Leseprobe

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Leseprobe aus: Fiedler, Persönlichkeitsstörungen, ISBN 978-3-621-27722-8
© 2012 Beltz Verlag, Weinheim Basel
http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-621-27722-8
Leseprobe aus: Fiedler, Persönlichkeitsstörungen, ISBN 978-3-621-27722-8
© 2012 Beltz Verlag, Weinheim Basel
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Die Personperspektivierung
eines zwischenmenschlichen Problems:
Erster Versuch einer Einführung
Menschlich aber bedeutet die klassifikatorische
Feststellung des Wesens eines Menschen eine
Erledigung, die bei näherer Besinnung
beleidigend ist und die Kommunikation abbricht.
Karl Jaspers
Definition
Persönlichkeit und Persönlichkeitseigenschaften eines Menschen sind Ausdruck der für ihn charakteristischen Verhaltensweisen und Interaktionsmuster, mit denen er gesellschaftlich-kulturellen Anforderungen und Erwartungen zu entsprechen und seine zwischenmenschlichen Beziehungen auf
der Suche nach einer persönlichen Identität mit Sinn zu füllen versucht.
Jene spezifischen Eigenarten, die eine Person unverkennbar typisieren und die sie
zugleich von anderen unterscheiden, sind wegen ihrer individuellen Besonderheiten immer zugleich von sozialen Regeln und Erwartungen mehr oder weniger
abweichende Handlungsmuster. Gewöhnlich werden persontypisierende Abweichungen innerhalb der Vielfalt gesellschaftlich-kultureller Ausdrucks- und Umgangsformen toleriert, ja sie sind – wie etwa im Falle kreativer Abweichung – sogar mit einer hohen sozialen Wertigkeit belegbar.
Person. Allgemein betrachtet ermöglicht erst die Wiederholung sozialer Besonderheit – als Nichtkonformität wie auch als auffällige Konformität – den Prozess der
Persontypisierung. Dieser Akt diagnostischer Urteilsbildung geschieht gewöhnlich als Eigenschaftszuweisung an eine Person. Dabei handelt es sich um eine
Verallgemeinerung von wiederholt beobachtbarem „Verhalten in Situationen“
auf scheinbar zeitstabilere und vom Kontext unabhängigere Persönlichkeitseigenschaften. Dieser Verallgemeinerungsprozess kann dabei sowohl die eigene
Person als auch andere Personen betreffen.
Prozesse der Zuschreibung von Persönlichkeitseigenschaften sind – unabhängig von der Frage ihrer Wirklichkeitsentsprechung – notwendig und funktional,
etwa um sich mit anderen über Personen zu verständigen oder um etwas mit
ihnen beziehungsweise gegen sie zu unternehmen. Eigenschaftszuschreibungen
erleichtern den Umgang mit anderen, indem sie diese verstehbar und berechen-
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bar machen. Und sie dienen der Person selbst zur wechselseitigen Beziehungsstrukturierung, indem sie z. B. einer interpersonellen Abgrenzung oder der Definition einer Gruppenzugehörigkeit zugrunde gelegt werden können.
Störung. Persönlichkeitseigenschaften werden üblicherweise erst dann mit dem
Etikett „Persönlichkeitsstörung“ belegt, wenn sie deutlich in Richtung eines Leidens der Betroffenen (etwa unter der „Last ihrer Gewordenheit“) oder in Richtung Dissozialität oder (anti)sozialer Devianz auffällig werden. Da die Übergänge zwischen sozial akzeptierter und sozial nicht akzeptierter Abweichung sehr
kontextabhängig und fließend sind, erfolgt die Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ fast zwangsläufig in einem Bereich persönlicher und zwischenmenschlicher, wissenschaftlicher und gesellschaftlich-kultureller Streitfragen und Konfliktzonen. Es nimmt nicht weiter wunder, dass die Konzepte und Verstehensansätze der Persönlichkeitsstörungen von Kultur zu Kultur sowie innerhalb der
verschiedenen psychiatrischen, psychologischen und psychotherapeutischen
Richtungen und Traditionen wechseln.
Gefahren in der Diagnostik. Diese Divergenzen zeigen sich insbesondere in zwei
bisher kaum befriedigend gelösten Grundproblemen der Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen. Diese Grundprobleme hängen eng mit jenem beschriebenen
Verallgemeinerungsprozess diagnostischer Urteilsbildung zusammen, nämlich
von spezifisch abweichenden Verhaltensmustern in Situationen auf relativ zeitstabile und vom Kontext unabhängige Personeigenschaften oder Persönlichkeitsstörungen rückzuschließen. In der Literatur wird eines dieser Probleme zumeist
unter dem Stichwort „Stigmatisierungsproblem“ so abgehandelt, dass sich das
andere zwingend ergibt, ohne dass dies die meisten Autoren jedoch bemerken.
Dieses zweite Problem lässt sich am besten mit „Personperspektivierung einer
Beziehungsstörung“ umschreiben. Da eine Kenntnis beider Grundprobleme für
eine kritische Rezeption dieses Buches Voraussetzung ist, sollen sie hier einführend dargestellt werden.
1.1 Das Stigmatisierungsproblem
In der psychiatrischen Nomenklatur wurden und werden bis in die jüngste Gegenwart hinein die Begriffe „Psychopathie“ zur Kennzeichnung der Persönlichkeitsstörungen und „Psychopath“ als Bezeichnung für einen Menschen mit Persönlichkeitsstörungen benutzt. Die „Psychopathie“ bzw. den „Psychopathen“
kennzeichnen extreme (d.h. bis ins scheinbar „Krankhafte“ reichende) Störungen
des Beziehungserlebens und Sozialverhaltens, die sich in zweierlei Hinsicht darstellen können:
! einerseits als ein extremes, oft mit subjektivem Leiden verbundenes Versagen
im Beziehungs- und Leistungsbereich,
! andererseits eine mehr oder weniger aktive Tendenz zu ständiger Norm- und
Regelverletzung.
1.1 Das Stigmatisierungsproblem
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Für die besonders destruktiven und extrem unverantwortlichen Formen psychopathischer Störungen sind in der Psychiatrie noch die Begriffe „Soziopathie“ zur
Störungskennzeichnung und „Soziopath“ zur Personkennzeichnung gebräuchlich. Seit den ersten Versuchen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in der neuzeitlichen Psychiatrie die nosologische Einordnung gestörter Persönlichkeiten zu
begründen, gilt es als ein zentrales Anliegen der Psychiatrie, die Unterscheidbarkeit psychopathisch-krankhafter und intendiert verantwortbarer Dissozialität
und Kriminalität (d.h. die Frage der Schuldfähigkeit) wissenschaftlich zu begründen. So wird u.a. verständlich, warum die meisten der früheren und selbst noch
manche der aktuellen Versuche einer wissenschaftlich motivierten Definition
und Beschreibung der Psychopathie wie Kataloge schlechter Eigenschaften,
menschlicher Fehlverhaltensweisen und asozialer Tendenzen klingen.
Devianz. Daran hat auch das Bemühen der Psychiatrie, einen wertfreien Psychopathiebegriff zu vertreten, kaum etwas zu verändern vermocht. Ein Kodex der
Devianz in der Beurteilung psychischer Auffälligkeiten hat sich immer leichter
durchgesetzt, zumal das abweichende Verhalten als Übertreten allgemeiner Ordnungs- und Rechtsnormen psychiatrisch zur Frage der Schuldfähigkeit begutachtet und möglicherweise bestraft wurde. Das Bemühen der Psychiatrie um Anerkennung als wissenschaftliche Disziplin im Übergang zum 20. Jahrhundert hat
mit ihrem zunehmenden Einfluss auf die forensische Begutachtung und damit
auf die Kriminologie erheblich – wenngleich vielfach auch gegen ihre Intention
– zur Festigung dieser Tendenz beigetragen, sodass beispielsweise Begriffe wie
„unreife Persönlichkeit“, „Triebtäter“, „Hangtäter“ oder „gemeingefährlicher Psychopath“ bis heute in der Rechtsprechung überlebt haben (vgl. Prins, 1980; Szasz,
1993).
Stigmatisierung. Die diagnostisch-definitorische Verquickung der psychischen
Gestörtheit einer Person mit Aspekten der Gesellschaftsschädlichkeit ihrer Handlungen hat in den 1960er- und 1970er-Jahren zu einer teilweise heftig vorgetragenen Kritik der Psychiatrieklassifikation geführt. Sie erfolgte vor allem aus soziologisch-antipsychiatrischen Positionen heraus, die insbesondere die stigmatisierende Dynamik der Diagnostik als „Etikettierung“ oder „Labeling“ (z.B. Scheff,
1963) sowie Prozesse der „gesellschaftlichen Organisierung psychischen Leidens“
(Keupp & Zaumseil, 1978) untersuchten. Im Gefolge dieser Kritik wurden vielfach nicht nur der Begriff, sondern auch das Konzept „psychopathische Persönlichkeit“ überhaupt abgelehnt (vgl. u.a. Szasz, 1961; Wulff, 1972; Keupp, 1976;
Jervis, 1975). Mehr noch als die diagnostische Feststellung bei anderen psychischen Störungen (wie etwa bei einer Phobie, Depression oder Schizophrenie)
berührt nämlich die Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ unmittelbar das Diagnostikproblem der Stigmatisierung, denn es werden nicht nur einzelne Verhaltens- und Erlebensepisoden als „störend“ bezeichnet, sondern die diagnostizierte Persönlichkeitsabweichung bezieht sich – eben als eine Verallgemeinerung
über die der Beurteilung zugrunde liegenden Devianzmuster hinaus – immer auf
die Person als Ganzes (vgl. Jones et al., 1984; Lieb, 1998).
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Perspektivenwechsel
Die diagnostische Feststellung einer Persönlichkeitsstörung markiert einige für
die betreffende Person und für ihre sozialen Beziehungen entscheidende Veränderungen (vgl. insbesondere Glatzel, 1977): Bis zu diesem Zeitpunkt vollzogen
sich die verallgemeinernden Fremd- wie Selbstzuschreibungen von Persönlichkeitseigenschaften im Rahmen sozialer Erwartungen. Sie begründeten damit im
Wesentlichen die kontext- und zeitübergreifende Berechenbarkeit und Beständigkeit einer Person.
Persönlichkeitsstil wird Persönlichkeitsstörung. Im Perspektivenwechsel von den
Persönlichkeitseigenschaften in Richtung Persönlichkeitsstörung drückt sich nun
einerseits eine zunehmende Beunruhigung des sozialen Systems aus. Die Personhandlungen haben wiederholt ein tolerierbares Maß überschritten, und die Bezugspersonen antizipieren einen möglichen Verlust kollektiver Kontrolle über
das erreichte Ausmaß sozialer Devianz. Andererseits findet diese soziale Verunsicherung durch ebendiesen Perspektivenwechsel zugleich wieder Ruhe und Stabilität – insbesondere dann, wenn diese Urteilsbildung durch eine professionelle
(psychologisch-psychiatrische) Diagnostik gestützt wird. Professionelle Diagnostik beinhaltet Kenntnisse über psychische Gestörtheit und eröffnet Perspektiven
ihrer Behandlung. Die Beruhigung des sozialen Systems nimmt also in dem
Maße zu, wie diese Störungszuschreibung wissenschaftlich begründbare bis juristisch vertretbare Maßnahmen einer professionell einsetzbaren Hilfestellung bis
Fremdbehandlung rechtfertigen könnte – bis hin zu Formen psychoedukativer
Disziplinierung oder letztlich (im Falle der Schuldfähigkeit) der Bestrafung.
Stigmatisierungsproblem. Das Stigmatisierungsproblem setzt nun genau dort
ein, wo sich ein Konsens über die Notwendigkeit der Korrektur oder Beendigung
wiederholt gezeigter Verhaltensdevianz mit den Betroffenen nicht mehr herstellen lässt. Dasjenige, was den Bezugspersonen wie den professionellen Helfern
Entlastung und Beruhigung, Handlungsbedarf und Handlungsperspektive eröffnet, birgt – so die Kritik der Labeling-Perspektive – für die Betroffenen selbst die
Gefahr einer überdauernden fixierenden Merkmals- und Identitätszuschreibung
in sich. Zugleich wird die Möglichkeit zur Konsensfindung über die zugeschriebenen Persönlichkeitsstörungen eingeschränkt. Denn die Hinzuziehung professioneller Begutachtung und Hilfe impliziert zumeist die Unfähigkeit zur Einsicht
in die eigenen charakterlichen Bruchstellen und stellt damit eine Kompetenz der
Betroffenen zur Mitgestaltung der aktuellen Situation eher in Frage.
1.2 Die Personperspektivierung einer Beziehungsstörung
Persönlichkeitsstörungen gehören wie andere Persönlichkeitseigenarten zur Person dazu. Deshalb dürfte zunächst auch nicht zu erwarten sein, dass ein Mensch
– im Bereich des Übergangs von der sozial akzeptierten zur nicht mehr akzeptierten sozialen Abweichung – sich selbst eine „gestörte Persönlichkeit“ diagnos1.2 Die Personperspektivierung einer Beziehungsstörung
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tizieren würde. Dies dürfte schon deshalb nicht zu erwarten sein, weil im Grenzbereich zwischen Persönlichkeitseigenart und Persönlichkeitsstörung intendierte
Devianz selten unterstellt werden kann. Es handelt sich zumeist wohl lediglich
um eine sozial unangemessen extremisierte Verhaltensgewohnheit, die vom Betroffenen selbst möglicherweise gar in bester interpersoneller Absicht eingesetzt
wurde und wird. Selbst wenn die Betroffenen extrem unter den Folgen der von
ihnen mitverursachten Interaktionsschwierigkeiten leiden sollten, erlaubt zumeist oder zunächst nur die Außenperspektive der Bezugspersonen oder die eines
professionellen Diagnostikers die Schlussfolgerung einer „gestörten“ Persönlichkeit.
Ich-Syntonie
Das Phänomen, dass die den Persönlichkeitsstörungen zugeschriebenen Devianzmuster aus der Eigenperspektive zunächst eher selten als störend, abweichend
oder normverletzend erlebt werden und dass sie deshalb als solche bei sich selbst
schwerlich als Persönlichkeitsstörungen diagnostizierbar sind, bezeichnet man als
Ich-Syntonie der Persönlichkeitsstörungen (z.B. Vaillant & Perry, 1988).
Wachsende Selbsteinsicht. Diese Ich-Syntonie ist nicht absolut zu sehen, etwa in
dem Sinne, als sei den Betroffenen eine Einsicht in die Mitverantwortlichkeit für
die Extremisierung zwischenmenschlicher Beziehungsschwierigkeiten gänzlich
verschlossen. Je länger die betroffene Person bereits über die eigenen Beziehungsschwierigkeiten nachdenkt, je mehr sie unter den privaten oder beruflichen Interaktionsproblemen leidet, je weiter sie möglicherweise bereits in einer psychotherapeutischen Behandlung ihrer Beziehungsschwierigkeiten vorangekommen
ist, umso mehr dürfte die Wahrscheinlichkeit zunehmen, dass Selbsteinsicht in
die interaktionellen Verwicklungen vorhanden ist.
Die Ich-Syntonie verdeutlicht jedoch in prägnanter Weise, dass Diagnose und
Beurteilung von Interaktionsdeviationen als Persönlichkeitsstörungen auf „Verhaltensstörungen aus der Außenperspektive“ beruhen, die die betroffenen Menschen selbst zunächst eher als Eigenschaften denn als Gestörtheit ihrer Person
bezeichnen würden. Wenn überhaupt, dann erwächst eher diffus und unbestimmt ein Gefühl der Gestörtheit der eigenen Person oder des subjektiv erlebbaren Leidens in der Folge zunehmender Interaktionsprobleme. Ganz im Unterschied dazu werden die meisten anderen psychischen Störungen und Syndrome
(wie beispielsweise die phobischen oder affektiv-depressiven Störungen) als ichdyston, eben als nicht zur eigenen Person zugehörig erlebt – weshalb sich die
Betroffenen von diesen Störungen gern wieder befreien würden.
Ich-Dystonie
Jedoch gilt es, auch das Phänomen der Ich-Dystonie nicht absolut, sondern relativ zu sehen. Wie wir sehen werden, gibt es durchaus ich-dystone Persönlichkeitsstörungen (wie z.B. die ängstlich-vermeidende oder gelegentlich auch die
dependente). Und es gibt psychische Störungen (wie z.B. die Störungen der Ge-
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schlechtsidentität oder der Geschlechtspräferenz), bei denen die Übergänge zwischen einem ich-dyston vorhandenen Störungsbewusstsein und einer ich-synton
fehlenden Störungseinsicht fließend sind. An den Beispielen wird auch deutlich,
dass die subjektive Ich-Syntonie entscheidend davon abhängt, ob das betreffende
Interaktionsverhalten in den Bereich der durch allgemeine Normen festgelegten
sozialen Devianz hineinreicht oder nicht.
Bewusstwerdung durch Kritik von außen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist,
dass persönlichkeitsbedingte Interaktionsprobleme den Betroffenen selbst vielfach erst durch Kritik und Rückmeldung anderer transparent werden. Nicht in
jedem Fall werden die Betreffenden akzeptieren, dass die kritisierten Verhaltensmuster unangemessen sind, Regelverstöße darstellen oder Änderungswert besitzen. Paradoxerweise wird die Möglichkeit, kritische Rückmeldungen zu akzeptieren, in dem Maße eingeschränkt, wie sich Rückmeldung und Kritik nicht mehr
nur auf Verhalten in Situationen, sondern zunehmend auf kontextübergreifende
Persönlichkeitseigenschaften oder schließlich gar auf Persönlichkeitsstörungen
beziehen. Dieser Perspektivenwandel schränkt nämlich – aufgrund der vollzogenen Abstraktion über Situationen – die Möglichkeit der Reflexion über die Situationsangemessenheit konkreter Handlungen immer mehr oder weniger ein.
Bereitschaft zum Diskurs. Ob das Problemverhalten in Situationen über Metakommunikation mit dem Betroffenen veränderbar ist, hängt entscheidend davon
ab, ob die Kritik eines Verhaltensmusters beim Angesprochenen zur Kritikakzeptanz führt. Die Frage ist also, ob der Kritisierte zu einem Diskurs über den Störcharakter seines Verhaltens bereit oder fähig ist – d.h., ob er bereit ist, seine
Verhaltensbesonderheit als kritisierenswerte (also ich-dystone, ihn möglicherweise selbst störende) Personeigenschaft wenigstens prinzipiell als veränderungsnotwendig zu betrachten. Ist das Interaktionsmuster nicht auf die Ebene der IchDystonie transferierbar, liegt die Schlussfolgerung der ich-syntonen Persönlichkeitsstörung nahe – mit vielfältigen Implikationen für die Betroffenen, die von
deren Uneinsichtigkeit bis zur möglichen Irreversibilität der Persönlichkeitsstörungen reichen können.
Personperspektivierung
Das zentrale Problem des sozialen Prozesses der Zuschreibung und Begründung
von Persönlichkeitsstörungen – konkret eben der Personperspektivierung eines
interaktionellen Problems – liegt nun vor allem darin, dass zwar der aktuelle
Prozess der Entstehung ausgesprochen interpersoneller Natur ist. Im Ergebnis
jedoch verschiebt sich der Blick einseitig auf die lebensgeschichtliche, möglicherweise biologisch begründbare Gewordenheit der Person. Für die Interaktionspartner und Diagnostiker ist dies – wie angedeutet – eine außerordentlich beruhigende Situation. Dies ist deshalb so, weil die Diagnose Persönlichkeitsstörung
bei den Diagnostikern „den Gedanken an ihrer etwaigen Mitschuld an dieser
Störung oder gar am Scheitern der Beziehung ‚vernünftigerweise‘ gar nicht aufkommen lassen kann“ (Glatzel, 1977, S. 127) – und dies wiederum, obwohl die
1.2 Die Personperspektivierung einer Beziehungsstörung
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Persönlichkeitsstörung erst durch den Prozess ihrer Diagnose festgelegt wurde.
Ohne den Diagnostiker gäbe es keine Diagnose.
Diagnosogenik-Theorie. Karl Jaspers hat diese Diagnosogenik-Theorie der Persönlichkeitsstörungen einmal mit folgenden Worten zusammengefasst: „Menschlich aber bedeutet die klassifikatorische Feststellung des Wesens eines Menschen
eine Erledigung, die bei näherer Besinnung beleidigend ist und die Kommunikation abbricht“ (Jaspers, 1913, S. 365f.). Welche Folgen sich daraus – vor allem bei
Eintritt in die Institution Psychiatrie – als „Patientenkarriere“ ergeben, sind im
Rahmen der Labeling-Perspektive ausführlich beschrieben worden (vgl. Goffman, 1959; Glatzel, 1975; Keupp, 1976; oder aktueller auch: Fink & Tasman,
1992; Lieb, 1998).
Um den hier gemeinten „Teufelskreis“, der nach Vergabe der Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ einsetzen kann, kurz anzudeuten: Insbesondere in einer
ressourcenorientierten Psychotherapie stellt sich die Diagnose von Persönlichkeitsstörungen gelegentlich als ausgesprochener Gefahrenpunkt dar und kann
sich – wie in späteren Kapiteln ausführlich dargelegt wird – im Verlauf der Behandlung als wahrer Bumerang erweisen. Denn nach Diagnosestellung sitzt vor
uns ein Mensch, dessen ureigenste Ressource, nämlich seine Persönlichkeit, gerade qua Diagnose in ein Defizitmodell verwandelt wurde – und damit verbunden seine ihm eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten.
Diagnose als Bumerang. Ist die Person verunsichert, bleibt ihr in der Folge –
etwa um Selbstsicherheit zurückzugewinnen – nichts anderes übrig, als ihre ureigensten Ressourcen zu aktivieren. Von außen betrachtet treten daraufhin die
akzentuierten Persönlichkeitsstile umso deutlicher zutage. Und der diagnostizierende Therapeut findet seine Persönlichkeitsstörungsdiagnose nur mehr bestätigt
– ohne zu bemerken, dass er es war, der wegen seiner verunsichernden Diagnose für die zunehmende Prägnanz der Persönlichkeit vielleicht hauptverantwortlich zeichnet.
Nicht von ungefähr erleben viele Patienten nach Vergabe der persönlichkeitsverengenden Störungsdiagnose eine grundlegende Bedrohung ihrer bestehenden
oder verbliebenen persönlichen Ressourcen. Das kann für die Betroffenen, solange keine Perspektiven vorliegen, gelegentlich existenzbedrohliche Ausmaße annehmen. Kein Wunder weiter, wenn sich viele Patienten gegen die Diagnose der
gestörten Persönlichkeit unterschwellig oder vehement offen zur Wehr setzen
oder diese sogar als beleidigend oder kränkend erleben.
1.3 Übersicht
Dieser bis hierher nachgezeichnete Diskurs über das mit den Persönlichkeitsstörungen untrennbar verknüpfte Diagnostikproblem der Personperspektivierung
einer Interaktionsstörung spielt in den Arbeiten, die in den letzten 200 Jahren
über Persönlichkeitsstörungen verfasst wurden, immer wieder eine mehr oder
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(zumeist eher) weniger zentrale Rolle. Wir werden diesen Aspekt in diesem Buch
jedoch viele Male und unter jeweils neuer Perspektive in den Mittelpunkt rücken,
weil er erhebliche Bedeutung für Verständnis, Diagnostik und Behandlung der
Persönlichkeitsstörungen hat.
In den nachfolgenden Kapiteln soll zunächst ganz allgemein und störungsübergreifend die historische Entwicklung hin zum aktuellen Stand des Wissens
und zu aktuellen Kontroversen nachgezeichnet werden. Im zweiten Teil des
Buches wird dann ausführlicher auf die Konzeptentwicklung der einzelnen Störungsbilder einzugehen sein. Die gegenwärtigen Klassifikationsversuche der Persönlichkeitsstörungen beruhen vor allem auf Verstehensansätzen sowie Definitions- und Ordnungsversuchen von vier Wissenschaftstraditionen:
! Als die traditions- und einflussreichsten Vorläufer müssen die nosologischen
Systematisierungsversuche psychischer Störungen im Rahmen der psychiatrischen Psychopathologie angesehen werden (→ 2).
! Den zweiten Einflussbereich bilden die tiefenpsychologischen Verstehensansätze der Psychoanalyse (→ 3) sowie
! ihre (der Psychoanalyse folgend) jeweils zeitgleich, zuvor oder später entwickelten interpersonell bzw. soziodynamisch orientierten Extensionen in klinischer Psychologie, Psychosomatik und Psychiatrie (→ 4).
! Im Bereich der Differenziellen Psychologie wird vor allem die testpsychologisch begründete dimensionale Persönlichkeitsdiagnostik bevorzugt. Andererseits werden die in der Klinischen Psychologie entwickelten biosozialen Lerntheorien für die Erklärung der Persönlichkeitsentwicklung und deren Störungen zunehmend bedeutsamer (→ 5).
Angesichts der kaum überschaubaren Vielfalt und Heterogenität vorliegender
Ordnungsversuche und Verstehensansätze wird die historische Darstellung auf
jene Systematisierungsversuche und Konzeptüberlegungen etwas eingeschränkt,
von denen wesentliche Impulse für das heutige Verständnis der Persönlichkeitsstörungen ausgegangen sind.
Problematische Terminologie. Wie bereits deutlich geworden ist, liegt ein großes
Problem im Umgang mit den Persönlichkeitsstörungen in der Art, wie Menschen
„Sprache“ zur Begriffs- und Bedeutungssetzung benutzen. Dies bringt insbesondere den Autor eines Lehrbuches über Persönlichkeitsstörungen in große Schwierigkeiten, will er einerseits die über Sprache vermittelten Sichtweisen und Denkansätze anderer Autoren möglichst genau wiedergeben, andererseits folgenschwere Fehler nicht wiederholen, die in genau der Begriffssetzung dieser
Autoren begründet lagen. Für den Umgang mit diesem Dilemma wurde in diesem Buch die folgende Leitlinie zur Orientierung gewählt.
Begriffliche Setzungen werden im Zusammenhang mit der Darstellung von
Verstehensansätzen und Forschungsarbeiten anderer Autoren möglichst so
vorgenommen, wie sie in den Originalarbeiten zu finden sind.
1.3 Übersicht
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Das bedeutet zwangsläufig, dass Begriffe wie z.B. „Psychopathie“, „Soziopathie“,
„Psychose“, „Hysterie“ sowie jeweils entsprechend auch Attribute wie „endogen“,
„neurotisch“, „libidinös“ usw. sehr häufig in diesem Buch vorkommen, auch
wenn dem Autor gelegentlich alternative und aktuellere Begrifflichkeiten besser
gefallen hätten. Andererseits wurde von den wünschenswerten Alternativen so
vielfältig Gebrauch gemacht, dass die Hoffnung berechtigt ist, diese mögen einen
deutlichen und tragfähigen Kontrast zu den althergebrachten Sprachgepflogenheiten bieten.
Charakter und/oder Persönlichkeit. Eine kurze Bemerkung zur Setzung und
Nutzung der Begriffe „Charakter“ und „Persönlichkeit“: Heute werden beide Begriffe vielfach synonym gebraucht, wobei „Charakter“ schlicht als der „unmodernere“ der beiden Begriffe betrachtet wird. In der persönlichkeitspsychologischen Tradition (vor allem im Rahmen der „Deutschen Charakterkunde“;
→ 5.1) ist jedoch verschiedentlich viel Aufwand betrieben worden, beide Begriffe
mit unterschiedlichen Bedeutungen zu belegen. Letztendlich hat sich dabei keine
konsensuelle Perspektive entwickelt.
Im Rahmen dieses Buches wird der Begriff „Persönlichkeit“ in aller Regel bevorzugt. In den unterschiedlichen Rezeptionskontexten werden die Begriffe
„Charakter“ bzw. „Persönlichkeit“ zumeist so eingesetzt, wie sie in den zitierten
Quellen benutzt wurden.
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