Psychiatrie Vor 21 Sozioökonomie, Soziotherapie und psychiatrische Rehabilitation Definition: Die Soziotherapie stellt neben der Pharmakotherapie und der Psychotherapie die dritte Säule psychiatrischer Therapie dar. Sie umfasst sehr unterschiedliche Therapieverfahren. Unter dem Begriff „Soziotherapie" wird jede Behandlungsform verstanden, die sich in erster Linie um die soziale Umgebung eines Menschen mit einer psychischen Störung bemüht. Soziotherapeutische Maßnahmen sollen sozialen Behinderungen vorbeugen bzw. diese beseitigen. Mit psychiatrischer Rehabilitation werden alle Leistungen und Maßnahmen bezeichnet, die dem Ziel einer Wiedereingliederung von Patienten, die durch psychische Krankheiten behindert und von Behinderung bedroht sind, in die Gesellschaft dienen. Darunter fallen vor allem Maßnahmen zur Rehabilitation in Arbeit und Beruf. Eine psychische Erkrankung stellt immer auch ein soziales Problem dar. Neben psychopharmakologischen und psychotherapeutischen Therapiemaßnahmen sind soziotherapeutische Verfahren ein unverzichtbarer Bestandteil psychiatrischer Therapie. Soziotherapeutische Ansätze sind wesentlicher Bestandteil einer geschlossenen Behandlungskette, die verschiedene psychiatrische Institutionen und allgemeine Maßnahmen umfasst (Abb. 6.30). Die Funktion der psychiatrischen Krankenhäuser hat sich von Pflegeanstalten zu Akut-Behandlungseinrichtungen gewandelt. An Bedeutung gewonnen haben die Einrichtungen der gemeindenahen Psychiatrie (Betreuung psychisch Kranker in Wohnortnähe und unter Beibehaltung der sozialen Bezüge. Historisches: Die Wurzeln der heutigen Vorstellungen reichen bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts zurück. Damals wurden als Ergänzung zu den stadtfernen Großanstalten sogenannte „Stadt-Asyle" vorgeschlagen. Die erste Tagesklinik in Deutschland konnte 1962 eröffnet werden. In der Mitte der 70er Jahre kam es zu einer zunehmenden politischen Diskussion über die Umstrukturierung der psychiatrischen Versorgungssituation. Seit 1990 wurde die gemeindenahe Psychiatrie verstärkt. Darüber hinaus hat der patientenzentrierte Therapieansatz eine größere Bedeutung erlangt. Sozioökonomische Bedeutung psychischer Erkrankungen Psychische Erkrankungen gehören zu den häufigsten und folgenreichsten Erkrankungen überhaupt. Zu unterscheiden sind direkte und indirekte Krankheitskosten. Die indirekten Kosten sind etwa doppelt so hoch wie die direkten Krankheitskosten. Etwa 11 % aller direkten Krankheitskosten in Deutschland müssen für die Behandlung psychischer Störungen aufgebracht werden. Die höchsten Kosten entstehen für die Behandlung von Patienten mit schizophrenen Psychosen. Bei der Arbeitsunfähigkeit aus psychischen Gründen stehen affektive und Angststörungen im Vordergrund, gefolgt von psychotischen Störungen und Abhängigkeitserkrankungen. Die durchschnittliche Verweildauer in Krankenäuser liegt heute bei etwa 24 Tagen. Bei den Frühberentungen vor dem 40. Lebensjahr findet sich bei etwa 29% eine psychiatrische Diagnose. Bezogen auf die Lebensjahre, die durch eine psychische Störung beeinträchtigt sind, finden sich unter den weltweit 10 häufigsten Krankheitsbildern sechs psychiatrische Störungen (Rang 1: depressive Erkrankungen). Behinderung durch psychiatrische Erkrankungen Das wesentliche Ziel soziotherapeutischer Maßnahmen besteht darin, soziale Behinderung zu vermeiden. Man unterscheidet verschiedene Formen der Behinderung: Bei der sozialen Behinderung besteht ein niedrigeres Niveau sozialer Interaktionen, als es vom jeweiligen Individuum überlicherweise erwartet werden kann. Der Maßstab besteht dabei in der normgebenden Gruppe. Das erniedrigte Niveau ist nicht Folge einer freien Wahl des Individuums. Unter einer primären Behinderung werden direkte krankheitsbedingte Einschränkungen verstanden. Bei Patienten mit schizophrenen Psychosen ist das z.B. die Störung des Realitätsbezuges durch Wahn oder Halluzinationen, oder die Störung des kommunikativen Verhaltens durch Denkstörungen. Sekundäre Behinderungen sind individuelle und soziale Reaktionen auf Umstände des Krankseins. Gravierendstes Beispiel sekundärer Behinderung ist der Hospitalismus langfristig stationär behandelter schizophrener Patienten. Allgemeine Grundsätze soziotherapeutischer Maßnahmen Sämtliche eingesetzten soziotherapeutischen Maßnahmen müssen aufeinander abgestimmt sein und in einer sinnvollen zeitlichen und inhaltlichen Abfolge stehen. Im Idealfall entsteht somit eine Behandlungskette (Abb. 6.31). Strukturierende, ausgleichende, anregende oder betreuende Aspekte können im Vordergrund stehen. Durch ein „Prinzip der kleinen Schritte„ lässt sich eine mögliche Überstimulation vermeiden. Maßstab für die eingesetzten Maßnahmen sind die Erfordernisse des Einzelfalles. Institutionen psychiatrischer Versorgung Vollstationäre Versorgung Das Angebot im stationären Versorgungsbereich hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt. An wohnortnahen Allgemeinkrankenhäusern wurde eine Vielzahl von psychiatrischen Abteilungen eingerichtet. Diese umfassen etwa 40% der Betten in denen etwa die Hälfte der Patienten behandelt wird (Abb. 6.32). Lange Zeit gab es verschiedene Spezialkliniken für verschiedene Erkrankungen. In den letzten Jahren wurden zunehmend Kliniken eingerichtet, die das gesamte Spektrum psychiatrischer Erkrankungen für einen bestimmten Bereich abdecken. Pro 10 000 Einwohner werden etwa 7 Betten in psychiatrischen Kliniken für erforderlich gehalten. Schon während der vollstationären Behandlung sind soziotherapeutische Maßnahmen wichtig. Ein wesentliches Mittel ist die Tagesstrukturierung (Abb. 6.33). Teilstationärer Bereich Bei der Tagesklinik handelt es sich um eine halbstationäre Therapieform, der sich psychisch kranke Patienten an meist 5 Wochentagen nur für eine begrenzte Zeit des Tages unterziehen. Grundsätzlich können Patienten mit allen psychiatrischen Erkrankungen versorgt werden. Die Aufenthaltsdauer beträgt 2-3 Monate. Durch die Kombination von erhaltenem sozialen Umfeld und intensiven therapeutischen Prozessen wird ein eigenständiges Therapieangebot aufgebaut. Im Bereich der nachstationären Behandlung werden v. a. Patienten mit psychotischen Erkrankungen und einem hohen Rückfallrisiko versorgt. Die Nachtklinik ist eine halbstationäre Einrichtung, in der die Patienten nur nachts wohnen. Ambulanter Versorgungsbereich Niedergelassene Fachärzte leisten einen großen Teil der ambulanten Versorgung. In vielen Fällen werden Patienten mit neurologischer Grunderkrankung durch den gleichen Arzt wie psychiatrische Patienten behandelt (Nervenärzte). In der letzten Zeit gibt es zunehmend mehr Ärzte für Psychiatrie bzw. für Psychiatrie und Psychotherapie (Tab. 6.31). Seit 1999 nehmen auch psychologische Psychotherapeuten direkt an der Versorgung teil. Institutsambulanzen spielen in der Versorgung schwer erkrankter Patienten eine zunehmend größere Rolle. Durch sozialpsychiatrische Dienste wird ambulante Beratung, Vorsorge und Nachsorge geleistet. Einrichtungen mit Kontaktstellenfunktion können jederzeit ohne besondere Anmeldung aufgesucht werden („niedrige Zugangsschwelle"). (zB. Begegnungsstätten, sozial- und gemeindepsychiatrische Zentren, Patientenclubs und ähnliche In Tagesstätten werden psychisch Kranke behandelt, die nicht vollstationär behandelt werden müssen. Spezielle soziotherapeutische Maßnahmen Grundlage der meisten soziotherapeutischen Maßnahmen ist die Milieugestaltung. Damit ist die Schaffung einer Umgebung gemeint, die sich möglichst geringfügig von Gegebenheiten außerhalb der Klinik unterscheiden soll. Wichtige Aspekte sind: die Lage der Einrichtung, die Schaffung einer wohnlichen Atmosphäre, gemeinsame Stationen für Männer und Frauen, Möglichkeiten der Selbstgestaltung des Umfeldes. In der therapeutischen Gemeinschaft soll durch die Zusammenarbeit von Patienten, Pflegepersonal und Ärzten dem Kranken die eher passive Rolle genommen und eine aktive Partnerschaftsrolle zugewiesen werden. Wichtige Ziele sind: Schaffung eines tragfähigen Kontaktes,Erkennen gesunder Anteile, Anstoßen von Selbsthilfevorgängen. Ergotherapie Die Beschäftigungstherapie wird als Basisprogramm im stationären, teilstationären und ambulanten Bereich eingesetzt Die Beschäftigungstherapie soll « kognitive Fähigkeiten üben, die Kommunikationsfähigkeit verbessern, den Antrieb fördern, das Selbstvertrauen stärken sowie, Ausdauer und Durchhaltevermögen trainieren. Die Beschäftigungstherapie stellt auch einen wichtigen Bestandteil bei der Erhaltung einer eigenständigen Lebens- und Haushaltsführung dar. Arbeitstherapie bereitet auf das selbstständige berufliche Leben vor, aber auch auf die Werkstatt für Behinderte oder spezielle berufsfördernde Maßnahmen. Die Therapieziele bestehen in einer Förderung von Ausdauer Durchhaltevermögen, Sorgfalt, Pünktlichkeit, Umstellungsfähigkeit. Arbeitstraining und Belastungserprobung dienen der Überprüfung der Arbeitsfähigkeit. Beratung und Betreuung durch den Sozialdienst Wichtigste Aufgabe ist die frühzeitige Erfassung und Analyse der sozialen Situation des Patienten. Angehörigenarbeit Dazu gehört das ärztliche Gespräch mit den Angehörigen, andererseits gibt es professionell geleitete Angehörigengruppen und Einrichtungen zur Angehörigenselbsthilfe Künstlerische und kreative Angebote Therapieangebote des künstlerischkreativen Bereichs sind: Tanzund Bewegungstherapie, Musik-, Mal-, Theatertherapie. Durch diese Maßnahmen kann das Selbstvertrauen gesteigert, die Isolation abgebaut und dem Patienten ein Gefühl für erhaltene und gesunde Anteile seiner Persönlichkeit vermittelt werden. Soziotherapeutische Angebote im Bereich des Wohnens Hilfen im Wohnbereich sind: betreute Einzelwohnungen, Wohngruppen, Wohngemeinschaften, Übergangswohnheime, Wohnheime, Familienpflege. Tagesstrukturierende Maßnahmen sollen in diesen Einrichtungen Grundlage der Therapie sein. Rehabilitative Angebote für den beruflichen Bereich Rehabilitative Maßnahmen sollten nicht erst bei einer bereits eingetretenen, sondern bereits bei einer „drohenden Behinderung" eingesetzt werden. In vielen Fällen bietet sich im Anschluss an eine voll-oder teilstationäre psychiatrische Behandlung eine stufenweise Wiederaufnahme der Arbeit an. Wenn andersartige berufliche Rehabilitationsversuche nicht mehr möglich sind, kommt die beschützende Werkstatt für psychisch Behinderte in Frage. Bei beruflicher Rehabilitation muss erwartet werden, dass nach Abschluss eine Beschäftigung zu finden ist. Kostenträger soziotherapeutischer Maßnahmen Am wichtigsten sind: gesetzliche und private Krankenversicherungen, Träger der Rentenversicherung, Träger der Unfallversicherung, Versorgungsämter, Fürsorgestellen, Träger der Sozialhilfe, Bundesagentur für Arbeit. Jeder Träger muss Leistungen im Rahmen seiner Zuständigkeit vollständig und umfassend erbringen.