugendpsychiatrischen Betreuung gesammelt wurden. Anhand der vorliegenden Zahlen lässt sich der große Bedarf nach psychiatrischer Versorgung in den Einrichtungen für geistig behinderte, mehrfach behinderte und autistische Kinder und Jugendliche belegen. Durchschnittlich 10% der in Förderschulen, Tagesstätten und Wohnheimen betreuten jungen Menschen werden durch den Mobilen Dienst wegen schwerer Verhaltensauffälligkeiten oder psychischer Störungen behandelt. Der Schwerpunkt der gestellten Diagnosen liegt bei den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen sowie Anpassungsstörungen, hyperkinetischen Störungen und Störungen des Sozialverhaltens. Zudem handelt es sich um Kinder und Jugendliche mit einer Vielfalt an zusätzlichen Beeinträchtigungen. Für die Zukunft ist eine Verbesserung der ambulanten therapeutischen Angebote und regionalen stationären Behandlungsmöglichkeiten für geistig behinderte Kinder und Jugendliche dringend notwendig. Deutlich wird darüber hinaus auch ein enormer Bedarf an Weiterbildung und Aufklärung in Bezug auf psychiatrische Störungsbilder und medikamentöse Therapien in den Einrichtungen. Literatur bei den Verfassern. Es bestehen keine Interessenkonflikte. Korrespondenzadresse: Dr. med. Elke Wriedt Heckscher Klinikum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie Deisenhofenerstrasse 28, 81539 München Nervenheilkunde 11a/2008 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved.