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Jahrbuch 2005/2006 | W oll, Cornelia | Lobbying in Brüssel: amerikanische Verhältnisse?
Lobbying in Brüssel: amerikanische Verhältnisse?
Do they lobby in Brussels like they do in America?
W oll, Cornelia
Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln
Korrespondierender Autor
E-Mail: w [email protected]
Zusammenfassung
Lobbying galt in Europa lange als suspekt: eine politische Tradition, die man höchstens aus Amerika kannte.
Dennoch w uchs die Lobbying-Industrie in Brüssel zur zw eitgrößten der Welt heran. Ist das europäische
Lobbying damit ein Abbild des amerikanischen? Sicherlich gibt es Gemeinsamkeiten zw ischen den beiden
politischen Systemen. Jedoch unterscheidet sich die europäische Art der Interessenvertretung deutlich von der
amerikanischen, und sie ist langfristig auch w eniger aggressiv.
Summary
Long considered a suspicious activity in Europe, lobbying used to be thought of as an American w ay of doing
politics. Yet today, Europe is the w orld’s second largest market for the lobbying industry. Have the Europeans
copied the Americans? W hile there are similarities betw een the tw o systems, the Europeans have a very
different w ay of promoting their organized interests. In the long run, they are less aggressive.
Lobbying, die versuchte Beeinflussung politischer Akteure durch private Interessenvertreter, verbindet man
eher mit amerikanischer Politik. Dort gehört es zum Alltag, Firmen oder Verbände vor legislativen Komitees
aussagen zu lassen, politische Kampagnen durch private Spenden zu finanzieren oder gar Entscheidungen
des Gesetzgebers durch die Androhung juristischer Prozesse zu blockieren. Eine TV-Serie mit dem Namen „KStreet“, der Adresse der meisten Interessenvertretungen in Washington, stellt im amerikanischen Fernsehen
den Alltag der Lobbyisten dar. Das zeigt: Lobbying in den USA ist ein Job w ie jeder andere auch. Es w ird als
ein fester Bestandteil des amerikanischen Politikprozesses angesehen.
Europaw eit ist private
Einflussnahme
hingegen
verpönt. Politische
Partizipation
w ird
höchstens
bei
repräsentativen Gruppen w ie Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerverbänden geduldet. Allein das Wort „Lobbying“
hat
eine
negative
Konnotation: Firmenvertretungen
bezeichnen
ihre
Mitarbeiter
deshalb
lieber
als
„Repräsentanten der Konzernpolitik“ oder „Regulierungsabteilung“, niemals jedoch als Lobbyisten.
Grundsätzlich gilt, dass ein gerechter politischer Prozess so w enig w ie möglich auf Partikularinteressen
einzugehen hat. Im Zuge der europäischen Integration entstand jedoch ein supranationaler Politikbereich, in
dem Lobbying bald ein fester Bestandteil w urde. Mit seinen geschätzten 13.000 Lobbyisten hat Brüssel heute
die zw eitgrößte Lobbying-Industrie, auch w enn sie nur halb so groß ist w ie die in W ashington.
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W ie ist diese Entw icklung einzuschätzen? Herrschen in Brüssel neuerdings tatsächlich amerikanische
Verhältnisse, oder unterscheiden sich die Arten der Interessenvertretung doch grundlegend? Welche
Konsequenz hat die Ausw eitung des Lobbying-Phänomens für die europäische Demokratie?
Gemeinsamkeiten
In Washington w ie auch in Brüssel ist die Ansiedlung von Interessengruppen eine Nachkriegsentw icklung,
auch w enn die ersten Gründungen von Interessenvertretungen bis ins 19. Jahrhundert zurückgehen. In den
Vereinigten Staaten verdoppelte sich die Anzahl der Gruppenrepräsentanzen in der Hauptstadt zw ar schon
zw ischen 1920 und 1960 von 300 auf 600. Danach setzte jedoch ein so massiver Boom ein, dass man heute
fast 16.000 Interessenvertretungen in Washington antrifft. Die Zahlen beziehen sich sow ohl auf Gruppen w ie
auch auf Firmenrepräsentanzen, deren Zahl von 50 im Jahr 1960 auf etw a 3.000 gegenw ärtig angew achsen
ist (Abb. 1).
Za hl de r Inte re sse nve rtre tunge n in W a shington 1900 bis
1998.
© Ma x -P la nck -Institut für Ge se llscha ftsforschung/W oll
Dieser
Trend
ist
vergleichbar
mit
dem
Anw achsen
der
so
genannten
Eurogruppen.
Europaw eite
Interessenverbände existierten schon vor der Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Die größten
Gründungsw ellen
folgten
jedoch
den
Römischen
Verträgen
im
Jahr
1958
und
dem
Europäischen
Binnenmarktprogramm Ende der 1980er-Jahre. Seit den 1950er-Jahren ist die Zahl europaw eiter Verbände um
das Neunfache gestiegen. Aber nicht nur Eurogruppen haben sich in Brüssel angesiedelt. Auch nationale Fach, Branchen- und Dachverbände, Gew erkschaften und regionale Gruppen betreiben europäische Büros, die sich
um den Kontakt zu den europäischen Institutionen bemühen. Darüber hinaus sind rund 300 Firmen in der
europäischen Hauptstadt präsent (Abb. 2).
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Za hl de r e uropä ische n Ve rbä nde 1944 bis 1998.
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Das Spektrum der Interessenvertretungen in Brüssel und Washington ist ähnlich breit. Es reicht in den USA
von multinationalen Konzernen über Industrieverbände zu Gew erkschaften, Umw eltorganisationen und
Minderheiten bis hin zu ausländischen Interessengruppen. Sow ohl der Verband der Truthahnzüchter als auch
die National Rifle Foundation haben einen festen Platz in der politischen Landschaft. Auch in Brüssel trifft man
W irtschaftsverbände,
w ie
Umw eltorganisationen,
den
Verband
humanitäre
der
europäischen
Einrichtungen,
Chemiew irtschaft,
Verbraucherschutzorganisationen
Gew erkschaften,
und
Koalitionen
verschiedener Gruppen, zum Beispiel den Verband europäischer Biertrinker. In beiden Fällen kann man davon
ausgehen, dass etw a 70 Prozent der Interessenvertretungen w irtschaftliche Ziele verfolgen, obw ohl
Bürgerverbände in den letzten Jahrzehnten einen ähnlichen Boom erlebt haben w ie die Lobbying-Industrien
insgesamt.
Auch w enn man unter Lobbying-Arbeit üblicherw eise das Belagern und Bedrängen von Abgeordneten und das
Drohen mit juristischen Strategien oder Medienaufmerksamkeit versteht, sieht der Alltag von Lobbyisten in
Washington und Brüssel w enig glamourös aus. Den Hauptteil ihrer Zeit verbringen die Interessenvertreter mit
dem so genannten Monitoring, der Informationsarbeit für ihre Mitglieder über das politische Geschehen in der
Hauptstadt. Außerdem erfordert es viel Koordinationsarbeit, eine politische Position für alle Mitglieder zu
erarbeiten, um im Namen einer Gruppe sprechen zu können. Sobald eine solche Position erarbeitet w orden ist,
tritt der Lobbyist in Kontakt mit den politischen Entscheidungsträgern und informiert sie über die Haltung der
Gruppe.
Langfristige
Beziehungen
beruhen
somit
hauptsächlich
auf
dem
Erfahrungs-
und
Informationsaustausch zw ischen Bürokraten oder politischen Vertretern und den Interessenvertretern der
jew eiligen Gruppen.
Unterschiede
Es gibt eine Reihe von Alternativen zu einem solchen „Informations-Lobbying“. In den Vereinigten Staaten ist
das Portfolio an Lobbying-Strategien sehr viel breiter als in der Europäischen Union. Einige der LobbyingInstrumente, die in den USA geläufig sind, stehen in Brüssel nicht zu Verfügung.
Ein offensichtlicher Unterschied zw ischen den USA und der EU liegt in der Finanzierung von politischen
Kampagnen
und
Parteien.
In
den
USA
w erden
Wahlkampagnen
von
Abgeordneten
und
Präsidentschaftskandidaten, aber auch Parteienbudgets w eitgehend aus privaten Spenden finanziert. Allein
die Gesamtsummen beeindrucken. Für die Wahlen im Repräsentantenhaus haben die Kandidaten im Jahr 2004
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696 Millionen Dollar Spenden erhalten, für die im Senat 490 Millionen Dollar, für die Präsidentschaftsw ahlen
insgesamt 869 Millionen Dollar. Diese Kampagnenfinanzierung schließt noch nicht die Beiträge zu den
Parteienbudgets ein. Insgesamt kann man die Kampagnenkosten aller Wahlen in Jahr 2004 auf über 3,5
Milliarden Dollar schätzen. Auch w enn man dabei die Inflation berücksichtigt, haben sich die Gesamtkosten seit
den 1950er-Jahren um ein vielfaches erhöht. Die Spendenpraxis ist jedoch strengen Vorschriften unterw orfen:
Individuen dürfen nur 2.000 Dollar an Kandidaten oder 25.000 Dollar an Parteien spenden. Für größere
Spenden müssen sich Einzelpersonen zu einem Political Action Committee zusammenschließen, w elches
w iederum höhere Spenden vergeben darf. Außerdem müssen alle Spenden veröffentlicht w erden, sodass man
mithilfe von Internetseiten w ie die Herkunft von Politikfinanzierung nach Industrien, Gruppen, Bundesstaaten
bis hin zu Hausadressen nachvollziehen kann. Trotz dieser Transparenz kann man davon ausgehen, dass
finanzielle Lobbying-Instrumente eine bedeutende Rolle in der amerikanischen Politik spielen (Abb. 3).
Ge schä tzte W a hlk a m pa gne nk oste n in de n USA 1964 bis
1996.
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In der Europäischen Union w ie auch in den europäischen Mitgliedstaaten ist diese Art der Unterstützung nicht
möglich. Grundsätzlich haben Parteien einen Anspruch auf öffentliche Mittel. Außerdem w erden Spenden ab
500 Euro veröffentlicht, und Spenden über 12.000 Euro sind untersagt. Politische Kampagnen sind überdies
w eniger kostspielig als der amerikanische Wahlkampf. Sicherlich kann man den Einfluss von finanziellen
Anreizen in der europäischen Politik nicht ausschließen, w ie die Debatte um Nebeneinkünfte von Abgeordneten
zeigt. Doch ist das Ausmaß und die Akzeptanz dieser Lobbying-Methode w eitaus geringer als in den USA.
In
beiden
politischen
Systemen
existieren
w eitere
Lobbying-Strategien,
die
sich
w iederum
durch
unterschiedliches Verhalten der Lobbyisten auszeichnen. Sow ohl in den USA als auch in der Europäischen
Union w enden sich Lobbyisten an den Gesetzgeber durch Vorträge in Komitees und Kontakt zu den
Abgeordneten, an die Verw altung durch Beratungsgremien und Kontakt zu den bürokratischen Referenten, an
die Regierung durch deren Kabinetts und an die Gerichte durch Klagen über existierende Gesetzgebung. Im
Gegensatz zu Europa sind in den Vereinigten Staaten Lobbyisten allerdings dafür bekannt, dass sie
versuchen, von ihnen abgelehnte Gesetze oder Gesetzesvorschläge durch Druck zu Fall zu bringen.
Interessengruppen w erden darum im Englischen auch meist als pressure groups bezeichnet. Amerikanische
Lobbyisten zeichnen sich durch hohe Professionalität aus und sind in der Regel Juristen. Je w ichtiger eine
Angelegenheit für eine Firma oder eine Interessengruppe ist, desto mehr tendiert sie dazu, hochbezahlte
Anw älte einzuschalten, die juristisch gegen Gesetzesvorschläge vorgehen. Durch die hohe Anzahl an
Interessengruppen entsteht ein Wettbew erb, in dem man sich als der Stärkere erw eisen muss, um gehört zu
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w erden.
Oft
unternehmen
Interessenverbände
auch
den
Versuch,
die
öffentliche
Meinung
durch
Medienkampagnen zu beeinflussen. In entscheidenden Phasen eines politischen Prozesses w ird die
Interessenvertretung somit zu einem regelrechten Kampf zw ischen Gruppen, die versuchen, sich durch
aggressive Lobbying-Strategien gegeneinander durchzusetzen.
In der Europäischen Union sind Lobbyisten meist zurückhaltender und w eniger fordernd. Auch w enn sie sich
w ie ihre amerikanischen Kollegen gegen Konkurrenten durchsetzen müssen, ist ihre Rolle im supranationalen
Prozess w eniger institutionalisiert. Oft können sich die europäischen Institutionen die Interessenvertretungen
aussuchen, mit denen sie mehr oder w eniger eng zusammenarbeiten w ollen. Sie bevorzugen Gruppen, die
ihre Legitimität als politische Entscheidungsträger stützen. Die Gruppen sollten daher eine gew isse
Repräsentativität haben, sodass die Kommission oder das europäische Parlament nachw eisen kann,
beispielsw eise mit der „europäischen Textilindustrie“ gesprochen zu haben und nicht nur mit einem Vertreter
von Lacoste. Das allgegenw ärtige Risiko einer Politikblockade im Falle eines Länderkonflikts führt dazu, dass
die europäischen Institutionen daran interessiert sind, Lösungsvorschläge zu formulieren. Sie arbeiten daher
vor
allem mit
Gruppen
zusammen, die
Problemlösungen
ermöglichen. Europäische
Lobbyisten
sind
grundsätzlich bemüht, konstruktiv am europäischen Geschehen teilzunehmen, w eil sie nur so Zugang zum
politischen Prozess erhalten.
Die Art des Auftretens von Lobbyisten in Washington und Brüssel ist also verschieden, insbesondere w enn es
zu einer kritischen Auseinandersetzung kommt. Lobbyisten, die diese Logik nicht beachteten, haben
gelegentlich ihre Strategien revidieren müssen. So hat in den 1970er-Jahren die europäische Abteilung der
American Chamber of Commerce (AmCham) versucht, eine
Sozialrichtlinie
mit
einem Flugzeug
voller
amerikanischer Anw älte zu stoppen. Der Angriff löste große Empörung bei den europäischen Repräsentanten
aus. Mehrere Jahre danach musste sich die europäische Abteilung von AmCham bemühen, das gute Bild der in
Europa tätigen amerikanischen Unternehmen w ieder herzustellen. Aber auch Europäern erging es nicht
anders. Der Verbund der Ölraffinerien der EU, Europia, erlebte ebenfalls eine Niederlage, als er versuchte,
gegen das Abgasprogramm der Europäischen Union mit amerikanischen Methoden vorzugehen. Nachdem eine
konstruktive Ausformulierung der entsprechenden Richtlinie in Zusammenarbeit mit der Kommission vom
Europäischen Parlament abgelehnt w orden w ar, belagerte Europia mit über fünfzig Lobbyisten das
Europäische Parlament. Sie drohte den Abgeordneten an, eine Verschärfung der Bestimmungen w ürde zum
Schließen der Raffinerien in Europa führen, w as die Abgeordneten ihr Mandat kosten w ürde. Die LobbyingKampagne stieß auf große Ablehnung und führte letztendlich zu einer Blamage Europias.
Neben den verschieden Lobbying-Instrumenten unterscheiden sich die Interessenvertretungen in Washington
und Brüssel also vor allem durch die Art ihres Auftretens. W ährend Lobbying in den USA oft auf Druck und
Gruppenw ettbew erb basiert, sind in Brüssel konstruktive Lobbyisten am erfolgreichsten. Dies muss nicht
heißen, dass die Europapolitik nicht auch durch Druck von Partikularinteressen mitbestimmt w ird. Diese
müssen sich aber vor allem an ihre nationalen Regierungen w enden, um durch Drohungen mit Stimmenentzug
oder Blamage erfolgreich zu sein. Die europäische Agrarpolitik erklärt sich folglich eher durch die Rolle
Frankreichs in der Europäischen Union als durch das Lobbying von Landw irtschaftsverbänden in Brüssel.
Demokratie in der Europäischen Union
Auch w enn Lobbying ein Teil der europäischen Politik gew orden ist, unterscheidet sich der Brüsseler Alltag
erheblich von dem in Washington. Gerade die indirekte Bindung der europäischen Institutionen an bestimmte
W ählergruppen, aber auch die relative Unabhängigkeit von Wahlspenden führt dazu, dass der Zugang
europäischer Interessenvertretungen zum politischen Geschäft von einer anderen Ausw ahllogik bestimmt ist.
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Die Tatsache, dass in der Europäischen Union die Entscheidung über eine Zusammenarbeit in der Hand der
politischen Vertreter liegt, kann daher eher positiv bew ertet w erden, w eil es sie somit w eniger dem Druck
durch einzelne Gruppen aussetzt. Dies klärt natürlich nicht die Legitimitätsfrage des politischen Prozesses der
Europäischen Union im Allgemeinen, die durch die europäische Verfassung zu beantw orten ist. Grundsätzlich
lässt sich aber festhalten, dass gerade die Komplexität und Vielschichtigkeit der Europäischen Union eine
direkte Einflussnahme mächtiger Interessengruppen abmindert.
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[1] F.R. Baumgartner, B.L. Leech:
Basic Interests – the Importance of Groups in Politics and in Political Science.
Princeton University Press, Princeton NJ 1998.
[2] J.J. Richardson (Hg.):
Pressure Groups.
Oxford University Press, Oxford 1993.
[3] J. Teuber:
Interessenverbände und Lobbying in der Europäischen Union.
Peter Lang, Frankfurt a.M. 2001.
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