SZ-Archiv: SZ vom 6.August 2013 Seite 2 München (GSID=1797795)

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THEMA DES TAGES
HBG
Dienstag, 6. August 2013, Nr. 180 DEFGH
Wahlplakate, wer braucht die noch? Mit gewaltigem Aufwand an Geld und Personal überziehen die Parteien mal wieder das Land
mit ihren bunten Plakaten für den Stimmenfang bei der Bundestagswahl. Allein: Ist das Plakat am Laternenpfahl nicht ein Anachronismus
im Online-Zeitalter? Umfragen zeigen, dass die Wähler eher genervt sind – mit gutem Grund, wie ein Blick auf manche Motive zeigt
Die Botschaft
hör’ ich wohl
Anders als viele Wähler glauben die Parteien immer noch,
dass sie ohne traditionelle Wahlwerbung nicht auskommen
VON JAN HEIDTMANN,
ROBERT ROSSMANN
UND RONEN STEINKE
H
ermann Gröhe ist kein Mensch von
Traurigkeit. In diesen Tagen
scheint der Wahlkampf-Chef der
CDU aber noch frohgemuter zu sein als
sonst. Seine Union liegt in den Umfragen
stabil bei 40 Prozent, vor allem dank der
Kanzlerin. Angela Merkel ist beliebt wie
kaum ein anderer Regierungschef in Europa. Für die CDU läuft der Wahlkampf bisher ziemlich gut, obwohl sie noch gar nicht
richtig zu kämpfen begonnen hat. Nun
kommt aber auch die Union nicht ganz an
der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner vorbei. Und so hat der CDUGeneralsekretär am Montag ins AdenauerHaus geladen, um die Plakate vorzustellen, mit denen die Union in den nächsten
Wochen reüssieren will.
Seit einem halben Jahrhundert gibt es
Fernsehen, auch das Internet hat schon ein
paar Jahre auf dem Buckel. Aber die Parteien setzen immer noch auf Abertausende
Plakate. Ist das noch zeitgemäß? Zumindest Gröhe lässt da keine Zweifel zu. Die
Plakate seien eine Ansage an die eigenen
Leute, findet er: „Alle Mann an Deck, die
Wahl rückt näher, jetzt gilt es.“ Außerdem
könne man damit ziemlich gut „Kernbotschaften“ an die Bürger vermitteln. Plakate seien deshalb zwar einer der ältesten
Bausteine von Kampagnen, aber noch immer ziemlich wichtig.
8700 Wesselmänner will die CDU deshalb aufstellen lassen. „Wesselmänner“,
das sind die Großplakate, die man an Ausfallstraßen und Plätzen sieht. Ihren Namen haben sie von einer Bochumer Werbeagentur. 2,90 mal 3,70 Meter sind die Ständer groß, die Botschaften sind also kaum
zu übersehen. Und so werden die Deutschen in den kommenden Wochen vier Slogans der CDU nicht entkommen: „Gute Arbeit und neue Ideen, so bleibt Deutschland
stark“, „Solide Finanzen sind wichtig, weil
wir an morgen denken“, „Wachstum
braucht Weitblick und einen stabilen Euro“ sowie „Jede Familie ist anders, und uns
besonders wichtig“. Zusätzlich soll es
300 000 kleinere Plakate mit noch allgemeineren Kurzbotschaften geben.
Garniert werden die Bilder
mit persönlichen
Botschaften der Kanzlerin
Die CDU-Slogans könnten fast alle Parteien unterschreiben. Kein Wunder also,
dass Gröhe gefragt wird, welches der Plakate die SPD denn nicht übernehmen könnte.
Ach, Wahlplakate seien halt nun mal „keine Wandzeitungen, sondern Kurzbotschaften, die einladen, sich mit unserem Programm zu beschäftigen“, sagt Gröhe. Die
CDU will die Bürger erst anwärmen. Ende
August soll es neue Motive geben, kurz vor
der Wahl dann auch noch eine dritte Runde. Dann will die Union auch stärker personalisieren. Auf den vier aktuellen Großplakaten kommt Merkel gar nicht vor.
Auch die SPD setzt im Wahlkampf auf
diese klassische Dramaturgie: Erst kommen die Themen, dann der Kandidat. Erst
geht es um Mindestlohn, Renten, Kitas
und Mieten. Vom 23. August an wollen die
Sozialdemokraten dann ihren Spitzenkandidaten ins Zentrum der Plakatkampagne
rücken. Ein bisschen tut das die CDU sicherheitshalber jetzt schon. Die Partei hat
mehr als eine Million Flyer drucken lassen,
die eher wie ein Fotoalbum von Angela Merkel aussehen. Garniert werden die Bilder
mit persönlichen Botschaften der Parteichefin.
Stellt sich die Frage, ob die Wähler die
Plakate genauso wichtig finden wie die Parteien. In Umfragen reagieren die Bürger
ziemlich genervt: Mehr als zwei Drittel der
Deutschen sagen, dass sie Wahlplakate für
überflüssig halten. Was soll das dann also?
Politische Plakate haben in Deutschland eine lange Tradition, die mit der Revolution von 1848 begann und sich in der Weimarer Republik mit Grafikern und Malern
wie John Heartfield regelrecht zu einer
Kunstform entwickelte. Der Erfolg der Nationalsozialisten war dann auch deshalb
möglich, weil sie die Instrumente der Propaganda, darunter auch Wahlplakate, sehr
gut einzusetzen wussten. In den ersten Jahren der Bundesrepublik verstand sich die
CDU deutlich besser auf die Wirkung von
Wahlplakaten, aggressiv schürte die Partei
Angst vor Moskau und Sozialismus. Die
SPD hingegen versuchte – auch aus der Erfahrung der Nazi-Diktatur – eher pädagogisch zu wirken; erst mit Willy Brandt bekamen die Plakate dann einen moderneren
Zuschnitt.
Erst mit Willy Brandt
bekamen SPD-Plakate einen
moderneren Zuschnitt
Der Politologe und Werber Frank Stauss
hat zahlreiche Wahlkämpfe für die SPD bestritten, 2005 den für Gerhard Schröder,
2011 den für Klaus Wowereit. Er sagt, Parteiplakate seien immer noch „die größte
werbliche Klammer“ einer Kampagne. „Jeder Bürger verlässt irgendwann einmal
das Haus, an den Plakaten kann er nicht
vorbei.“ Anders als man vielleicht vermuten würde, kommt dem klassischen Mittel
der Wahlwerbung damit gerade in Zeiten
des Internets und einer Vielzahl anderer
Medien eine besondere Bedeutung zu. Vor
etlichen Jahren gab es lediglich die Zeitung, das Radio und drei Fernsehprogramme, früher oder später wurde man mit den
Botschaften der Parteien konfrontiert.
„Heute haben wir wie nie zuvor die Möglichkeit, uns aus dem politischen Prozess
rauszuschalten“, sagt Stauss. Die Wahlplakate seien da das Signal, dass überhaupt gewählt werde; außerdem fungierten sie als
„Visitenkarte“ einer Kampagne. Denn in
keinem anderen Medium muss die Botschaft der Partei auf so wenige Worte verdichtet werden.
Die Plakatkampagnen verlaufen in der
Regel in drei Wellen. Das hat vor allem mit
dem Arbeitsrhythmus der Aufsteller zu
tun, die etwa zehn Tage brauchen, um alle
Plakate umzukleben. In der ersten Phase
soll Spannung aufgebaut werden, am besten über ein konkretes Thema. In Phase
zwei wird der Spitzenkandidat eingeführt,
am besten im Dialog mit den Bürgern. Die
dritte Phase dann muss der Kandidat allein bestreiten – in Kanzlerpose.
Die vierte Phase beschäftigt die Parteien dann offenbar weniger, als sie es sollte:
die Zeit nach der Wahl. Binnen einer Woche müssen die Plakate verschwunden
sein, doch die Parteien lassen sich oft mehr
Zeit. Wie andere Kommunen auch, verlangen einige Bezirke in Berlin von den Parteien nun eine Kaution, um die Plakate notfalls selbst entsorgen zu können. Damit habe man bei anderen Veranstaltungen gute
Erfahrungen gemacht, heißt es im Bezirk
Spandau: bei Zirkusaufführungen.
Merkel, wuschelig
Um die Ecke gedacht
Trittin, erneuerbar
Die Kanzlerin ist ein wenig mangelhaft gekämmt. Weil Angela Merkel aber nichts dem Zufall überlässt, darf man annehmen, dass gerade die leichte Wuscheligkeit des Deckhaars über der Stirn dem Betrachter auffallen soll. Sie gibt
dem Auftritt etwas Spontanes, Improvisiertes – eben etwas Unfrisiertes. Die Kanzlerin ist ja inzwischen so beliebt,
weil sie den Leuten das Gefühl gibt, sie sei ganz normal:
sympathisch, zugänglich, manchmal umständlich und
nicht fehlerfrei. „Gemeinsam erfolgreich“ ist eine Variante
des 2009er-Slogans „Wir haben die Kraft“, nur statischer,
weniger Versprechen, eher politische Bilanz. Diese Bilanz frisiert Merkel übrigens manchmal besser als sich selbst.
Hä? Schon wieder Merkel? Dies ist eher ein Plakat für Tempo-30-Zonen, anderenfalls übersieht der potenzielle SPDSympathisant im Vorbeifahren womöglich noch das Fragezeichen. Überhaupt ziemlich viel Text für ein Wahlplakat:
Das Parteiemblem, das so ins Bild lappt, als reiche es schon
die Hand für eine große Koalition; der Slogan „Das Wir entscheidet“; die Ironisierung von Merkels Botschaft, die
schwarz-gelbe sei die erfolgreichste Bundesregierung seit
der Wiedervereinigung. Und unten dran noch irgendwas.
Kanzlerkandidat Peer Steinbrück beklagt seit einiger Zeit,
Merkel unterfordere die Deutschen. Das kann man von diesem Wahlplakat seiner Partei sicher nicht behaupten.
Das mag jetzt etwas unpolitisch sein, aber sieht Jürgen Trittins Wange nicht so weich aus wie ein Trog Feuchtigskeitscreme? Die charmanten Augen, die niedlichen Lachfältchen, die feingliedrige Hand – nichts am grünen Spitzenkandidaten erinnert noch an den arroganten Raubauz aus
den Fernsehtalkshows, der auch mal den erhobenen Zeigefinger einsetzt. Die bevorzugte Energieform der Grünen ist
erneuerbar, Trittins Image soll es offenkundig auch sein.
Früher warben die Grünen mit Szenarien des Untergangs:
Waldsterben, Super-GAU, Atomkrieg, Außenminister Westerwelle. Heute ist es umgekehrt: Sie wollen den Deutschen die Angst nehmen, die Angst vor Jürgen Trittin.
Nicht bewegen!
Was sonst
Und die Antwort?
Rainer Brüderle hat schon Politik gemacht, als viele seiner
heutigen politischen Gegner noch im Froschteich darauf
warteten, dass der Klapperstorch sie holt. Und um ehrlich
zu sein: So sieht er auf seinem Plakat auch aus. Brüderle
wirkt freundlich, aber irgendwie starr – man muss freilich
annehmen, dass darin auch die Botschaft liegen soll: bloß
nichts verändern. Brüderle guckt so, als verstehe er die
modernistische Farbgebung um ihn herum selbst nicht:
grelle Blautöne und ein sphärisch-wolkiges Weiß. Besonders bemerkenswert ist aber die Krawatte, die aussieht, als
sei sie aus Zement, und bei deren Anblick selbst ein
Kanarienvogel vor Schreck schreiend davonfliegen würde.
Knallig, flott, schwarz auf weiß: Die Linke wirbt nicht um
ihre Wähler, sie brüllt sie an. Sie zeigt vorerst keine Politiker, vermutlich weil die Politiker erst mal die anderen sein
sollen, die nur labern, aber nichts tun. „Alles die gleiche Soße“, nennt Spitzenkandidat Gregor Gysi das gerne. Die Linke grenzt sich ab, indem sie nur das plakatiert, was man
Inhalte nennt, was sie offenbar unterscheiden soll von den
Gleiche-Soße-Parteien, die Konterfeis mit gefühligen Botschaften zeigen. Die Ankündigungen der Linken sind konkret: 10 Euro Mindestlohn, 1050 Euro Mindestrente, Millionärssteuer. Und zugleich sind sie Utopie, weil es keine andere Partei gibt, die sie mit der Linken verwirklichen mag.
Das Erstaunlichste an den Plakaten der Piraten ist, dass es sie
überhaupt gibt. Nicht die Piraten, sondern die Plakate. Straßenwahlkampf ist ja eigentlich eine ziemlich analoge Kommunikationsform, ein echter Nerd kommt an so einem Ding vermutlich nur vorbei, wenn er sich an der Tanke gegenüber ein
Sixpack Mate-Tee holt. „Stell dir vor, du wirst gefragt“, erscheint dabei wie ein Slogan, der gemischte Gefühle weckt,
offenbar selbst bei der jungen Frau, die ihn anbietet. „Für
mehr Mitbestimmung und Teilhabe der Bürger an politischen
Entscheidungen“, ist so klein geschrieben, dass man es kaum
noch lesen kann. Hat sich ja auch in der Partei selbst schon als
ziemlich schwierig erwiesen.
TEXTE: NICO FRIED
AUSSENANSICHT
D
ie Politik lässt sich nicht lumpen.
Sie fördert Ehen und Familien mit
200 Milliarden Euro pro Jahr. Doch
was kommt dabei heraus? Deutschland gehört mit einer Geburtenrate von etwa
1,4 Kindern je Frau zu den geburtenschwächsten Ländern der Welt. Die
Wunschkinderzahl junger Paare liegt deutlich höher. Gleichzeitig rangiert Deutschland bei dem Umfang der Erwerbsbeteiligung der Frauen in der OECD ganz hinten.
Ein Grund ist, dass sich Familie und Beruf
für Frauen entgegen ihren Wünschen nur
unzureichend vereinbaren lassen.
Schuld daran ist auch die Ehe- und Familienpolitik. Die Politik fördert Ehen und Familien nach dem Gießkannenprinzip
durch konzeptionslose und widersprüchliche Maßnahmen, statt gezielt auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hinzuwirken. Das wird nicht nur den gesellschaftlichen Veränderungen und Wünschen junger Paare, sondern auch dem Grundgesetz
nicht gerecht.
Dass der Staat Ehen und Familien fördert, ist Ausdruck seiner verfassungsrechtlichen Pflicht. Der Grund dafür sind die gemeinwohlsichernden Leistungen, die Eheleute – ebenso wie eingetragene Lebenspartner – erbringen, weil sie wechselseitig
Verantwortung füreinander übernehmen,
und Eltern, weil sie Kinder pflegen und erziehen. Bei der Entscheidung über Art und
Umfang der Förderung steht dem Staat ein
weiter Spielraum zu. Doch darf er einzelne
Weg mit dem Ehegattensplitting
Der Staat gibt Milliarden für Familienförderung aus – doch ein Konzept fehlt.
Und manches ist sogar verfassungswidrig. Von Frauke Brosius-Gersdorf
Ehe- und Familienmodelle grundsätzlich
nicht gegenüber anderen privilegieren. Eine solche Privilegierung ist nur erlaubt
und geboten, wenn einer Ehe- oder Familienform strukturelle Hindernisse entgegenstehen. Solche Hindernisse bestehen wegen der unzureichenden Vereinbarkeit von
Familie und Beruf für die Doppelverdienerfamilie. Das Grundgesetz verpflichtet den
Staat, die Unvereinbarkeit von Familie und
Beruf durch gleichstellungsorientierte
Maßnahmen abzubauen.
Die Politik hat mit dem zum 1. August
eingeführten Anspruch auf einen Kitaplatz vom ersten Lebensjahr an einen richtigen Schritt hin zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf unternommen.
Damit Frauen tatsächlich gleiche Chancen
im Beruf haben und sich für Kinder entscheiden, muss der Anspruch auf eine
Ganztagsschule folgen.
Finanzielle Negativanreize für die Verbindung von Familie und Beruf setzt die Regierung, indem sie an dem Ehegattensplitting und der beitragsfreien Mitversicherung für nicht oder geringfügig erwerbstä-
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Jegliche
tige Ehegatten in der Pflege- und Krankenversicherung festhält. Das Ehegattensplitting lässt sie sich 20 Milliarden Euro, die
Ehegattenmitversicherung 13 Milliarden
Euro pro Jahr kosten. Beide Maßnahmen
begünstigen Alleinverdiener und benachteiligen doppelt erwerbstätige Ehepartner.
Beim Ehegattensplitting werden die Einkünfte der Partner erst zusammengerechnet, dann halbiert und je hälftig versteuert.
Es wird also nicht ein hohes Einkommen,
Dass Alleinverdiener privilegiert
werden, ist mit dem Grundgesetz
nicht vereinbar
sondern es werden zwei (fiktive) niedrige
Einkommen versteuert. Weil die Besteuerung progressiv ist, profitieren die Eheleute doppelt von geringeren Steuersätzen im
unteren Einkommensbereich. Je größer
die Einkommensunterschiede sind, desto
höher ist der finanzielle Vorteil. Bei Doppelverdienern ohne Einkommensdifferenz
entfällt der Effekt des Splittings.
Diese Privilegierung ist nicht zu rechtfertigen. Alleinverdiener sorgen nicht besser füreinander als Doppelverdiener. Der
Verzicht auf ein Einkommen ist kein unfreiwilliges, strukturelles Hindernis für Alleinverdienerehen, welches der Staat durch
steuerliche Vorteile beseitigen dürfte. Mit
dem gleichen Argument müsste auch ein
freiwillig gewählter doppelter Einkommensverlust ausgeglichen werden.
Das Ehegattensplitting und die Mitversicherung entfalten zugleich Negativanreize
für die Erwerbstätigkeit der Frauen. Sie
wirken wie Einkommensersatzleistungen,
die den Berufsausstieg von Frauen fördern. Im Fall einer Scheidung stehen Frauen seit der Unterhaltsrechtsreform oft unversorgt da. Überspitzt formuliert, lässt
sich die Ehe- und Familienpolitik als „Anstiftung zur Altersarmut“ sehen. Der Staat
fördert nicht die Erwerbskarriere, sondern
die „Hartz-IV-Karriere“ von Frauen.
Verfassungswidrig und sozialpolitisch
verheerend ist auch das zum 1. August eingeführte Betreuungsgeld. Seine Beschränkung auf Eltern, die ihr Kind nicht in einer
öffentlich geförderten Einrichtung betreuen lassen, ist nicht zu rechtfertigen. Eltern,
die ihr Kind selbst betreuen oder in einer
privat-gewerblichen Einrichtung, von
Großeltern oder Freunden betreuen lassen, haben nicht durchgängig größere
kindbezogene Lasten und erbringen nicht
mehr oder bessere Pflege- und Erziehungsleistungen als Eltern, die eine öffentlich geförderte Betreuungseinrichtung in Anspruch nehmen. Zudem fördert die Regierung auch mit dem Betreuungsgeld die Unvereinbarkeit von Familie und Beruf. Obwohl das Betreuungsgeld mit nun 100 Euro und von 1. August 2014 an mit 150 Euro
pro Monat eher gering ausfällt und auch Eltern zugutekommt, die berufstätig sind,
wirkt es für Mütter mit niedrigem Einkommen wie eine Einkommensersatzleistung,
die den Berufsausstieg fördert.
Eine den gesellschaftlichen Veränderungen und dem Grundgesetz angemessene
Ehe- und Familienpolitik erfordert nicht
mehr Geld, sondern dass es anders eingesetzt wird. An die Stelle der aktuellen Förderpolitik muss eine Politik treten, in deren Mittelpunkt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf steht, sodass alle Ehen und
Familien echte Wahlfreiheit bei der Verwirklichung ihrer Lebensentwürfe haben.
Hierfür muss die Politik erstens einen Anspruch auf Ganztagsschule einführen.
Zweitens muss sie die negativen Anreize
für die Verbindung von Familie und Beruf
beseitigen. Das Ehegattensplitting, die Mit-
versicherung und das Betreuungsgeld
müssen aufgehoben und durch diskriminierungsfreie, gleichstellungsorientierte
Maßnahmen ersetzt werden. Drittens sollte der Staat auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hinwirken – etwa durch steuer- und sozialversicherungsrechtliche
Maßnahmen, die die doppelte Erwerbstätigkeit fördern.
Bleibt der Staat seiner bisherigen Linie
treu, wird Deutschland – trotz der milliardenschweren Ehe- und Familienförderung – wohl auch in Zukunft zu den kinderärmsten Ländern gehören und bei der
Frauenerwerbstätigkeit einen Verliererplatz einnehmen. Dass dies nicht nur die
Rechte und Chancen der betroffenen Paare und Frauen beschneidet, sondern angesichts des demografischen Wandels auch
verheerende Konsequenzen für das Arbeitskräfteangebot, die Wirtschaft und die
Sozialversicherungssysteme hat, liegt auf
der Hand.
Frauke Brosius-Gersdorf,
42, ist Professorin für
Öffentliches Recht in
Hannover. In ihrer Habilitation untersuchte sie
den Zusammenhang von
Geburtenrate und Familienförderung.
FOTO: OH
asiegle
SZ20130806S1797795
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