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Hessischer Rundfunk
hr-iNFO
Redaktion: Heike Ließmann
Wissenswert
Tabu-Thema Pädophilie —
vom Umgang mit einem heiklen Thema
von
Juliane Orth
Sprecherin: Juliane Orth
Wissenschaftliche Interviewpartner und Forschungsschwerpunkte:
Stephanie Thiel, Universität Gießen, Präventions-Netzwerk “Kein Täter werden“
Till Amelung, Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der
Berliner Charité, Forschungsverbund NeMUP: Neurobiologische Grundlagen für
Pädophilie und sexuellem Missbrauchsverhalten gegen Kinder
Sara Jahnke, Universität Dresden, Stigmatisierung von Pädophilen
(Doktorarbeit)
Sendung: 24.05.15, hr-iNFO
Copyright
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Hintergründe zur Sendung:
Kindesmissbrauch ist alltäglich. Nach offiziellen Polizeistatistiken werden
jedes Jahr mehr als 14tausend Kinder Opfer von sexuellem Missbrauch.
Drei Viertel der Opfer sind Mädchen. Das sind aber nur die Fälle, die
bekannt geworden sind. Sie liegen im sogenannten Hellfeld, die Taten
wurden angezeigt, manche Täter verurteilt.
Im Dunkelfeld sieht es anders aus: Dies sind die Fälle von Missbrauch, die
stattgefunden haben, aber nicht angezeigt und öffentlich wurden.
Bislang gibt es keine belastbaren Zahlen, wie viele Kinder tatsächlich
Opfer von sexuellem Missbrauch werden. Nationale und internationale
Studien gehen aber gehen davon aus, dass etwa 15 Prozent aller Mädchen
betroffen sind. Bei den Jungen sind es etwa 5 Prozent. „Eins von fünf“ - so
heißt die Kampagne des Europarats gegen sexuelle Gewalt an Kindern.
Eins von fünf – das hieße, dass in einer durchschnittlichen Klasse in
Deutschland fünf bis sechs Kinder sitzen, die sexuelle Gewalt erlebt
haben. Sexueller Kindesmissbrauch ist alltäglich. Man muss es leider so
sagen. Es hat lange gedauert, bis das ins öffentliche Bewusstsein gerückt
ist. Ehemalige Schüler der Odenwaldschule hatten schon länger versucht,
auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Sie drangen nicht durch.
Erst als 2010 der Leiter des Berliner Canisius-Kollegs
den massenhaften Missbrauch in der Einrichtung der katholischen Kirche
offenlegte, bekamen auch die betroffenen Odenwaldschüler
Aufmerksamkeit.
Seither ist das Thema im Fokus der Öffentlichkeit. Das bietet Chancen.
Zum einen den Opfern, die endlich sprechen und sich Gehör verschaffen
können. Aber auch potentiellen Tätern – nämlich die Chance, gar nicht
erst zum Täter zu werden.
Und es gibt eine Chance für die Wissenschaft, Gelder für die Forschung zu
bekommen. Es geht darum herauszufinden, warum Menschen,
überwiegend sind es Männer, Kinder missbrauchen. Und es geht darum
herauszufinden, was man dagegen tun kann.
Es geht aber auch darum, zu unterscheiden. Denn wenn von
Kindesmissbrauch die Rede ist, fällt in den meisten Fällen der Begriff
pädophil. Dabei werden die meisten Missbrauchsfälle nicht von
Pädophilen begangen. Trotzdem stehen Pädophile am Rande der
Gesellschaft, kaum einer kann offen darüber reden. Es gibt gute Gründe,
das zu ändern.
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O-Ton Sven:
Ich kann mich erinnern an eine Situation mit 16, wo ein Fall in den Medien
war: Mädchen vom Onkel missbraucht und umgebracht. Und da war mir
klar: Ich bin auch so einer, auch so ein Schwein. Und ich wollte alles dran
setzen, dass es nie so weit kommt.
Sprecherin:
Die Erkenntnis, dass er sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlt, traf Sven
wie ein Schock, der sein weiteres Leben verändert hat. Seither versucht
er, mit seiner Veranlagung bewusst umzugehen. Ähnlich ging es Paul, nur
dass für ihn die Erkenntnis etwas später kam.
O-Ton Paul:
Da war ich 24, Sommertag. Mädchen liefen leicht bekleidet rum und ich
hatte eine starke sexuelle Reaktion.
Sprecherin:
Sven und Paul sind pädophil. Das heißt, dass ihr primäres sexuelles
Interesse auf Kinder ausgerichtet ist, die noch nicht in der Pubertät sind.
In der Regel sind die Kinder nicht älter als 11 Jahre. Wenn sich die
sexuellen Interessen auf Kinder und Jugendliche beziehen, bei denen die
Pubertät schon angefangen hat, spricht man von Hebephilie. So, wie
andere Erwachsene auf gleichaltrige Männer oder Frauen reagieren,
reagieren Pädophile oder Hebephile auf Kinder bzw. Heranwachsende.
Sie haben sich das nicht ausgesucht. Es ist veranlagt.
Experten gehen davon aus, dass das bei etwa einem Prozent der Männer
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der Fall ist, bei Frauen kommt Pädophilie äußerst selten vor. Das heißt,
dass wir in Deutschland von etwa 250tausend pädophilen Männern
sprechen. Es heißt aber nicht, dass diese Männer zwangsläufig Kinder
missbrauchen oder Missbrauchsabbildungen, sogenannte
Kinderpornographie, konsumieren. Vielen reicht es, ihre sexuelle
Orientierung in der Phantasie auszuleben. Für sie sind Übergriffe auf
Kinder tabu.
Also: Bei weitem nicht jeder Pädophile missbraucht Kinder. Und
umgekehrt sind viele, die Kinder missbrauchen, nicht pädophil, sondern
begehen diese Taten aus ganz anderen Gründen, erklärt die Psychologin
Stephanie Thiel von der Universität Gießen:
O-Ton Thiel 1
Es sind häufig Ersatztaten, dass jemand mit erwachsender Sexualität nicht
klar kommt, dass jemand sich schwer damit tut, Frauen gegenüber zu
treten, die Wünsche äußert, die nein sagt. Bei richtigen Pädophilen geht es
um Liebe zu Kindern, richtige Liebe. Wie wenn Menschen, die auf
Erwachsene stehen, sich in Erwachsene verlieben.
Sprecherin:
Diese fatale Liebe in sich zu tragen, das Hingezogen Sein zu Kindern statt
zu Erwachsenen, ist eine schwere Bürde. Viele Betroffene wie Sven und
Paul können ihre Empfindungen erst mal nicht einordnen oder damit
umgehen, fühlen sich fremd im eigenen Körper, falsch in der Welt.
OT Sven:
Ich wollte mich mit einer Plastiktüte ersticken. Weil ich auch dachte, ich
passe nicht in diese Welt. Und hatte immer die Hoffnung, im nächsten
Leben wird es dann besser. Game over, versuche ich es nochmal.
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OT Paul:
Es ging so weit, dass ich dachte, dass ich völlig verrückt bin, böse. Es gab
niemanden, der mir etwas zu dieser Situation sagen konnte. Das hat mich
schon ziemlich runtergezogen. (0’28)
Sprecherin:
In den vergangenen Jahren hat sich die Situation etwas verbessert.
Pädophile können leichter Informationen und Zugang zu Therapeuten
finden, die ihnen helfen, mit ihrer Veranlagung verantwortungsvoll
umzugehen.
Therapeuten wie Stephanie Thiel. Sie arbeitet im Präventions-Netzwerk
„Kein Täter werden“. Es bietet Menschen, die sich sexuell zu Kindern
hingezogen fühlen, die Möglichkeit, sich therapieren zu lassen. Das Ziel:
Weder direkt durch den körperlichen Kontakt mit Kindern, noch indirekt
durch das Nutzen von Missbrauchsabbildungen, zum Täter zu werden.
Grundlegende Philosophie dabei ist: Niemand kann etwas für seine
Veranlagung. Verantwortlich ist man nur für seine Taten.
Das Netzwerk wurde vor zehn Jahren an der Berliner Charité gegründet.
Mittlerweile gibt es diese Therapieangebote in zehn Städten in
Deutschland. Seit November 2013 auch in Hessen, nämlich an der Uni
Gießen. Stephanie Thiel betreut hier zusammen mit einer Kollegin zwei
Gruppen von insgesamt 14 Klienten – etwa ein Jahr dauert die Therapie.
Fast alle, die sich bei ihr melden und für das Projekt interessieren, sind
Männer und ansonsten ein Querschnitt der Gesellschaft:
O-Ton Klienten:
jede Altersgruppe, alle Berufsgruppen, alle sozialen Schichten – es gibt
kein Muster. Der Jüngste, der sich bisher bei uns gemeldet hat, war 18
Jahre alt und der Älteste ist 63/64.
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Sprecherin:
Der Ort, an dem die Therapien stattfinden, muss geheim gehalten werden.
Zu groß ist die Angst, dass es zu Übergriffen kommt. Denn für viele
Menschen stehen Pädophile am Rande der Gesellschaft, gelten als
Abschaum, Monster, tickende Zeitbomben.
Stephanie Thiel sitzt in einem schmucklosen, hellen Raum mit hohen
Decken. Ein Stuhlkreis bildet den Rahmen, in dem die Sitzungen mit den
Klienten ablaufen. Hier trifft sie sich mit ihnen. Einer der ersten
Therapieschritte klingt ganz einfach,
ist aber doch sehr schwer und gleichzeitig ganz entscheidend für den
Erfolg der Therapie: Die Akzeptanz:
O-Ton Stephanie Thiel:
Eigentlich alle kommen am Anfang mit viel Scham. Dabei gibt es pädophile
Männer, die nie übergriffig geworden sind. Viele laufen auch mit diesem
Bild, was in der Öffentlichkeit vermittelt wird: Pädophilie bedeutet
sexueller Missbrauch.
Viele haben ein Bild im Kopf, wie der „klassische Pädophile“ aussieht. Da
hat sich ein Bild festgemacht, etwas älter, dicklich, schwitzend, mit dicken
Brillengläsern. Das haben viele in ihr Selbstbild übernommen und das
passt natürlich nicht zu dem, was sie im Spiegel sehen. Was sie innerlich
fühlen, da ist eine große Scham da und der Wunsch, dass wir die
Pädophilie am liebsten wegmachen sollen. Was wir natürlich nicht
können. Aber das heißt, diese Männer müssen akzeptieren lernen. (1’04)
Sprecherin:
Akzeptieren, dass die sexuelle Neigung da ist, dass sie ein Teil der eigenen
Persönlichkeit ist und dass sie niemals weggehen wird.
O-Ton Stephanie Thiel:
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Das bedeutet, letztlich ein Leben als Pädophiler leben zu müssen, in dem
die eigene Sexualität letztlich nie ausgelebt werden kann, die Männer sich
immer werden beschränken müssen, d.h. es wird auch immer ein Rest
unbefriedigt bleiben und es geht vor allem darum, Verhaltenskontrolle zu
erreichen. Denn, was sie mit sich rumtragen – man kann es Schicksal
nennen – ist etwas, womit sie leben müssen. So wie jemand, der ohne
Beine geboren ist, damit leben muss, dass er keine Beine hat. (0’33)
Sprecherin:
Dieses Schicksal anzunehmen, auch als Herausforderung zu begreifen ist
der erste Schritt. Der zweite Schritt ist, dass die Teilnehmer lernen, ihr
Verhalten zu kontrollieren.
Ziel ist, dass sie keinen Missbrauch begehen bzw. keinen weiteren
Missbrauch begehen, also nicht rückfällig zu werden. Manche Klienten
haben sich vor ihrer Therapie bereits an Kindern vergangen. Die meisten
nutzen Missbrauchsabbildungen, also Filme und Fotos, meist aus dem
Internet. Der Konsum der Missbrauchsabbildungen ist problematisch.
Zum einen handelt es sich um einen indirekten Missbrauch, Kinder
wurden für die Bilder gequält und gedemütigt. Zum anderen kann es das
Verlangen nach sexuellen Kontakten mit Kindern anfachen.
Stephanie Thiel arbeitet mit den Therapie-Teilnehmern mit einem
Ampelsystem. Sie vermittelt, welche Abbildungen unproblematisch sind,
also im grünen Bereich liegen und genutzt werden dürfen.
O-Ton Stephanie Thiel:
grüner Bereich: Es spricht nichts dagegen, wenn sich jemand einen
Kleidungskatalog vornimmt und sich die Unterwäsche-Abteilung anschaut
und zu halbnackten Kinderbildern masturbiert. Dadurch wird niemand
verletzt oder geschädigt.
Es spricht nichts dagegen, wenn jemand ein Kind auf der Straße sieht, das
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Bild im Kopf mit nach Hause nimmt und zu diesem Kind, das sie gesehen
haben, masturbieren. Es gibt unzählige Männer, die, wenn sie eine Frau
auf der Straße gesehen haben, abends vor dem Einschlafen zu dieser
Vorstellung masturbieren. Das ist bei Kindern letztlich nichts anderes.
Das mag der betroffenen Person, wenn sie es denn wüsste, unangenehm
sein. Aber das ist nichts Illegales und man kann den Menschen ihre
Phantasien ja nicht verbieten.
Aber das Material, das sie konsumieren, muss im legalen Bereich bleiben
und daran arbeiten wir mit denen. (0‘48)
Sprecherin:
Wobei sich die Grenze, was legal ist und was nicht, verschoben hat. Und da
wird es auch schon schwierig. Der Gesetzgeber hat als Konsequenz aus
der Edathy-Affäre kürzlich die Bestimmungen zu den sogenannten
Posing-Bildern verschärft. Seither stehen Bilder unter Strafe, auf denen
Kinder und Jugendliche in aufreizender Haltung dargestellt sind, auf
denen sie posieren, auf denen Po oder Genitalien im Fokus stehen. Damit
fallen Bilder, die bisher in den gelben Bereich gehörten, inzwischen in den
verbotenen roten Bereich. Die Unterscheidung ist nicht ganz einfach:
O-Ton Stephanie Thiel:
Aber was wir sagen können, dass den Männern bei bestimmten Bildern
zumindest bewusst sein muss, dass sie im problematischen, sprich gelben
Bereich liegen. Und gerade was die Nacktbilder angeht: Es gibt diejenigen,
die beispielsweise bei Facebook Bilder finden, die ahnungslose Familien
posten aus dem letzten Familienurlaub und dieses Material wird von den
Männern natürlich auch genutzt. Das ist legal, das dürfen die auch. Das
fänden die betroffenen Eltern natürlich nicht gut, wenn sie wüssten, dass
ihre Kinder als Masturbationsgrundlage dienen. Aber das passiert und die
meisten Eltern machen sich darüber relativ wenig Gedanken. (1’03)
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Sprecherin:
Wenn man in der Lage ist, zwischen dem roten, gelben und grünen
Bereich zu unterscheiden, ist schon viel gewonnen.
Das Nutzen von sogenannter Kinderpornographie ist weit verbreitet und
für viele Pädophile sehr zentral. Die Vorstellung, den Klienten den Konsum
der Bilder komplett abgewöhnen zu können, hält Stephanie Thiel für
utopisch.
O-Ton Stephanie Thiel:
Natürlich geht es auch darum, die Frequenz zu senken. Man kann sich da
auch in was reinsteigern, das kann auch einen Suchtcharakter annehmen.
Dass Männer dann abends stundenlang vor dem Rechner sitzen. Das hat
dann auch damit zu tun, dass eine gewisse Bewusstlosigkeit eintritt, dass
sie gar nicht mehr auf die Uhr gucken, dass ihnen gar nicht mehr klar ist,
was sie da tun. Und dann kommt es auch vor, dass die Bilder immer
härter werden. Und es geht darum, diesen Teufelskreislauf zu
durchbrechen. Das wird im Rahmen der Therapie häufig erstmals
angegangen. Beispielsweise indem wir sagen: „Stellen Sie sich die Eieruhr
oder das Handy, dass es alle fünf Minuten klingelt und Sie sich
unterbrechen. Machen Sie bewusst, was Sie da tun.“
Sprecherin:
Ein Bewusstsein für die Dauer des Bilderkonsums zu entwickeln ist das
eine, sich klar zu machen, was die Folgen des Konsums sind, das andere.
Missbrauchsabbildungen anzusehen erscheint vielen Konsumenten erst
mal als nicht so schlimm. Man sitzt ja nur vor dem Bildschirm. Stephanie
Thiel will erreichen, dass die Männer erkennen, dass hinter der Kamera,
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die die Bilder aufgenommen hat, aber realer Missbrauch stattgefunden
hat. Und dass die Konsumenten einen Markt am Laufen halten, der immer
weiter Nachfrage und damit großes Leid bei den Opfern erzeugt. In der
Therapie geht es darum, sich diesen Kreislauf bewusst zu machen. Und
die Männer sollen wahrnehmen, was es für die Kinder bedeutet,
missbraucht worden zu sein, welche gravierenden Folgen es für ihr
ganzes Leben hat. Sie sollen Empathie mit den Missbrauchs-Opfern
entwickeln. Dazu liest Stefanie Thiel in den Therapiestunden Berichte
früherer Opfer vor.
O-Ton Stephanie Thiel:
Die berichten, wie es ihnen damit ging, wie es ihnen heute geht, wie oft
sie in Therapie waren, worunter sie leiden, was das mit ihnen gemacht
hat, inwieweit sie immer noch Erinnerungen haben, Albträume haben. Der
Geruch der Person, die Hände auf sich zu spüren. Was mit ihnen gemacht
wurde... In einem Fall zum Beispiel hat derjenige, der missbraucht hat,
das Kind hinterher „belohnt“, indem er dem Kind immer sein
Lieblingsessen gekauft hat und die Person dieses Essen bis heute nicht
mehr essen kann, das geht bis hin zum Erbrechen. Das machen sich viele
einfach nicht bewusst.
Sprecherin:
Paul hat sich bewusst gemacht, was es bedeutet, Missbrauchsabbildungen
anzusehen. Inzwischen hat er eine andere Einstellung zu den Bildern, die
er früher häufig konsumiert hat. Er weiß jetzt, dass es sich auch hier um
Missbrauch handelt.
O-Ton Paul
Das habe ich früher nicht sehen können. Weil ich mich mehr als
Abhängiger gesehen habe, wie jemand, der Alkoholiker ist. Den produziere
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ich ja nicht, den brauche ich ja nur. Heute weiß ich, dass es eben nicht
geht. Dass es ein Kreislauf ist, der durchbrochen werden muss. (0’31)
Sprecherin:
Paul hat eine Strategie entwickelt, wie er seinen Drang, immer weiter
Bilder anzusehen, kontrollieren kann. Dazu hat er eine Absprache mit
seiner Frau getroffen:
Der Internet-Anschluss zu Hause ist gesperrt. An den Rechner geht er nur
in Anwesenheit seiner Frau. Paul hat Glück: Er konnte sich seiner Frau
offenbaren, hat gemeinsam mit ihr einen Weg gefunden, Kontrolle über
seine Neigung zu gewinnen. Doch dazu muss es möglich sein, sich seinem
Umfeld zu öffnen. Freunde und Familienangehörige zu Mitwissern zu
machen, die mithelfen, gefährliche Situationen zu vermeiden. Denn
gerade in der direkten Umgebung, im Freundeskreis und in der Familie,
wo man sich gegenseitig vertraut, lauern Gefahren, weiß Stephanie Thiel:
O-Ton Stephanie Thiel:
Was beispielsweise eine typische Situation ist: Jemand ist alleine mit
einem Kind oder ein Kind kommt zum Kuscheln, weil der Onkel ist da.
Klettert ihm auf den Schoß und sitzt da. Derjenige merkt, er bekommt eine
Erektion. Und dann ist es naheliegend: Das Kind sitzt da vertrauensvoll
und dann die Hand scheinbar zufällig auf den Oberschenkel zu legen und
das dann weiter fortzuführen.
Sprecherin:
Die Erkenntnis: Alleinsein schafft Gelegenheiten. Doch genau hier liegt
das Dilemma. Menschen mit Pädophilie sind oft sozial schlecht
eingebunden, viele sind allein und leben zurückgezogen. Denn sobald sie
jemandem von ihrer Veranlagung berichten, sich öffnen, müssen sie damit
rechnen, abgelehnt und ausgegrenzt zu werden.
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Pädophilie wirkt stark stigmatisierend. Wie stark, das hat die Psychologin
Sara Jahnke an der Uni Dresdenerforscht. Dazu hat sie mehrere
Versuchsgruppen über ihre Einstellungen zu Pädophilen befragt.
O-Ton Sara Jahnke:
Wir haben herausgefunden, dass es eine deutlich geringe Bereitschaft
gibt, mit solchen Leuten Freundschaften zu schließen oder sie als
Kollegen zu akzeptieren. Diese Vorbehalte sind selbst dann vorhanden,
wenn kein kriminelles Verhalten vorlag. Wenn wirklich gesagt wurde,
diese Person hat noch nie eine Straftat begangen. Besonders
erschreckend war, dass 14 Prozent in unserer Stichprobe sogar
zugestimmt hätten, dass Menschen, die ein sexuelles Interesse an Kindern
haben, besser tot seien. Und 39 Prozent sie sogar präventiv einsperren
wollten. Alles obwohl keine Straftat vorlag.
Sprecherin:
Pädophile stehen in der öffentlichen Wahrnehmung ganz unten. Eine
weitere Untersuchung von Sara Jahnke hat ergeben, dass pädophilen
Menschen das sehr bewusst ist.
Evtl. OT
So dass 50 Prozent angaben, dass sie schon allgemeine Gespräche über
Pädophilie vermeiden, aus Angst davor, dass man sich verrät und dann die
Konsequenzen tragen zu müssen, dass zum Beispiel Freundschaften
beendet werden oder der Arbeitsplatz gefährdet ist.
Sprecherin:
Das hat nach Ansicht von Sara Jahnke drastische, nämlich contraproduktive Folgen:
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O-Ton Sara Jahnke:
Es kommt ja niemand als Täter zur Welt. Das hat sich niemand
ausgesucht, daran ist niemand Schuld, das ist einfach vorhanden. Die
Frage ist, wie gehen die Menschen dann mit dieser Veranlagung um.
Je stärker man Menschen mit Pädophilie an den Rand der Gesellschaft
drängt, umso schwieriger ist es, sie mit Präventionsangeboten zu
erreichen.
Sprecherin:
Die starke Stigmatisierung von Menschen mit Pädophilie führt also dazu,
dass die Suche und Annahme von Hilfeleistungen eher vereitelt als
begünstigt wird. Aber lässt sich die öffentliche Wahrnehmung oder die
Haltung Einzelner zu Pädophilen beeinflussen und verändern?
Sara Jahnke hat den Versuch unternommen und mit einer Gruppe von
Psychotherapeuten in Ausbildung eine Anti-Stigma-Intervention
unternommen. Sie wollte herausfinden, ob es möglich ist, die ablehnende
Haltung einer Gruppe gegenüber Pädophilen zu beeinflussen.
O-Ton Sara Jahnke: Anti-Stigma-Intervention:
Das lief folgendermaßen ab: Die Teilnehmer hatten eine Kurzintervention
erhalten, die bestand aus Information, wo wir typische Mythen und
Vorurteile aufgegriffen haben. Zum Beispiel: Wer eine sexuelles Interesse
an Kindern hat wird zum Straftäter. Da haben wir gezeigt, dass es sehr
viele Gegenbeispiele gibt.
Sprecherin:
Der Versuch hat ergeben: Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe zeigten die
Teilnehmer weniger negative Einstellung gegenüber Pädophilen. Diese
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Effekte waren auch einige Wochen noch messbar, waren also
einigermaßen stabil. Das heißt: Es funktioniert zumindest für eine Weile,
die Vorbehalte gegenüber Pädophilen zu reduzieren. Allerdings:
O-Ton Sara Jahnke:
Was ein bisschen schade war, dass diese Intervention keine Auswirkung
auf die Bereitschaft der Psychotherapeuten in Ausbildung hatte,
Betroffene zu behandeln. Obwohl sich die Haltung verbessert hat, konnten
wir nicht mehr Leute dazu bringen zu sagen, das probieren wir mal aus
und das trauen wir uns zu. Da gibt es noch Forschungsbedarf,
herauszufinden, was Therapeuten davon abhält, Therapie für solche
Patientengruppen anzubieten. Also scheinbar lässt sich das nicht nur
durch Stigma erklären.
Atmo Schritte
Sprecherin:
Wechsel an einen Ort, an dem es überhaupt keine Scheu gibt, mit
Pädophilen zu sprechen: Ins Institut für Sexualwissenschaft und
Sexualmedizin der Charité in Berlin. Lange Gänge führen durch das
Gebäude. Der Arzt und wissenschaftliche Mitarbeiter Till Amelung arbeitet
für den Forschungsverbund NeMUP, kurz für: Neurobiologische
Grundlagen von Pädophilie und sexuellem Missbrauchsverhalten gegen
Kinder. NeMUP wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung
zunächst für drei Jahre gefördert. Es ist ein weltweit einmaliges Projekt:
OT Amelung 1
Einmalig an dem Projekt ist, dass wir – zur Aufklärung der
neurobiologischen Grundlagen von Pädophilie und sexuellem
Kindesmissbrauch erstmals überhaupt in der Forschung pädophile
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Männer, die Kindesmissbrauch begangen haben vergleichen können mit
Pädophilen, die keinen sexuellen Kindesmissbrauch begangen haben. Das
ermöglicht in der Forschung erstmals zu spezifizieren, welche
Besonderheiten machen die Pädophilie an sich aus und welche sind eher
mit dem Tatverhalten verknüpft. (0’30)
Sprecherin:
Klar ist, dass etwa die Hälfte der Männer, die wegen sexuellen
Kindesmissbrauchs verurteilt wurden, pädophil ist. Das heißt, sie sind
ausschließlich oder überwiegend durch vorpubertäre Kinderkörper sexuell
erregbar. Die andere Hälfte der verurteilten Männer ist nicht pädophil.
Diese Täter sind eigentlich sexuell auf erwachsene Sexualpartner
ausgerichtet, haben aber trotzdem Kinder missbraucht. Gleichzeitig ist
bekannt, dass viele pädophile Männer niemals übergriffig werden. Was
also bewirkt, dass es zum Missbrauch kommt?
Aufschlüsse soll unter anderem auch ein 16seitiger Fragebogen bringen:
Wie war die kindliche Entwicklung, gab es beispielsweise Verzögerungen
beim Laufenlernen, Kopf-Verletzungen oder Traumata? Auch nach
Zwangsstörungen wird gefragt:
OT Zwangsstörung:
Wie die Männer Symptome einer Pädophilie präsentieren, hat das häufig
Ähnlichkeit mit einer Zwangsstörung. Dass sie berichten, sie nutzen
solche Phantasien zum Abbau von Spannungen; Und dass die Kontrolle
über das Verhalten ausgesprochen schwer fällt. Dass die sexuellen
Phantasien bei der Pädophilie immer wieder auftreten, obwohl sie als
unangenehm empfunden werden. Sie sind sexuell erregend, werden aber
eigentlich innerlich abgelehnt. Und es gibt eine Untersuchung, die
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nahelegt, dass ähnliche Hirnareale angeregt werden, wie bei einer
Zwangsstörung. (0‘48)
Sprecherin:
Die Forscher von NeMUP untersuchen daher Hirnfunktion und
Hirnstruktur. Dazu gibt es ein erstes Ergebnis: Pädophile Männer haben
ein verändertes Volumen des Mandelkerns.
OT Mandelkern:
Der Mandelkern ist ein Kerngebiet im Gehirn, der mit Verarbeitung von
Emotionen und der Interpretation von emotionalen Informationen
zusammenhängt; Der direkte Zusammenhang mit einer sexuellen
Ausrichtung ist dabei ausgesprochen unklar. Warum es im Bereich dieses
Kerngebiets zu Veränderungen kommt, die dann sich in einer sexuellen
Ansprechbarkeit für Kinder manifestiert. Es ist aber bisher der
deutlichste, der einzige wirklich zuverlässige Befund, den wir haben.
Sprecherin:
Untersucht wird außerdem die Hirnfunktion. Dabei wird im MRT unter
anderem beobachtet, wie das Gehirn reagiert, wenn sich ein Mann
Nacktbilder von Erwachsenen und Kindern ansieht.
Bei den Untersuchungen hat sich gezeigt: Pädophile und nicht-pädophile
Männer lassen sich anhand der Hirnfunktion klar unterscheiden. Denn das
Aktivierungsmuster im Hirn ist bei beiden praktisch identisch, die
sexuellen Reize werden gleich verarbeitet, aber die Reize sind eben ganz
unterschiedliche. Die einen reagieren auf das kindliche, die anderen auf
das erwachsene Körper-Schema.
Dies ist bislang eines der konkretesten Forschungsergebnisse von NeMUP.
Es könnte dazu verwendet werden, eine Pädophilie zu diagnostizieren.
Doch Till Amelung bremst hier:
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OT
Bei solchen Diagnoseinstrumenten muss man immer vorsichtig sein, dass
man nicht jemanden fehldiagnostiziert, sowohl in die eine wie in die
andere Richtung.
Sprecherin:
Doch zur Untermauerung einer Diagnose wäre diese Methode zumindest
einsetzbar. Ansonsten ist aber klar: Es gibt viele Anhaltspunkte und einige
Hypothesen, doch insgesamt stehen die Forscher bei der Beantwortung
der Frage, wie sich eine Pädophilie entwickelt und warum es überhaupt
zum Missbrauch kommt, immer noch ziemlich am Anfang.
OT
NeMUP ist wirklich ein erster Schritt überhaupt in der Forschung. Was wir
mit Nemup liefern können, sind Modelle zur Entwicklung von sexuellem
Kindesmissbrauch und zur Entwicklung von Pädophilie, die in weiteren
Studien einer weiteren Überprüfung bedürfen. (0’21)
Sprecherin:
Till Amelung wünscht sich, dass das NeMUP-Projekt, weiterlaufen kann,
was aber auch bedeutet, dass es weitere Forschungsgelder geben müsste.
Die Erkenntnisse aus der Forschung sollen helfen, Therapieformen für
Pädophile zu entwickeln bzw. zu verbessern. Genau wie für nichtpädophile Sexualstraftäter.
Davon würde wiederum das Präventionsprojekt „Kein Täter werden“ in
Gießen profitieren. Auch für dieses Projekt läuft die Suche nach neuen
Geldgebern. Die Finanzierung steht bis Dezember 2015. Die Therapeutin
Stephanie Thiel hofft, dass das Projekt weitergeführt werden kann. Sie
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sieht Bedarf an weiteren Therapiegruppen und außerdem will sie den
Männern, die ihre Therapie beendet haben, noch eine Nachsorge und
weitere Betreuung anbieten können.
Das ist der eine Wunsch. Der andere richtet sich an uns alle. Dass wir es
schaffen, Vorurteile zu überwinden. Dass wir pädophile Menschen nicht
wegen ihrer Veranlagung verurteilen, sondern nur wegen ihrer Taten. Dass
die Erkenntnis reift, dass diejenigen, die verantwortlich mit ihrer
Veranlagung umgehen, unsere Unterstützung verdient haben. Und dass es
den Betroffenen umso leichter fällt, Hilfsangebote wahrzunehmen, je
weniger sie sich verstecken müssen.
OT Stephanie Thiel:
….dass jemand ganz offen sagen kann, wenn der Nachbar klingelt und
fragt: Können Sie mal auf die Kinder aufpassen, ich müsste mal zu einer
Veranstaltung. Wer stellt sich denn da hin und sagt: Tut mir leid, ich kann
ihre Kinder nicht übernehmen, ich bin pädophil. Wer würde das sagen? Es
ist noch verträglicher, auf einer Betriebsfeier zu sagen, ich will nicht mit
Euch mit Alkohol anstoßen, denn ich bin trockener Alkoholiker. Das ist
akzeptabel. Aber man kann nicht sagen, ich bin pädophil. Natürlich wäre
es wünschenswert, dass die Menschen damit offen umgehen können. Aber
das ist leider nicht Realität.
Zugehörige Unterlagen
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