Wissenswert

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Hessischer Rundfunk
hr-iNFO
Redaktion: Heike Ließmann
Wissenswert
Tabu-Thema Pädophilie —
vom Umgang mit einem heiklen Thema
von
Juliane Orth
Sprecherin: Juliane Orth
Sendung: 24.05.15, hr-iNFO
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Für die Anmoderation:
Kindesmissbrauch ist alltäglich. Nach offiziellen
Polizeistatistiken werden jedes Jahr mehr als 14tausend Kinder
Opfer von sexuellem Missbrauch. Drei Viertel der Opfer sind
Mädchen. Das sind aber nur die Fälle, die bekannt geworden
sind. (Sie liegen im sogenannten Hellfeld, die Taten wurden
angezeigt, manche Täter verurteilt.
Im Dunkelfeld sieht es anders aus: Dies sind die Fälle von
Missbrauch, die stattgefunden haben, aber nicht angezeigt und
öffentlich wurden.)
Bislang gibt es keine belastbaren Zahlen, wie viele Kinder
tatsächlich Opfer von sexuellem Missbrauch werden. Nationale
und internationale Studien gehen aber gehen davon aus, dass
15 bis 30 Prozent aller Mädchen betroffen sind. Bei den Jungen
sind es 5 bis 15 Prozent. „Eins von fünf“ - so heißt die
Kampagne des Europarats gegen sexuelle Gewalt an Kindern.
Eins von fünf – das hieße, dass in einer durchschnittlichen
Klasse in Deutschland fünf bis sechs Kinder sitzen, die sexuelle
Gewalt erlebt haben.
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Sexueller Kindesmissbrauch ist alltäglich. Man muss es leider
so sagen. Es hat lange gedauert, bis das ins öffentliche
Bewusstsein gerückt ist. Ehemalige Schüler der
Odenwaldschule hatten schon länger versucht, auf ihr Schicksal
aufmerksam zu machen. Sie drangen nicht durch.
Erst als 2010 der Leiter des Berliner Canisius-Kollegs
den massenhaften Missbrauch in der Einrichtung der
katholischen Kirche offenlegte, bekamen auch die betroffenen
Odenwaldschüler Aufmerksamkeit.
Seither ist das Thema im Fokus der Öffentlichkeit. Das bietet
Chancen. Zum einen den Opfern, die endlich sprechen und sich
Gehör verschaffen können. Aber auch potentiellen Tätern –
nämlich die Chance, gar nicht erst zum Täter zu werden.
Und es gibt eine Chance für die Wissenschaft, Gelder für die
Forschung zu bekommen. Es geht darum herauszufinden,
warum Menschen, zu etwa 98 Prozent sind es Männer, Kinder
missbrauchen. Und es geht darum herauszufinden, was man
dagegen tun kann.
Es geht aber auch darum, zu unterscheiden. Denn wenn von
Kindesmissbrauch die Rede ist, fällt in den meisten Fällen der
Begriff pädophil. Dabei werden die meisten Missbrauchsfälle
nicht von Pädophilen begangen. Trotzdem stehen Pädophile am
Rande der Gesellschaft, kaum einer kann offen darüber reden.
Es gibt gute Gründe, das zu ändern.
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O-Ton Sven:
Ich kann mich erinnern an eine Situation mit 16, wo ein Fall in den Medien
war: Mädchen vom Onkel missbraucht und umgebracht. Und da war mir
klar: Ich bin auch so einer, auch so ein Schwein. Und ich wollte alles dran
setzen, dass es nie so weit kommt.
Sprecherin:
Die Erkenntnis, dass er sich sexuell zu Kindern hingezogen
fühlt, traf Sven wie ein Schock, der sein weiteres Leben
verändert hat. Seither versucht er, mit seiner Veranlagung
bewusst umzugehen. Ähnlich ging es Paul, nur dass für ihn die
Erkenntnis etwas später kam.
O-Ton Paul:
Da war ich 24, Sommertag. Mädchen liefen leicht bekleidet rum und ich
hatte eine starke sexuelle Reaktion.
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Sprecherin:
Sven und Paul sind pädophil. Das heißt, dass ihr primäres
sexuelles Interesse auf Kinder ausgerichtet ist, die noch nicht in
der Pubertät sind. In der Regel sind die Kinder nicht älter als 11
Jahre. Wenn sich die sexuellen Interessen auf Kinder und
Jugendliche beziehen, bei denen die Pubertät schon
angefangen hat, spricht man von Hebephilie. So, wie andere
Erwachsene auf gleichaltrige Männer oder Frauen reagieren,
reagieren Pädophile oder Hebephile auf Kinder bzw.
Heranwachsende.
Sie haben sich das nicht ausgesucht. Es ist veranlagt.
Experten gehen davon aus, dass das bei etwa einem Prozent
der Männer der Fall ist, bei Frauen kommt Pädophilie äußerst
selten vor. Das heißt, dass wir in Deutschland von etwa
250tausend pädophilen Männern sprechen. Es heißt aber nicht,
dass diese Männer zwangsläufig Kinder missbrauchen oder
Missbrauchsabbildungen, sogenannte Kinderpornographie,
konsumieren. Vielen reicht es, ihre sexuelle Orientierung in der
Phantasie auszuleben. Für sie sind Übergriffe auf Kinder tabu.
Also: Bei weitem nicht jeder Pädophile missbraucht Kinder. Und
umgekehrt sind viele, die Kinder missbrauchen, nicht pädophil,
sondern begehen diese Taten aus ganz anderen Gründen,
erklärt die Psychologin Stephanie Thiel von der Universität
Gießen:
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O-Ton Thiel 1
Es sind häufig Ersatztaten, dass jemand mit erwachsender Sexualität nicht
klar kommt, dass jemand sich schwer damit tut, Frauen gegenüber zu
treten, die Wünsche äußert, die nein sagt. Man könnte böse sagen, dass
diejenigen, die sich aus diesen Gründen an Kindern vergehen, könnten
auch nach Thailand fliegen und sich eine Prostituierte suchen. Bei
richtigen Pädophilen geht es um Liebe zu Kindern, richtige Liebe. Wie
wenn Menschen, die auf Erwachsene stehen, sich in Erwachsene
verlieben.
Sprecherin:
Diese fatale Liebe in sich zu tragen, das Hingezogensein zu
Kindern statt zu Erwachsenen, ist eine schwere Bürde. Viele
Betroffene wie Sven und Paul können ihre Empfindungen erst
mal nicht einordnen oder damit umgehen, fühlen sich fremd im
eigenen Körper, falsch in der Welt.
OT Sven:
Ich wollte mich mit einer Plastiktüte ersticken. Weil ich auch dachte, ich
passe nicht in diese Welt. Und hatte immer die Hoffnung, im nächsten
Leben wird es dann besser. Game over, versuche ich es nochmal.
OT Paul:
Es ging so weit, dass ich dachte, dass ich völlig verrückt bin, böse. Es gab
niemanden, der mir etwas zu dieser Situation sagen konnte. Das hat mich
schon ziemlich runtergezogen. (0’28)
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Sprecherin:
In den vergangenen Jahren hat sich die Situation etwas
verbessert. Pädophile können leichter Informationen und
Zugang zu Therapeuten finden, die ihnen helfen, mit ihrer
Veranlagung verantwortungsvoll umzugehen.
Therapeuten wie Stephanie Thiel. Sie arbeitet im PräventionsNetzwerk „Kein Täter werden“. Es bietet Menschen, die sich
sexuell zu Kindern hingezogen fühlen, die Möglichkeit, sich
therapieren zu lassen. Das Ziel: Weder direkt durch den
körperlichen Kontakt mit Kindern, noch indirekt durch das
Nutzen von Missbrauchsabbildungen, zum Täter zu werden.
Grundlegende Philosophie dabei ist: Niemand kann etwas für
seine Veranlagung. Verantwortlich ist man nur für seine Taten.
Das Netzwerk wurde vor zehn Jahren an der Berliner Charité
gegründet. Mittlerweile gibt es diese Therapieangebote in zehn
Städten in Deutschland. Seit November 2013 auch in Hessen,
nämlich an der Uni Gießen. Stephanie Thiel betreut hier
zusammen mit einer Kollegin zwei Gruppen von insgesamt 14
Klienten – etwa ein Jahr dauert die Therapie. Fast alle, die sich
bei ihr melden und für das Projekt interessieren, sind Männer
und ansonsten ein Querschnitt der Gesellschaft:
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O-Ton Klienten:
jede Altersgruppe, alle Berufsgruppen, alle sozialen Schichten – es gibt
kein Muster. Der Jüngste, der sich bisher bei uns gemeldet hat, war 18
Jahre alt und der Älteste ist 63/64. Also es ist alles vertreten, auch von
Arbeitslosen über Ausbildungsberufe, Menschen mit einem akademischen
Abschluss ist wirklich alles vertreten. (0’35)
Sprecherin:
Der Ort, an dem die Therapien stattfinden, muss geheim
gehalten werden. Zu groß ist die Angst, dass es zu Übergriffen
kommt. Denn für viele Menschen stehen Pädophile am Rande
der Gesellschaft, gelten als Abschaum, Monster, tickende
Zeitbomben.
Stephanie Thiel sitzt in einem schmucklosen, hellen Raum mit
hohen Decken. Ein Stuhlkreis bildet den Rahmen, in dem die
Sitzungen mit den Klienten ablaufen. Hier trifft sie sich mit
ihnen. Einer der ersten Therapieschritte klingt ganz einfach,
ist aber doch sehr schwer und gleichzeitig ganz entscheidend
für den Erfolg der Therapie: Die Akzeptanz:
O-Ton Stephanie Thiel:
Eigentlich alle kommen am Anfang mit viel Scham. Es ist ja nicht nur
medial, sondern wie gesellschaftlich das Thema Pädophilie behandelt
wird, es wird sehr häufig gleichgesetzt mit sexuellem Missbrauch. Dabei
gibt es pädophile Männer, die nie übergriffig geworden sind. Viele laufen
auch mit diesem Bild, was in der Öffentlichkeit vermittelt wird: Pädophilie
bedeutet sexueller Missbrauch.
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Viele haben ein Bild im Kopf, wie der „klassische Pädophile“ aussieht. Da
hat sich ein Bild festgemacht, etwas älter, dicklich, schwitzend, mit dicken
Brillengläsern. Das haben viele in ihr Selbstbild übernommen und das
passt natürlich nicht zu dem, was sie im Spiegel sehen. Was sie innerlich
fühlen, da ist eine große Scham da und der Wunsch, dass wir die
Pädophilie am liebsten wegmachen sollen. Was wir natürlich nicht
können. Aber das heißt, diese Männer müssen akzeptieren lernen. (1’04)
Sprecherin:
Akzeptieren, dass die sexuelle Neigung da ist, dass sie ein Teil
der eigenen Persönlichkeit ist und dass sie niemals weggehen
wird.
O-Ton Stephanie Thiel:
Das bedeutet, letztlich ein Leben als Pädophiler leben zu müssen, in dem
die eigene Sexualität letztlich nie ausgelebt werden kann, die Männer sich
immer werden beschränken müssen, d.h. es wird auch immer ein Rest
unbefriedigt bleiben und es geht vor allem darum, Verhaltenskontrolle zu
erreichen. Denn, was sie mit sich rumtragen – man kann es Schicksal
nennen – ist etwas, womit sie leben müssen. So wie jemand, der ohne
Beine geboren ist, damit leben muss, dass er keine Beine hat. (0’33)
Sprecherin:
Dieses Schicksal anzunehmen, auch als Herausforderung zu
begreifen ist der erste Schritt. Der zweite Schritt ist, dass die
Teilnehmer lernen, ihr Verhalten zu kontrollieren.
Ziel ist, dass sie keinen Missbrauch begehen bzw. keinen
weiteren Missbrauch begehen, also nicht rückfällig zu werden.
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Manche Klienten haben sich vor ihrer Therapie bereits an
Kindern vergangen. Die meisten nutzen
Missbrauchsabbildungen, also Filme und Fotos, meist aus dem
Internet. Der Konsum der Missbrauchsabbildungen ist
problematisch. Zum einen handelt es sich um einen indirekten
Missbrauch, Kinder wurden für die Bilder gequält und
gedemütigt. Zum anderen kann es das Verlangen nach
sexuellen Kontakten mit Kindern anfachen.
Stephanie Thiel arbeitet mit den Therapie-Teilnehmern mit
einem Ampelsystem. Sie vermittelt, welche Abbildungen
unproblematisch sind, also im grünen Bereich liegen und
genutzt werden dürfen.
O-Ton Stephanie Thiel:
grüner Bereich: Es spricht nichts dagegen, wenn sich jemand einen
Kleidungskatalog vornimmt und sich die Unterwäsche-Abteilung anschaut
und zu halbnackten Kinderbildern masturbiert. Dadurch wird niemand
verletzt oder geschädigt.
Es spricht nichts dagegen, wenn jemand ein Kind auf der Straße sieht, das
Bild im Kopf mit nach Hause nimmt und zu diesem Kind, das sie gesehen
haben, masturbieren. Es gibt unzählige Männer, die, wenn sie eine Frau
auf der Straße gesehen haben, abends vor dem Einschlafen zu dieser
Vorstellung masturbieren. Das ist bei Kindern letztlich nichts anderes.
Das mag der betroffenen Person, wenn sie es denn wüsste, unangenehm
sein. Aber das ist nichts Illegales und man kann den Menschen ihre
Phantasien ja nicht verbieten.
Aber das Material, das sie konsumieren, muss im legalen Bereich bleiben
und daran arbeiten wir mit denen. (0‘48)
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Sprecherin:
Wobei sich die Grenze, was legal ist und was nicht, verschoben
hat. Und da wird es auch schon schwierig. Der Gesetzgeber hat
als Konsequenz aus der Edathy-Affäre kürzlich die
Bestimmungen zu den sogenannten Posing-Bildern verschärft.
Seither stehen Bilder unter Strafe, auf denen Kinder und
Jugendliche in aufreizender Haltung dargestellt sind, auf denen
sie posieren, auf denen Po oder Genitalien im Fokus stehen.
Damit fallen Bilder, die bisher in den gelben Bereich gehörten,
inzwischen in den verbotenen roten Bereich. Die
Unterscheidung ist nicht ganz einfach:
O-Ton Stephanie Thiel:
gelber Bereich Auch wir können nur bedingt sagen: Dieses Bild ist noch
legal und dieses nicht. Aber was wir sagen können, dass den Männern bei
bestimmten Bildern zumindest bewusst sein muss, dass sie im
problematischen, sprich gelben Bereich liegen. Und gerade was die
Nacktbilder angeht: Es gibt diejenigen, die beispielsweise bei Facebook
Bilder finden, die ahnungslose Familien posten aus dem letzten
Familienurlaub und dieses Material wird von den Männern natürlich auch
genutzt. Das ist legal, das dürfen die auch. Das fänden die betroffenen
Eltern natürlich nicht gut, wenn sie wüssten, dass ihre Kinder als
Masturbationsgrundlage dienen. Aber das passiert und die meisten Eltern
machen sich darüber relativ wenig Gedanken. (1’03)
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Sprecherin:
Klar definiert ist wiederum der rote Bereich:
O-Ton Stephanie Thiel:
Roter Bereich Der rote Bereich ist ganz klar alles was illegal ist. Das
Fokussieren auf Genitalien, das Verkleiden, das aufreizende Posieren in
Spitzenunterwäsche vor der Kamera oder auch Filme oder Bilder, wo der
Missbrauch direkt gezeigt wird. Wo Kinder Erwachsene befriedigen, wo
Kinder sich gegenseitig befriedigen, die offensichtlich auch zu diesem
Zweck, einschlägig konsumiert zu werden, hergestellt worden sind. (0’32)
Sprecherin:
Wenn man in der Lage ist, zwischen dem roten, gelben und
grünen Bereich zu unterscheiden, ist schon viel gewonnen.
Das Nutzen von sogenannter Kinderpornographie ist weit
verbreitet und für viele Pädophile sehr zentral. Die Vorstellung,
den Klienten den Konsum der Bilder komplett abgewöhnen zu
können, hält Stephanie Thiel für utopisch.
O-Ton Stephanie Thiel:
Kontrolle gewinnen: Natürlich geht es auch darum, die Frequenz zu
senken. Man kann sich da auch in was reinsteigern, das kann auch einen
Suchtcharakter annehmen. Dass Männer dann abends stundenlang vor
dem Rechner sitzen. Das hat dann auch damit zu tun, dass eine gewisse
Bewusstlosigkeit eintritt, dass sie gar nicht mehr auf die Uhr gucken, dass
ihnen gar nicht mehr klar ist, was sie da tun. Und dann kommt es auch
vor, dass die Bilder immer härter werden. Und es geht darum, diesen
Teufelskreislauf zu durchbrechen. Das wird im Rahmen der Therapie
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häufig erstmals angegangen. Beispielsweise indem wir sagen: „Stellen Sie
sich die Eieruhr oder das Handy, dass es alle fünf Minuten klingelt und Sie
sich unterbrechen. Machen Sie bewusst, was Sie da tun.“ Dass es einfach
nicht so Auswüchse bekommt. (1’00)
Sprecherin:
Ein Bewusstsein für die Dauer des Bilderkonsums zu
entwickeln ist das eine, sich klar zu machen, was die Folgen
des Konsums sind, das andere. Missbrauchsabbildungen
anzusehen erscheint vielen Konsumenten erst mal als nicht so
schlimm. Man sitzt ja nur vor dem Bildschirm. Stephanie Thiel
will erreichen, dass die Männer erkennen, dass hinter der
Kamera, die die Bilder aufgenommen hat, aber realer
Missbrauch stattgefunden hat. Und dass die Konsumenten
einen Markt am Laufen halten, der immer weiter Nachfrage
und damit großes Leid bei den Opfern erzeugt. In der Therapie
geht es darum, sich diesen Kreislauf bewusst zu machen. Und
die Männer sollen wahrnehmen, was es für die Kinder bedeutet,
missbraucht worden zu sein, welche gravierenden Folgen es für
ihr ganzes Leben hat. Sie sollen Empathie mit den
Missbrauchs-Opfern entwickeln. Dazu liest Stefanie Thiel in den
Therapiestunden Berichte früherer Opfer vor.
O-Ton Stephanie Thiel:
Die in Form von Briefen teilweise an ihren Missbraucher teilweise in Form
von Berichten an sich selber oder ihren Therapeuten berichten, wie es
ihnen damit ging, wie es ihnen heute geht, wie oft sie in Therapie waren,
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worunter sie leiden, was das mit ihnen gemacht hat, inwieweit sie immer
noch Erinnerungen haben, Albträume haben. Der Geruch der Person, die
Hände auf sich zu spüren. Was mit ihnen gemacht wurde... In einem Fall
zum Beispiel hat derjenige, der missbraucht hat, das Kind hinterher
„belohnt“, indem er dem Kind immer sein Lieblingsessen gekauft hat und
die Person dieses Essen bis heute nicht mehr essen kann, das geht bis hin
zum Erbrechen. Das machen sich viele einfach nicht bewusst.
Sprecherin:
Paul hat sich bewusst gemacht, was es bedeutet,
Missbrauchsabbildungen anzusehen. Inzwischen hat er eine
andere Einstellung zu den Bildern, die er früher häufig
konsumiert hat. Er weiß jetzt, dass es sich auch hier um
Missbrauch handelt.
O-Ton Stephanie Thiel:
Kreislauf Das habe ich früher nicht sehen können. Weil ich mich mehr als
Abhängiger gesehen habe, wie jemand, der Alkoholiker ist. Den produziere
ich ja nicht, den brauche ich ja nur. Heute weiß ich, dass es eben nicht
geht. Dass es ein Kreislauf ist, der durchbrochen werden muss. (0’31)
Sprecherin:
Paul hat es geschafft, den Kreislauf zu durchbrechen und
konsumiert keine Missbrauchsabbildungen mehr. Er hat eine
Strategie entwickelt, wie er seinen Drang, immer weiter Bilder
anzusehen, kontrollieren kann. Dazu hat er eine Absprache mit
seiner Frau getroffen:
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Der Internet-Anschluss zu Hause ist gesperrt. An den Rechner
geht er nur in Anwesenheit seiner Frau. Paul hat Glück: Er
konnte sich seiner Frau offenbaren, hat gemeinsam mit ihr
einen Weg gefunden, Kontrolle über seine Neigung zu
gewinnen. Doch dazu muss es möglich sein, sich seinem
Umfeld zu öffnen. Freunde und Familienangehörige zu
Mitwissern zu machen, die mithelfen, gefährliche Situationen
zu vermeiden. Denn gerade in der direkten Umgebung, im
Freundeskreis und in der Familie, wo man sich gegenseitig
vertraut, lauern Gefahren, weiß Stephanie Thiel:
O-Ton Stephanie Thiel:
Was beispielsweise eine typische Situation ist: Jemand ist alleine mit
einem Kind oder ein Kind kommt zum Kuscheln, weil der Onkel ist da.
Klettert ihm auf den Schoß und sitzt da. Derjenige merkt, er bekommt eine
Erektion. Und dann ist es naheliegend: Das Kind sitzt da vertrauensvoll
und dann die Hand scheinbar zufällig auf den Oberschenkel zu legen und
das dann weiter fortzuführen. Gerade die Situationen von
Unbeobachtetsein sind doch sehr gefährlich. Deswegen arbeiten wir
daran, dass diejenigen, wenn das irgendwie möglich ist, Personen im
privaten Umfeld ansprechen. Ob das die Partnerin ist, ob das die Eltern
sind, ob das gute Freunde sind, damit die jemanden haben, der weiß, dass
sie mit dem Problem zu kämpfen haben. Damit sie auch mal jemanden
haben, den sie anrufen können und sagen können: „Können wir ins Kino
gehen, weil…“
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Sprecherin:
Die Erkenntnis: Alleinsein schafft Gelegenheiten. Doch genau
hier liegt das Dilemma. Menschen mit Pädophilie sind oft sozial
schlecht eingebunden, viele sind allein und leben
zurückgezogen. Denn sobald sie jemandem von ihrer
Veranlagung berichten, sich öffnen, müssen sie damit rechnen,
abgelehnt und ausgegrenzt zu werden.
Pädophilie wirkt stark stigmatisierend. Wie stark, das hat die
Psychologin Sara Jahnke an der Uni Dresden erforscht und ihre
Doktorarbeit über die Stigmatisierung von Pädophilen
geschrieben. Dazu hat sie mehrere Versuchsgruppen über ihre
Einstellungen zu Pädophilen befragt.
O-Ton Sara Jahnke:
Wir haben herausgefunden, dass es eine deutlich geringe Bereitschaft
gibt, mit solchen Leuten Freundschaften zu schließen oder sie als
Kollegen zu akzeptieren. Diese Vorbehalte sind selbst dann vorhanden,
wenn kein kriminelles Verhalten vorlag. Wenn wirklich gesagt wurde,
diese Person hat noch nie eine Straftat begangen. Was darauf hindeutet,
dass sie von der Mehrheit der Bevölkerung als tickende Zeitbomben
gesehen werden. Besonders erschreckend war, dass 14 Prozent in
unserer Stichprobe sogar zugestimmt hätten, dass Menschen, die ein
sexuelles Interesse an Kindern haben, besser tot seien. Und 39 Prozent sie
sogar präventiv einsperren wollten. Alles obwohl keine Straftat vorlag.
Pädophile werden weit stärker abgelehnt als Menschen mit sadistischen
oder antisozialen Persönlichkeitszügen.
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Sprecherin:
Pädophile stehen in der öffentlichen Wahrnehmung ganz unten.
Eine weitere Untersuchung von Sara Jahnke hat ergeben, dass
pädophilen Menschen das sehr bewusst ist. Für eine
Onlinebefragung hat sie in Internet-Foren die Einschätzung der
Betroffenen erfragt. Dabei kam raus, dass die Befragten die
Ablehnung der Öffentlichkeit erwartet hatten, sie sogar
teilweise noch härter einschätzten, als sie tatsächlich ist.
Evtl. OT
Dort hatten die allermeisten befürchtet, dass die Mehrheit der Deutschen
sie am liebsten tot sehen würde, sie einsperren würde. Obwohl diese
Reaktion immer noch erschreckend häufig vorkommt, aber doch nur von
einer Minderheit vertreten wird. Es zeigte sich dann auch eine hohe Angst
vor einer Entdeckung der pädophilen Interessen durch Dritte. So dass 50
Prozent angaben, dass sie schon allgemeine Gespräche über Pädophilie
vermeiden, aus Angst davor, dass man sich verrät und dann die
Konsequenzen tragen zu müssen, dass zum Beispiel Freundschaften
beendet werden oder der Arbeitsplatz gefährdet ist.
Sprecherin:
Das hat nach Ansicht von Sara Jahnke drastische, nämlich
contra-produktive Folgen:
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O-Ton Sara Jahnke:
Es kommt ja niemand als Täter zur Welt. In der Regel stellen Menschen in
der Pubertät fest, welche sexuelle Orientierung, welche Interessen bei
ihnen vorliegen oder sich bei ihnen entwickeln. Da gibt es eben einen
kleinen Prozentsatz von Menschen, der an Kindern interessiert ist. Das hat
sich niemand ausgesucht, daran ist niemand Schuld, das ist einfach
vorhanden. Die Frage ist, wie gehen die Menschen dann mit dieser
Veranlagung um. Man kann sich vorstellen, wenn die erste Google-Suche
nur Ergebnisse findet wie Pädophile sind Monster und Pädophile zerstören
Kinderseelen. Da kann man sich vorstellen, dass es sehr schwierig wird,
sich mit dem Thema verantwortungsvoll auseinander zu setzen und Wege
zu finden, wie man es vermeidet, zum Täter zu werden.
Es gibt wahrscheinlich erstmal keine Ansprechpartner, sie sind einfach
nur mit diesem starken Stigma konfrontiert. Das setzt sich dann
wahrscheinlich im weiteren Verlauf des Lebens vor. Je stärker man
Menschen mit Pädophilie an den Rand der Gesellschaft drängt, umso
schwieriger ist es, sie mit Präventionsangeboten zu erreichen.
Sprecherin:
Die starke Stigmatisierung von Menschen mit Pädophilie führt
also dazu, dass die Suche und Annahme von Hilfeleistungen
eher vereitelt als begünstigt wird. Aber lässt sich die öffentliche
Wahrnehmung oder die Haltung Einzelner zu Pädophilen
beeinflussen und verändern?
Sara Jahnke hat den Versuch unternommen und mit einer
Gruppe von Psychotherapeuten in Ausbildung eine Anti-StigmaIntervention unternommen. Sie wollte herausfinden, ob es
möglich ist, die ablehnende Haltung einer Gruppe gegenüber
Pädophilen zu beeinflussen.
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O-Ton Sara Jahnke: Anti-stigma-Intervention:
Das lief folgendermaßen ab: Die Teilnehmer hatten eine Kurzintervention
erhalten, die bestand aus Information, wo wir typische Mythen und
Vorurteile aufgegriffen haben. Zum Beispiel: Wer eine sexuelles Interesse
an Kindern hat wird zum Straftäter. Da haben wir gezeigt, dass es sehr
viele Gegenbeispiele gibt. Oder dass es eine Therapie nicht bringt, dass
Pädophile nicht motiviert sind. Das haben wir aufgegriffen und GegenInformation aufgelistet. Und was auch sehr wichtig war, dass wir
Ausschnitte aus einem Dokumentarfilm hatten, der hieß Outing. Da
berichtet ein junger Mann, der Pädophilie hat, über seinen Umgang mit
diesen Neigungen. Und die Probleme, die er hatte. Insgesamt dauerte die
Intervention 10 Minuten, wurde online durchgeführt und wurde gut
aufgenommen.
Sprecherin:
Der Versuch hat ergeben: Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe
haben die Teilnehmer weniger negative Einstellung gegenüber
Pädophilen gehabt. Diese Effekte waren auch einige Wochen
noch messbar, waren also einigermaßen stabil. Das heißt: Es
funktioniert zumindest für eine Weile, die Vorbehalte gegenüber
Pädophilen zu reduzieren. Allerdings:
O-Ton Sara Jahnke:
Was ein bisschen schade war, dass diese Intervention keine Auswirkung
auf die Bereitschaft der Psychotherapeuten in Ausbildung hatte,
Betroffene zu behandeln. Obwohl sich die Haltung verbessert hat, konnten
wir nicht mehr Leute dazu bringen zu sagen, das probieren wir mal aus
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und das trauen wir uns zu. Da gibt es noch Forschungsbedarf,
herauszufinden, was Therapeuten davon abhält, Therapie für solche
Patientengruppen anzubieten. Also scheinbar lässt sich das nicht nur
durch Stigma erklären.
Atmo Schritte
Sprecherin:
Wechsel an einen Ort, an dem es überhaupt keine Scheu gibt,
mit Pädophilen zu sprechen: Ins Institut für Sexualwissenschaft
und Sexualmedizin der Charité in Berlin. Lange Gänge führen
durch das Gebäude. Der Arzt und wissenschaftliche Mitarbeiter
Till Amelung arbeitet für den Forschungsverbund NeMUP, kurz
für: Neurobiologische Grundlagen von Pädophilie und
sexuellem Missbrauchsverhalten gegen Kinder. NeMUP wurde
vom Bundesministerium für Bildung und Forschung zunächst
für drei Jahre gefördert und untersucht Mechanismen, die
einerseits sexuellem Kindesmissbrauch und andererseits
pädophiler Sexualpräferenz zu Grunde liegen können. Es ist ein
weltweit einmaliges Projekt:
OT Amelung 1
Einmalig an dem Projekt ist, dass wir – zur Aufklärung der
neurobiologischen Grundlagen von Pädophilie und sexuellem
Kindesmissbrauch erstmals überhaupt in der Forschung pädophile
Männer, die Kindesmissbrauch begangen haben vergleichen können mit
Pädophilen, die keinen sexuellen Kindesmissbrauch begangen haben. Das
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ermöglicht in der Forschung erstmals zu spezifizieren, welche
Besonderheiten machen die Pädophilie an sich aus und welche sind eher
mit dem Tatverhalten verknüpft. (0’30)
Sprecherin:
Die Hauptfrage, die sich die Forscher gestellt haben: Wie
kommt es, dass Männer sexuellen Kindesmissbrauch begehen?
Und welche Rolle spielt dabei die pädophile Veranlagung? Denn
klar ist, dass etwa die Hälfte der Männer, die wegen sexuellen
Kindesmissbrauchs verurteilt wurden, pädophil ist. Das heißt,
sie sind ausschließlich oder überwiegend durch vorpubertäre
Kinderkörper sexuell erregbar. Die andere Hälfte der
verurteilten Männer ist nicht pädophil. Diese Täter sind
eigentlich sexuell auf erwachsene Sexualpartner ausgerichtet,
haben aber trotzdem Kinder missbraucht. Gleichzeitig ist
bekannt, dass viele pädophile Männer niemals übergriffig
werden. Was also bewirkt, dass es zum Missbrauch kommt?
Um Antworten auf diese Frage zu finden, haben die Forscher
vom Forschungsverbund NeMUP vier Gruppen
zusammengestellt, bestehend aus jeweils 60 Männern.
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OT Gruppen
Die eine Gruppe sind normal gesunde Kontrollen, also Männer von der
Straße, die weder pädophil sind noch sexuellen Kindesmissbrauch
begangen haben. Dann untersuchen wir zwei Gruppen von pädophilen
Männern. Eine Gruppe von pädophilen Männern, die keinen sexuellen
Kindesmissbrauch begangen haben und in einer vierten Gruppe
untersuchen wir teleiophile Männer – also Männer, die auf das
erwachsene Körperschema ausgerichtet sind – die Kindesmissbrauch
begangen haben. (0’29)
Sprecherin:
Wobei die Schwierigkeit allein schon darin bestand, die
Probanden für die Gruppen zu finden. Teilweise stammen sie
aus dem Präventions-Netzwerk „Kein Täter werden“, teilweise
wurden sie in Internetforen angesprochen. Bei einem anderen
Teil handelt es sich um verurteilte Sexualstraftäter. Doch wer
von ihnen erfüllt die diagnostischen Kriterien einer Pädophilie
und wer nicht? Sexualstraftäter bekennen sich nur ungern zu
einer vorliegenden pädophilen Neigung. Doch dieses Wissen ist
wichtig, zum einen, was die mögliche Behandlung des
Sexualstraftäters angeht. Aber auch wegen dessen Risiko, zum
Wiederholungstäter zu werden:
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OT Strafvollzug:
Also ein Pädophiler, der sexuellen Kindesmissbrauch begangen hat, hat
erstmal eher eine schlechtere Prognose, was seine Rückfälligkeit angeht,
als ein nicht-pädophiler Mann. So dass Männer im Strafvollzug dazu
neigen, eine Pädophilie zu verbergen, weil es die Haftzeit verlängern und
Auflagen erhöhen kann. (0’22)
Sprecherin:
Ganz entscheidend war, pädophile Nicht-Täter in die Forschung
aufzunehmen. Zu ihnen liegen bislang zu wenige Erkenntnisse
vor. Denn Beobachtungen aus der forensischen Forschung, also
der an verurteilten Straftätern, wurden auf Pädophile
insgesamt angewendet.
Doch wann liegt eine Pädophilie vor? Die Diagnose ist nicht so
einfach, unter anderem weil es unterschiedliche DiagnoseSysteme gibt. Für die Forscher von NeMUP gelten
internationale Diagnosekriterien:
OT Diagnose:
Das zentrale Kriterium, das wir ansetzen zur Diagnose einer Pädophilie
oder Nicht-Pädophilie sind sexuelle Phantasien, die als ausreichend
sexuell erregend beschrieben werden, um einen Orgasmus zu erleben.
Die Mitarbeiter in dem Projekt sind entsprechend geschult und erfragen
diese Wünsche im Rahmen eines Interviews. (0’24)
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Sprecherin:
Vom ganz normalen sexuellen Verhalten bis hin zum
Missbrauch, ob aus pädophiler Neigung oder nicht Aufschlüsse soll unter anderem auch ein 16seitiger Fragebogen
bringen:
Wie war die kindliche Entwicklung, gab es beispielsweise
Verzögerungen beim Laufenlernen, Kopf-Verletzungen oder
Traumata? Auch nach Zwangsstörungen wird gefragt:
OT Zwangsstörung:
Wie die Männer Symptome einer Pädophilie präsentieren, hat das häufig
Ähnlichkeit mit einer Zwangsstörung. Dass sie berichten, sie nutzen
solche Phantasien zum Abbau von Spannungen; das ist so was, was auch
für Zwangsstörungen typisch ist, dass ritualisierte Verhaltensweisen zum
Abbau innerer Spannungen verwendet werden. Und dass die Kontrolle
über das Verhalten ausgesprochen schwer fällt. Dass die sexuellen
Phantasien bei der Pädophilie immer wieder auftreten, obwohl sie als
unangenehm empfunden werden. Sie sind sexuell erregend, werden aber
eigentlich innerlich abgelehnt. Und es gibt eine Untersuchung, die
nahelegt, dass ähnliche Hirnareale angeregt werden, wie bei einer
Zwangsstörung. (0‘48)
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Sprecherin:
Und nicht zuletzt wird natürlich auch nach dem Sexualverhalten
gefragt: Gab es sexuelle Straftaten gegen Kinder, wie oft und
wie häufig waren die Übergriffe und gibt es dazu eine
Aktenlage?
Neben der Erfassung dieser und anderer Fragen blicken die
Forscher den Probanden auch ins Hirn – mit Hilfe von MRTUntersuchungen. Denn aus der Forschung an verurteilten
Sexualstraftätern gibt es bereits einige Hinweise, dass es nicht
nur psychologische Auffälligkeiten gibt, sondern auch
biologische. Die Forscher von Nemup untersuchen daher
Hirnfunktion und Hirnstruktur. Dazu gibt es ein erstes Ergebnis:
Pädophile Männer haben ein verändertes Volumen des
Mandelkerns.
OT Mandelkern:
Der Mandelkern ist ein Kerngebiet im Gehirn, der mit Verarbeitung von
Emotionen und der Interpretation von emotionalen Informationen
zusammenhängt; Der direkte Zusammenhang mit einer sexuellen
Ausrichtung ist dabei ausgesprochen unklar. Warum es im Bereich dieses
Kerngebiets zu Veränderungen kommt, die dann sich in einer sexuellen
Ansprechbarkeit für Kinder manifestiert. Es ist aber bisher der
deutlichste, der einzige wirklich zuverlässige Befund, den wir haben.
Heißt: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch ein verändertes Volumen
des Mandelkerns hat wächst mit dem Vorliegen einer Pädophilie. Es heißt
aber nicht, dass man anhand des veränderten Volumens eine Diagnose
treffen könnte. (0’55)
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Sprecherin:
Untersucht wird außerdem die Hirnfunktion. Dabei wird im MRT
unter anderem beobachtet, wie das Gehirn reagiert, wenn sich
ein Mann Nacktbilder von Erwachsenen und Kindern ansieht.
Till Amelung erklärt das Verfahren und zeigt die Fotos auf dem
Computer:
OT:
Das sind hier zum Beispiel die Bilder, da werden also Nacktbilder von
Erwachsenen und Kindern gezeigt. Aufgezeichnet wird die Hirnreaktion
auf diese Bilder, also wie werden diese Bilder im Hirn verarbeitet. Die sind
zum Teil in sexuell aufreizender Pose fotografiert und das sind Nacktbilder
auch von Kindern. Wir unterscheiden nochmal die pubertierenden Kinder
und die vorpubertären Kinder in ihren Stimuli. Gibt auch die weibliche
Seite davon, Mädchen vor der Pubertät, pubertierende Mädchen. Wir
haben also sowohl Frauen als auch Männer, Jungs als auch Mädchen vor
der Pubertät und in der Pubertät. (0’58)
Sprecherin:
Bei den Untersuchungen hat sich gezeigt: Pädophile und nichtpädophile Männer lassen sich anhand der Hirnfunktion klar
unterscheiden. Denn das Aktivierungsmuster im Hirn ist bei
beiden praktisch identisch, die sexuellen Reize werden gleich
verarbeitet, aber die Reize sind eben ganz unterschiedliche. Die
einen reagieren auf das kindliche, die anderen auf das
erwachsene Körper-Schema.
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Dies ist bislang eines der konkretesten Forschungsergebnisse
von NeMUP. Es könnte dazu verwendet werden, eine Pädophilie
zu diagnostizieren. Doch Till Amelung bremst hier:
OT
Bei solchen Diagnoseinstrumenten muss man immer vorsichtig sein, dass
man nicht jemanden fehldiagnostiziert, sowohl in die eine wie in die
andere Richtung. Sagt man jemandem, er hat eine bestimmte Krankheit,
der sie gar nicht hat oder sagt man jemandem, der eine Krankheit hat, er
hat sie nicht… (0’15)
Sprecherin:
Doch zur Untermauerung einer Diagnose wäre diese Methode
zumindest einsetzbar. Ansonsten ist aber klar: Es gibt viele
Anhaltspunkte und einige Hypothesen, doch insgesamt stehen
die Forscher bei der Beantwortung der Frage, wie sich eine
Pädophilie entwickelt und warum es überhaupt zum
Missbrauch kommt, immer noch ziemlich am Anfang.
OT
NeMUP ist wirklich ein erster Schritt überhaupt in der Forschung. Was wir
mit Nemup liefern können, sind Modelle zur Entwicklung von sexuellem
Kindesmissbrauch und zur Entwicklung von Pädophilie, die in weiteren
Studien einer weiteren Überprüfung bedürfen. (0’21)
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Sprecherin:
Till Amelung wünscht sich, dass das NeMUP-Projekt,
weiterlaufen kann, was aber auch bedeutet, dass es weitere
Forschungsgelder geben müsste.
Die Erkenntnisse aus der Forschung sollen helfen,
Therapieformen für Pädophile zu entwickeln bzw. zu
verbessern. Genau wie für nicht-pädophile Sexualstraftäter.
Davon würde wiederum das Präventionsprojekt „Kein Täter
werden“ in Gießen profitieren. Auch für dieses Projekt läuft die
Suche nach neuen Geldgebern. Die Finanzierung steht bis
Dezember 2015. Die Therapeutin Stephanie Thiel hofft, dass das
Projekt weitergeführt werden kann. Sie sieht Bedarf an
weiteren Therapiegruppen und außerdem will sie den Männern,
die ihre Therapie beendet haben, noch eine Nachsorge und
weitere Betreuung anbieten können.
Das ist der eine Wunsch. Der andere richtet sich an uns alle.
Dass wir es schaffen, Vorurteile zu überwinden. Dass wir
pädophile Menschen nicht wegen ihrer Veranlagung verurteilen,
sondern nur wegen ihrer Taten. Dass die Erkenntnis reift, dass
diejenigen, die verantwortlich mit ihrer Veranlagung umgehen,
unsere Unterstützung verdient haben. Und dass es den
Betroffenen umso leichter fällt, Hilfsangebote wahrzunehmen,
je weniger sie sich verstecken müssen.
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OT
Wünschenswert wäre… dass jemand ganz offen sagen kann, wenn der
Nachbar klingelt und fragt: Können Sie mal auf die Kinder aufpassen, ich
müsste mal zu einer Veranstaltung. Wer stellt sich denn da hin und sagt:
Tut mir leid, ich kann ihre Kinder nicht übernehmen, ich bin pädophil. Wer
würde das sagen? Es ist noch verträglicher, auf einer Betriebsfeier zu
sagen, ich will nicht mit Euch mit Alkohol anstoßen, denn ich bin trockener
Alkoholiker. Das ist akzeptabel. Aber man kann nicht sagen, ich bin
pädophil. Natürlich wäre es wünschenswert, dass die Menschen damit
offen umgehen können. Aber das ist leider nicht Realität.
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