Das Leben der Anne Frank - Alt

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DAS LEBEN DER
ANNE FRANK
1929 - 1945
Fachbereichsarbeit aus Geschichte
und Sozialkunde
Susanne Weber 8 B
Prüfer: Mag. Bernd Locker
Öffentliches Stiftsgymnasium der Benediktiner in St.
Paul/Lavanttal
Schuljahr 1999/2000
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
1
I. Erste Jahre in Deutschland
1929-1933
3
II. Neuanfang in den Niederlanden
1934-1940
13
III. Die Besetzung der Niederlande
1940-1942
22
IV. Leben im Verborgenen
1942-1944
1. Aufruf zur Deportation - Untertauchen - Alltag im Versteck
2. Konflikte im Hinterhaus
3. Politische Lage (mit Kommentaren aus Anne Franks Tagebuch)
32
41
50
V. Das dunkelste Kapitel
1944-1945
53
VI. Ein Tagebuch bleibt zurück
63
Landkarte: Lebensstationen der Anne Frank
Brief von Simon Wiesenthal
Literaturverzeichnis
Protokoll
Erklärung
71
72
73
74
75
VORWORT
Mit elf Jahren habe ich zum ersten Mal das Tagebuch dieses jungen Mädchens gelesen und war von
Anfang an davon fasziniert. Anne Frank war ein Mensch, mit dem ich mich sofort identifizieren
konnte. Ihre Launen, ihre Gefühle und ihre Freiheitsliebe sind diejenigen von allen Jugendlichen auf
dieser Welt. Was aber viel wichtiger war, über Anne Frank gelangte ich zur Beschäftigung mit dem
Holocaust oder der Shoah. Sie war mein persönlicher Zugang zu einem der dunkelsten Kapitel in der
Geschichte Europas. Die unzähligen Kinder und Jugendlichen, die der gnadenlosen Maschinerie des
Dritten Reichs zum Opfer gefallen sind, haben mit Anne Frank ein Gesicht bekommen.
Ihre Bedeutung hat sie durch ihr Tagebuch erlangt. Denn wären ihre Aufzeichnungen nicht erhalten
geblieben, wüßte heute kein Mensch mehr vom Schicksal der Annelies Marie Frank, geboren 1929
in Frankfurt, gestorben mit knapp 16 Jahren in Bergen-Belsen. Ich wollte mich jedoch nicht
hauptsächlich dem Tagebuch widmen, sondern ihrem Leben und dem Regime, das letztendlich ihren
verfrühten Tod herbeiführte.
Anne Frank ist für mich ein Symbol der Solidarität unter den Menschen. Ohne den Mut und die
aufopfernde Hilfsbereitschaft anderer hätte sie sich nicht zwei Jahre lang im Amsterdamer Hinterhaus
verstecken können. Sie ist ein Symbol der Hoffnung und der Toleranz. Nicht ein einziges Mal in
ihrem Tagebuch schreibt sie von der Bösartigkeit der Welt; ganz im Gegenteil, sie glaubt an das Gute
im Menschen, obwohl sie doch allen Grund gehabt hätte, dieses Gute anzuzweifeln. Und sie ist ein
Symbol der Unschuld, denn sie wurde ohne jeglichen logisch nachvollziehbaren Grund gemeinsam
mit einer Gruppe religiös Andersgläubiger zum Außenseiter erklärt.
Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Mag. Bernd Locker, der sich sofort einverstanden erklärte,
die Betreuung meiner FBA zu übernehmen. Unsere Zusammenarbeit hat bestens funktioniert, denn
ich konnte mich stets mit Fragen an ihn wenden und bekam Ratschläge und Tips, ohne mich
eingeengt zu fühlen.
Weiters danke ich meinen Eltern für ihre Geduld in den letzten Monaten und für ihre umfangreiche,
einschlägige Hausbibliothek, meinem Bruder für die Rettung aus der Not, wenn unüberwindbare
Probleme mit dem Computer auftaucht sind, sowie Rainer Swatek, der mir liebenswürdigerweise
seinen Drucker zur Verfügung gestellt hat. Auch meinem „Lektor“ und ehemaligen Geschichtelehrer,
OStR. Dr. Hans Zuschin, danke ich für die Korrektur dieser Arbeit. Ganz besonders beeindruckt
und gefreut hat mich eine - auf meine briefliche Bitte verfaßte - persönliche Antwort von Dipl.- Ing.
Simon Wiesenthal, dem Leiter des Dokumentationszentrums in Wien. Er sandte mir kopierte
Zeitungsartikel und Informationen, die sich mit Anne Frank beschäftigen, sowie einen Auszug aus
seinem Buch „Recht, nicht Rache“. Unter anderem schrieb er auch: „Das Mädchen Anne Frank ist
Identifikationsgestalt für viele junge Menschen, ihre Worte und ihr Schicksal bewirken auf
emotionaler Ebene mehr als jedes wissenschaftliche Werk“.
Ich hoffe, mit dieser Fachbereichsarbeit eine umfassende Darstellung des Lebens von Anne Frank
bieten zu können und aufzuzeigen, wie wichtig es auch heute noch ist, gegen Diskriminierung und
Intoleranz auf- und für Frieden und Verständnis unter den Völkern einzutreten.
Susanne Weber im Februar 2000
I. ERSTE JAHRE IN DEUTSCHLAND
Annelies Marie Frank erblickte am 12. Juni 1929 um halb acht Uhr in der Früh1 in der Klinik des
Vaterländischen Frauenvereins in Frankfurt am Main das Licht der Welt. Der Säugling wog mehr als
vier Kilogramm und maß 54 Zentimeter. Da die Niederkunft nicht ganz komplikationslos verlaufen
war - das Baby hätte beinahe zu wenig Sauerstoff bekommen -, waren die Eltern höchst erleichtert
und glücklich über die Geburt ihrer zweiten Tochter.
Edith Frank und ihre Tochter Anne im Jahr 1929
Aus: Anne Frank - Eine Geschichte für heute, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1998), 8.
Annes Mutter, Edith Holländer, geboren 1900, stammte aus Aachen, nahe der niederländischen
Grenze, und hatte 1916 an der „Victoria Schule zu Aachen“ ihr Abitur gemacht2. Am 12. Mai 1925
hatte Edith Holländer in der Synagoge zu Aachen Otto Heinrich Frank, Jahrgang 1889, geheiratet.
Bereits im Februar 1926 wurde Margot Betti, ihre erste Tochter, geboren. Sowohl Otto als auch
1
2
Melissa Müller, Das Mädchen Anne Frank. Die Biographie (München 1998), 29.
Müller, Biographie, 93.
Edith stammten aus wohlhabenden, deutsch-jüdischen Familien. Anne selbst berichtet in einer
Tagebucheintragung vom 8. Mai 19443: „Vater wurde in Frankfurt geboren, als Sohn
steinreicher Eltern. Michael Frank hatte eine Bank und war Millionär geworden, und Alice
Stern, Vaters Mutter, war von sehr vornehmen und reichen Eltern ... Vater führte in seiner
Jugend ein richtiges Reicher-Eltern-Sohn-Leben, jede Woche Partys, Bälle, Feste, schöne
Mädchen, Tanzen, Dinners, viele Zimmer und so weiter.“
Nach ihrer Hochzeit am 12. Mai 1925 in Aachen unternahmen Otto und Edith Frank eine Reise nach
Italien. Sie fuhren unter anderem ans Mittelmeer, nach San Remo.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 9.
Otto Franks Vater Michael stammte aus Landau in der Pfalz; der Stammbaum seiner Mutter Alice
Stern läßt sich in Frankfurter Registern bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen. Otto selbst besuchte
das Lessing-Gymnasium in Frankfurt, das er 1908 mit dem Abitur beendete4. Im ersten Weltkrieg
wurde er zum Rheinischen Fuß-Artillerie-Regiment eingezogen und kam an die Westfront. 1918
wurde er zum Leutnant ernannt. Nach Ende des Krieges ließ er sich in Frankfurt als selbständiger
Kaufmann im Bankfach und in der Vertretung von Markenartikeln nieder. Er unternahm auch
3
Anne Frank Tagebuch, ed. Otto H. Frank, Mirjam Pressler (ungekürzte Ausgabe Frankfurt am Main 1992),
271.
ausgedehnte Reisen nach New York und nach Amsterdam, wo er sich bereits Sprachkenntnisse des
Niederländischen aneignete.
Als Anne 1929 geboren wurde, befand sich die Bank, die Otto Frank seit dem plötzlichen Tod
seines Vaters 1909 führte, in einer schweren Krise. Bereits 1918 hatte das „Bankgeschäft Michael
Frank“ erhebliche finanzielle Verluste durch die Inflation5 hinnehmen müssen. Von diesem Schlag
konnte sie sich kaum erholen. Dramatisch wurde die wirtschaftliche Situation nach dem ”Black
Friday“, dem fatalen Kurssturz an der New Yorker Börse, am 25. Oktober 1929. Die Umsätze der
familieneigenen Bank gingen um 90% zurück6. Otto Frank sah sich gezwungen, die Bank zu
verkleinern und deren Stammsitz vom vornehmen Beethovenplatz in ein Frankfurter Vorstadtviertel
zu verlegen. Neben den finanziellen plagten ihn auch politische Sorgen. Die allgemein schlechte
wirtschaftliche Lage in Deutschland - steigende Arbeitslosenraten, Steuererhöhungen, Kürzung der
Sozialleistungen - führte dazu, daß sich viele unzufriedene und enttäuschte Menschen extrem
nationalistischen und antidemokratischen Parteien zuwandten. Die radikalste, die fanatischste dieser
Parteien war die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (kurz NSDAP) mit ihrem
Vorsitzenden Adolf Hitler. Das Programm der NSDAP war einfach und wirksam - sie war
hauptsächlich dagegen: gegen Liberalismus, gegen Sozialismus, gegen Eliten und gegen Ausländer.
Schnell war der kollektive Sündenbock für die schlechte ökonomische Situation gefunden: die Juden.
Bereits in seinem Werk „Mein Kampf“ kann man Hitlers Ansichten dazu klar erkennen7: „Ein
kleiner, aber mächtiger Teil der Erdbevölkerung wählte den Weg der Parasiten. Er sucht sich durch
intelligente und heuchlerische Einfühlung und Überlistung in bodenständigen Volkstümern einzunisten,
diese mit händlerischer Schlauheit um den Ertrag ihrer Arbeit zu bringen und durch raffinierte geistige
Zersetzung der Selbstführung zu berauben. Die bekannteste und gefährlichste Art dieser Rasse ist
das Judentum.“ Die Juden seien das personifizierte Böse. Die Juden seien Deutschlands Unglück.
Viele Menschen, die sich benachteiligt fühlten, waren empfänglich für diese antisemitische8
Propaganda und begannen, daran zu glauben. Sie vertrauten auf Adolf Hitler und seine Anhänger, die
Nazis, die versprachen, daß, wenn sie erst an der Macht seien, dann Schluß wäre mit der
Bevorzugung der Juden. Die Nazis wollten „aufräumen“ im Staat. Und so wuchs der Einfluß und die
4
5
6
7
8
Ernst Schnabel, Anne Frank. Spur eines Kindes (Frankfurt am Main 51981), 13.
Geldentwertung
Müller, Biographie, 38.
Der Nationalsozialismus, ed. Wolfgang Michalka (= Zeiten und Menschen, Ausgabe Q, Paderborn 1991), 87.
Antisemitismus: Feindschaft gegenüber Juden
Macht der Nationalsozialisten. 1928 wurden sie bei den Reichstagswahlen nur von drei Prozent der
Wahlberechtigten gewählt - zwei Jahre später waren es bereits 18 Prozent, und wieder zwei Jahre
später, 1932, brachte es die NSDAP auf 37 Prozent 9.
Kein Wunder also, daß Otto Frank angesichts dieser Entwicklungen höchst beunruhigt war. Die
Franks waren liberale Juden. Das heißt, daß sie sich den Traditionen der jüdischen Religion
verbunden fühlten, aber nicht strenggläubig waren. Sie führten auch keinen koscheren10 Haushalt. Die
Franks fühlten sich als Deutsche. Sie sprachen Deutsch, lasen deutsche Bücher und liebten ihre
Heimat. Zudem hatten sie keine schlechten Erfahrungen im Umgang mit ihren nichtjüdischen
Mitbürgern gemacht. In einem Gespräch mit dem Autor Ernst Schnabel sagte Otto Frank 11: „Ich
kann mich nicht entsinnen, in meiner Frankfurter Jugend einem Antisemiten begegnet zu sein.
Sicherlich gab es welche, aber ich habe keinen getroffen.“
9
Müller, Biographie, 39.
jüdische Speiseregeln
11
Schnabel, Spur eines Kindes, 14.
10
Das Haus im Marbachweg 307, welches die Familie Frank 1929 in Frankfurt am Main bewohnte.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 9.
1929, im Jahr von Annes Geburt, wohnte die Familie Frank in einer Doppelhaushälfte im
Marbachweg 307. Diese Wohnung am Stadtrand von Frankfurt bot viel Platz, war günstig und
umfaßte auch einen kleinen Garten - ein Paradies für Kinder. In unmittelbarer Nachbarschaft
wohnten Beamte, Lehrer, kleine Angestellte, mit denen die Franks gut auskamen. Ihr Haushalt
umfaßte neben den vier Familienmitgliedern auch eine Haushälterin, Kati Stilgenbauer12. Die
Wohnung im Marbachweg verfügte auch über ein Gästezimmer, da Edith Franks Geschwister und
ihre Mutter oft zu Besuch aus Aachen kamen. Ein Nachbarmädchen, Gertrude Naumann, die aus
einer Lehrerfamilie stammte, gehörte ebenfalls fast zur Familie und kümmerte sich mit Begeisterung
und Ernsthaftigkeit um Margot und die jüngere Anne.
Während Margot in der Familie wegen ihres ruhigen und sanften Wesens „Engelchen“13 genannt
wurde, wurde schon früh klar, daß die kleine Anne in dieser Beziehung ihrer Schwester überhaupt
nicht ähnelte. Sie litt in den ersten Monaten ihres Lebens häufig an Bauchschmerzen und Durchfall
und schrie nächtelang, was ihren Eltern den Schlaf raubte. Anne wuchs zu einem lebhaften und
ruhelosen Kleinkind heran, das ständig beschäftigt werden wollte. Durch ihre Scherze und ihr
Unterhaltungstalent zog sie schnell die Aufmerksamkeit aller auf sich. Sie stand überall im
Mittelpunkt. Margot benahm sich stets zurückhaltend und äußerst brav; Anne dagegen wies
Alleinunterhalterqualitäten auf. Kati Stilgenbauer, die Stütze im Haushalt der Franks, berichtete14:
„Ich fand Anne eines Morgens im Regen auf dem Balkon sitzend, mitten in einer Pfütze,
hochvergnügt. Als ich geschimpft habe, hat sie keine Miene verzogen. Sie wollte, daß ich ihr eine
Geschichte erzählte, gleich hier und jetzt.“
Anne liebte es schon als Kleinkind, Geschichten erzählt zu bekommen - am liebsten von ihrem Vater.
Sie und auch ihre Schwester waren verrückt nach ihrem Vater, den sie „Pim“ nannten (die Herkunft
dieses Kosenamens ist ungeklärt)15. Otto Frank kümmerte sich intensiv um seine beiden Töchter,
was für die damalige Zeit ziemlich ungewöhnlich war. Abends vor dem Schlafengehen erzählte er den
12
13
14
15
Müller, Biographie, 32.
Müller, Biographie, 36.
Anne Frank - Eine Geschichte für heute, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1998), 12.
Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 11.
Mädchen Geschichten, die er sich selbst ausdachte. Meistens handelten sie von zwei Paulas, zwei
Mädchen, die beide Paula hießen und unterschiedliche Eigenschaften hatten. Während die liebe
Paula ihren Eltern gehorchte, stellte die böse Paula ständig Unsinn an. Von welcher der beiden
Paulas Otto Frank erzählte, hing davon ab, was er seinen Kindern damit sagen wollte.
Da sich ihre finanzielle Lage noch immer nicht gebessert hatte, zog die Familie Frank im März 1931
in eine kleinere Wohnung um16. Sie befand sich in der Ganghoferstraße 24 am Stadtrand Frankfurts.
Seit 1957 ist an der Hausmauer eine Gedenktafel für Anne angebracht. In der Umgebung des
Gebäudes befanden sich viele Spazierwege und Wiesen, auf denen Margot und Anne sich austoben
konnten. Beide fanden unter den Nachbarkindern schnell neue Freunde; dennoch blieb der Kontakt
zu Gertrude Naumann bestehen, die weiterhin oft zu Besuch kam. Zu Ostern des Jahres 1932 wurde
Margot eingeschult. Ihre Eltern hatten sich für die moderne Ludwig-Richter-Schule entschieden, an
der fortschrittliche Unterrichtsmethoden herrschten. Kinder aller Konfessionen besuchten diese
Schule, sodaß Margots jüdischer Glaube nicht sonderlich auffiel. Anne war eifersüchtig auf ihre ältere
Schwester, die sich zur Musterschülerin entwickelte17.
16
17
Müller, Biographie, 44.
Müller, Biographie, 54.
Otto Frank mit seinen Töchtern, Margot und Anne (1930).
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 11.
Zu Beginn des Jahres 1933 geschah das, was Otto und Edith Frank - zusammen mit allen Bürgern
jüdischer Herkunft in Deutschland - seit langem befürchtet hatten. Reichstagspräsident Paul
Hindenburg ernannte den Vorsitzenden der NSDAP, Adolf Hitler, am 30. Januar zum
Reichskanzler18. Bald stellte sich heraus, was die wirklichen Absichten der Nazis waren. Sie
schafften die Demokratie ab und verboten alle anderen Parteien außer ihrer eigenen. Unliebsame
Gegner wurden ins Gefängnis geworfen, schwerst mißhandelt und gequält. Da sämtliche Gefängnisse
rasch überfüllt waren, wurden sogenannte Konzentrationslager eingerichtet, in denen Menschen auf
engstem Raum zusammenleben und harte Arbeit verrichten mußten. Hitler versuchte, den Haß gegen
Juden gezielt anzustacheln. Um 1930 war ungefähr 1% der deutschen Bevölkerung jüdischer
Abstammung, insgesamt 500.000 Menschen19. Für sie wurde das Leben immer schwieriger.
Antijüdische Gesetze wurden erlassen. Jüdische Männer verloren ihre Arbeit, jüdische Kinder
mußten in der Schule getrennt von den anderen sitzen. Bankkonten wurden gesperrt, Häuser und
Wohnungen jüdischer Besitzer enteignet. Nach und nach entzog man den Juden in Deutschland ihre
Lebensgrundlage.
18
19
Anne Frank Stiftung, Geschichte für heute, 17.
Anne Frank Stiftung, Geschichte für heute, 11.
Adolf Hitler, der Führer der Nazis, hält eine Rede.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 13.
Da das Einkommen der Franks nach und nach sank, beschloß Otto Frank, Ende März 1933 mit
seiner Familie zu seiner Mutter in das Haus im Zentrum Frankfurts zu ziehen, um die Kosten für die
Mietwohnung in der Ganghoferstraße einzusparen20. Er war realistisch genug, um zu erkennen, daß
der beginnende Terror gegen die Juden in Deutschland erst der Anfang war. Für ihn stand daher fest,
daß er sich eine neue Existenz im Ausland aufbauen müsse21: „Die Welt um mich herum brach
zusammen. Ich mußte mich den Konsequenzen stellen, und obwohl es mir großen Schmerz bereitete,
sah ich ein, daß Deutschland nicht die Welt war, und verließ das Land für immer.“ Otto und Edith
Frank taten ihr Möglichstes, um ihre Sorgen vor ihren kleinen Töchtern zu verbergen und ihnen eine
unbeschwerte Kindheit zu gewährleisten. Ottos Schwester Helene war mit ihrem Mann bereits 1930
in die Schweiz ausgewandert, wohin ihnen drei Jahre später Alice Frank-Stern folgte. Otto Frank
dagegen spielte mit dem Gedanken, sich in Amsterdam niederzulassen. Er hatte die Erlaubnis der
übrigens noch heute existierenden Kölner Opekta-Werke bekommen, in den Niederlanden ein
Unternehmen zu gründen und Pektin, ein zur Marmeladeherstellung benötigtes Geliermittel, zu
verkaufen.
20
21
Müller, Biographie, 57.
Anne Frank Stiftung, Geschichte für heute, 17.
Margot und Anne Frank 1933 in Aachen.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 14.
Im Sommer 1933 reiste Otto Frank in die holländische Hauptstadt, um die Übersiedlung der Familie
vorzubereiten. Seine Frau und die beiden Kinder zogen zwischenzeitlich nach Aachen zu Ediths
Mutter. Bereits am 15. September 1933 ließ Otto Frank seine Firma als „Niederländische Opekta
Aktiengesellschaft“ ins Handelsregister der niederländischen Industriekammer eintragen22. Nachdem
ihm Edith im selben Monat gefolgt war, konnte auch die Wohnungssuche bald erfolgreich
abgeschlossen werden. Das Ehepaar Frank mietete die zweite Etage eines Hauses am
Merwedeplein, eines Neubaugebietes23 südlich der Amsterdamer Altstadt. Diese neue Wohnung
war relativ geräumig, preisgünstig und lag im sogenannten „Flußviertel“.
22
23
Müller, Biographie, 57.
Anne Frank Stiftung, Anne Frank, 16.
Anne Frank 1934 in Aachen.
Aus: Anne Frank Tagebuch, ed. Otto H. Frank, Mirjam Pressler (Frankfurt/Main 1992), 22.
Anne selbst berichtet in einer ihrer ersten Tagebucheintragungen von diesen Ereignissen24: „Bis zu
meinem vierten Lebensjahr wohnte ich in Frankfurt. Da wir Juden sind, ging dann mein Vater
1933 in die Niederlande. Er wurde Direktor der Niederländischen Opekta Gesellschaft für
Marmeladeherstellung. Meine Mutter, Edith Frank-Holländer, fuhr im September auch nach
Holland, und Margot und ich gingen nach Aachen, wo unsere Großmutter wohnte.“
Zwei Brüder von Edith brachten Margot kurz vor Weihnachten 1933 nach Amsterdam.
Währenddessen sollte Anne noch eine Weile allein bei ihrer Großmutter in Aachen bleiben, was ihr
überhaupt nicht gefiel. In einem Brief an Gertrude Naumann schildert Edith Frank25: „Anne will auch
mitkommen. Oma wird´s schwer haben, das Kind noch ein paar Wochen dort zu halten.“ Die
mittlerweile Vierjährige war zu einem übermütigen und fröhlichen Mädchen herangewachsen, das
bereits für kecke Sprüche gut war. „Kann jemand für die alte Dame aufstehen?“ soll sie gefragt
haben, als sie mit ihrer Oma die vollbesetzte Straßenbahn bestieg26. Schüchtern war die kleine Anne
wirklich nicht.
24
25
26
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 20.
Müller, Biographie, 77.
Müller, Biographie, 77.
Quasi als „Geburtstagsgeschenk“ für ihre ältere Schwester zog Anne Frank pünktlich am 16.
Februar des Jahres 1934 nach Amsterdam. Somit begann ein neuer, wichtiger Abschnitt in ihrem
Leben.
II. NEUANFANG IN DEN NIEDERLANDEN
In den Niederlanden machten die alteingesessenen Juden ungefähr ein Prozent der
Gesamtbevölkerung aus. Sie waren bereits vor mehr als 300 Jahren aus Süd- und Osteuropa
eingewandert27. Nur eine schmale Schicht des niederländischen Judentums meist spanischer oder
portugiesischer Herkunft lebte im Reichtum und hatte wichtige Positionen im Wirtschafts- und
Kulturleben inne. Die Mehrheit jedoch war vor Jahrhunderten aus Polen, der Tschechoslowakei und
Rußland eingewandert und als Proletariat in der Industrie beschäftigt. Viele Juden engagierten sich
auch in der Arbeiterbewegung. Die Holländer standen ihnen keineswegs feindlich gegenüber, im
Gegenteil. Die Juden in ihrem Land hatte dieselben bürgerlichen Rechte wie alle anderen Einwohner,
und es gab auch keinen schwelenden Antisemitismus oder Haß, wie er sich in Deutschland bereits
lange vor Hitlers Machtergreifung gegen die Juden gerichtet hatte. Die Niederländer tolerierten und
respektierten die Angehörigen der jüdischen Religion als gleichberechtigte Landsleute.
Enblem von Otto Franks 1933 gegründeter Firma, die Pektin verkaufte.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 18.
Kein Wunder also, daß die Familie Frank, erleichtert über die gelungene Übersiedlung, voller
Hoffnungen ihr neues Leben in Amsterdam begann. Otto Frank stürzte sich voller Elan in die Arbeit.
Der Firmensitz der „Travies & Co.“ - Handelsgesellschaft befand sich Zentrum der Stadt und
beherbergte einige Büros mit mehreren Mitarbeitern. Edith Frank kümmerte sich um die
Haushaltsführung, und ihre Tochter Margot besuchte die Montessori-Schule. An dieses Institut war
auch ein Kindergarten angeschlossen, den Anne ab Mai 1934 besuchte28. In den MontessoriSchulen herrschten liberale und großzügige Erziehungsmethoden, die den Willen der einzelnen Kinder
und deren Selbständigkeit fördern sollten. Annes offenem und übermütigem Wesen kam diese
27
28
Müller, Biographie, 125.
Anne Frank Stiftung, Anne Frank, 17.
Pädagogik natürlich sehr entgegen, und sie gewöhnte sich rasch in die neue Heimat ein. Beide
Mädchen, Margot und Anne, lernten in kürzester Zeit fließend Niederländisch, und auch ihr Vater
beherrschte diese Sprache bald perfekt. Schwieriger hatte es in dieser Hinsicht ihre Mutter, die
häufig zu Hause war, weniger als Mann und Kinder in Kontakt mit anderen Menschen kam und
daher auch wenige Möglichkeiten zur Übung hatte.
Ab 1934 besuchte Anne Frank den Montessori-Kindergarten, dann die Montessori-Schule. Auf diesem
Foto ist sie sieben Jahre alt und geht in die Klasse von Jan van Gelder.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 17.
Die Familie Frank mußte sich in den Niederlanden einen neuen Bekanntenkreis aufbauen. Meist
handelte es sich dabei um andere jüdische Emigranten aus Deutschland, mit denen sie sich öfters zum
Essen oder zum Kaffee trafen. Sie alle verband das gleiche Schicksal: sie hatten, da die politischen
und judenfeindlichen Absichten der Nazis ihr Leben immer mehr beeinträchtigten und bedrohten, ihre
alte Heimat verlassen und mußten sich in einem fremden Land eine neue Existenz aufbauen, was in
keinem Fall leicht war. Besonders Edith Frank litt unter starkem Heimweh nach Deutschland29. Otto
Franks Sekretärin, die gebürtige Wienerin Hermine (Miep) Santrouschitz, und deren Verlobter Jan
Gies wurden ebenfalls oft zu diesen Nachmittagszusammenkünften eingeladen. Beide verstanden sich
hervorragend mit den Franks, und so entwickelte sich bald ein vertrauliches Verhältnis. Später sollte
die Familie sogar zur Hochzeit von Miep und Jan im Jahre 1941 eingeladen werden.
Anne schloß eine besonders enge Freundschaft zu ihren Mitschülerinnen Hannah Goslar und Susanne
Ledermann. Dieses Trio wurde „Anne, Hanne und Sanne“ genannt und war in der Umgebung
berüchtigt für seine Streiche. Sowohl die Ledermanns als auch die Goslar waren deutsch-jüdische
Familien und waren im selben Jahr wie die Franks in die Niederlande geflüchtet. Anne war durch ihr
überschäumendes Temperament die dominierende der drei Mädchen. Auch unter ihren Mitschülern
in der Montessori-Schule, die sie ab 1936 besuchte, war sie beliebt.
29
Miep Gies, Meine Zeit mit Anne Frank (München 1991), 34.
Anne (rechts) und ihre Spielkameradin Sanne am Merwedeplein, Amsterdam.
Aus: Anne Frank Tagebuch, ed. Otto Frank, Mirjam Pressler (Frankfurt/Main 1992), 40.
Anne war offen und sehr natürlich. Im Unterricht sicherlich keine Musterschülerin (so hatte sie ihre
Probleme mit der Mathematik) wie ihre ältere Schwester, bestach sie dennoch durch ihr spontanes
Naturell. Ihre Begabung lag in der Schauspielerei und im Schreiben. Im Gespräch mit Ernst Schnabel
äußert sich ihr Lehrer, Jan van Gelder, so zu Anne30: „Sie war kein Wunderkind. Sie war
sympathisch, gesund... aber ein außerordentliches Kind war sie nicht. Daß sie Schriftstellerin werden
wollte, ist richtig. Das weiß ich noch. Es fing schon ganz früh an, sehr früh... und ich denke, sie hatte
wohl eine Chance. Sie erlebte mehr als andere Kinder. Man kann sogar sagen, sie hörte auch mehr,
auch das Lautlose.“ Und Miep Gies bestätigt Annes schauspielerisches Talent. Sie konnte die
Stimmen ihrer Freundinnen und Lehrer, das Miauen ihrer Katze Moortje perfekt imitieren. Und sie
genoß es, mit ihren kleinen Darbietungen die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zu ziehen31.
Während Margot mehr an ihrer Mutter hing, konnte Anne ihren Vater spielend um den Finger
wickeln. Sie war das typische Papa-Kind und bewunderte ihn in allem, was er sagte und tat. Ihrer
Mutter stand sie gelegentlich ablehnend gegenüber, und vor allem wegen Annes aufbrausendem
Wesen kam es öfter zu Streitereien, die meist Otto Frank schlichtete. Reibereien gab es auch
zwischen den beiden Schwestern. Margot war stets die Brave, die Gütige, galt auch als das schönere
der beiden Mädchen und wurde Anne oft als Vorbild hingestellt. In ihr regte sich Eifersucht, und sie
rivalisierte mit der älteren Schwester um die Zuneigung des Vaters. Doch dieser Neid auf Margot
war unbegründet. Otto Frank berichtete nach dem Krieg32: „Es stimmte, daß ich mich mit Anne
besser verstand als mit Margot, die ihrerseits mehr an ihrer Mutter hing. Vielleicht war dies so, weil
Margot selten ihre Gefühle zeigte, nicht so viel Stütze brauchte, da sie nicht so unter
Stimmungsschwankungen litt wie Anne.“
30
31
32
Schnabel, Spur eines Kindes, 39.
Gies, Zeit mit Anne Frank, 52.
Müller, Biographie, 277/278.
Anne verbrachte viel Zeit mit ihren zahlreichen Freundinnen. Sie gingen schwimmen, fuhren Rad33
und telefonierten ständig miteinander. Oft übernachtete sie bei anderen Mädchen, die sich ihrerseits
regelmäßig für kurze Zeit in der Frank´schen Wohnung einquartierten. Mit Familie Goslar verbrachte
Anne einige Wochen in deren gemietetem Ferienhaus. Im Sommer fuhren die Franks oft ans Meer,
nach Zandvoort aan See34. Einmal unternahmen sie auch eine Reise in ein belgisches Seebad. Im Juni
1935 besuchten Otto und Anne Frank ihre Mutter bzw. Großmutter in Basel in der Schweiz. Auch
die Verwandten mütterlicherseits, Ediths Mutter und ihre beiden Brüder, die noch in Aachen lebten,
empfingen die vier Neo-Niederländer regelmäßig in ihrem Haus.
Margot und die jüngere Anne im Juni 1939 in Zandvoort/See.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 19.
33
34
Radfahren: quasi der Nationalsport der Niederländer
Anne Frank Stiftung, Anne Frank, 16.
In Deutschland spitzte sich die politische Lage für die Juden immer mehr zu. Am Nürnberger
Reichsparteitag
im
September
1935
begann
die
systematische
Ausgrenzung
dieser
Bevölkerungsgruppe durch staatliche Gesetze. Die deutschen Juden verloren das Staatsbürgerrecht
und galten Ausländern gleichgestellt. Das Gesetz „zum Schutze des deutschen Blutes und der
deutschen Ehre“35 verbot Eheschließungen und außereheliche Beziehungen zwischen Juden und
Ariern. Bei Zuwiderhandlungen mußten die Betroffenen mit Gefängnis- und Zuchthausstrafen
rechnen. Bereits sofort nach der Machtübernahme hatten die Nationalsozialisten einen Boykott, der
sich gegen jüdische Ärzte, Rechtsanwälte und Geschäfte richtete, erwirkt. Daraufhin wurden die
Juden aus dem öffentlichen Dienst entfernt. Viele von ihnen versuchten, in andere Länder zu fliehen.
Doch das wurde immer schwieriger, da das Ausland nicht bereit und auch nicht fähig war, den
endlosen Strom von Flüchtlingen in ihrem Land aufzunehmen, und seine Grenzen schloß. Die meisten
Länder verlangten hohe Geldsummen für ein Visum oder eine Arbeitsbestätigung36. Nicht alle Juden
konnten dies aufweisen, und so blieben sie in Deutschland zurück, wo ihnen ein Recht nach dem
anderen genommen wurde, bis sie schließlich keinerlei Rechte mehr hatten.
Für Deutschland standen die Jahre nach 1933 zumindest wirtschaftlich im Zeichen des Aufschwungs.
Arbeitslose wurden in staatliche Projekte wie den Bau von Regierungsgebäuden oder Autobahnen
eingebunden. Zudem begann Hitler mit dem Aufbau einer Waffenindustrie und der Errichtung einer
schlagkräftigen Armee. Regelmäßige Paraden und die häufige Präsenz von Uniformen dienten auch
Propagandazwecken. Geschickt inszenierte Massenveranstaltungen machten auf die Menschen
enormen Eindruck. Großen Wert legten die Nazis auf die Erziehung der Jugend. Bereits von
Kindesbeinen an wurden sie im Sinne der Partei gedrillt und auf ihre zukünftigen Aufgaben
vorbereitet: Während die Knaben bei der Hitlerjugend (HJ) militärisch ausgebildet wurden, hatten die
Lebensziele der Mädchen Mutterschaft und Haushaltsführung zu sein37.
1938 ermordete der junge polnische Jude Herschel Grynspan in Paris den deutschen
Botschaftsangehörigen Ernst von Rath, um die Weltöffentlichkeit auf die Verfolgung seiner
Glaubensgenossen aufmerksam zu machen. Dieses Attentat diente den Nazis als willkommener
Vorwand, eine gewaltsame Aktion gegen die Juden zu inszenieren. Offiziell handelte es sich um eine
35
Zeitbilder 7, Pädagogischer Verlag GmbH, ed. Hermann Lein, Alois Scheucher, Eduard Staudinger, Anton
Wald (Wien2 1998), 157.
36
Anne Frank Stiftung, Anne Frank, 19.
spontane Entladung des deutschen Volkszornes, in Wirklichkeit wurde alles von der NSDAP und
ihren Gruppen organisiert und durchgeführt38. In der Nacht vom 9. zum 10. November wurden in
ganz Deutschland jüdische Büros, Geschäfte und Wohnungen zerstört und geplündert. Selbst vor
Synagogen, den jüdischen Gebetshäusern, machte man nicht halt. Sie wurden in Brand gesteckt und
demoliert. Jüdische Männer wurden zu Tausenden mißhandelt, und viele landeten in Lagern und
Gefängnissen.
Verwüstete Geschäfte in Deutschland nach der berüchtigten „Kristallnacht“.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 13.
Natürlich verfolgte man auch in den Niederlanden all diese Ereignisse mit großer Besorgnis. Otto
Frank äußerte laut seiner Sekretärin Miep Gies die Hoffnung, daß der krankhafte Judenhaß, einem
Fieberanfall vergleichbar, in der zu trauriger Berühmtheit gelangten „Reichskristallnacht“ seinen
37
38
Anne Frank Stiftung, Geschichte für heute, 25.
Pädagogischer Verlag, Zeitbilder 7, 158.
Höhepunkt erreicht habe und sich die Ausschreitungen legen würden39. Und Anne Frank schreibt in
einer Tagebucheintragung vom 20. Juni 194240: „Unser Leben verlief nicht ohne Aufregung, da
die übrige Familie in Deutschland nicht von Hitlers Judengesetzen verschont blieb. Nach den
Pogromen 1938 flohen meine beiden Onkel, Brüder von Mutter, nach Amerika, und meine
Großmutter kam zu uns.“
Das Gegenteil trat ein. Die Schlinge zog sich für die jüdischen Bewohner des deutschen Reiches
immer enger zu. Außenpolitisch ging Hitler nun zu einer Eroberungspolitik über. Am 12. März
desselben Jahres waren deutsche Truppen in sein Heimatland Österreich einmarschiert41. Die
Westmächte waren überrascht, taten jedoch nichts, um diesen Schritt wieder rückgängig zu machen.
Auch in Österreich setzte sofort die Verfolgung der Juden ein, und unliebsame politische Gegner
verschwanden sogleich in Konzentrationslagern wie Dachau oder dem neu errichteten Mauthausen in
Oberösterreich.
Dieser leicht errungene Erfolg ermunterte Hitler, unter Kriegsdrohungen die Abtretung des
Sudetenlandes zu verlangen. Am 15. März 1939 marschierten deutsche Truppen in Prag, der
Hauptstadt der Tschechoslowakei, ein. Mit der widerrechtlichen Besetzung dieses Landes wuchsen
die Besorgnisse im Ausland. Den Westmächten (U.S.A., Großbritannien, Frankreich usw.) wurde
klar, daß Hitlers Machterweiterung nur mehr mit militärischen Mitteln zu stoppen sei. Holland hielt,
wie im übrigen alle Nachbarstaaten Deutschlands, seine Truppen in Alarmbereitschaft. Königin
Wilhelmina proklamierte im Spätsommer 1939 offiziell die strikte Neutralität der Niederlande42.
39
40
41
Gies, Zeit mit Anne Frank, 41.
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 20/21.
Pädagogischer Verlag, Zeitbilder 7, 148.
Das Haus am Merwedeplein, in dem die Familie Frank von 1934 bis 1942 wohnte.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 28.
Am 1. September 1939 fielen deutsche Truppen in Polen ein. Sollten diese nicht unverzüglich wieder
zurückgezogen werden, warnten die Westmächte, würden sie Polen zu Hilfe kommen. Hitler lenkte
nicht ein und mißachtete ein Ultimatum der Engländer und Franzosen. Die Kriegserklärung dieser
beiden Staaten war daraufhin nur noch eine Formalität. Der Zweite Weltkrieg war ausgebrochen.
Hitlers „Blitzkrieg“-Strategie43 erwies sich anfangs als sehr erfolgreich, und bereits am 6. Oktober
hatten deutsche Truppen ganz Polen unter Kontrolle. Deutsche Kolonisten wurden in Gebiete
eingewiesen, um den Osten zum neuen Lebensraum des Reiches zu machen. Unbemerkt von der
Weltöffentlichkeit, begann in Polen sofort der Terror gegen die Juden und die polnische Bevölkerung
selbst, die als minderwertige Rasse angesehen wurde. Heinrich Himmler, der Führer der SS, brachte
die Einstellung der Nazis diesbezüglich zum Ausdruck44: „Wie es den Russen geht, wie es den
Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie
verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur
brauchen, anders interessiert mich das nicht.“
42
Müller, Biographie, 143.
Im April 1940 besetzte die deutsche Armee relativ mühelos Dänemark und Norwegen. Doch damit
waren Hitlers Expansionsgelüste noch nicht befriedigt. Doch die strikte Neutralität Hollands,
Belgiens, Luxemburgs und der Schweiz (allesamt unmittelbare Nachbarstaaten Deutschlands) wären
„peinlich zu achten“, hatte Hitler in seiner „Weisung Nr. 1 für die Kriegsführung“ vom 31. August
1939 vorgeschrieben45. „Neutralität“ war das Wort, an das sich nun alle Holländer verzweifelt
klammerten, insbesondere natürlich die immigrierten deutschen Juden.
43
44
45
Pädagogischer Verlag, Zeitbilder 7, 150.
Anne Frank Stiftung, Geschichte für heute, 38.
Müller, Biographie, 143.
III. DIE BESETZUNG DER NIEDERLANDE
Am 10. Mai 1940 durchbrachen Hitlers Truppen an mehreren Stellen die deutsch-niederländische
Grenze. Panzer bewegten sich unaufhaltsam in Richtung Amsterdam, und vom Himmel dröhnte der
Lärm der Flugzeugmotoren. Mehrere Städte, vor allem Rotterdam, sowie der Flughafen der
Hauptstadt, Schiphol, wurden bombardiert. Die holländische Armee leistete tapferen Widerstand,
doch gegen die Überlegenheit der deutschen Streitkräfte war sie letztendlich machtlos. Am 13. Mai
verließen Königin Wilhelmina und die Mitglieder der niederländischen Regierung das Land und
begaben sich nach London, was zunächst größte Empörung unter der Bevölkerung hervorrief46.
Doch im Exil setzten sie ihren Kampf für die Wiedererlangung eines demokratischen Staates fort, und
die Monarchin wurde zum Unabhängigkeitssymbol. Militärisch konnten sich die holländischen
Streitkräfte jedoch nicht erfolgreich wehren. Unter Androhung von deutschen Bombardements auf
sämtliche Großstädte stimmten die Niederlande der Kapitulation zu, die am 15. Mai 1940 erfolgte.
Luxemburg und Belgien war es ebenso ergangen wie Holland. Alle drei Länder wurden von der
Wehrmacht buchstäblich überrannt, und nach weniger als einem Monat war der deutsche Überfall
auf die BENELUX-Staaten, der „Fall Gelb“, abgeschlossen47. Alle drei Länder waren
hochindustrialisiert, und Hitlers Hauptziel war die wirtschaftliche Ausbeutung der Rohstoffe und der
Arbeitskraft. Aber auch strategische Gründe spielten in den deutschen Überlegungen eine große
Rolle. So kann der lang geplante „Fall Gelb“ als Vorstufe für den Angriff auf Frankreich gesehen
werden. Nur ein Monat später wehte dann tatsächlich die Hakenkreuz-Fahne am Pariser Eiffelturm.
Die Niederländer war überzeugt gewesen, daß die Neutralität ihres Landes von Deutschland
respektiert werde. Daher war der Überfall zwar befürchtet, aber sicherlich nicht erwartet worden.
Unter der Bevölkerung breitete sich anfangs Panik aus. Fluchtversuche und Verzweiflungstaten
standen an der Tagesordnung. Viele Juden fuhren ans Meer, in der Hoffnung, von dort aus per Schiff
nach Großbritannien übersetzen zu können. Etwa 150 von ihnen begingen schon am ersten Tag der
Besatzung aus Verzweiflung Selbstmord.
46
47
Anpassung - Kollaboration - Widerstand (Kollektive Reaktionen auf die Okkupation), ed. Wolfgang Benz,
Johannes Houwink ten Cate, Gerhard Otto (Berlin 1996), 76.
Hermann Kinder, Werner Hilgemann, dtv-Atlas zur Weltgeschichte - Band II (München33 1999), 477.
Dennoch verhielten sich die deutschen Truppen in den ersten Wochen überraschenderweise äußerst
korrekt und diszipliniert. Es wurden weder Geschäfte geplündert, noch beging die SS Greueltaten
wie bei den vorhergegangenen Eroberungen in Osteuropa. Der gebürtige Österreicher Arthur SeyssInquart wurde von Hitler zum „Reichskommissar für die Niederlande“ ernannt48. Als einzige
zugelassene Partei fungierte bald die „Nationalsozialistische Bewegung“ (NSB) unter ihrem
Vorsitzenden Anton Mussert. Die Niederländer wurden von den Nazis als „blutsverwandtes“ und
damit „rassisch wertvolles“ Volk betrachtet49. Die Besatzungsmacht war im Glauben, die
Bevölkerung für den Nationalsozialismus gewinnen zu können. Daher gab es zunächst keine
Brutalitäten gegenüber den Holländern.
Im Hause Frank herrschte - wie in allen jüdischen Haushalten - Aufregung, Angst und Erschütterung.
Nun waren sie auch in den Niederlanden von der „braunen Gefahr“ eingeholt worden. Otto Frank
hatte wenige Tage vor dem deutschen Überfall ein Angebot seiner in England lebenden Cousine
ausgeschlagen, die vorgeschlagen hatte, Anne und Margot für die Dauer des Krieges bei sich
aufzunehmen50. Weder er noch seine Frau wollten die Familie auseinander reißen. Beide wußten,
daß es beinahe unmöglich war, gemeinsam mit den Kindern zu emigrieren, da die sicheren Länder
ihre Grenzen schlossen und nicht mehr in der Lage waren, weitere Flüchtlinge aufzunehmen. So
versuchte die Familie, so normal wie möglich weiterzuleben. Otto Frank ging weiterhin täglich in sein
Büro, und die beiden Mädchen
besuchten ihre jeweiligen Schulen - Margot ein
Mädchengymnasium, Anne weiterhin die Montessori-Schule. Daß sich bereits im August sämtliche
Juden, die in den Niederlanden lebten, registrieren lassen mußten, wurde von der übrigen
Bevölkerung kaum wahrgenommen.
In den ersten Besatzungswochen veränderte sich das tägliche Leben weder für die jüdische noch für
die arische Bevölkerung der Niederlande kaum. Soldaten in deutschen Uniformen prägten das
Stadtbild, doch es kam zu keinen Übergriffen. In der Nacht flogen deutsche Maschinen über den
holländischen Luftraum in Richtung England, und bald begannen auch die systematischen
Bombardierungen von Großstädten wie Stuttgart oder Köln durch die Briten. Die Niederlande selbst
waren davon noch nicht betroffen. Allerdings herrschte ab acht Uhr abends für die gesamte
48
49
50
Gies, Zeit mit Anne Frank, 60.
ed. Benz, Houwink ten Cate, Otto, Anpassung - Kollaboration - Widerstand, 82.
Müller, Biographie, 148.
Bevölkerung eine strikte Ausgangssperre. Eine weitere Neuheit war die Einführung von
Lebensmittelkarten.
Im Herbst 1940 wuchs die Verzweiflung der Juden. Holländische Juden im öffentlichen Dienst,
Lehrer, Hochschulprofessoren, aber auch Briefträger, mußten auf Anordnung den Dienst quittieren.
Beamte wurden gezwungen, eine „Arier-Erklärung“ zu unterschreiben. Im Oktober 1940 mußte sich
Otto Franks Firma wie alle anderen Betriebe, deren Eigentümer Juden waren oder die einen oder
mehrere jüdische Geschäftspartner hatten, registrieren lassen.
„Travies & Co.“ stand auf soliden Beinen und hatte einen festen Kundenstock. Im Dezember 1940,
sieben Monate nach dem deutschen Überfall, bezog man ein neues Geschäftsbüro51. Das im 18.
Jahrhundert erbaute Grachtenhaus mit Backsteinfassade befand sich in der Prinsengracht 263, mitten
im Zentrum Amsterdams. Dieses Grachtenhaus bestand eigentlich aus zwei Gebäudeteilen, die durch
einen schmalen Gang verbunden waren. Im Erdgeschoß dieses dreistöckigen Gebäudes befand sich
ein Lager. Im Vorderhaus waren die verschiedenen Büros untergebracht, während das Hinterhaus
leer stand.
51
Müller, Biographie, 158.
Anne 1940 auf dem Flachdach des Hauses am Merwedeplein.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 25.
Der Lärm der Flugzeuge, die Nacht für Nacht über den Himmel donnerten, wirkte sich auf Annes
körperliche Verfassung negativ aus. Ohnehin zart gebaut, litt sie nun unter Schlaflosigkeit und
Angstzuständen. Dennoch bemühten sich Otto und Edith Frank, ihrer Tochter eine unbeschwerte
Kindheit und Jugend zu ermöglichen, solange das noch möglich war. Sie genoß es nach wie vor, stets
im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Das erreichte sie durch ihr offenes Wesen und ihre
Schlagfertigkeit. Sie hatte ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein und eine gehörige Portion Charme.
Anne verfügte aber auch über einige Tricks. So ermöglichte eine Fehlfunktion ihres Schultergelenks
zum Beispiel, daß sie ihren Arm problemlos und schmerzfrei aus- und wieder einrenken konnte, und
sie damit das Interesse aller auf sich lenkte.
Zu Annes vielfältigen Hobbies gesellte sich nun ein neues hinzu: ihr wachsendes Interesse für das
männliche Geschlecht. In ihre Gespräche ließ sie nun immer wieder Bemerkungen über bestimmte
Verehrer einfließen52. Anne war in dieser Beziehung weiter entwickelt als ihre bisher besten
Freundinnen, Sanne Ledermann und Hannah Goslar. In Jacqueline van Maarsen, genannt Jacque
oder Jopie, fand sie eine Freundin, mit der sie sich eher über dieses Thema unterhalten konnte.
Jacqueline war die Tochter einer Französin und eines Niederländers jüdischer Herkunft. Ihre Mutter
sagte über Anne53: „Très intelligente, très feminine ... und dreizehn Jahre alt! Sie wußte, wer sie
war... Anne war eine Person. Sie hatte Charme und Selbstbewußtsein. Sie wußte auch, was sie
wollte.“
Ein Ziel der niederländischen Nazis war es, die Wirtschaft von Juden zu befreien. Da Otto Frank
ahnte, daß auch sein Unternehmen davon betroffen sein würde, kam er der „Arisierung“ zuvor.
Glücklicherweise konnte er sich dabei auf seinen verläßlichen Mitarbeiterstab stützen. 1941 schied er
aus dem Direktorium von „Travies & Co.“ offiziell aus54. Dieses Amt übernahm nun sein treuer
Mitarbeiter Johannes Kleiman. Die Firma wurde auch umbenannt. Als Namensgeber fungierte Jan
52
53
Gies, Zeit mit Anne Frank, 65.
Schnabel, Spur eines Kindes, 36/37.
Gies, der Gatte von Franks Sekretärin Miep. Somit war der Betrieb nach außen hin in arischem
Besitz. Dennoch traf Otto Frank weiterhin alle wichtigen Entscheidungen und ging täglich zur Arbeit.
Der einzige Unterschied bestand darin, daß nun Johannes Kleiman seine Unterschrift unter sämtliche
Dokumente setzte.
Eine Reihe von Maßnahmen machte das Leben für Juden in den Niederlanden, aber auch in allen
anderen von den Deutschen besetzten Ländern immer schwieriger. Ziemlich harmlos begann es im
Jänner 1941, als der Besuch von Schauspielhäusern und Kinos verboten wurde. Für Anne allerdings
bedeutete das ein kleines Drama, da sie gerne und oft ins Kino gegangen war und auch Fotos von
berühmten Filmstars sammelte. Im Frühsommer 1941 wurde den Juden der Zutritt in
Schwimmbäder, Parkanlagen, Kuranstalten und Hotels untersagt. In die Personalausweise, die man
immer bei sich tragen mußte, wurde ein großes J gestempelt. Das Benutzen öffentlicher
Verkehrsmittel wurde verboten, ebenso der Besitz von Fahrrädern. Das Tragen von zweiten
Vornamen - Israel und Sara - wurde zur Pflicht. Ab Juni 1942 wurden alle Juden über sechs Jahren
mit einem gelben Stern gebrandmarkt. Anne selbst listet diese Verordnungen am 20. Juni 1942 in
ihrem Tagebuch auf55: „Judengesetz folgte auf Judengesetz, und unsere Freiheit wurde sehr
beschränkt. Juden müssen einen Judenstern tragen; Juden müssen ihre Fahrräder abgeben;
Juden dürfen nicht mit der Straßenbahn fahren; Juden dürfen nicht mit einem Auto fahren,
auch nicht mit einem privaten; Juden dürfen nur von 3-5 Uhr einkaufen; Juden dürfen nur zu
einem jüdischen Friseur; Juden dürfen zwischen 8 Uhr abends und 6 Uhr morgens nicht auf
die Straße; Juden dürfen sich nicht in Theatern, Kinos und an anderen dem Vergnügen
dienenden Plätzen aufhalten; Juden dürfen nicht ins Schwimmbad, ebensowenig auf Tennis-,
Hockey- oder andere Sportplätze; Juden dürfen nicht rudern; Juden dürfen in der
Öffentlichkeit keinerlei Sport treiben; Juden dürfen nach acht Uhr abends weder in ihrem
eigenen Garten noch bei Bekannten sitzen; Juden dürfen nicht zu Christen ins Haus kommen;
Juden müssen auf jüdische Schulen gehen und dergleichen mehr. So ging unser Leben weiter,
und wir durften dies nicht und das nicht.“
Da jüdische Kinder, wie bereits erwähnt, nicht mehr zusammen mit arischen Schülern unterrichtet
werden durften, mußte Anne zu Beginn des Schuljahres 1941/42 die Schule wechseln und das
54
55
Müller, Biographie, 165.
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 21.
Jüdisches Lyzeum besuchen. 87 jüdische Schüler hatte die Montessori-Schule gezählt; in Annes
Klasse allein war fast die Hälfte der Schüler jüdischen Glaubens.
Hannah Goslar und Anne kamen gemeinsam in die erste Schulstufe des Lyzeums. Letztere fiel in der
Schule vor allem durch ihre vorlauten Bemerkungen auf und wurde von den Lehrern wegen ihres
permanenten Schwätzens ständig ermahnt. Hannahs Mutter kommentierte Annes Wesen manchmal
so56: „Gott weiß alles, aber Anne weiß alles besser.“
Zu ihren nicht-jüdischen Kameraden von der Montessori-Schule verloren Anne und die anderen
jüdischen Kinder bald den Kontakt. Damit war den Nazis die Trennung in zwei Welten, eine arische
und eine jüdische, gelungen. Die Juden wurden langsam, aber sicher vom Rest der Bevölkerung
isoliert.
Eine Eintragung von Anne Frank (19. Juni 1942). Sie klebte auch Fotos in ihr Tagebuch und schrieb
Kommentare dazu.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 25.
Währenddessen weitete sich die deutsche Eroberungspolitik zu einem weltumspannenden Krieg aus.
Bis auf das Unternehmen „Seelöwe“, die geplante Landung in England57, konnte Hitler zunächst alle
seine Ziele verwirklichen. Von Norwegen bis nach nach Griechenland oder Nord-Afrika wurde
Europa von Hitlers Truppen besetzt. Im Juni 1941 erfolgte ohne Kriegserklärung der deutsche
Überfall auf die Sowjetunion („Fall Barbarossa“). Rumänien, Italien, die Slowakei und Ungarn traten
in den Krieg ein. Briten und Russen verbündeten sich gegen Deutschland. Anfangs kamen die
deutschen Truppen rasch voran, doch der Wintereinbruch behinderte immer mehr den Vormarsch
der Wehrmacht. Die sowjetische Armee erwies sich immer deutlicher als ein verbissener Gegner für
die deutschen Streitkräfte.
Am 11. Dezember waren auch die Vereinigten Staaten von Amerika in den Krieg eingetreten58. Nun
standen sich in diesem Weltkrieg zwei Gruppen von Staaten gegenüber, die erbittert um den Sieg
kämpften: die Alliierten (England, Frankreich, die U.S.A. sowie die UdSSR) und Nazi-Deutschland
mit all seinen besetzten Gebieten und Verbündeten (Italien und Japan).
Im Februar 1941 kam es in Holland zu einer Reihe von Zwischenfällen, die zeigen sollten, daß ein
großer Teil der Bevölkerung auf Seiten der Juden und der Fremdherrschaft in ihrem Land
überdrüssig war. In einem Café hatten ein paar Juden aus Protest gegen die zunehmende Verfolgung
einem deutschen Soldaten Salmiakgeist über den Kopf geschüttet59. Als Vergeltung dafür wurden im
alten Judenviertel 427 Geiseln genommen, die zunächst durch entwürdigende Prozeduren gequält (so
mußten sie beispielsweise vor den Soldaten auf den Knien herumrutschen), verhaftet und schließlich
in Lastwägen abtransportiert wurden. Man deportierte sie in das österreichische Konzentrationslager
Mauthausen. Nur zwei von ihnen kamen nach dem Krieg lebend nach Holland zurück60.
Durch diesen Vorfall zutiefst erschüttert, riefen die Niederländer für den 25. Februar 1941 zum
Generalstreik auf. Der „Februarstreik“ dauerte drei Tage lang. Die gesamte Industrie und der
Verkehr waren lahmgelegt. Es kam zu öffentlichen Protesten und Demonstrationen, Ausdruck einer
56
57
58
59
60
Alison Leslie Gold, Erinnerungen an Anne Frank (Ravensburg 1998), 13.
Kinder, Hilgemann, dtv-Weltatlas II, 477.
Müller, Biographie, 193.
Gies, Zeit mit Anne Frank, 64.
Müller, Biographie, 173.
zunehmend antideutschen und proenglischen Einstellung. Dieser Streik wurde von der deutschen
Okkupationsmacht brutal niedergeschlagen61.
Dennoch hinterließ dieses Ereignis in den Niederlanden einen tiefen Eindruck. Die Stimmung der
Juden hob sich beträchtlich, denn die Bevölkerung hatte durch den „Februarstreik“ deutlich
demonstriert, daß sie die nationalsozialistische Politik und insbesondere die Judenverfolgung
verabscheute. Mehrere Widerstandsgruppen wurden gegründet, die entweder Sabotage betrieben
oder illegale Kampfschriften herausgaben. Wer nicht im organisierten Widerstand tätig war, äußerte
zumindest symbolisch seine Solidarität mit den Juden. Auf der Straße wurden sie besonders höflich
gegrüßt, und das Niederlegen von Blumen an königlichen Denkmälern brachte massenhaft nationale
und antideutsche Gefühle zum Ausdruck. Ab Juli 1940 bereits gab es im verbotenen BBC
regelmäßig eine niederländische Sendung, „Radio Oranje“, zu hören.
Inzwischen erdachten sich Hitler und seine Gefolgsleute die „Endlösung der Judenfrage“62. In der
sogenannten „Wannsee-Konferenz“ am 20 Januar 1942 wurde ein Programm festgelegt, wie man
sich der elf Millionen europäischen Juden entledigen konnte. In den Niederlanden waren von diesen
Vorhaben etwa 160.000 Menschen betroffen. Dieses Programm sah zunächst Arbeitseinsatz der
Juden in Arbeitskolonnen in osteuropäischen Lagern vor (unter Trennung der Geschlechter). Die
holländischen Juden sollten über ein Durchgangslager im Norden der Niederlande, Westerbork,
dorthin gelangen. Da durch die schwere körperliche Anstrengung und die unzureichende Ernährung
ein Teil der Juden ohnehin für diesen Arbeitseinsatz nicht in Frage kam, erdachte man sich für diese
eine spezielle „Lösung“. Schwerkriegsbeschädigte und Juden mit Kriegsauszeichnungen sollten ins
Schonlager Theresienstadt deportiert werden. Der „Restbestand“ sollte „entsprechend behandelt“,
das heißt, ausgerottet werden63. Die Vernichtung der Juden durch Erschießungskommandos erschien
der SS zu umständlich. So richteten sie Vernichtungslager, u.a. das berüchtigte KZ AuschwitzBirkenau, ein. Durch Tötung in Gaskammern, getarnt als Badezimmer, war es laut dem Lagerführer
Rudolf Höß möglich, bis zu 10.000 Menschen in 24 Stunden zu vernichten64.
Von all diesen Plänen hatten weder Arier noch Juden auch nur die geringste Ahnung. Die Nazis
bemühten sich mit all ihren Kräften, ihre grausamen Absichten geheimzuhalten. Zwar wurden immer
61
62
63
64
ed. Benz, Houwink ten Cate, Otto, Anpassung - Kollaboration - Widerstand, 107.
Kinder, Hilgemann, dtv-Weltatlas II, 483.
Kinder, Hilgemann, dtv-Weltatlas, 483.
nach Gustave M. Gilbert, Nürnberger Tagebuch; zitiert in: Pädagogischer Verlag, Zeitbilder 7, 160.
mehr Menschen zum Arbeitseinsatz im Osten aufgerufen, doch wohin der Transport tatsächlich ging,
ahnte vorläufig niemand.
Im Januar 1942 starb Rosa Holländer, Annes Großmutter, in Amsterdam an Krebs. Sie war drei
Jahre zuvor zur Familie ihrer Tochter Edith Frank gezogen. Ihr Tod hinterließ in der Familie eine
große Lücke; besonders Anne hatte eine große Zuneigung zu ihrer Oma empfunden.
Trotz aller Verbote, mit denen die Juden nun leben mußten, verbrachte Anne ein relativ normales
Schuljahr. In ihrem Tagebuch bezeichnete sie diese Zeit später sogar als „sorglos“65. In Hello
Silberberg, einem ebenfalls aus Deutschland geflüchteten Jungen, fand sie einen treuen Verehrer und
Freund, mit dem sie oft zusammen war. Da ihnen der Zugang zu öffentlichen Sportanlagen nicht mehr
erlaubt war, gründeten Anne und vier ihrer Freundinnen - Sanne Ledermann, Hannah Goslar,
Jacqueline van Maarsen und Ilse Wagner - einen Tischtennisclub, der sich „Kleiner-Bär-minus-zwei“
nannte. Sie hatten das „minus-zwei“ hinzugefügt, weil der Kleine Bär sieben Sterne hatte, aber nur
fünf Mädchen zum Club gehörten66. Sie übten regelmäßig in den Wohnzimmern der einzelnen
Familien. Nach dem Spiel stand der Besuch einer Konditorei oder Eisdiele am Programm.
65
66
Schnabel, Spur eines Kindes, 28.
Gold, Erinnerungen an Anne Frank, 15.
Ein Foto von Anne Frank aus dem Jahr 1941 oder 1942.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 23.
Schließlich näherte sich der Sommer 1942 - und damit Annes 13.Geburtstag. Am 12. Juni, einem
Freitag, war es dann soweit. Wie üblich, bekam Anne jede Menge Geschenke von ihren Eltern, ihrer
Schwester, Freunden und Verwandten. Als ihr schönstes Geschenk erwies sich aber ein Tagebuch
mit einem rot-weiß karierten, festen Einband67. Anne, die sehr viele Freundinnen hatte, mit denen sie
über alles Alltägliche reden konnte, beschloß, daß das Tagebuch zu ihrer besten Freundin werden
sollte. An diese imaginäre Freundin, genannt „Kitty“, wollte Anne Briefe schreiben, in denen sie ihre
Gefühle und Gedanken ausdrücken konnte. In ihrer ersten Eintragung, die sie noch an ihrem
Geburtstag vornahm, schrieb sie68: „Ich werde, hoffe ich, Dir alles anvertrauen können, wie ich
es noch bei niemandem gekonnt habe, und ich hoffe, Du wirst mir eine große Stütze sein.“
67
68
Anne Frank Stifung, Anne Frank, 7.
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 11.
Der rot-weiß karierte Umschlag von Annes Tagebuch.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 7.
IV. LEBEN IM VERBORGENEN
1. AUFRUF ZUR DEPORTATION - UNTERTAUCHEN - ALLTAG IM VERSTECK
Mittwoch, 8. Juli 194269: „Zwischen Sonntagmorgen und jetzt scheinen Jahre zu liegen. Es ist
so viel geschehen, als hätte sich plötzlich die Welt umgedreht. Aber, Kitty, Du merkst, daß ich
noch lebe, und das ist die Hauptsache, sagt Vater. Ja, in der Tat, ich lebe noch, aber frage
nicht, wo und wie.“
Ende Juni 1942 ließen die deutschen Besatzer offiziell verkünden, daß sie beschlossen hatten, alle
niederländischen Juden in Arbeitslager in Deutschland zu bringen - die Deportationen sollten
beginnen. Am Sonntag, den 5. Juli, fanden die ersten tausend Juden im Briefkasten eine Karte mit
der Aufforderung, sich bei der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Amsterdam zu melden70.
Annes sechzehnjährige Schwester, Margot, gehörte zu dieser ersten Gruppe.
Soweit bekannt, ist dies das letzte Foto von Margot und Anne.
69
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 32.
Aus: Anne Frank - Eine Geschichte für heute, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1998), 44.
Edith Frank war es, die das Schriftstück vom Postbeamten entgegennahm. Sie konnte ihren Augen
nicht trauen, daß die Deutschen es tatsächlich wagen konnten, Jugendliche aus ihrer Familie
loszureißen und sie zum Arbeitseinsatz zu verpflichten! Dennoch faßte sie sich rasch und reagierte
besonnen und überlegt. Ihren Töchtern schilderte sie mit knappen Worten, daß ihr Vater, Otto
Frank, einen Aufruf erhalten habe71. Margot und Anne sollten nicht in Panik ausbrechen und etwa
jetzt schon erfahren, daß die Aufforderung eigentlich einem der beiden Mädchen galt. Dann galt es,
Otto Frank zu informieren, um das weitere Vorgehen zu besprechen.
Die Eltern Frank waren sich einig, ihre Tochter nicht weggehen zu lassen, und hatten schon seit
einigen Monaten einen Ausweg gesucht. Ohne konkreten Anlaß, aber weil das Leben für Juden in
den Niederlanden immer gefährlicher wurde, hatten sie umfangreiche Vorbereitungen fürs
Untertauchen getroffen und als Stichtag den 16. Juli ins Auge gefaßt. Doch durch Margots Aufruf
wurde der ganze Plan um zehn Tage vorverlegt72.
Was bedeutete Untertauchen? Viele Juden versuchten, den deutschen Deportationen zu entkommen,
indem sie sich versteckt hielten. Doch das war nicht einfach. Man benötigte eine geeignete
Unterkunft und vor allem Menschen, die bereit waren zu helfen. Da die Juden für Monate, oft für
Jahre in die Illegalität verschwanden, mußten sie von Organisationen oder Einzelpersonen versorgt
und unterstützt werden. Etwas leichter war es, Kinder bei Niederländern unterzubringen. Viele
fanden Unterschlupf bei Bauern auf dem Land. Oft wurde viel Geld für einen Untertauchplatz
verlangt. Skrupellose Menschen lieferten verzweifelte Juden, die glaubten, sich dadurch dem Zugriff
der Nazis entziehen zu können, an die SS aus. Niederländer, die bereit waren, Juden bei sich zu
verstecken, setzten sich großen Gefahren aus. Die Nazis drohten mit schweren Strafen. Viele Helfer
wurden von den Deutschen geschnappt und in Konzentrationslager geschickt.
Doch es waren nicht nur Juden, die sich versteckt hielten. Auch gefährdete Widerstandskämpfer und
arische Männer, die den Arbeits- oder Wehrdienst verweigerten, tauchten unter. Schätzungen
70
71
72
Anne Frank Stiftung, Anne Frank, 27.
Müller, Biographie, 214.
Anne Frank Stiftung, Anne Frank, 29.
besagen, daß in den Niederlanden mehrere hunderttausend Menschen für kürzere oder längere Zeit
untertauchten73.
Seit dem Frühjahr 1941 hatten Otto und Edith Frank hinter dem Rücken ihrer Töchter heimlich
Möbel, Kleidung und Essensvorräte in das leerstehende, 50 Quadratmeter große Hinterhaus
gebracht. Diesen Gebäudetrakt der Firma „Gies & Co.“ in der Prinsengracht 263 hatten sie obwohl er mitten im Stadtzentrum Amsterdams lag - als ideales Versteck befunden. Hinter einer
schlichten grauen Tür befanden sich im unteren Stockwerk zwei kleine Räume mit jeweils einem
Fenster. Neben der Treppe, über die man nach oben gelangte, war ein großer fensterloser Raum mit
Waschtisch und WC. Der Raum darüber war groß, geräumig und verfügte über Kochmöglichkeiten
(Spüle, Herd). Eine weitere steile Holztreppe führte auf Dachboden und Speicher74.
Da Margots Leben nun tatsächlich bedroht war, beschloß die Familie Frank, bereits am 6. Juli 1942
ins Hinterhaus zu übersiedeln. Otto Franks Sekretärin Miep Gies war von ihrem Arbeitgeber schon
einige Wochen zuvor über die Pläne zum Untertauchen informiert worden. Er hatte Miep damals
auch gefragt, ob sie bereit wäre, ihnen beim Untertauchen zu helfen. Sie erklärte sich mit einem
„natürlich“ einverstanden75. Dabei wußte sie, daß sie sich damit in große Gefahr begeben würde.
Neben Miep Gies gab es nur wenige Menschen, die in die geheimen Pläne eingeweiht waren: Otto
Franks Mitarbeiter, Johannes Kleiman und Victor Kugler, zudem die junge Stenotypistin Elisabeth
(Bep) Voskuijl sowie deren Vater, Herr Johannes Voskuijl, der im Lager des Betriebes als Arbeiter
beschäftigt war.
In den frühen Morgenstunden des 6. Juli brach die Familie Frank auf. Sie verließen zu Fuß (das
Benutzen von Verkehrsmitteln war ihnen als Juden ja verboten!) die Wohnung am Merwedeplein,
die sie seit ihrer Emigration aus Deutschland bewohnt hatten. Widerwillig mußte Anne ihre Katze
Moortje zurücklassen76. Margot wurde von Miep abgeholt und sicher in das Gebäude in der
Prinsengracht gebracht. Um halb acht Uhr verließen auch Otto, Edith und Anne Frank die alte
Wohnung. Vier Tage später berichtete Anne in ihrem Tagebuch darüber77: „Die aufgedeckten
73
74
75
76
77
Anne Frank Stifung, Anne Frank, 59.
Gies, Zeit mit Anne Frank, 95.
Anne Frank Stiftung, Anne Frank, 26.
Gold, Erinnerungen an Anne Frank, 17.
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 34.
Betten, das Frühstückszeug auf dem Tisch, ein Pfund Fleisch für die Katze in der Küche, das
alles erweckte den Eindruck, als wären wir Hals über Kopf weggegangen. Eindrücke konnten
uns egal sein. Weg wollten wir, nur weg und sicher ankommen, sonst nichts.“ Im strömenden
Regen gingen Eltern und Tochter Frank in die Prinsengracht, jeder beladen mit mehreren Taschen
voller Kleidung, Toiletteartikel etc. Erst auf der Straße weihten Otto und Edith Frank Anne nach und
nach in den ganzen Plan ein.
Dieses Bild aus dem Jahr 1945 zeigt Otto Frank, umringt von seinen Helfern. Von links nach rechts:
Miep Gies, Victor Kugler, Otto Frank, Johannes Kleiman, Bep Voskuijl.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 32.
Im Hinterhaus angekommen, machten sich die vier Familienmitglieder sofort an die Arbeit. Zuerst
mußten sie die Fenster mit Vorhängen verdunkeln. Die Zimmereinteilung war schnell geregelt: Im
unteren Stockwerk bewohnten das Ehepaar Frank und die beiden Mädchen je einen Raum. Das
Zimmer darüber sollte als Küche und Wohnraum dienen. Dann waren sie stunden- und tagelang
damit beschäftigt, das Chaos aus Kisten, Säcken, Vorräten und Möbeln zu ordnen, die Räume
einzurichten, Töpfe und Geschirr, aber auch Bücher und Kleidung in Schränken zu verstauen und
sich so gemütlich wie möglich einzurichten. Anne beklebte die Wände ihres Zimmers, das sie mit
Margot teilte, mit Fotos ihrer Lieblingsfilmstars78. Bei all diesen Aktivitäten fand Anne noch keine
Zeit, über ihr neues Leben nachzudenken. Ihr Lebensraum war auf einen Gebäudeteil mit wenigen
Zimmern geschrumpft. In den folgenden zwei Jahren sollte sie nie mehr auch nur einen Schritt aus
dem Haus wagen. Die Familie hatte die Tür hinter ihrem bisherigen Dasein zugeschlagen und war
offiziell aus Amsterdam verschwunden.
Um die Gestapo und Freunde, die unter Umständen nach ihnen suchen konnten, auf eine falsche
Fährte zu locken, hinterließen die Franks in ihrer alten Wohnung am Merwedeplein eine Maastrichter
Adresse79. Maastricht, eine holländische Stadt nahe der deutsch-belgischen Grenze, lag unmittelbar
auf einer Fluchtroute. Der Plan ging auf. Niemand vermutete die Familie Frank noch in Amsterdam.
Freunde und Bekannte gingen davon aus, daß sie in die Schweiz geflüchtet war und sich längst nicht
mehr auf niederländischem Boden befand.
Das Hinterhaus: Annes Zimmer lag hinter dem linken Fenster im ersten Stock.
78
79
Müller, Biographie, 232.
Gies, Zeit mit Anne Frank, 99.
Aus: Melissa Müller, Das Mädchen Anne Frank - Die Biographie (München 1998), 231.
Diese Zeichnung zeigt, wie das Hinterhaus von innen aussah.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 31.
Am 13. Juli 1942 zog auch die jüdische Familie van Pels zu den Franks ins Hinterhaus. Schon seit
langem hatten sie geplant, gemeinsam unterzutauchen. Die Familie van Pels bestand aus drei
Personen: Hermann und Auguste van Pels sowie deren Sohn Peter, „ein ziemlich langweiliger und
schüchterner Lulatsch, noch nicht sechzehn, von dessen Gesellschaft nicht viel zu erwarten
ist“80. Zudem kam auch Peters Katze Mouschi als neue Mitbewohnerin ins Hinterhaus. Nun lebten
sieben Menschen auf engstem Raum zusammen. Das Ehepaar van Pels nächtigte auf einer Couch im
Wohnraum, während Peter einen kleinen Vorraum zum Dachboden bezog.
Hermann, Peter und Auguste van Pels.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Sitftung (Amsterdam 1992), 34.
80
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 42.
Vom ersten Tag an herrschte im Hinterhaus ein einigermaßen geregelter Tagesablauf. Wochentags
standen die Bewohner um sieben Uhr früh auf. Die Nächte waren selten ungestört81. Es waren nicht
nur die Fliegeralarme, die die Untertaucher häufig um den Schlaf brachten. Auch die Angst zehrte an
ihren Kräften. Jedes noch so kleine Geräusch klang in der Stille der Nacht doppelt laut. Bis halb
neun Uhr hatten alle ihre Morgentoilette erledigt und fanden sich in der geräumigen Küche im oberen
Stockwerk ein. Dort nahmen sie das Frühstück zu sich und warteten gespannt auf die Ankunft von
Miep Gies, die nach wie vor als Sekretärin arbeitete. Dieser kurze Besuch diente nur dazu, die
tägliche Einkaufsliste abzuholen. Miep Gies mußte jeden Tag mehrere Geschäfte aufsuchen, um die
nötigen Essensmengen aufzutreiben. Ihr Gatte Jan, der für den Widerstand tätig war, nutzte seine
Kontakte und besorgte illegal gefälschte Lebensmittelkarten82. Neben ihm und Bep Boskuijl, die
täglich zum Mittagessen in die Prinsengracht kamen, Johannes Kleiman und Victor Kugler war sie
die einzige Verbindung der sieben Menschen zur Außenwelt.
Für die drei Jugendlichen Margot, Peter und Anne stand vormittags das tägliche Lernpensum am
Programm. Sie sollten nach Kriegsende den Anschluß an ihre Klassen nicht versäumen. Anne lernte
Sprachen, Mathematik, Geschichte (ihr Lieblingsfach) und Geographie, kurze Zeit auch
Stenographie. Otto Frank unterrichtete alle drei Jugendlichen in Französisch und Englisch. Außerdem
las er mit Anne auch deutsche Klassiker von Schiller und Goethe. Miep Gies brachte jeden Samstag
Bücher aus einer Leihbibliothek mit83. Lesen, Lernen und Radiohören bedeuteten für die
Eingeschlossenen eine willkommene Abwechslung vom eintönigen, angsterfüllten Alltagsleben.
Außerdem mußte aus den spärlich vorhandenen Lebensmitteln jeden Tag ein Essen fabriziert
werden, das einigermaßen sättigend und auch schmackhaft sein sollte. Je länger sich der Krieg
hinzog, um so schwieriger wurde die Versorgung. Alle Bewohner des Hinterhauses halfen
abwechselnd beim Küchendienst. Die Mittagspause der Arbeiter im Lager von eineinhalb Stunden
nutzten die Franks und die Familie van Pels, um sich ein wenig freier und ungezwungener bewegen zu
können. In der übrigen Zeit war alles Lärmerzeugende verboten84. Nacheinander kamen die Helfer
zum Mittagessen ins Hinterhaus. Man sprach über das Kriegsgeschehen und natürlich auch über
geschäftliche Angelegenheiten.
81
82
83
Müller, Biographie, 233.
Gies, Zeit mit Anne Frank, 110.
Müller, Biographie, 266.
Den Nachmittag verbrachte Anne meistens mit Lernen, Schreiben oder einem kurzen Mittagsschlaf.
In ihrem kleinen Zimmer saß sie stundenlang beim Schreibtisch, um ihre Gefühle, Eindrücke und
allgemeine Geschehnisse im Tagebuch festzuhalten. Das rot-weiß karierte Büchlein, das sie zu ihrem
13. Geburtstag geschenkt bekommen hatte, war bald voll. Daher verwendete sie für ihre
Aufzeichnungen normale Schulhefte.
Am Abend, nachdem der letzte Arbeiter das Gebäude verlassen hatte, begann „die Freiheit im
Hinterhaus“85. Nun konnten sich die Familien Frank und van Pels uneingeschränkt im ganzen
Gebäude bewegen. Anne und Margot machten sich oft in den Büros nützlich und schrieben für die
beiden Sekretärinnen Miep und Bep Briefe oder Geschäftsabrechnungen. Alle sieben Mitbewohner
betrieben täglich Gymnastik, um ein wenig in Form zu bleiben86. Andere Möglichkeiten zur
sportlichen Betätigung hatten sie ja nicht. Ab neun Uhr fingen die zeitaufwendigen Waschzeremonien
an, und um 10 Uhr lagen ausnahmslos alle im Bett.
Nur an den Wochenenden gönnten sich die eingeschlossenen Menschen einen etwas lockereren
Tagesablauf. Sie standen erst gegen 10 Uhr vormittags auf und wagten es auch, sich tagsüber im
Firmengebäude aufzuhalten. Annes besonderes Vergnügen bestand darin, hinter den Vorhängen des
Büros im Vorderhaus zu sitzen und die vorbeigehenden Menschen zu beobachten. So fing sie einen
Schimmer der Außenwelt auf87.
Manchmal verbrachten auch Miep und Jan Gies eine Nacht im Hinterhaus. Miep Gies berichtete88:
„Die Westerturmuhr schlug jede Viertelstunde. Die ganze Nacht konnte ich kein Auge zumachen. Ich
hörte jeden Schlag der Westerturmuhr. Ich hörte, wie es zu regnen anfing, wie Wind aufkam. Die
Stille hier drinnen war erdrückend. Ich spürte es körperlich, wie die Furcht der hier
zusammengedrängten Menschen sich auf mich legte, immer schwerer lastete. Wie eine Schlinge um
den Hals, die sich von Minute zu Minute fester zuzog. Es war so schrecklich, daß ich nicht schlafen
konnte. Erst jetzt begriff ich ganz, was es bedeutete, untergetaucht zu sein.“
84
85
86
87
88
Müller, Biographie, 236.
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 136.
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 80.
Anne Frank Stifung, Anne Frank, 42.
Gies, Zeit mit Anne Frank, 128/129.
Am Dienstag, den zehnten November 1942, hörte Anne, daß ein achter Untertaucher dazukommen
sollte89: „Ja, wirklich, wir sind immer der Meinung gewesen, daß es hier noch genug Platz und
Essen für eine achte Person gibt. Wir hatten nur Angst, Kugler und Kleiman noch mehr zu
belasten. Als nun die Greuelberichte wegen der Juden immer schlimmer wurden, hat Vater
mal bei den beiden entscheidenden Personen vorgefühlt, und sie fanden die Idee
ausgezeichnet.“ Die Wahl fiel auf einen Zahnarzt aus dem Bekanntenkreis der Franks, Herrn Fritz
Pfeffer. 1938 war er aus Deutschland in die Niederlande geflohen. Er lebte mit seiner
Lebensgefährtin Charlotte Kaletta, einer Christin, gemeinsam in Amsterdam90.
Der Zahnarzt Fritz Pfeffer.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 37.
Eine Woche später kam er ins Hinterhaus. Völlig verblüfft traf er dort die Franks an. Wie die
Nachbarn, die Freunde und Bekannten der Familie hatte er die ganze Zeit gedacht, sie seien ins
89
90
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 76.
Müller, Biographie, 258.
Ausland geflohen. Um das nun entstehende Schlafplatzproblem zu lösen, zog Margot ins Zimmer
ihrer Eltern, und Anne mußte ihres mit Herrn Pfeffer teilen.
2. KONFLIKTE IM HINTERHAUS
Wenn acht Menschen auf so engem Raum über Monate, ja sogar Jahre hinweg notgedrungen
zusammenwohnen müssen, kommt es natürlich gelegentlich zu Konflikten und Problemen. Neben der
lebensbedrohenden Angst, verraten zu werden oder sich durch eine kleine Unachtsamkeit selbst zu
verraten, gab es auch Sorgen alltäglicher Natur.
Zunächst einmal mußte die Versorgungslage geklärt werden. Während sich Herr Kleiman um den
Kauf von Fleisch- und Backwaren kümmerte, hatten Miep Gies und Bep Voskuijl die Versorgung
mit Gemüse und Milch über. Schnell hatten die Helfer herausgefunden, in welchen Geschäften sie
ohne Gefahr Lebensmittel besorgen konnten. Miep Gies kaufte in einem in der unmittelbaren
Nachbarschaft gelegenen Gemüseladen ein. Der Inhaber legte, ohne viel zu fragen, öfters größere
Mengen für sie zur Seite. Auch ein mit Hermann van Pels befreundeter Fleischer besorgte mehr als
die auf den Lebensmittelkarten ausgewiesenen Mengen. Solange es in den Geschäften also noch
genug Lebensmittel gab, so lange klappte auch die Versorgung der Untertaucher. Anne nahm in den
ersten drei Monaten im Hinterhaus sogar ein paar Kilo zu91. Je länger sich der Krieg allerdings
hinzog, um so schwieriger wurde die Versorgung. Das Angebot im Frühjahr 1943 war schon mager,
und Anne konnte ihren Ekel nicht verbergen92: „Da unsere Markenlieferanten festgenommen
worden sind, haben wir außer unseren fünf schwarzen Lebensmittelkarten keine Marken und
kein Fett... Unser Mittagessen heute ist Grünkohleintopf aus dem Faß. Unglaublich, wie
Grünkohl, der wahrscheinlich ein paar Jahre alt ist, stinken kann! Es riecht hier im Zimmer
nach einer Mischung aus verdorbenen Pflaumen, Konservierungsmittel und faulen Eiern. Bah,
mir wird schon übel allein bei dem Gedanken, daß ich dieses Zeug essen muß!“
Obst und auch Fleisch war unerschwinglich teuer geworden, Fett eine Rarität, und Kartoffeln
entwickelten sich bald zum Hauptnahrungsmittel. Essen hatte jeden Reiz verloren. Glücklicherweise
gab es am Dachboden des Hinterhauses einen sorgfältig angelegten Vorrat an Konservendosen (mit
91
92
Müller, Biographie, 243.
Tagebucheintragung vom 14. März 1944, zitiert in: Anne Frank Stiftung, Anne Frank, 38.
Gemüse, Milch, Fisch und Milchpulver), Reis, Dauerwurst und jede Menge getrocknete
Hülsenfrüchte.
Daneben waren es auch finanzielle Sorgen, die die Versteckten unter Hochspannung hielten. Wovon
sollten sie leben, wenn ihnen das immer knapper werdende Geld schließlich ganz ausginge? Die
Familie van Pels geriet im Oktober 1943 in akute Geldnot, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als
sich von einem wertvollen Pelzmantel und einem Teil ihres Schmuckes zu trennen. Auch die
finanziellen Reserven der Franks schrumpften, und sie mußten einige Wertsachen verkaufen. Der
Kauf neuer Kleidungsstücke wurde unmöglich, und so fiel das Gewand langsam auseinander.
Zu den finanziellen Problemen kamen Sorgen um die Gesundheit der Untergetauchten. Ernsthafte
Krankheiten traten in den 25 Monaten im Versteck bei keinem der acht Menschen auf, doch auch
kleinere - Fieber, Rheumaanfälle, kleine Schnittwunden - sorgten für genug Aufregung. Anne neigte
außerdem zu psychosomatischen Überreaktionen93. Wenn sie erschrak, schlug ihr Körper sofort
Alarm. Und berechtigte Gründe für ihre Angst gab es mehr als genug. Nächtliche Fliegeralarme und
lautes Sirenengeheul brachten sie um den Schlaf und damit um ihre Ausgeglichenheit.
Oft drang die Gefahr auch ins Gebäude selbst vor. Anfang 1943 wurde die Prinsengracht 263
verkauft - und natürlich wollte der neue Besitzer das Haus besichtigen. Herr Kleiman führte ihn durch
das ganze Haus, erklärte aber, den Schlüssel zum Hinterhaus verlegt zu haben. Zum Glück gab sich
der Eigentümer mit dieser Erklärung zufrieden94. Das Gefühl der Sicherheit, in dem sich die
Bewohner bisher gewogen hatten, schwand dadurch jedoch, und diese zusätzliche Furcht lag allen im
Nacken.
Aufgrund der großen Knappheit in Amsterdam fingen immer mehr Leute an zu stehlen. Während der
Untertauchzeit wurde mindestens dreimal ins Lager eingebrochen95. Viel schlimmer als die Angst vor
den Dieben war die Furcht vor den Polizisten, die nach jedem Einbruch das ganze Haus nach den
Eindringlingen absuchten. Was, wenn sie die Versteckten fänden? Nach einem dieser Einbrüche (11.
April 1944) schrieb Anne96: „Wir sind sehr stark daran erinnert worden, daß wir gefesselte
Juden sind, gefesselt an einen Fleck, ohne Rechte, aber mit Tausenden von Pflichten. Wir
93
94
95
Müller, Biographie, 298.
Gies, Zeit mit Anne Frank, 143.
Anne Frank Stiftung, Anne Frank, 45.
Juden dürfen nicht unseren Gefühlen folgen, müssen mutig und stark sein, müssen alle
Beschwerlichkeiten auf uns nehmen und nicht murren, müssen tun, was in unserer Macht liegt,
und auf Gott vertrauen. Wer hat uns das auferlegt? Wer hat uns Juden zu einer Ausnahme
unter allen Völkern gemacht? Wir können niemals nur Niederländer oder nur Engländer
bleiben oder was auch immer werden, wir müssen daneben immer Juden bleiben... In dieser
Nacht dachte ich eigentlich, daß ich sterben müßte. Aber nun, da ich gerettet bin, ist es mein
erster Wunsch für nach dem Krieg, daß ich Niederländerin werde. Ich liebe die Niederländer,
ich liebe unser Land, ich liebe die Sprache und will hier arbeiten.“
Annes Tagebuchaufzeichnungen lassen keinen Zweifel daran, daß sie vermutete, was mit den Juden
geschah, die entdeckt, verhaftet und deportiert wurden. Sie nahm an, daß die meisten ermordet
wurden, und wußte auch von der Existenz der berüchtigten Gaskammern97.
Daher hegte sie große Bewunderung für die Niederländer, die Untergetauchten halfen98: „ Es ist
erstaunlich, wie oft, wie nobel und wie uneigennützig diese Arbeit verrichtet wird, und wie die
Leute unter Einsatz ihres Lebens anderen helfen und andere retten. Das beste Beispiel dafür
sind doch wohl unsere Helfer... Nie haben wir von ihnen ein Wort gehört, das auf die Last
hinweist, die wir doch sicher für sie sind. Niemals klagt einer, daß wir ihnen zuviel Mühe
machen.“
Jeder neue Lagerarbeiter und jede Putzfrau, die Victor Kugler einstellte, löste bei den Versteckten
Unruhe aus. Besonders Willem van Maaren, der Lagerleiter, erregte ihren Verdacht. Statt sich nur
um seine Arbeit zu kümmern, spionierte er herum und begab sich auf Erkundungstouren. Besonders
das Hinterhaus hatte sein Interesse geweckt. Van Maaren hatte bemerkt, daß Büro und Lagerräume
in der Nacht benutzt wurden, und stellte den Unbekannten kleine Fallen. Viele Jahre später schrieb
Victor Kugler in einem Brief an Otto Frank 99: „Er hat öfters einen kurzen Holzstab auf den Packtisch
gelegt, sodaß der Stab etwas über den Tisch hinausstach. Da der Durchgang zwischen Tisch und den
Fässern auf der anderen Seite nicht so breit war, war es sehr gut möglich, daß die Person, die da
längs ging, den Stab verschob.“Van Maaren war nicht der einzige, der herausgefunden hatte, daß im
96
97
98
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 248/249.
Müller, Biographie, 301.
Tagebucheintragung vom 28. Januar 1944, zitiert in: Anne Frank Stiftung, Anne Frank, 41.
Hinterhaus mehrere Menschen lebten - und daß es sich um versteckte Juden handelte. Nach dem
Krieg erfuhr Otto Frank, daß die meisten Nachbarn früher oder später Vermutungen anstellten.
Manche glaubten sogar zu wissen, wer da zwei Jahre lang hinter den Mauern lebte.
Herr van Maaren behielt seine Entdeckungen nicht für sich. Seinem Lagergehilfen, dem illegalen
Schwarzarbeiter Lammert Hartog, teilte er im Frühling 1944 mit, daß im Gebäude versteckte Juden
versorgt würden. Dieser erzählte seiner Frau Lena Hartog-van Bladeren, die als Putzfrau in der
Prinsengracht 263 arbeitete, von diesen Vermutungen100. Irgendwann im Juli 1944 sprach Frau
Hartog Bep Voskuijl an, die ihr regelmäßig den Lohn für ihre Putzdienste übergab: Ob sie wüßte,
daß im Haus Juden versteckt wären. Wenn das Versteck aufflöge, wären alle Mitwisser in
Lebensgefahr, auch ihr Mann. Sie könnte das nicht länger untätig mit ansehen...
All dies konnte Anne natürlich nicht wissen. In ihrem Tagebuch schrieb sie jedoch über die ganz
persönlichen Probleme und Konflikte, die im Hinterhaus herrschten.
Schon seit jeher hatte sie ein denkbar schlechtes und gespanntes Verhältnis zu ihrer Mutter.
Während der 25 Monate im Versteck, besonders in den Jahren 1942 und 1943, eskalierte die
Situation öfters. Es kam zu Streitigkeiten, Beleidigungen, Wutausbrüchen und Weinkrämpfen. Edith
Frank schien zudem stets ihre ältere Tochter Margot in Schutz zu nehmen und sie zu bevorzugen zumindest in Annes Augen sah es so aus. Die geschwisterliche Liebe war daher auch nicht besonders
ausgeprägt. In der Hinterhausenge krachten Edith und Anne Frank, zwei sehr unterschiedliche
Charaktere, häufig aufeinander. Anne empfand ihre Mutter als roh, taktlos und abweisend. Otto
Frank versuchte dann, zwischen Mutter und Tochter zu vermitteln. Am 7. November 1942 schrieb
sie101: „Daß Mutter sich für Margot einsetzt, versteht sich von selbst, die beiden setzen sich
immer füreinander ein. Ich bin daran so gewöhnt, daß ich völlig gleichgültig gegen Mutters
Standpauken und Margots gereizte Launen geworden bin. Ich liebe sie nur deshalb, weil sie
nun einmal Mutter und Margot sind, als Menschen können sie mir gestohlen bleiben.“
99
Müller, Biographie, 306.
Müller, Biographie, 309.
101
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 72.
100
Margot Frank. Auch sie hat während der Zeit im Hinterhaus ein Tagebuch verfaßt, das jedoch leider
verloren gegangen ist.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 44.
Je aggressiver Anne ihre Mutter von sich stieß, um so mehr idealisierte sie ihren Vater, um so
offensiver rivalisierte sie mit Margot um seine Freundschaft und seine Liebe. Ihre Eintragung vom
dritten Oktober 1942102: „Gestern gab es wieder einen Zusammenstoß, und Mutter hat sich
schrecklich aufgespielt. Ich habe Papi endlich gesagt, daß ich IHN viel lieber habe als Mutter.
Daraufhin hat er gesagt, daß das schon wieder vorbeigehen würde, aber das glaube ich nicht.
Mutter kann ich nun mal nicht ausstehen, und ich muß mich mit Gewalt zwingen, sie nicht
immer anzuschnauzen und ruhig zu bleiben.“
Annes Mutter, Edith Frank.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 44.
Was Annes Einstellung zu ihrer Mutter betrifft, muß der Objektivität wegen allerdings hinzugefügt
werden, daß Anne, als sie diese Zeilen verfaßte, mitten in der Pubertät steckte. Ihre Eintragungen aus
dem Jahre 1944 spiegeln zwar auch ein distanziertes Verhältnis zu Edith Frank wider, dennoch
verstanden sich die beiden zumindest ein wenig besser.
Annes Mutter geriet während der Zeit im Versteck in eine tiefe Lebenskrise103. Ihr Optimismus kam
ihr gänzlich abhanden. Daß Hitler und seine Truppen bald geschlagen, sie und ihre Familie gerettet
wären - diese Hoffnung verlor sie langsam völlig. Edith Frank fraß ihren Kummer und ihre Sorgen in
sich hinein, denn ihre zurückhaltende Art ließ es nicht zu, sich mit hysterischen Anfällen Luft zu
machen. Offenbar wollte oder konnte sie sich niemanden in ihrer Familie anvertrauen. Daß Anne mit
ihrer Lebenslust und Offenheit ihre Mutter nicht verstehen konnte, ist logisch.
102
103
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 61.
Müller, Biographie, 270.
Die freiheitsliebende Anne war die jüngste in der Runde der Versteckten. Gerade in der
Lebensphase, in der sich Jugendliche naturgemäß von ihren Eltern abnabeln, wurde sie von den
Erwachsenen als Kind behandelt und, so ihr Eindruck, nicht ernst genommen. Dieses Gefühl
empfand sie besonders im Umgang mit Herrn Pfeffer. Dieser war als Dreiundfünfzigjähriger im
November 1942 ins Hinterhaus gezogen und bewohnte mit Anne ein Zimmer. Sowohl Edith als auch
Otto Frank unterschätzten offensichtlich das Schamgefühl ihrer pubertierenden Tochter und dachten
nicht an ihr wachsendes Bedürfnis nach Privatsphäre. Die Konflikte zwischen Anne und Fritz Pfeffer
ließen nicht auf sich warten. Keine zwei Wochen nach seinem Eintreffen im Hinterhaus bezeichnete
Anne ihren Zimmergenossen schon als „den altmodischsten Erzieher und Prediger ellenlanger
Manierenreihen. Da ich das seltene Glück habe, mit dem hochedelwohlerzogenen Herrn mein
leider sehr enges Zimmer teilen zu dürfen, und da ich allgemein als die am schlechtesten
Erzogene der drei Jugendlichen gelte, habe ich ziemlich zu tun, um den allzu häufig
wiederholten Standpauken und Ermahnungen zu entgehen und mich taub zu stellen.“
104
Annes Abneigung gegen Pfeffer ist verständlich: Er war ein Mann der alten Schule, unaufgeschlossen
und ohne Verständnis für die Launen einer Dreizehnjährigen. Er erwartete von jungen Menschen
Respekt und keine Widerrede. Aber auch Anne konnte kein Verständnis für den einsamen, von
seiner Lebensgefährtin getrennten Mann aufbringen. Pfeffer hatte zu seinem Sohn Werner aus erster
Ehe, der 1938 mit einem Kindertransport nach England geschickt worden war, schon seit
Kriegsausbruch keinen Kontakt mehr 105. Gab es Streit zwischen den Franks und den van Pels´,
stand er zwischen den Fronten. Und weil das häufig geschah, die beiden Familien weniger
miteinander kommunizierten, zog sich Pfeffer, je länger das erzwungene Zusammenleben dauerte,
immer mehr zurück.
Anne selbst durchlief während der zwei Jahre, die sie im Hinterhaus verbrachte, verschiedene
Phasen. Fühlte sie sich anfangs „wie in einer eigenartigen Pension, in der ich Ferien mache“106,
betrachtete sie ihren Aufenthalt im Versteck schon im September 1942 anders107: „Es beklemmt
mich doch mehr, als ich sagen kann, daß wir niemals hinaus dürfen, und ich habe große
104
105
106
107
Tagebucheintragung vom 28. 11. 1942, zitiert in: Anne Frank Stiftung, Anne Frank, 38.
Müller, Biographie, 260.
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 38.
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 41.
Angst, daß wir entdeckt und dann erschossen werden. Das ist natürlich eine weniger
angenehme Aussicht.“
Anne, von Natur aus optimistisch und lebensfroh eingestellt, litt gelegentlich unter düsteren
Stimmungen. Das Zusammenleben mit den anderen sieben Bewohnern des Hinterhauses ermüdete
sie oft, und die „drückende Stimmung“108 im Haus empfand sie als Belastung. Ihre junges Alter sah
sie den Erwachsenen gegenüber nicht als Vorteil. Am 15. Juli 1944 schrieb sie109: „Wir, die
Jüngeren, haben doppelt Mühe, unsere Meinungen in einer Zeit zu behaupten, in der aller
Idealismus zerstört und kaputtgemacht wird, in der sich die Menschen von ihrer häßlichsten
Seite zeigen, in der an Wahrheit, Recht und Gott gezweifelt wird... Es ist ein Wunder, daß ich
nicht alle Erwartungen aufgegeben habe, denn sie scheinen absurd und unausführbar.
Trotzdem halte ich an ihnen fest, trotz allem, weil ich noch immer an das innere Gute im
Menschen glaube. Es ist mir nun mal unmöglich, alles auf der Basis von Tod, Elend und
Verwirrung aufzubauen.“
Anfang Januar 1944 verliebte sich Anne in Peter van Pels. Von diesem Zeitpunkt an besuchte sie ihn
regelmäßig in seinem kleinen Zimmer, um über Gott und die Welt zu sprechen. Anfangs zeigte sich
Peter (aufgrund seiner Schüchternheit) eher abweisend, doch Anne fand einen Weg, mit ihm ins
Gespräch zu kommen110: „Ich suchte nach einer Gelegenheit, unauffällig in seinem Zimmer zu
bleiben und ihn am Reden zu halten, und diese Gelegenheit ergab sich gestern... Mir wurde
ganz seltsam zumute, als ich in seine dunkelblauen Augen schaute und sah, wie verlegen er bei
dem ungewohnten Besuch war. Ich sah seine Verlegenheit und wurde ganz weich von innen.“
Von nun an suchte sie seine Nähe, und zielstrebig eroberte sie den so unbeholfen wirkenden Peter.
Er und Anne wurden im Frühling dieses Jahres immer vertrauter miteinander. Am liebsten hielten sie
sich gemeinsam am Dachboden auf, wo sie durch ein Fenster die Umgebung betrachteten und
ungestört miteinander reden konnten. Bald genügten Gespräche nicht mehr - der Wunsch nach
Berührungen beherrschte ihre Gedanken. „Gib mir einen Kuß oder schicke mich aus dem
Zimmer, aber so stürze ich mich ins Unglück“, beschrieb sie den „Krieg zwischen meinem
108
109
110
Tagebucheintragung vom 29. Oktober 1944, zitiert in: Anne Frank Stiftung, Anne Frank, 42.
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 309.
Tagebucheintragung vom 6. Januar 1944, zitiert in: Anne Frank Stiftung, Anne Frank, 43.
Verlangen und Verstand“111. Der erste scheue Kuß folgte schließlich Mitte April 1944, und Anne
war überglücklich.
Dennoch wurde aus der Freundschaft zwischen Peter und Anne nie eine heftige Liebesbeziehung.
Das verboten ihr schon die ihr mitgegebenen Moralvorstellungen. Zudem hatte sie aber auch viel an
ihm auszusetzen112: „Peter hat noch zu wenig Charakter, zu wenig Willenskraft, zu wenig Mut
und Kraft. Er ist noch ein Kind, nicht älter als ich, in seinem Inneren.“ Edith und Otto Frank
machten sich ebenfalls Sorgen um die Tochter und befürchteten, das Verhältnis zu Peter könnte zu
weit gehen113. Anne wehrte sich natürlich dagegen, weniger, um ihre Beziehung zu ihm zu verteidigen.
Es war vielmehr ein Ringen um ihre Selbständigkeit, um die Freiheit, für sich selbst zu entscheiden.
Annes Interesse für Peter war deslhab eine wichtige Station auf ihrem Weg zur inneren Reife. Das
zeigt sich auch an ihren Tagebucheintragungen. Ihre Erlebnisse mit Peter deutet sie in äußerst
empfindungsvollen Worten an, und sie schreibt auch allgemein über das Phänomen Liebe114: „Liebe,
was ist Liebe? Ich glaube, daß Liebe etwas ist, was sich eigentlich nicht in Worte fassen läßt.
Liebe ist, jemanden zu verstehen, ihn gern zu haben. Glück und Unglück mit ihm zu teilen.
Und dazu gehört auf die Dauer auch die körperliche Liebe. Und ob Du dann verheiratet oder
unverheiratet bist, ob Du ein Kind kriegst oder nicht, ob die Ehre weg ist, auf das alles kommt
es nicht an, wenn Du nur weißt, daß für Dein ganzes weiteres Leben jemand neben Dir steht,
der Dich versteht und den Du mit niemandem zu teilen brauchst!“
Anne entwickelte während der Zeit im Hinterhaus auch emanzipatorische Ideen, die sie im Tagebuch
auslegte115: „Eine der vielen Fragen, die mich nicht in Ruhe lassen, ist, warum früher und auch
jetzt noch oft die Frauen bei den Völkern einen so viel geringeren Platz einnehmen als der
Mann. Jeder kann sagen, daß das ungerecht ist, aber damit bin ich nicht zufrieden. Ich würde
so gern die Ursache dieses großen Unrechts wissen. Es ist anzunehmen, daß der Mann von
Anfang an durch seine größere Körperkraft die Herrschaft über die Frau ausgeübt hat. Der
Mann, der verdient, der Mann, der die Kinder zeugt, der Mann der alles darf... Zum Glück
sind den Frauen durch Schule, Arbeit und Bildung die Augen geöffnet worden. In vielen
Ländern haben Frauen gleiche Rechte bekommen. Die modernen Frauen wollen das Recht zur
111
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114
115
Müller, Biographie, 294.
Müller, Biographie, 294.
Anne Frank Stiftung, Anne Frank, 45.
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 197.
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 297/298.
völligen Unabhängigkeit. Aber das ist es nicht allein: Die Würdigung der Frau muß kommen!
Überall wird der Mann hochgeschätzt, warum darf die Frau nicht zuallererst daran
teilhaben?... Frauen machen im allgemeinen allein mit dem Kinderkriegen mehr Schmerzen
durch, mehr Krankheiten und mehr Elend, als welcher Kriegsheld auch immer.“
3. POLITISCHE LAGE
(mit Kommentaren aus Anne Franks Tagebuch)
Am 13. Januar 1943 schrieb Anne zuerst über die Situation der Juden in den Niederlanden, dann
über internationalen Ereignisse116: „Draußen ist es schrecklich. Tag und Nacht werden die armen
Menschen weggeschleppt, sie haben nichts anderes bei sich als einen Rucksack und etwas
Geld. Diese Besitztümer werden ihnen unterwegs auch noch abgenommen. Die Familien
werden auseinandergerissen, Männer, Frauen und Kinder werden getrennt. Kinder, die von
der Schule nach Hause kommen, finden ihre Eltern nicht mehr. Frauen, die Einkäufe machen,
finden bei ihrer Heimkehr die Wohnung versiegelt, ihre Familie verschwunden... Jeder
fürchtet sich. Und jede Nacht fliegen Hunderte von Flugzeugen über die Niederlande zu
deutschen Städten und pflügen dort die Erde mit ihren Bomben, und jede Stunde fallen in
Rußland und Afrika Hunderte, sogar Tausende Menschen. Niemand kann sich raushalten, der
ganze Erdball führt Krieg, und obwohl es mit den Alliierten besser geht, ist ein Ende noch
nicht abzusehen.“
Nach dem überraschenden Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 war der
Vormarsch der deutschen Truppen durch den Wintereinbruch fast völlig zum Erliegen gekommen. Im
Sommer 1942 startete die deutsche Armee eine Offensive mit dem Ziel, die Erdölfelder des
Kaukasus und Stalingrad, ein Verkehrs- und Rüstungszentrum, zu erobern117. Im September gelang
es der 6. Armee, in die Vororte Stalingrads einzudringen, und im November waren ca. 90% der
Stadt erobert. Durch den russischen Gegenangriff wurden die deutschen Truppen in Stalingrad
eingeschlossen. Die Versorgung kam zum Erliegen, und Tausende Soldaten starben an Hunger und
Erschöpfung - Stalingrad wurde zum Fiasko. Gegen Hitlers Willen kapitulierte der Südkessel unter
116
117
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 91.
Kinder, Hilgemann, dtv-Weltatlas II, 485
General-Feldmarschall Paulus am 31. Januar 1943 und schließlich der Nordkessel zwei Tage später.
90.000 deutsche Soldaten gingen in russische Kriegsgefangenschaft118.
In Holland bildeten sich im Laufe des Krieges mehrere Widerstandsgruppen. Das Hauptziel all dieser
Gruppen war die Beseitung der Besatzung ihres Landes durch die Nazis sowie die Wiederherstellung
des Rechtsstaates und der Unabhängigkeit. Einige Widerstandsgruppen hatten sich darauf
spezialisiert, Juden oder Wehrdienstverweigerern zu helfen. Anne dazu am 28. Jänner 1944119: „Es
gibt viele Organisationen wie ‚Freie Niederlande‘. Sie fälschen Personalausweise, geben
Untergetauchten Geld, treiben Verstecke auf, beschaffen untergetauchten christlichen jungen
Männern Arbeit, und es ist erstaunlich, wie nobel und uneigennützig diese Arbeit verrichtet
wird und wie die Leute unter Einsatz ihres Lebens anderen helfen und andere retten... Die
verrücktesten Geschichten machen die Runde, und die meisten sind wirklich passiert. Kleiman
erzählte zum Beispiel diese Woche, daß in Gelderland zwei Fußballmannschaften
gegeneinander gespielt haben. Die eine bestand ausschließlich aus Untergetauchten, die
zweite aus Feldjägern... Man muß aber sehr vorsichtig sein, daß solche Kunststückchen den
Moffen120 nicht zu Ohren kommen.“
Am 6. Juni 1944 folgte die langersehnte Invasion der westlichen Alliierten unter General Eisenhower
in der Normandie (Unternehmen ”Overlord“)121. Rasch wurden die nordfranzösischen Städte
Cherbourg und Caën eingenommen und die deutsche Stellung bei Avranches durchbrochen. Im
August konnte General Charles de Gaulle bereits in Paris einziehen, nachdem die deutschen Truppen
angesichts der massiven französischen Widerstandsbewegung kapituliert hatten. Der Vorstoß machte
große Fortschritte, und die Alliierten erreichten schließlich die deutsche Grenze zwischen Trier und
Aachen.
Täglich rückten die Stecknadeln auf der Landkarte, die Otto Frank an die Wand geheftet hatte122,
näher an Holland heran. Anne Franks Eintragung vom 6. Juni 1944 spiegeln Hoffnung und Freude
auf ein baldiges Ende des Krieges wider123: „’This is D-day‘, sagte um 12 Uhr das englische
Radio, und mit Recht! ’This is the day‘, die Invasion hat begonnen! Englische Sendung - in
Englisch - um ein Uhr: 11.000 Flugzeuge stehen bereit und fliegen unaufhörlich hin und her,
118
119
120
121
122
Kinder, Hilgemann, dtv-Weltatlas II, 485.
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 176/177.
Moffen: niederländischer Spitzname für die Deutschen
Kinder, Hilgemann, dtv-Weltatlas II, 491.
Gies, Zeit mit Anne Frank, 184.
um Truppen abzusetzen und hinter den Linien zu bombardieren. 4.000 Landefahrzeuge und
kleinere Schiffe legen unaufhörlich zwischen Cherbourg und Le Havre an. Englische und
amerikanische Truppen sind schon in schwere Gefechte verwickelt...
Das Hinterhaus ist in Aufruhr. Sollte denn nun wirklich die lang ersehnte Befreiung nahen, die
Befreiung, über die so viel gesprochen wurde, die aber zu schön, zu märchenhaft ist, um je
wirklich werden zu können? Sollte dieses Jahr, dieses 1944, uns den Sieg schenken? Wir
wissen es noch nicht, aber die Hoffnung belebt uns, gibt uns wieder Mut, macht uns wieder
stark... Kitty, das Schönste an der Invasion ist, daß ich das Gefühl habe, daß Freunde im
Anzug sind. Vielleicht, sagt Margot, kann ich im September oder Oktober doch wieder zur
Schule gehen.“
Am 20. Juli 1944 mißglückte ein Bombenattentat des Obersten Claus Graf Schenk von Stauffenberg
auf Hitler im Führerhauptquartier „Wolfsschanze“. Etwa 5.000 Menschen, die der für das Attentat
verantwortlichen Verschwörung angehörten, wurden nach demütigenden Prozessen vor dem
Volksgerichtshof hingerichtet.
Anne berichtete einen Tag später in ihrem Tagebuch über die Ereignisse in Deutschland124: „Nun
werde ich hoffnungsvoll, nun endlich geht es gut. Ja, wirklich, es geht gut! Tolle Berichte! Ein
Mordanschlag auf Hitler ist ausgeübt worden, und nun mal nicht durch jüdische
Kommunisten oder englische Kapitalisten, sondern durch einen hochgermanischen deutschen
General, der Graf und außerdem noch jung ist. Die ‚göttliche Vorsehung‘ hat dem Führer das
Leben gerettet, und er ist leider, leider mit ein paar Schrammen und einigen Brandwunden
davongekommen. Ein paar Offiziere und Generäle aus seiner nächsten Umgebung sind
getötet oder verwundet worden. Der Haupttäter wurde standrechtlich erschossen. Der beste
Beweis doch wohl, daß es viele Offiziere und Generäle gibt, die den Krieg satt haben und
Hitler gern in die tiefsten Tiefen versenken würden...“
123
124
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 291/292.
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 310.
V. DAS DUNKELSTE KAPITEL
Ende Juli 1944 waren Anne und die restlichen Bewohner des Hinterhauses froh und optimistisch. Die
Berichte über den Krieg, besonders die Landung der Alliierten in der Normandie, machten ihnen
Hoffnung auf ein baldiges, gutes Ende. Anne schrieb am ersten August wie schon so oft eine
Eintragung in ihr Tagebuch. Darin beschäftigte sie sich mit ihrem Wesen, ihren Launen und ihrer
„zweigeteilten Seele“125: „Die eine Seite beherbergt meine ausgelassene Fröhlichkeit, die
Spöttereien über alles, Lebenslustigkeit und vor allem meine Art, alles von der leichten Seite
zu nehmen... Diese Seite sitzt meistens auf der Lauer und verdrängt die andere, die viel
schöner, reiner und tiefer ist. Nicht wahr, die schöne Seite von Anne, die kennt niemand, und
darum können mich auch so wenige Menschen leiden... Meine leichtere, oberflächliche Seite
wird der tieferen immer zuvorkommen und darum immer gewinnen.“
Freitag, 4. August 1944, halb elf Uhr. Ein scheinbar normaler Freitagvormittag im Hinterhaus. Alle
acht Untergetauchten waren mit kleineren Arbeiten beschäftigt. Otto Frank gab Peter van Pels
Englischunterricht und diktierte ihm einige Sätze; Margot und Anne waren in ihre Bücher vertieft126.
Herr Frank berichtete nach dem Krieg dem Autor Ernst Schnabel über diese Stunden127: „Ich zeigte
Peter die Fehler in dem Diktat, und da kam plötzlich jemand die Treppe heraufgerannt. Die Stufen
krachten, und ich fuhr hoch, denn es war doch Vormittag, wo jeder leise zu sein hatte - aber da ging
schon die Tür auf, und ein Mann stand vor uns und hielt mir die Pistole vor die Brust. Der Mann trug
Zivil.“ Otto Frank und der junge Peter van Pels mußten das Zimmer mit erhobenen Händen verlassen
und in den unteren Stock gehen, wo bereits die anderen sechs Mitbewohner warteten.
Einige Minuten zuvor waren Miep Gies, Bep Voskuijl und Johannes Kleiman in ihrem Büro von
einigen Männern (an die genaue Zahl konnte sich nach dem Krieg keiner der Anwesenden mehr
erinnern) überrascht worden. Einer von ihnen trug die Uniform des Deutschen Sicherheitsdienstes
(SD), alle anderen waren in Zivil, aber bewaffnet. Der uniformierte Karl Josef Silberbauer, ein
gebürtiger Wiener und SS-Oberscharführer, ging in den Nebenraum des Büros und teilte dem
Firmenchef, Herrn Victor Kugler, mit, daß sie von der Existenz versteckter Juden in diesem
125
126
127
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 311/312.
Müller, Biographie, 19.
Schnabel, Spur eines Kindes, 107.
Gebäude wüßten128. Am Morgen dieses Tages war in der Amsterdamer Gestapo-Zentrale ein
anonymer Anruf eingelangt. Eine angeblich weibliche Stimme129 gab zu Protokoll, daß im Hinterhaus
der Prinsengracht 263 mehrere Juden versteckt seien, und konnte dazu auch genaue Angaben
machen. Bis heute weiß man nicht mit Sicherheit, wer die Familien Frank und van Pels sowie Herrn
Pfeffer verraten hat.
Karl Silberbauer, der Polizist, der die Untergetauchten verhaftete.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 50.
Victor Kugler wurde gezwungen, die Männer ins Hinterhaus zu führen. Dort wurden die acht
Untergetauchten verhaftet. Karl Silberbauer nahm Geld und Wertsachen der Juden an sich. Er fand
auch eine Aktentasche, in der er Schmuck vermutete, und schüttete deren Inhalt auf den Boden. Es
waren Annes Tagebuchaufzeichnungen. Da er kein Interesse daran hatte, ließ er sie liegen. Ein paar
Stunden später fanden sie Miep Gies und Bep Voskuijl dort. Miep Gies berichtete in ihren
Memoiren130: „Ich ging ins Schlafzimmer der Franks. Auf dem Fußboden, inmitten von Papierbergen
und Büchern, entdeckte ich einen rot-orange-grau-karierten Leineneinband - Annes Tagebuch, das
128
129
Müller, Biographie, 21.
Müller, Biographie, 310.
sie zum dreizehnten Geburtstag von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte. Ich wußte, wie sehr sie
an ihrem Tagebuch hing. Ich ließ den Blick über das Chaos gleiten, ob sich noch weitere
Aufzeichnungen Annes darunter befanden, und entdeckte die alten Kontobücher sowie eine Menge
weiteres Schreibmaterial, das Bep und ich ihr gegeben hatten, nachdem das Tagebuch
vollgeschrieben war.“ Miep Gies beschloß, die Aufzeichnungen in ihrem Büro aufzubewahren, um sie
Anne nach dem Krieg zurückgeben zu können. Dabei ging sie ein nicht geringes Risiko ein, denn es
war verboten, jüdisches Eigentum dem Zugriff der Nazis zu entziehen.
Die Untergetauchten durften noch ein paar Kleidungsstücke einpacken, dann wurden sie in einem
Lastwagen ins SD-Hauptquartier, ein früheres Schulgebäude in der Euterpestraat im Süden
Amsterdams131, gebracht. Auch Victor Kugler und Johannes Kleiman wurden verhaftet und getrennt von Anne und den sieben Mitbewohnern des Hinterhauses - in verschiedene Arbeitslager
gesperrt. Beide sollten den Krieg überleben. Bep Voskujil und Miep Gies durften unbehelligt in
Amsterdam weiterleben - aus „persönlicher Sympathie“132 des Polizeibeamten, Karl Silberbauer.
Miep Gies wagte es, am nächsten Tag Herrn Silberbauer in der Amsterdamer Gestapo-Zentrale
aufzusuchen, um die Freilassung der acht Juden zu erwirken133. Diese mutige Aktion blieb allerdings
erfolglos.
Nach einer Nacht im SD-Hauptquartier und drei weiteren in der Haftanstalt Weteringschans wurden
die acht Juden am Morgen des achten August 1944 geschlossen zum Amsterdamer Hauptbahnhof
und von dort mit dem Zug ins holländische Lager Westerbork transportiert. Herr Frank berichtete134:
„ Wir fuhren in einem richtigen Personenwagen. Daß man die Tür verriegelte, machte uns nicht viel
aus. Wir waren noch einmal beisammen... Wir wußten, wohin es ging, aber es war trotzdem beinahe,
als verreisten wir noch einmal, oder als machten wir noch einmal einen Ausflug, und wir waren
eigentlich fröhlich. Fröhlich wenigstens, wenn ich diese Fahrt mit unserer nächsten vergleiche... Wir
wußten auch, was in Auschwitz geschah und in Treblinka und Majdanek, aber standen denn die
Russen nicht schon mitten in Polen? Es war so spät, daß man schon ein wenig auf Glück hoffen
130
Gies, Zeit mit Anne Frank, 198/199.
Anne Frank Stiftung, Anne Frank, 50.
132
Gies, Zeit mit Anne Frank, 196.
133
Schnabel, Spur eines Kindes, 122.
134
Schnabel, Spur eines Kindes, 119/120.
131
konnte. Wir hofften auf unser Glück, als wir nach Westerbork fuhren.“ Anne war während der
Zugfahrt nicht vom Fenster wegzubringen und genoß es, die vorbeifliegende Natur zu beobachten.
So zynisch es rückblickend auch klingen mag: Anne war in Westerbork alles andere als unglücklich.
Dabei war dieses Lager nicht unbedingt der Ort, wo Freude und Zuversicht herrschten. Westerbork
fungierte ab 1942 als Durchgangslager für Juden auf dem Transport in die Vernichtungslager im
Osten135. Bis zu 160.000 Menschen mußten gleichzeitig dort leben, weshalb die hygienischen
Zustände katastrophal waren. Die Franks blieben den ganzen August in der sogenannten
„Strafbaracke“. Sie waren „Strafgefangene“, weil sie sich nicht selbst zur Deportation gemeldet
hatten, sondern als Untergetauchte verhaftet worden waren136.
Zunächst mußten sie die langwierige Registrierung über sich ergehen lassen, ebenso die
menschenverachtende Untersuchungsprozedur: nackt ausziehen, in der Reihe anstellen, Kopf nach
Läusen, Körper nach Krankheiten absuchen lassen. Als „Straffälle“ wurde die Familie nach
Geschlechtern getrennt untergebracht. Edith, Margot und Anne Frank wurde ein Platz in einem Saal
zugeteilt, in dem 300 Frauen schlafen mußten. Tagsüber mußten sie zum Batterienzerlegen antreten Zwangsarbeit für die deutsche Kriegsindustrie137. Dies war eine schmutzige und zudem gefährliche
Arbeit, denn das in Batterien enthaltene Ammoniumchlorid ist leicht giftig, und seine Dämpfe reizen
die Bronchien. Essen gab es nur in unregelmäßigen Abständen, und ständig hing die Angst vor einem
Abtransport in den Osten wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Häftlinge.
135
136
137
Müller, Biographie, 314.
Anne Frank Stiftung, Anne Frank, 51.
Müller, Biographie, 316.
Das niederländische Lager Westerbork.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 51.
Und dennoch erzählten sämtliche Menschen, die Anne in Westerbork erlebt hatten,
übereinstimmend, daß sie besonders freundlich und umtriebig gewesen sei. Sie hätte stets Zuversicht
ausgestrahlt. Dem Autor Ernst Schnabel berichtete Frau de Wiek, ebenfalls eine Strafgefangene, von
ihren Eindrücken138: „Ich habe Anne Frank und Peter van Pels jeden Tag in Westerbork gesehen, sie
waren immer beisammen... Anne war schön in Westerbork, so strahlend, daß es sogar auf Peter
überging. Sie war sehr blaß in der ersten Zeit, aber von ihrer Zartheit und ihrem ausdrucksvollen
Gesicht ging eine Anziehungskraft aus... Vielleicht darf ich nicht sagen, daß Annes Augen strahlten.
Aber sie hatten einen Schein. Und sie war so frei in ihren Bewegungen und Blicken, daß ich mich oft
fragte: Ist sie denn glücklich? Sie war glücklich in Westerbork, wenn es auch kaum zu begreifen ist,
denn wir hatten es nicht gut in dem Lager.“
Jede Woche verließ ein Güterzug mit mehr als 1000 Männern, Frauen und Kindern das Lager
Westerbork in Richtung Osten - so auch am dritten September 1944. Die acht Untergetauchten aus
dem Hinterhaus befanden sich im letzten Zug, der von Westerbork aus nach Auschwitz in Polen fuhr.
Drei Tage lang befanden sie sich mit etwa 70 anderen Menschen in einem Waggon, ohne zu wissen,
wohin die Fahrt ging. In der Nacht vom fünften auf den sechsten September kam der Zug in
Auschwitz an, wo sogleich die Selektion stattfand. Die Hälfte aller Juden, die sich in diesem
Transport befanden, wurde noch am selben Tag ermordet, unter ihnen alle Kinder unter fünfzehn
Jahren. Anne blieb verschont, da sie ihren Geburtstag bereits im Juni gefeiert hatte139. Die Männer
wurden von den Frauen getrennt - in diesem Moment der Ankunft in Auschwitz sah Otto Frank
seine Frau und seine Töchter das letzte Mal.
138
139
Schnabel, Spur eines Kindes, 129.
Anne Frank Stiftung, Anne Frank, 52.
Anne, ihre Schwester und Mutter sowie Frau van Pels gelangten schließlich ins Frauenlager
Birkenau. Ihnen wurde - wie allen Häftlingen - eine Nummer auf den linken Unterarm tätowiert. Die
Bedingungen dort waren schrecklich und unmenschlich. Die Häftlinge bekamen fast nichts zu essen,
Waschmöglichkeiten boten sich so gut wie nie. Täglich starben tausende Menschen an
Unterernährung und Krankheiten wie Typhus oder Ruhr, die sich ungehindert ausbreiten konnten, da
es kaum Medikamente gab. Auch die Wohnsituation war katastrophal. Die Menschen vegetierten in
ungeheizten Holzbaracken. Ohne Anlaß wurden jeden Tag Menschen von ihren Bewachern
erschlagen, erschossen, vergast oder auf eine andere Art umgebracht. Niemand konnte sich seines
Lebens sicher sein - jeder Tag konnte der letzte sein.
Auf der Namensliste des letzten Transports von Westerbork nach Auschwitz stehen auch die Franks.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 52.
Wie es Anne im KZ Auschwitz-Birkenau erging, darüber ist wenig bekannt. Die wenigen Frauen, die
ihr begegneten, erinnern sich, daß sie still und in sich gekehrt gewirkt hätte140. Sie hätte
Schwierigkeiten gehabt, die Bilder des Grauens zu verarbeiten, und geweint, als sie Kinder sah, die
zu den Gaskammern geführt wurden. Auf alle Fälle waren Edith, Margot und Anne Frank stets
zusammen. Von Unstimmigkeiten, die es früher zwischen ihnen gegeben hatte, hätte man nichts
bemerkt141.
Bei Tag mußte Anne arbeiten, wie alle anderen holländischen Frauen aus ihrem Transport auch. Sie
waren zum Steineschleppen oder Rasenplatten-Ausstechen eingeteilt. Nach ein paar Wochen in
Auschwitz zeigten sich auch an Anne die ersten Folgen der miserablen Hygiene im Lager. Sie bekam
schmerzhafte Abszesse und offene Wunden am ganzen Körper. Darum wurde sie in den
sogenannten Krätzeblock verlegt, wo derartig erkrankte Häftlinge isoliert von allen anderen leben
mußten142. Etwa acht Wochen hatten Edith, Margot und Anne Frank bereits im Todeslager
Auschwitz überstanden, als am 28. Oktober 1944 ein großer Evakuierungstransport mit circa 1000
Jüdinnen aus dem Frauenlager Birkenau nach Norddeutschland, ins KZ Bergen-Belsen, aufbrach.
An diesem Tag mußten mit großer Wahrscheinlichkeit auch Margot und Anne Frank mitfahren143.
Die russische Armee näherte sich aus dem Osten, weshalb die Nazis bestrebt waren, die Spuren
ihrer Verbrechen an den Juden zu verwischen. Viele Lager wurden geräumt und abgebrochen, und
die Gefangenen entweder getötet oder in andere Konzentrationslager gebracht, die weiter von der
Front entfernt lagen. So gelangte auch Anne nach Bergen-Belsen.
140
141
142
143
Müller, Biographie, 335.
Müller, Biographie, 335.
Willy Lindwer, Anne Frank - Die letzten sieben Monate - Augenzeugen berichten (Frankfurt am Main 6
1998), 165.
Müller, Biographie, 337.
Diese Fotos von Bergen-Belsen sind kurz nach der Befreiung gemacht worden. In den Monaten zuvor
war das Lager bereits hoffnungslos überfüllt, weshalb sich ansteckende Krankheiten leicht ausbreiten
konnten.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 54.
Edith Frank blieb in Auschwitz-Birkenau zurück, wo sie am sechsten Januar 1945 an Hunger und
Erschöpfung starb. Die beiden Mädchen versuchten, in Bergen-Belsen zu überleben. Auch in diesem
Lager waren die Bedingungen unvorstellbar. Obwohl es dort keine Gaskammern gab, lauerte der
Tod überall. In diesem Lager gab es keine Hinrichtungen, und doch starben Zehntausende. Es war
eisig kalt, das Lager hoffnungslos überfüllt. Die meisten Häftlinge waren Frauen, die in Baracken
zusammengepfercht wurden. Der britische Hauptmann Andrew Peters schrieb nach Kriegsende über
den Lagerteil, in dem Anne und Margot festgesessen waren144: „In Baracken, in denen
normalerweise 60 Personen untergebracht waren, hausten 600. Es gab keinerlei sanitäre Ordnung,
innerhalb und außerhalb der Baracken war der Boden fast vollständig mit Leichen, menschlichen
Exkrementen, Lumpen und Fäulnis bedeckt. Die Lagerinsassen hatten jegliche Selbstachtung
verloren und waren auf das Niveau von Tieren herabgezwungen worden. Ihre Kleider bestanden nur
noch aus Lumpen und wimmelten von Läusen.“
Einige Frauen, die Anne und Margot in Bergen-Belsen getroffen und das Lager überlebt hatten,
berichteten nach dem Krieg über diese Monate im Winter 1944/45.
Janny Brandes-Brilleslijper arbeitete im KZ Bergen-Belsen als Krankenschwester. Margot, Anne,
Janny und deren Schwester kümmerten sich zudem um Waisenkinder, die im Lager überall zu finden
waren. Zu Weihnachten und zu Chanukka145 veranstalteten die vier jungen Frauen ein kleines Fest,
sangen gemeinsam und aßen zur Feier des Tages ein paar Brotschnitten, die sie mühsam abgespart
hatten146. Anne litt an Typhus. Frau Brandes-Brilleslijper berichtete147: „Anne war auch krank und
hat sich aufrecht gehalten, bis Margot starb, erst dann hat sie sich aufgegeben, wie so viele. Sobald
man seinen Mut und seine Selbstbeherrschung verloren hat... Es sind schreckliche Dinge passiert.
Erst ist Margot aus dem Bett auf den Steinboden gefallen. Sie war nicht mehr imstande, sich zu
erheben. Anne starb einen Tag später. Wir hatten den Zeitbegriff verloren. Es ist möglich, daß es
zwei Tage später passierte. Drei Tage vor ihrem Tod hat sie alle Kleider runtergerissen, in
schrecklichen Angstvisionen durch den Flecktyphus... Es war kurz vor der Befreiung.“
Rachel van Amerongen-Frankfoorder erzählte148: „Die Mädchen Frank waren schon stark
abgemagert und sahen schrecklich aus. Sie zankten sich oft wegen ihrer Krankheit, denn daß sie
Typhus hatten, war deutlich, das sah man, auch wenn man früher nie etwas damit zu tun gehabt hatte.
Typhus war das Kennzeichen von Bergen-Belsen. Sie bekamen diese ausgehöhlten Gesichter, Haut
über den Knochen. Sie froren schrecklich, weil sie die ungünstigsten Plätze der Baracke hatten,
unten an der Tür, die ständig auf und zu ging. Man hörte sie dauernd schreien: ,Tür zu, Tür zu‘, und
diese Rufe wurden jeden Tag etwas schwächer. Man sah sie wirklich sterben, beide, zusammen mit
anderen. Aber das traurigste war natürlich, daß diese Kinder noch so jung waren. Ich fand es immer
schrecklich, wenn Kinder noch überhaupt nichts vom Leben gehabt hatten. Sie waren die Jüngsten
bei uns, wir anderen waren alle etwas älter.“
144
145
146
147
148
Müller, Biographie, 348/349.
Chanukka: jüdisches Winterfest
Lindwer, Die letzten sieben Monate, 95.
Lindwer, Die letzten sieben Monate, 102/103.
Lindwer, Die letzten sieben Monate, 134/135.
Hannah Pick-Goslar auf dem Merwedeplein, 1987.
Aus: Willy Lindwer, Anne Frank - Die letzten sieben Monate - Augenzeugen berichten (Frankfurt am
Main6 1998), 22.
In Bergen-Belsen traf Anne auch ihre ehemalige Schulkameradin und Freundin, Hannah Pick-Goslar,
wieder. Durch einen Zaun getrennt, sprachen sie miteinander über die vergangenen Jahre. Anne
berichtete, daß sie sich ab 1942 in Amsterdam versteckt gehalten hatten und nach Auschwitz
deportiert worden waren. Margot und Anne fürchteten das Schlimmste für ihre Eltern, die sie in
Polen hatten zurücklassen müssen149. Frau Pick-Goslar berichtete über dieses Gespräch in BergenBelsen150: „Aber es war schrecklich. Sie fing sofort an zu weinen und erzählte mir: ,Ich habe keine
Eltern mehr‘. Ich denke immer, wenn Anne gewußt hätte, daß ihr Vater noch lebt, hätte sie vielleicht
mehr Kraft gehabt, um zu überleben.“
Drei- oder viermal konnte Hannah ihre Freundin Anne noch treffen und ihr durch den
Stacheldrahtzaun ein Päckchen, gefüllt mit Lebensmitteln, zustecken.
Allein im März 1945 starben in Bergen-Belsen über 17.000 Menschen151 - nur wenige Wochen,
bevor englische Truppen Bergen-Belsen am 15. April 1945 als erstes Konzentrationslager auf
deutschem Boden von den Nazis befreiten. Die Leichen wurden in Massengräbern verscharrt, denn
über die unzähligen Todesfälle Buch zu führen, das hatte die Lagerleitung längst aufgegeben.
149
150
151
Gold, Erinnerungen an Anne Frank, 82.
Anne Frank Stiftung, Anne Frank, 55.
Müller, Biographie, 349.
Irgendwann zwischen Ende Februar und Mitte März 1945 starb erst Margot. Wenige Tage später
folgte ihr Anne in den Tod.
VI. EIN TAGEBUCH BLEIBT ZURÜCK
Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz von den Russen befreit. Otto Frank,
Annes Vater, war unter den wenigen Menschen, die dieses Lager, das nicht zum Überleben errichtet
worden war, verlassen konnten. Vom Schicksal seiner Mitbewohner im Hinterhaus und seiner
Familie wußte er nichts. Otto Frank beschloß, nach Amsterdam zurückzukehren. Am 5. März wurde
er, zusammen mit anderen jüdischen Überlebenden, von den Russen in die Hafenstadt Odessa
gebracht. Von Odessa aus fuhr er per Schiff weiter nach Marseille. Schließlich erreichte er mit Zug
und Lastwagen am 3. Juni 1945 Amsterdam152, wo er bei Jan und Miep Gies, erst in der
Hunzestraat 120, später in der Jekerstraat 65, wohnte. Jan Gies starb 1993 in Amsterdam, doch
Miep Gies - Jahrgang 1909 - lebt heute noch geistig vital in ihrer Wohnung.
Ende März hatte ihm Rosa de Winter, die er aus Westerbork kannte und auf dem Transport
wiedergetroffen hatte, von Ediths Tod erzählt. Am 31. März schrieb er an seine Verwandten in
Basel153: „Ich bin gesund und halte mich gut aufrecht, trotz der traurigen Nachricht vom Tode meiner
Frau. Wenn ich nur die Kinder zurückfinde!“ Mehrere Monate der Ungewißheit folgten. Otto Frank
hielt sich täglich in seinem Büro in Amsterdam auf, wo ihn die kleinen geschäftlichen Probleme
wenigstens vorübergehend von seinen wirklichen Sorgen ablenkten. Am 18. oder 19. Juli 1945
erfuhr er schließlich, daß seine Töchter in Bergen-Belsen umgekommen waren. Miep Gies war
anwesend, als Otto Frank die schreckliche Nachricht erhielt 154: „Eines Morgens waren Frank und ich
allein im Büro und öffneten die Post. Ich saß an meinem Schreibtisch, er stand neben mir. Mit halbem
Ohr hörte ich, wie ein Brief aufgeschlitzt wurde. Dann - Totenstille. Irgend etwas veranlaßte mich
aufzublicken. Dann - Otto Franks Stimme, tonlos, gebrochen. ,Miep...‘ Ich schaute hoch, las in
seinen Augen. ,Miep.‘ Mit beiden Händen hielt er ein Blatt Papier umklammert. ,Ich habe einen Brief
erhalten - von der Krankenschwester in Rotterdam. Miep..., Margot und Anne kommen nicht
zurück.‘ Wir verharrten reglos, bis ins Mark getroffen, sahen uns an, stumm, wie betäubt. Dann ging
Frank mit schleppenden Schritten auf sein Büro zu und sagte mit erloschener Stimme: ,Ich bin in
meinem Kontor.‘“
Nach und nach erfuhr Otto Frank auch, wie es seinen Mitbewohnern im Hinterhaus ergangen war.
Keiner von ihnen hatte die Tötungsmaschinerie der Nazis überlebt. Peter van Pels, Annes Freund,
wurde bei der Räumung von Auschwitz im Januar 1945 von den Nazis gezwungen, auf einem der
berüchtigten Todesmärsche nach Mauthausen mitzugehen - nur um dort am 5. Mai 1945, drei Tage
vor der Befreiung des Lagers, zu sterben155. Peters Vater, Hermann van Pels, wurde in Auschwitz
vergast. Gleichzeitig mit Anne und Margot war Auguste van Pels im Oktober von Auschwitz nach
Bergen-Belsen gebracht worden. Über das KZ Buchenwald wurde sie im Frühjahr 1945 nach
Theresienstadt transportiert, wo sie auch starb. Fritz Pfeffer wurde vom Lager Auschwitz nach
Neuengamme deportiert. Dort starb er am 20. Dezember 1944. Otto Frank überlebte - als einziger
von acht Menschen.
Noch am selben Tag, an dem er von Annes und Margots Tod erfahren hatte, hatte Miep Gies ihm
Annes rot-weiß kariertes Tagebuch, ihre Hefte und 327 lose Seidenpapierblätter156 überreicht, die
152
153
154
155
156
Anne Frank Stiftung, Anne Frank, 56.
Müller, Biographie, 361.
Gies, Zeit mit Anne Frank, 234.
Anne Frank Stiftung, Geschichte für heute, 61.
Müller, Biographie, 363.
sie fast ein Jahr lang ungelesen aufbewahrt hatte. In den folgenden Monaten versuchte Otto Frank,
Ordnung in die Papiere zu bringen, er las sie immer wieder, übersetzte einige Stellen ins Deutsche
und sandte sie seiner Familie in der Schweiz. Schließlich tippte er die Aufzeichnungen ab und stellte
all jene Eintragungen zusammen, die ihm für ein Zeitdokument des Zweiten Weltkrigs wesentlich
schienen. Annes Schimpftiraden gegen ihre Mutter oder gegen Fritz Pfeffer ließ er ganz bewußt aus,
da er das Andenken an diese Personen nicht schädigen wollte157. Auch Annes Gedanken zur
Sexualität sparte er aus.
Anne hatte am 28. März 1944 im Radio eine Ansprache des holländischen Ministers Bolkestein
gehört, wovon sie einen Tag später in ihrem Tagebuch berichtete158: „Gestern abend sprach
Minister Bolkestein159 im Sender Oranje darüber, daß nach dem Krieg eine Sammlung von
Tagebüchern und Briefen herauskommen soll. Natürlich stürmten alle gleich auf mein
Tagebuch los. Stell dir vor, wie interessant es wäre, wenn ich einen Roman vom Hinterhaus
herausgeben würde. Nach dem Titel allein würden die Leute denken, daß es ein
Detektivroman wäre. Aber im Ernst, es muß ungefähr zehn Jahre nach dem Krieg schon
seltsam erscheinen, wenn erzählt wird, wie wir Juden hier gelebt, gegessen und gesprochen
haben.“ Von diesem Tag an hatte Anne ihre Eintragungen überarbeitet, dabei vieles gestrichen oder
korrigiert. Otto Frank stützte sich auf diese überarbeitete Version, die Anne auf lose Blätter
geschrieben hatte, und fügte nur einige Ergänzungen aus ihrer ursprünglichen Version bei. Vom 29.
März 1944 bis zum abrupten Ende des Tagebuchs am 1. August mußte er auf die erste Version
zurückgreifen, denn Anne hatte ihre Überarbeitung nicht mehr fertigstellen können.
Diese Fassung ließ Otto Frank mehrere Bekannte und Freunde lesen. Viele rieten ihm zu einer
Veröffentlichung des Tagebuchs. Doch er zögerte zunächst, da er die Briefe eines pubertierenden
vierzehnjährigen Mädchens für zu intim für eine Publikation hielt. Doch Anne hatte in ihren
Aufzeichnungen deutlich gemacht, daß sie Schriftstellerin werden wollte160: „Du weißt längst, daß
es mein liebster Wunsch ist, einmal Journalistin und später eine berühmte Schriftstellerin zu
werden. Ob ich diese größenwahnsinnigen (oder wahnsinnigen) Neigungen je ausführen kann,
das wird sich noch zeigen müssen, aber Themen habe ich bis jetzt genug. Nach dem Krieg will
ich auf jeden Fall ein Buch mit dem Titel ,Das Hinterhaus‘ herausgeben. Ob mir das gelingt,
ist auch eine Frage, aber mein Tagebuch wird mir als Grundlage dienen können.“ Schließlich
kam Otto Frank zu dem Schluß, daß eine Publikation in Annes Sinn wäre.
Einen Verlag zu finden, war allerdings schwieriger als vermutet. Erst nachdem der bekannte
Historiker Professor Jan Romein die Tagebücher in der holländischen Tageszeitung „Het Parool“
gelobt hatte, meldeten sich interessierte Verlage. In einem Artikel mit dem Titel „Kinderstimme“ hatte
Romein am 3. April 1946 geschrieben161: „Durch Zufall habe ich ein Tagebuch in die Hände
bekommen, das während des Krieges geschrieben wurde. Das Niederländische Staatliche Institut für
Kriegsdokumentation besitzt schon um die zweihundert solcher Tagebücher, aber es würde mich
überraschen, wenn noch eines dabei wäre, so rein, so intelligent und so menschlich wie dieses.“
157
158
159
160
161
Müller, Biographie, 364.
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank, 233/234.
Mitglied der niederländischen Exilregierung
ed. Frank, Pressler, Tagebuch der Anne Frank (Eintragung vom 11. Mai 1944), 278.
Anne Frank Stiftung, Anne Frank, 57.
Im März 1947 erschien schließlich die erste holländische Ausgabe unter dem von Anne für ihren
Roman geplanten Titel „Het Achterhuis“ im Contact-Verlag162. Otto Frank verwendete jedoch
Decknamen für die im Tagebuch erwähnten Personen. 1950 folgten eine deutsche und eine
französische Übersetzung, 1952 - unter dem Titel ’Anne Frank: The Diary of a Young Girl‘ - die
erste Bearbeitung für den amerikanischen Markt. In den folgenden Jahren erschienen Übersetzungen
in 31 weiteren Sprachen. Heute ist das von Anne verfaßte Tagebuch weltberühmt. Es ist über 20
Millionen Male verkauft worden, und es gibt Theaterstücke und Filme. Eines der aktuellsten Werke,
die sich mit Anne Frank beschäftigen, der Dokumentarfilm ’Anne Frank Remembered‘, wurde im
Frühjahr 1996 mit dem Oscar ausgezeichnet, den Miep Gies entgegennahm.
Einige Ausgaben des Tagebuchs der Anne Frank in verschiedenen Sprachen.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 57.
Im Januar 1956 hörte eine Gruppe engagierter Holländer vom geplanten Abbruch des ehemaligen
Verstecks der Familie Frank in der Prinsengracht 263. Um dagegen zu protestieren, gründeten sie gemeinsam mit Otto Frank - am 3. Mai 1957 die „Anne Frank Stiftung“ Amsterdam, um das
baufällige Gebäude zu erhalten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen163. 1960 konnte dieses
Ziel erreicht werden. Die „Anne Frank Stiftung“ sollte jedoch auch und vor allem den Kontakt
zwischen Jugendlichen verschiedener Völker und Religionen fördern und gegen Intoleranz und
Diskriminierung auftreten. Bis heute konzentrieren sich die Mitarbeiter auf edukative Arbeit und
organisieren regelmäßig große Ausstellungen, die um die Welt wandern.
162
163
Müller, Biographie, 364/365.
Müller, Biographie, 365.
Links das Zimmer von Anne Frank. Im Hinterhaus stehen keine Möbel mehr, dennoch gibt es noch
Spuren der Untergetauchten (z.B. die von Anne auf die Wand gehängten Fotos von Filmstars).
Rechts das Anne Frank Haus in Amsterdam.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 58.
Otto Frank selbst heiratete 1953 in zweiter Ehe die gebürtige Wienerin Elfriede Geiringer-Markovits,
die er auf dem Transport von Auschwitz zurück nach Holland kennengelernt hatte. Das Ehepaar ließ
sich in Birsfelden bei Basel nieder und widmete sich gemeinsam der Verbreitung der Botschaft von
Anne Frank. 1979, ein Jahr vor seinem Tod, schrieb Otto Frank 164: „Nirgends in ihrem Tagebuch
spricht Anne über Haß. Sie schreibt, daß sie trotz allem an das Gute im Menschen glaubt. Und daß
sie, wenn der Krieg vorbei sei, für die Welt und für die Menschen arbeiten wolle. Das habe ich als
meine Pflicht von ihr übernommen.“ Otto Frank bekam unzählige Briefe, die er alle gewissenhaft
persönlich beantwortete. Am 19. August 1980 starb Annes Vater in der Schweiz.
Otto Frank im Jahr 1967.
Aus: Anne Frank, ed. Anne Frank Stiftung (Amsterdam 1992), 57.
164
Anne Frank Stiftung, Anne Frank, 57.
Die Originaltagebücher seiner Tochter inklusive 324 losen Blättern vererbte er dem Niederländischen
Staatlichen Institut für Kriegsdokumentation (RIOD)165. Der „Anne Frank Fonds“ (AFF), eine
gemeinnützige Stiftung mit Sitz in Basel, die von Otto Frank 1963 gegründet worden war, erhielt das
Copyright an Annes Tagebüchern und damit alle Erträge aus dem Buch, der Rundfunk- und
Fernsehverwertung sowie der diversen Bearbeitungen (Film, Theater). 1991 wurde vom „Anne
Frank Fonds“ die sogenannte endgültige Tagebuchversion publiziert, die - so glaubte man zumindest
- sämtliche Aufzeichnungen von Anne enthielt. Um so größer war die Überraschung, als im August
1998 plötzlich fünf weitere Blätter, die von Anne am 8. Februar 1944 verfaßt worden waren,
auftauchten. Otto Frank hatte diese Manuskriptseiten aus dem Tagebuch kurz vor seinem Tod einem
ehemaligen Mitarbeiter der „Anne Frank Stiftung“, Cornelis Suijk, übergeben, um die
Veröffentlichung der Passagen zu verhindern166. Anne beschäftigt sich darin kritisch mit der Ehe ihrer
Eltern, die sie als reine Vernunftbindung einschätzte. Ihrer Meinung nach empfand Otto keine echte
Liebe für seine Frau. Melissa Müller durfte für ihre Biographie Einblick in diese fünf Seiten nehmen
und schrieb167: „Außer Zweifel steht auch, daß Annes Beobachtungsgabe sie nicht trog; denn
tatsächlich war Otto Frank Anfang der zwanziger Jahre mit einem Mädchen aus Frankfurt liiert, in
das er aus ganzem Herzen verliebt war - und das er heiraten wollte. Die Eltern des Mädchens waren
vornehm und reich - und stellten sich gegen eine Hochzeit... Ottos finanzielle Verhältnisse schienen
ihnen für ihre Tochter deshalb zu unsicher. Auch nach vielen Jahren und selbst nach seiner eigenen
Hochzeit hatte Otto noch nicht verkraftet, daß sich seine große Liebe ihren Eltern gefügt hatte.“
Immer wieder tauchten auch Zweifel an der Echtheit des Tagebuchs auf; besonders rechtsradikale
Kreise hielt Annes Aufzeichnungen für einen Schwindel und behaupteten vielfach, Anne Frank hätte
niemals gelebt. Wieder andere waren der Meinung, daß Annes Vater das Tagebuch verfaßt habe, da
ein so junges Mädchen niemals solch tiefgehende Gedanken hätte entwickeln können. Otto Frank
bzw. die betroffenen Verlage reichten in den meisten Fällen Unterlassungsklagen ein, in denen sie
auch recht bekamen. Schon 1959 wurde ein erstes Gutachten über die Echtheit der Tagebücher
erstellt. 1963 gelang es Simon Wiesenthal, den Gestapobeamten auszuforschen, der Anne Frank und
ihre Verwandten 1944 verhaftet hatte. Inspektor Karl Silberbauer wurde von der Wiener Polizei
daraufhin vom Dienst suspendiert. Herr Frank, um Zeugenaussage gebeten, erklärte, Silberbauer
habe „nur seine Pflicht getan und völlig korrekt gehandelt“. „Das einzige, worum ich bitte, ist, diesen
Mann nicht noch einmal sehen zu müssen“, sagte Anne Franks Vater168.
Simon Wiesenthal
Aus: Brockhaus Enzyklopädie - Band 24,
ed. Brockhaus GmbH (Mannheim19 1994),
186.
Ein zweites Mal wandte sich das Niederländische Staatliche Institut für Kriegsdokumentation 1981
an das Gerichtslaboratorium des Justizministeriums mit dem Ersuchen um ein Gutachten über die
Authenzität der Tagebücher169. Mit Hilfe anderer Schriftstücke von der Hand Anne Franks (Briefe,
Postkarten usw.), die von verschiedenen Personen (Freunde, Verwandte, Schulkollegen des
165
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Müller, Biographie, 366.
Artikel aus „Die Presse“ vom 20. August 1998, erschienen unter dem Titel „Neue Aufzeichnungen von Anne
Franks Tagebuch entdeckt“ (von Helmut Hetzel).
Müller, Biographie, 288.
Mir als Kopie übermittelter Auszug aus Simon Wiesenthals Buch „Recht, nicht Rache“, Seite 235.
Theaterprogramm zu „Das Tagebuch der Anne Frank“, hergestellt auf Kosten der Vereinigten Bühnen, Grazer
Premiere am 21. November 1997.
Mädchens) zur Verfügung gestellt worden waren, konnte die Echtheit der Tagebuchaufzeichnungen
und der handschriftlichen Texte auf den losen Blättern nachgewiesen werden. Zuvor waren auch die
zum Vergleich herangezogenen anderen Texte Anne Franks mit Hilfe urkundentechnischer Methoden
einer ausführlichen Echtheitsprüfung unterzogen worden. Damit dürften alle Zweifel an der
Authenzität der Tagebücher endgültig ausgeräumt sein.
Otto Frank schrieb 1979170: „Die wirklich schuld sind, sind jene, die an der Spitze die Fäden zogen.
Mit Bestrafung kann nicht viel erreicht werden. Was geschehen ist, kann nicht ausgelöscht werden.
Aber wir müssen aus der Vergangenheit lernen. Wir müssen Vorurteile bekämpfen und Selbstkritik
erlernen, die eine von Annes Charaktereigenschaften war... Die ,Anne Frank Stiftung‘ versucht
Vorurteile, Diskriminierung und Unterdrückung abzubauen. Sie ist für demokratische
Zusammenarbeit und für das Ideal der Freiheit. Ich halte Annes Tagebuch für eine wirkungsvolle
Waffe in diesem Kampf... Anne starb 1945, aber ihr Geist hat überlebt.“
Das Tagebuch der Anne Frank - geschrieben von 1942 bis 1944 im Amsterdamer Versteck - ist
das meistgelesene literarische Dokument über die Verbrechen der Nationalsozialisten und vielleicht
auch eines der berührendsten Werke der Weltliteratur überhaupt. Es ist die Geschichte eines ganz
normalen Mädchens, das von seinen kleinen persönlichen Problemen schrieb, vor dem Hintergrund
eines Lebens unter dem ständig lastenden Druck des Terrors und Rassenwahns, dem sie letztendlich
zum Opfer fiel - als eine von sechs Millionen unschuldigen Toten.
170
Artikel aus „Die Presse“ vom 28./29. April 1979, erschienen unter dem Titel „Anne wäre heuer fünfzig
geworden“.
PROTOKOLL
Ende des Schuljahres 1998/99:
Mitteilung der Absicht, eine FBA zu schreiben
Sommerferien 1999:
Literatursuche in der Universitätsbibliothek von Graz
Korrespondenz mit der „Israelitischen Kultusgemeinde“ und dem „Dokumentationszentrum des
Bundes jüdischer Verfolgter des Naziregimes“ (Simon Wiesenthal)
Literaturlektüre
15. Juli 1999: erste Besprechung; Festlegung des Themas (Anne Frank)
6. August 1999: zweite Besprechung; Einführung in die Zitierregeln, Vorlegen der Literatur
1. September 1999: dritte Besprechung; Kapiteleinteilung, Umfang der Arbeit wird festgelegt
Anfang September 1999: Niederschrift von Kapitel I
Schuljahr 1999/2000:
21. September 1999: Besprechung; Titelfestlegung, Korrektur von Kapitel I
24. September 1999: Titel wird dem Landesschulrat mitgeteilt
28. September 1999: Bresprechung; Protokollvorlage; Verbesserungsvorschläge bezüglich der
Zitate
14. Oktober 1999: Abgabe von Kapitel II
28. Oktober 1999: Abgabe von Kapitel III
22. Nobember 1999: Abgabe des ersten Teils von Kapitel IV
2. Dezember 1999: Abgabe des zweiten Teils von Kapitel IV
17. Januar 2000: Abgabe des dritten Teils von Kapitel IV sowie von Kapitel V
31. Januar 2000: Abgabe von Kapitel VI
7. Februar 2000: Abgabe von Protokoll, Vorwort und Literaturverzeichnis
Anfang Februar: letzte Änderungen; Einfügen der Bilder
Vervielfältigen der Arbeit und Binden
26. Februar 2000:
Abgabe der Fachbereichsarbeit
Ich erkläre hiermit, daß ich diese Fachbereichsarbeit
eigenständig verfaßt und neben der angegebenen Literatur
keine weiteren Hilfsmittel verwendet habe.
---------------------------------------Datum, Unterschrift
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