Moderne Psychiatrie - Max-Planck

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Moderne Psychiatrie
VON DEN GENEN ZUR THERAPIE
V
iele Millionen Menschen leiden
unter psychiatrischen Störungen wie Schizophrenie. Ob es
jemanden trifft, hängt auch von
seinem Erbgut ab – genauer gesagt davon, in welcher speziellen Variante
bestimmte Gene vorliegen. Daher versuchen Genetiker, die biologischen Ursachen
solcher Störungen aufzudecken. Hierzu verfolgen sie vor allem zwei Ansätze1: Zum einen erfassen sie in genomweiten Assoziationsstudien das Erbgut von sehr vielen Menschen mit einer bestimmten psychiatrischen
Erkrankung und vergleichen es mit jenem
von Gesunden (Bild 1). Auf diese Weise
identifizierten sie bereits eine Reihe von
»Kandidatengenen« – relativ verbreitete Varianten von Erbfaktoren, die jeweils geringfügig zu einer Störung beitragen könnten.
FORTSCHRITTE IN DER GENETIK
Zum anderen suchen Wissenschaftler bei
kleinen Gruppen verwandter Patienten
nach seltenen genetischen Varianten, die
das Erkrankungsrisiko entscheidend oder
sogar allein prägen. Autismusforscher deckten so bereits Gene auf, die steuern, wie
Neurone sich untereinander verknüpfen2,3.
Bei Problemen wie Angst- oder Stimmungsstörungen, die stark von Umwelteinflüssen
abhängen, führen diese Vorgehensweisen
allerdings nicht weit. Zudem ist das Identifizieren einer Genvariante meist nur der
erste Schritt. Dann müssen Forscher etwa
untersuchen, inwiefern das Gen in ein Protein umgesetzt wird, wie dieses mit anderen Proteinen zusammenwirkt und welche
Rolle der Stoffwechsel sowie verschiedene
(Neuro-)Hormone dabei spielen.
Psychiatrische Krankheiten sind komplexe Phänomene. So weisen Patienten
mit derselben Störung oft unterschiedliche
Symptome auf – sogar eineiige Zwillinge.
Andererseits können identischen klinischen Anzeichen unter Umständen verschiedene Krankheiten zu Grunde liegen.
Um psychiatrische Störungen in Zukunft
zuverlässiger zu diagnostizieren, wollen
Ärzte auf so genannte Biomarker zurückgreifen – beispielsweise die Konzentration
bestimmter Stoffe im Blut.
Neue Biomarker für psychiatrische
Krankheiten werden zunehmend an Bedeutung gewinnen, nicht nur für die Diagnose sowie die Auswahl der richtigen Therapie, sondern auch, um Beginn und Verlauf
der Störung, etwaige Verbesserungen sowie
Rückfälle präziser zu erfassen. Bislang sind
jedoch meist hochkomplexe Technologien
nötig, um molekulare Unterschiede zwischen Kranken und Gesunden zu bestimmen. Bei großen Patientengruppen lassen
sie sich nur schwer anwenden. Abhilfe
kann hier nur der technische Fortschritt auf
mehreren Fachgebieten schaffen.
So dürften schnellere und präzisere
Methoden zur DNA-Sequenzierung die
Analyse kompletter Genome erschwinglicher machen. Aber auch die Umsetzung
der genetischen Bauanleitungen in Proteine müssen Forscher näher betrachten, da
sich die Proteinzusammensetzung von
Kranken gegenüber Gesunden unterscheiden kann. Letzteres ist bislang schwierig,
denn die derzeit gängigen Verfahren arbeiten nicht empfindlich und präzise genug.
Die potenziellen Protein-Biomarker für
psychiatrische Krankheiten umfassend unter die Lupe zu nehmen, ist eine Aufgabe
von enormen Dimensionen. In Zukunft
dürften jedoch weiterentwickelte Methoden zur Entdeckung und Analyse solcher
Biomarker sowie verbesserte Massenspektrometrie-Techniken viele Hindernisse überwinden helfen. Eine große Rolle spielt auch
der Stoffwechsel (Metabolismus) des Körpers, da sich in ihm widerspiegelt, wie die
S
chlüsselexperimente zur Frage nach den epigenetischen Signalen von Umweltfaktoren wurden am Max-Planck-Institut für
Psychiatrie durchgeführt. Dabei wurden Mäuse postnatalem
Trauma ausgesetzt. Dies hatte andauernde, depressionsähnliche
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Forschungsperspektiven der Max-Planck-Gesellschaft | 2010+
Gene mit der Umwelt zusammenwirken.
Das »metabolische Profil« eines Patienten –
eine hochkomplexe Mischung von Molekülen – kann auf mögliche körperliche Störungen hinweisen oder die Wirkung eines
Medikaments aufzeigen. Außerdem helfen
neuroendokrinologische Informationen
wie die Konzentration von Stresshormonen bei depressiven Patienten, den Verlauf
von Erkrankungen abzuschätzen.
Bei der Suche nach Biomarkern setzen
Forscher auch moderne bildgebende Verfahren ein. Mittels Magnetresonanztomografie
etwa lässt sich anhand der Änderungen der
Struktur bestimmter Hirnareale vorhersagen, wie ein Patient auf eine Therapie ansprechen wird. Hirnstrommessungen (EEG)
bei schlafenden Patienten lieferten bereits
Hinweise auf Bioindikatoren, etwa verkürzte Tiefschlafphasen bei Depressiven. Doch
erst wenn solche Verfahren einer größeren
Anzahl Patienten zur Verfügung stehen,
kann ihr Potenzial ausgeschöpft werden.
Dies erfordert beträchtliche Investitionen in
Geräte und qualifiziertes Personal.
Eine weitere wichtige Stoßrichtung auf
der Suche nach Biomarkern besteht darin,
Signalwege innerhalb von Zellen aufzudecken, die als Angriffsziel für Medikamente
dienen können. Danach müssen Forscher
umfangreiche Bibliotheken kleiner Moleküle auf mögliche Wirkstoffe hin durchforsten. Sie benötigen dafür Methoden, mit
deren Hilfe sie eine große Zahl von Substanzen in kurzer Zeit analysieren können.
In den letzten Jahren wurde eine Reihe
von Genen identifiziert, die vermutlich an
psychiatrischen Krankheiten beteiligt sind.
Jetzt gilt es herauszufinden, was eine bestimmte Genvariante beziehungsweise das
entsprechende Protein im Gehirn bewirkt.
Dazu müssen aber erst die Mechanismen
bekannt sein, über welche die Umwelt und
andere nichtgenetische Faktoren die Um-
Verhaltensänderungen zur Folge, deren Ursache in der veränderten
DNA-Methylierung und einem Anstieg der Vasopressin-Gen-Aktivität
liegt – einem bekannten Faktor für die Entstehung einer Depression
(Murgatroyd, C. et al., Nature Neurosci. 12, 1559 –1566, 2009).
BIOLOGIE UND MEDIZIN
Menschen mit bestimmten Genvarianten sind anfälliger für psychiatrische
Störungen.
Dank methodischer Fortschritte werden Ärzte psychiatrische Patienten in
Zukunft individueller behandeln können als bislang.
Zudem werden sich einzelne Störungen anhand von Biomarkern prognostizieren lassen, bevor klinische Symptome auftreten. Das erlaubt eine
frühere und gezieltere Therapie.
Bild 1 | Im Rahmen genomweiter Assoziationsstudien (GWAS)
vergleichen Forscher die DNA tausender Patienten mit denen
gleich großer Kontrollgruppen. Dabei suchen sie in beiden nach
Unterschieden, so genannten Einzelnukleotid-Polymorphismen.
Bild ganz oben: Science Photo Library / Alfred Pasieka; Kinder: Getty Images / Tosca Radigonda; Zwillinge unten: Look at Sciences / Mona Lisa / Thierry Berrod
setzung von Genen in Proteine beeinflussen und wie diese unter veränderten Bedingungen variieren4. Besonders wichtig ist
dabei die Frage, wie frühkindliche Erfahrungen die Anfälligkeit für psychische Störungen verändern. Um das zu erforschen,
stellen Forscher in Tierversuchen widrige
Einflüsse während verschiedener Lebensphasen nach. Solche Experimente zeigten
etwa, dass neugeborene Mäuse, die von
ihrer Mutter getrennt werden, ihr Leben
lang unter Verhaltensauffälligkeiten leiden, die an Depressionen beim Menschen
erinnern5.
GENE, UMWELT UND VERHALTEN
Genetische Untersuchungen führten bereits zu wichtigen Tiermodellen für bestimmte erbliche Formen psychiatrischer
Krankheiten. Mäuse mit entsprechenden
Veränderungen in ihrem Erbgut geben
wertvolle Einblicke in Verhaltensstörungen, da ihre Symptome jenen menschlicher Patienten sehr ähneln6. Solche genetischen Mausmodelle für psychiatrische
Störungen werden an Bedeutung gewinnen, da sie es erlauben, die jeweiligen Einflüsse des Erbguts und der Umwelt bei verschiedenen Krankheiten zu unterscheiden.
In Zukunft müssen solche Modelle komplexere Genvarianten einbeziehen und zusammen mit Faktoren wie Stress, Infektionen oder psychischen Traumata untersucht
werden. Allerdings lassen sich viele Verhaltensweisen, die für psychiatrische Störungen charakteristisch sind, mit Mäusen allein nicht nachbilden.
Mit Hilfe neuartiger Diagnosestrategien der psychiatrischen Genomik werden
Mediziner in Zukunft hoffentlich psychiatrische Erkrankungen entdecken, bevor
klinische Symptome auftreten, und deren
Verlauf besser verfolgen können. Zudem
dürften auf Basis solcher Erkenntnisse besser abgesicherte, im Idealfall individuell
angepasste Therapien entstehen7. Da psychiatrische Störungen häufig sind, dürfte
dies spürbare gesellschaftliche Auswirkungen haben.
➟ Bibliographie siehe Seiten 38 und 39
Patienten
Kontrollgruppe
Patienten-DNA
DNA der Kontrollgruppe
Unterschiede weisen
auf krankheitsspezifische Einzelnukleotid-Polymorphismen (SNP) hin.
krankheitsspezifische SNPs
nicht krankheitsspezifische SNPs
links
Forscher wollen insbesondere wissen, inwieweit Umwelt und soziales Umfeld von
Kindern deren Anfälligkeit für Krankheiten
bestimmen.
unten
Viele psychiatrische Studien basierten bisher
auf der Erforschung von Zwillingen. Ziel war
die Unterscheidung zwischen genetischen
und umgebungsbedingten Komponenten.
2010+ | Forschungsperspektiven der Max-Planck-Gesellschaft
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