Welt der Wissenschaft: Kosmologie Dem Dunklen Universum auf der Spur Die allermeiste Materie im Universum entzieht sich unseren Blicken, weil sie nicht mit Licht in Wechselwirkung treten kann. Verschiedene Indizien weisen auf eine solche »Dunkle« Materie hin. Oder müssen wir stattdessen unsere Vorstellungen von der Schwerkraft revidieren? Die Spurensuche führt in fernste Winkel des Universums. Von Matthias Bartelmann und Matthias Steinmetz In Kürze ó Die Schwerkraft der sichtbaren Materie reicht nicht aus, um die beobachtete Bewegung der G roße Teile der im Universum Jenseits des Sonnensystems geht die vorhandenen Masse sind nicht einfachste Überlegung etwa so: Wir mes- mit sichtbarer Materie verbun- sen die scheinbare Helligkeit eines Stern- den, so die Überzeugung der meisten Astronomen. Auf welche Erschei- haufens oder einer Galaxie. Aus der Entfernung ermitteln wir dann die absolute nungen stützt sich diese Aussage? Welche Helligkeit und bestimmen damit, wie viel Sterne und des Gases in Galaxien Eigenschaften müssen wir dieser »Dunk- Energie der Sternhaufen oder die Galaxie sowie die Dynamik und Röntgen- len« Komponente zuschreiben? Und wie abstrahlt. Jedoch sind die Entfernungen strahlung von Galaxienhaufen zu können wir ihre räumliche Verteilung im galaktischer oder extragalaktischer Ob- erklären – das ist seit 80 Jahren Kosmos durch Beob­achtungen bestim- jekte oft nur näherungsweise bekannt, bekannt, und deshalb wird die Exi- men? Diese Fragen sind zum Teil nicht weil die Bestimmung von Entfernungen stenz Dunkler Materie postuliert. neu. Aber die Erforschung des »Dunklen zu den schwierigsten Aufgaben der Astro- ó Aus den beobachteten Strukturen Universums« beschäftigt heute mehr As- nomie gehört. Die einfachste Annahme der Hintergrundstrahlung konnte ist dann: Um so viel Energie wie die Sonne sich seit dem Urknall nur dann die tronomen als je zuvor. Wie viel Materie gibt es überhaupt im heutige Welt der Galaxien entwi- Universum? Das ist schwer zu beantwor- tig, wie die Sonne sie hat. Für eine Galaxie ckeln, wenn der Kosmos zusätzlich ten, denn wir sehen nur von der Materie mit zehn Milliarden Sonnenleuchtkräften zur »normalen« das Siebenfache ausgestrahltes Licht, nicht aber die Ma- wären demnach etwa zehn Milliarden an »Kalter Dunkler Materie« terie selbst. Sogar die Masse des Sonnen- Sonnenmassen nötig. enthält, bestehend aus relativ systems lässt sich nur schwer ermitteln. Das ist qualitativ nicht falsch, quantita- langsamen, schwach wechselwir- Zwar können wir die keplerschen Gesetze tiv aber auch nicht richtig. Die Sterne sind zu produzieren, ist auch so viel Masse nö- kenden massereichen Teilchen. nutzen, um die Masse der Sonne aus der nicht alle gleich, und solche mit weniger ó Alle gravitierenden Massen krüm­- Bewegung der Planeten zu bestimmen, Masse als die Sonne strahlen deutlich men die Bahnen der Lichtstrahlen oder die Masse von Planeten aus der Be- weniger Energie ab, als es ihrer Masse in ihrer Umgebung. Dieser »Gravi- wegung ihrer Monde. Aber wie viel Mas- entspräche, wohingegen Sterne mit mehr tationslinseneffekt« erlaubt den se beispielsweise in den Kleinplaneten, Masse als die Sonne mit ihrem nuklearen quantitativen Nachweis Dunkler in der Oortschen Wolke und in anderen Brennstoff weit verschwenderischer um- Materie in fernen Galaxienhaufen. Komponenten des Sonnensystems steckt, gehen. Da es erheblich mehr masseärmere können wir bestenfalls schätzen. als massereichere Sterne gibt, werden für 32 August 2010 Sterne und Weltraum sichtbare Spiralgalaxie Ein Beispiel für »unsichtbare« Materie: Uli Klein, Argelander-Institut für Astronomie Wasserstoffgas Diese Überlagerung einer optischen Aufnahme der Spiralgalaxie NGC 5055 mit der im Radiobereich kartierten, hier blau dargestellten Emission des neutralen Wasserstoffgases zeigt die riesige Ausdehnung der unsichtbaren galaktischen Gasscheibe im Vergleich zur stellaren Scheibe. eine Sonnenleuchtkraft im Durchschnitt während sie sich auf der anderen von uns verändert. Die Kurven, die den Verlauf der etwa sechs Sonnenmassen statt einer ge- wegbewegen. Die Geschwindigkeit dieser Umlaufgeschwindigkeit mit dem Radius braucht. Eine Galaxie mit zehn Milliarden Bewegung lässt sich messen, weil durch sie Sonnenleucht­kräften benötigte also etwa die Linien in den Spektren der Sterne ver- angeben, heißen Rotationskurven. Dabei ergeben sich gleich zwei Überra- 60 Milliarden Sonnenmassen. schoben werden: zu größeren (roten) Wel- schungen. Zum einen sind die Geschwin- lenlängen, wenn die Sterne sich entfernen, digkeiten erstaunlich hoch. Für Galaxien und zu kleineren (blauen), wenn sie sich ähnlich unserem Milchstraßensystem er- nähern. Das ist derselbe Dopplereffekt, reichen sie etwa 100 bis 200 Kilometer pro Nun gibt es offenbar Materie im Univer- der den Klang eines ankommenden Autos Sekunde. Vom Zentrum ausgehend steigen sum, die gar nicht leuchtet, und davon höher erscheinen lässt als den eines abfah- sie zudem schnell auf ihren Maximalwert, können wir uns schon mit bloßem Auge renden. Der Betrag dieser Verschiebung auf dem sie dann weitgehend unabhängig überzeugen: Die Dunkelwolken, die das zeigt die Geschwindigkeit an. Mit einem vom Radius verharren (siehe Bild auf S. 34 Milchstraßenband am Nachthimmel glie- Spektrografen lässt sich also messen, wie oben). Dies war eine große Überraschung! dern, sind ein Beispiel dafür. Planeten und schnell die Sterne um das Zentrum der Ga- Im Sonnensystem nimmt die Umlaufge- Monde leuchten auch nicht selbst, tragen laxie laufen und wie sich diese Geschwin- schwindigkeit vom Merkur zum Neptun aber auch nur vernachlässigbar wenig digkeit mit dem Abstand vom Zentrum mit zunehmender Entfernung steil ab Indizien für eine zusätzliche, nicht sichtbare Masse Masse bei. Die Abschätzung, die wir gerade anhand des Sternlichts durchgeführt haben, wird uns deshalb gewiss nicht die Die Dunkle Materie ist ein Gesamtmasse der Galaxie liefern, sondern aktuelles Forschungsthe- eine untere Grenze dafür: Die wahre Masse ma, das sich mit Gewinn wird mindestens so groß sein. im Unterricht der folgende Beobachtung zeigt. Betrachten gymnasialen Oberstufe einsetzen lässt. Dazu haben wir didaktische Materialien erstellt, die unter www.wissenschaft-schulen.de kostenfrei abgerufen werden können. wir eine Scheibengalaxie von der Seite. Die Schüler lernen damit, welche Indizien auf die Existenz dieser rätselhaften Ma- Sterne laufen in der Scheibe um das Zen- terieform hinweisen und welche Forschungsergebnisse dagegen sprechen. Unser trum der Galaxie. Man kann sich vorstel- Schulprojekt führen wir in Zusammenarbeit mit der Landesakademie für Lehrerfort- len, wie auf der einen Seite vom Zentrum bildung in Bad Wildbad und dem Haus der Astronomie in Heidelberg durch. Sie ist sogar sehr viel größer, wie die der Galaxie die Sterne auf uns zukommen, www.astronomie-heute.de August 2010 33 Rotationsgeschwindigkeit in Kilometern pro Sekunde gemessen 200 100 berechnet 50 000 100 000 MPIA / SuW-Grafik Abstand vom Zentrum in Lichtjahren Falls alle gravitierende Masse in einer Spiralgalaxie so verteilt wäre wie die dem Gleichgewicht zwischen Gravita- leuchtende Materie, nähme die Umlaufgeschwindigkeit der Sterne nach tions- und Zentrifugalkraft gerade dann außen hin zunächst zu, danach ab (rote Kurve). Die gemessenen Werte verträglich, wenn die Massendichte mit (blaue Kurve) bleiben jedoch in den Außenbereichen annähernd konstant. dem Quadrat des Radius abfällt, wenn folglich die Dichte bei doppeltem Radius Merkur 40 Venus 30 Erde Mars 20 Jupiter Saturn 10 Uranus Neptun Pluto 0 In unserem um das Vierfache geringer ist. Aus den Planetensystem ist Rotationskurven wissen wir also, dass fast alle gravitieren- die Massenverteilung in Galaxien sehr de Masse in der viel ausgedehnter als die Lichtverteilung Sonne vereinigt, ist. Anhand ihrer Sterne können wir die also innerhalb der Galaxien aber nur bis zu relativ kleinen Umlaufbahn des Radien hin verfolgen. Merkur. Dement- 0 10 20 30 SuW-Grafik Bahngeschwindigkeit in Kilometern pro Sekunde 50 In Radioteleskopen erscheinen die Ga- sprechend fallen die laxien wesentlich größer, wenn statt des Bahngeschwindig- Sternlichts die Radiostrahlung neutraler keiten der umlau- Wasserstoffwolken beobachtet wird. Neu- fenden Planeten traler Wasserstoff sendet Radio­strahlung mit zunehmendem mit einer Wellenlänge von 21 Zentime­- Abstand vom tern aus und lässt sich dadurch einfach Zentrum rasch ab. identifizieren. Solche Wasserstoffwolken 40 Abstand von der Sonne in Astronomischen Einheiten sind in weit größeren Abständen von Galaxienzentren sichtbar (siehe Bild S. 33), und anhand der Verschiebung der 21-cmLinie zu größeren oder kleineren Wel­ (sie­he Grafik oben). Warum geschieht dies Sterne in den Galaxien unterliegen einer lenlängen hin sind auch deren Umlauf­- in Galaxien nicht? Die Lichtverteilung in ähnlichen Bedingung, nur dass bei ih- geschwindigkeiten messbar. Sie bestäti­ einer Galaxie ist stark auf den Zentralbe- nen die Masse nicht so stark im Zentrum gen, dass die Rotationskurven der Gala- reich konzentriert und fällt gewöhnlich konzentriert ist wie im Sonnensystem. xien ähnlich flach nach außen weiter- steil mit dem Abstand vom Zentrum ab. Dennoch ist ihre Umlaufgeschwindigkeit gehen, wie anhand der Sterne vermutet Wenn die Masse so verteilt wäre, wie die gerade so hoch, dass ihre Zentrifugalkraft werden kann, bis hinaus zu Abständen, Lichtquellen (also die leuchtenden Sterne), die Gravitationskraft ausgleicht, die sie ins die einem Vielfachen des Durchmessers dann sollten die Rotationskurven der Ga- Zentrum zieht. Je schneller sich die Sterne im sichtbaren Licht entsprechen. Dort laxien ebenfalls nach außen hin abfallen. bewegen, umso stärker muss die Gravita- werden schließlich auch die Wasserstoff- Wie kann es sein, dass sie es nicht tun? Die Gravitationskraft der Sonne hält tionskraft sein, und desto mehr Masse ist wolken zu selten und zu leuchtschwach, bei gegebener Größe der Galaxie nötig. um sie mit Radioteleskopen vermessen das Sonnensystem zusammen. Die Pla- Hohe Geschwindigkeiten weisen also auf zu können. neten bewegen sich auf ihren Umlauf- große Massen hin. Womöglich bleiben die Rotationskur- bahnen gerade so schnell, dass die Zen- Der flache Verlauf der gemessenen ven noch bis zu weit größeren Abständen trifugalkraft, die sie nach außen treibt, Rotationskurven zeigt zudem, wie die flach! Das bedeutet, dass Galaxien nicht der Gravitationskraft die Waage hält. Die Masse räumlich verteilt ist. Er ist mit nur erheblich größer sind, als ihr sicht- 34 August 2010 Sterne und Weltraum ihre Masse räumlich wesentlich weiter Sloan Digital Sky verteilt und insgesamt viel größer ist als Survey wurde diese die, welche sich durch das Leuchten der Kurve, die so ge- Sterne im Sichtbaren und des neutralen nannte Leuchtkraft- Wasserstoffs im Radiobereich verrät. Set- funktion, ab­geleitet. zen wir die Gesamtmasse der Galaxien Sie gibt an, wie viele in Beziehung zur Lichtmenge, die sie Galaxien gegebener abgeben, so ergibt sich nicht, wie bei den Absoluthelligkeit Sternen, ein Verhältnis von 6 : 1, sondern M pro Volumen im eher von 150 : 1. Das bedeutet: Galaxien, Weltraum vorhan- die zehn Milliarden Sonnenleuchtkräfte den sind. Die Daten abgeben, haben Gesamtmassen von etwa beziehen sich auf 1,5 Billionen Sonnen. unsere weitere kos- Nun lässt sich eine weitere Abschät- 0,1 0,01 10-3 10-4 Jon Loveday / SDSS / SuW-Grafik Aus den Daten des Galaxien pro Kubik-Megaparsec bares Licht vermuten lässt, sondern dass 10-5 10-6 mische Umgebung. zung anschließen, die zu einem ersten 10-7 -24 Hinweis führt, wie viel Materie im -22 -20 -18 -16 absolute Helligkeit M in Magnituden Universum enthalten ist. Eine wichtige Beobachtungsgröße, durch welche die Verteilung der Galaxien im Universum sich diese Leuchtkraft pro Volumen in Dichte. Selbst die ist unsäglich klein: charakterisiert werden kann, ist die so eine Massendichte umrechnen. Das Ergeb- Sie entspricht der Masse eines einzelnen genannte Leuchtkraftfunktion der Gala- nis ist, dass nur etwa acht Prozent einer so Wasserstoffatoms in einem Volumen von xien (siehe Grafik rechts). Sie gibt an, wie genannten kritischen Massendichte durch fünftausend Litern. In gängigen astrono- häufig Galaxien welcher Leuchtkraft im die Galaxien beigesteuert werden. mischen Einheiten entspricht das etwa Universum auftreten, das heißt, wie viele Was ist diese kritische Dichte, und wel- einer typischen Galaxienmasse in einem von ihnen man pro Volumeneinheit fin- che Bedeutung hat sie? Das Universum Würfel von einem Megaparsec Kanten- det. Daraus lässt sich ermitteln, wie viel dehnt sich aus. Wenn es mit Materie ge- länge. (1 Megaparsec = 1 Million Parsec = Licht im Mittel aus einem bestimmten rade so angefüllt wäre, dass deren Gravi- 3,263 Millionen Lichtjahre.) Acht Prozent Volumen kommt. Mit Hilfe des Masse-zu- tationswirkung seine Ausdehnung in un- dieses Werts, nicht mehr, sind in Gestalt Leuchtkraft-Verhältnisses von ungefähr endlich langer Zeit zum Stillstand bringen der Galaxien nachweisbar. Das Univer- 150 : 1, von dem oben die Rede war, lässt könnte, hätte die Materie diese kritische sum enthält also gerade so viele Galaxien, WWW.ASTRONOMIE-HEUTE.DE/ABOPLUS Der Premiumbereich – exklusiv für Abonnenten von Treue Sterne und Weltraum-Leser profitieren nicht nur von besonders günstigen Abokonditionen, exklusiv auf sie warten unter www.astronomie-heute.de/aboplus auch eine ganze Reihe weiterer hochwertiger Inhalte und Angebote: • alle Sterne und Weltraum-Artikel seit 2005 • jeden Monat ein neuer Bonusartikel – und das Archiv mit allen Bonusartikeln • ausgewählte Ausgaben anderer Zeitschriftentitel aus dem Programm der Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH als kostenlose Downloads • ein Mitgliedsausweis, dessen Inhaber in zahlreichen Museen und wissenschaftlichen Einrichtungen Vergünstigungen erhält • das spektrumdirekt-Premiumabo sowie das »Produkt des Monats« – jeweils zum exklusiven Vorteilspreis ESA / Hubble / Digitized Sky Survey dass jede einzelne im Mittel etwas mehr Gleichgewicht zwischen Zentrifugal- und ersten Mal angewandt. Als im 19. Jahrhun- als zehn Kubikmegaparsec beanspruchen Gravitationskraft zu halten. Das Ergebnis dert der neu entdeckte Planet Uranus Ab- kann. ist wiederum erstaunlich: Etwa das Zehn- weichungen von seiner berechneten Bahn Die Überlegungen, die wir hier an­- fache der Masse wird benötigt, als anhand zeigte, postulierte Urbain Leverrier die hand von Galaxien angestellt haben, las- des Leuchtens der Haufengalaxien und des Existenz eines weiteren äußeren Plane­ten, sen sich völlig analog auf Galaxienhau- Röntgengases nachweisbar ist. Zur gesam­- des Neptun, dessen Gravitationswirkung fen übertragen. Dort bewegen sich, statt ten Masse von Galaxienhaufen, die etwa das für die Störung der Bahn des Uranus einzelner Sterne, die Galaxien, und zwar Billiardenfache der Sonnenmasse erreichen verantwortlich sein sollte. Der Nachweis mit Geschwindigkeiten von bis zu etwa kann, tragen Sterne nur zu etwa einem Pro- dieses Planeten durch Johann Gottfried 1000 Kilometern pro Sekunde. Und doch zent bei, die Galaxien und das heiße Rönt- Galle an der Berliner Sternwarte gilt als bleiben sie aneinander gebunden, denn gengas (siehe Bilder oben) zu jeweils etwa eine der Sternstunden der theoretischen wenn das nicht so wäre, müssten sich zehn Prozent. Woraus besteht der Rest? Physik, wurde doch die Vorhersagekraft Galaxienhaufen innerhalb von etwa ei- der newtonschen Gravitationstheorie ein­- ner Milliarde Jahren auflösen. So wie die Das Rätsel der Dunklen Materie Radioemission kalter Wasserstoffwolken Die Erkenntnis, dass Galaxienhaufen größ­ seiner Entdeckung war Neptun »Dunkle die wahre Größe der Galaxien anzeigt, tenteils aus unsichtbarer, also Dunkler Materie«, kaum anders als wir heute in der weist die Röntgenstrahlung eines heißen Materie bestehen müssen, stammt bereits Kosmologie Dunkle Materie annehmen. Wasserstoffplasmas darauf hin, dass diese aus den 1930er Jahren. Woraus diese Dun- Die Analogie zu Neptun hat aber auch Haufen aus weit mehr als den Galaxien kle Materie bestehen könnte, ist allerdings eine andere Seite: Gegen Ende des 19. bestehen. Wie bei den Sternen in den Galaxien eine ganz andere Frage. Jahrhunderts zeigten sich Bahnstörungen Das Postulat Dunkler Materie zur Er- auch für die Bahn des innersten Planeten, können wir aus der Geschwindigkeit der klärung nicht verstandener Beobachtung des Merkur. Schnell war die Annahme ge- Galaxien in den Galaxienhaufen und der erscheint auf den ersten Blick sehr gewagt. tan, dass dafür ein weiterer Planet, Vulkan Ausdehnung der Haufen die Masse ab- In der Tat wird diese Methode aber in genannt, verantwortlich sein solle, der in- schätzen, die nötig ist, um die Galaxien im der Geschichte der Astronomie nicht zum nerhalb der Merkurbahn seine Kreise zie- 36 August 2010 drucksvoll unter Beweis gestellt. Bis zu Sterne und Weltraum ist die Schlussfolgerung unausweichlich, dass es Dunkle Materie gibt. Kommen wir zurück zu der Frage, woraus die Dunkle Materie bestehen könnte. Wir wissen es nicht, aber es gibt einige sehr deutliche Hinweise, von denen der stärkste aus dem kosmischen Mikrowellenhintergrund stammt. Der Mikrowellenhintergrund ist die verbliebene Wärmestrahlung aus der heißen Frühzeit des Universums. Wir sind in ihn eingebettet wie in ein Meer aus Strahlung, die uns aus allen Richtungen mit fast gleicher Intensität erreicht. Erst wenn man sehr genau hinschaut, zeigen sich winzige Intensitätsunterschiede in der Strahlung, die uns von verschiedenen ESO DSS2 / ROSAT / H. Böhringer Orten am Himmel erreicht (siehe Bild auf S. 38). Da es sich um Wärmestrahlung handelt, lässt sich die Intensität durch eine Temperatur ausdrücken. Die mittlere Temperatur des kosmischen Mikrowellenhintergrunds beträgt knapp drei Kelvin. Um diesen Mittelwert herum, der nur drei Grad über dem absoluten Nullpunkt der Temperaturskala liegt, beobachten wir Galaxienhaufen wie der hier gezeigte Coma-Haufens (links ein Ausschnitt) Temperaturschwankungen enthalten einige hundert bis tausend Galaxien, die sich mit Geschwin- von einigen zehn Mikrokelvin, also von digkeiten von rund 1000 Kilometern pro Sekunde bewegen. Um sie durch die Schwerkraft an sich zu binden, reicht die Masse der sichtbaren Materie bei einigen zehn Millionstel Grad. Im Zusammenhang mit unserer Frage Weitem nicht aus. Die diffuse Röntgenemission des Coma-Haufens, hervor- ist das sehr wichtig. Das Universum ist gerufen durch heißes Gas, das den gesamten Galaxienhaufen ausfüllt, ist im heute reichlich strukturiert. Wir sehen Ga- obigen Bild rot dargestellt und einem optischen Bild des Haufens überlagert. laxien, Galaxienhaufen und noch größere, im Bereich filamentartige Ansammlungen von Galahe. Dieser weitere Planet wurde jedoch nie wir bisher annehmen. Das wäre durch­- xien, die große Leerräume umschließen. gefunden, und 1916 zeigte sich, dass sich aus möglich, aber auf der Gültigkeit der All- Alle Materie sammelt sich in einer Art von die Bahnstörungen des Merkur durch Ein- gemeinen Relativitätstheorie beruht un­- kosmischem Netz an. Wie haben sich diese steins Allgemeine Relativitätstheorie als ser kosmologisches Rahmenmodell, das Strukturen entwickelt? Die plausibelste neue Gravitationstheorie erklären lassen. sehr viele kosmologische Beobachtungen Vorstellung ist die, dass die Temperatur- schlüssig beschreibt. schwankungen im kosmischen Mikrowel- Verfolgen wir diesen Gedanken etwas weiter: Alles, woraus wir bisher geschlos- Es wäre deshalb nicht damit getan, das lenhintergrund Dichteschwankungen im sen haben, es müsse Dunkle Materie newtonsche Gravitationsgesetz auf der jungen Universum anzeigen, die durch ihre geben, beruht darauf, dass wir die Allge- Skala von Galaxien und Galaxienhaufen eigene Gravitationskraft zu den Strukturen meine Relativitätstheorie und, als sehr zu modifizieren. Es gibt entsprechende anwachsen konnten, die wir heute sehen. gute Näherung, das newtonsche Gravi- Theorien, die an die Stelle der Allgemei- tationsgesetz auf physikalische Systeme nen Relativitätstheorie treten können, das Aber ist diese Vorstellung plausibel? Der kosmische Mikrowellenhinter- angewandt haben, für die beide nicht newtonsche Gravitationsgesetz passend grund entstand, als das Universum knapp geschaffen wurden. Newton hat seine verändern und zugleich kosmologische 400 000 Jahre alt war. Heute ist es knapp Gravitationstheorie entworfen, um das Modelle erlauben – aber um manche Beob­ 14 Milliarden Jahre alt. Können so kleine Sonnensystem zu beschreiben, und auch achtungen zu erklären, benötigen die­se Dichteschwankungen, die den Mikrowel- die Allgemeine Relativitätstheorie wurde Theorien ebenfalls die Dunkle Materie. lenhintergrund um nicht mehr als zehn bisher im Wesentlichen nur innerhalb des Vielleicht mag es irgendwann eine bes- Teile in einer Million stören konnten, in- Sonnensystems getestet. Was, wenn diese sere, schlüssigere Theorie geben, die das nerhalb von etwa 14 Milliarden Jahren zu Gesetze auf den Skalen von Galaxien und beobachtete Verhalten der Galaxien und den ausgeprägten Strukturen heranwach- Galaxienhaufen gar nicht mehr gelten? Galaxienhaufen ohne Dunkle Materie zu Dann sollte unsere Schlussfolgerung, es erklären vermag und es zugleich erlaubt, sen, die wir heute sehen? Die Antwort ist ein klares Nein – falls müsse Dunkle Materie geben, eigentlich ein erfolgreiches kosmologisches Modell wir davon ausgingen, dass die Dunkle als Hinweis verstanden werden, dass die zu konstruieren. Auf der Grundlage der Materie ähnlich beschaffen sei wie die Gravitation anders zu beschreiben sei als Allgemeinen Relativitätstheorie jedenfalls gewöhnliche Materie. Denn wenn das so www.astronomie-heute.de August 2010 37 wäre, müssten im Mikrowellenhintergrund Neutrinos können aber kein wesentlicher das Wechselspiel zwischen der Gravitation Temperaturschwankungen im Bereich von Bestandteil der Dunklen Materie sein, der Dunklen Materie einerseits und dem Milli- statt Mikrokelvin auftreten, und die weil sie zu leicht, zu schnell und damit zu Druck der Strahlung und der gewöhn- sind nicht beobachtet. Ein Ausweg öffnet leicht flüchtig sind: Nur Strukturen, die lichen Materie andererseits bestimmt sich dann, wenn wir annehmen, dass die deutlich größer als Galaxien sind, wären ist. Daraus können wir Dichten beider Dunkle Materie aus Elementarteilchen be­- in der Lage, sie zu halten. Galaxien wür- Materieformen ableiten. Für die Dunkle steht, die nur schwach mit normaler Ma­ den deswegen auch erst spät im Verlauf Materie ergeben sich knapp 30 Prozent terie in Wechselwirkung treten kann, und der kosmischen Geschichte erscheinen, der kritischen Dichte, für die gewöhnliche jedenfalls nicht direkt mit Licht. Wenn später als die erheblich größeren Gala- Materie nur etwa vier Prozent. diese Annahme gilt, konnten die im xienhaufen jedenfalls. Beobachtet wird jungen Universum beob­achteten Dichte- aber das Gegenteil. Galaxien tauchen schwankungen bereits erheblich stärker schon sehr früh im Universum auf, wäh- Dunkle Materie und die großräumige kosmische Struktur angewachsen sein, als der Mikrowellen- rend sich Galaxienhaufen erst deutlich Wie bereits erwähnt, ist die räumliche Ver- hintergrund verrät, weil sie dann mangels später bilden. Die Teilchen der Dunklen teilung der Galaxien keineswegs zufällig, direkter Wechselwirkung weit schwäche­ Materie müssen wesentlich massereicher sondern korreliert (siehe Bild rechts). Im re Spuren in der Strahlung hinterlassen und somit langsamer sein, als es etwa die Großen sieht die Struktur der Galaxienver- haben als gewöhnliche Materie. Daher Neutrinos sind. Wir vermuten also, dass teilung etwa wie ein Schwamm aus: Leer- halten wir es für eine sinnvolle Annahme, Dunkle Materie aus schwach wechselwir- räume werden von Blasen umschlossen, dass die Dunkle Materie nicht eine andere kenden massereichen Elementarteilchen die im Querschnitt wie dünne Filamente Erscheinungsform gewöhnlicher Materie besteht, die wir aber bislang nicht kennen. aussehen. Besonders hohe Verdichtungen ist, sondern aus Elementarteilchen mit Wir nennen sie kalt, weil sie sich langsam entstehen, wo Blasen oder Filamente sich schwacher Wechselwirkung besteht. Solche Überlegungen sind zunächst im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit be- schneiden. Wir vermuten, dass diese mar- wegen müssen, damit Galaxien sie durch kante Verteilung der Galaxien ähnliche nicht ungewöhnlich, weil wir Elementar- ihre Schwerkraft an sich binden können. Strukturen aus Dunkler Materie nachbil- teilchen mit schwacher Wechselwirkung Kalte Dunkle Materie ist so zur grund­ det. Wie könnte Dunkle Materie eine solche ken­nen – das Neutrino zum Beispiel. legenden Annahme für die kosmische Strukturbildung geworden. Erwähnens- filamentartige Struktur bilden? Erstaunlicherweise ist eine derarti­ge wert ist, dass diese Elementarteilchen Ver­teilung eine mathematisch beweis- Der Satellit WMAP kartierte die kosmische prinzipiell nachweisbar sind. So ist ihr bare Konsequenz der Annahme, dass Mikrowellen-Hintergrundstrahlung des erhoffter Nachweis einer der wichtigsten kos­mische Strukturen aus zufälligen gesamten Himmels in hoher Auflösung. Die Gründe für den Bau und Betrieb des neuen Schwankungen der Dichte Dunkler Ma- Strahlung wurde 380 000 Jahre nach dem Teilchenbeschleunigers LHC am CERN. terie entstanden sind, die durch ihre Die Temperaturschwankungen im Mi- eigene Gravitation anwachsen konnten. krowellenhintergrund liefern uns nicht Wir sehen ja Temperaturschwankungen und das Weltall durchsichtig wurde. Die nur einen wesentlichen Hinweis auf die im kosmischen Mikrowellenhintergrund, hier farblich dargestellten Schwankungen Natur der Dunklen Materie, sondern auch deren plausibelste Erklärung ist, dass sie entsprechen Temperaturdifferenzen von auf ihre Menge. Sie haben eine charakte­ Dichteschwankungen nachbilden, die be- einigen zehn Millionstel Grad. ris­tische Größe am Himmel, die durch reits im sehr jungen Universum angelegt WMAP / NASA Urknall emittiert, als sich Atomkerne und Elektronen zu neutraler Materie vereinigten 38 August 2010 Sterne und Weltraum 25 0.2 10 h h 3 0. 5 Ro tv er sc eb gz Ro 1 0. 0.2 14 L M 1 illi ar de nL ich 1.5 tja hr e 23 h h 13h 1 e hr tja h c i 0.5 0h 0.5 05 0. 1h 12 h 5 2 ie ch 15 0. s er tv un 0.1 1.5 rden llia Mi 2 0. h 5 hi z 2 0.1 11 h g n bu 2dF Galaxy Redshift Survey 0.2 2 2.5 22 h 2.5 waren. Überdichte Gebiete übten auf ihre Materie die entscheidende Rolle, sondern Die großräumige Verteilung der Galaxien Umgebung eine etwas erhöhte Schwer- die Strahlung, also das Licht, dessen Haupt- lässt sich aus spektroskopischen Durch­ kraft aus, zogen dadurch Materie aus der bestandteil der kosmische Mikrowellen- musterungen des Himmels ableiten und in Umgebung an und wuchsen, während hintergrund ist. Er enthält Energie, die sich solchen Fächergrafiken darstellen. unterdichte Gebiete weiter verdünnt wurden. Wir haben bereits oben besprochen, nach Einsteins berühmter Formel E = mc2 in eine Masse umrechnen lässt. dass die Zeit seit der Entstehung des Mi- Heute ist die Massendichte des Mikro- als die Materiedichte. Es gibt also einen krowellenhintergrunds bis heute dazu wellenhintergrunds verglichen mit derje- Zeitpunkt im frühen Universum, zu dem ausreicht, die Entstehung kosmischer nigen aller Materieformen sehr klein. Im beide Dichten gleich groß waren, und vor Strukturen auf diese Weise zu verstehen, frühen Universum war das anders. Wenn dem die Strahlungsdichte höher war als falls es Dunkle Materie gibt, die nicht mit man Strahlung und Materie gemein- die Materiedichte. Licht interagieren kann. sam komprimiert, wächst die Dichte der Dieser Zeitpunkt der Äquivalenz von Mathematisch beweisen lässt sich nun, Strahlung stärker an als die der Materie. Strahlung und Materie ist für den Ver­- dass solche Strukturen, die unter dem Halbiert man das Volumen, so verdoppelt lauf der kosmischen Strukturbildung ent- Einfluss allein der Gravitation aus einer sich die Dichte der Materie, weil sich alle scheidend. Solange Strahlung dominierte, zufälligen Dichteverteilung wachsen, so ihre Teilchen jetzt im halben Volumen konnten sich Strukturen in der Materie- schwammartig aussehen müssen, wie wir wiederfinden. Bei der Strahlung hingegen verteilung nur sehr langsam entwickeln. heute die Galaxienverteilung sehen. Die werden nicht nur die Teilchen verdichtet, Erst als die Materie die Oberhand gewann, Annahme, dass die Galaxienverteilung die sondern jedes einzelne Teilchen – jedes setzte das Wachstum aufgrund der Ei­ Verteilung Dunkler Materie nachbildet, Photon zum Beispiel – gewinnt auch gengravitation der Dichteschwankungen fügt sich also in ein konsistentes Bild. In unserem Zusammenhang ist dabei noch Energie, weil seine Wellenlänge in ein. Deswegen bestimmt der Zeitpunkt demselben Maß verkürzt wird, in dem der Äquivalenz von Strahlung und Mate- vor allem eines interessant: Es gibt eine die Seitenlänge des Volumens abnimmt. rie einen prägenden Moment in der kos- charakteristische Längenskala in der Ga- Bei halbiertem Volumen steigt die Dichte mischen Strukturbildung. Die Größe des laxienverteilung, die etwa der typischen der Strahlung deswegen nicht einfach überschaubaren Universums zu jener Zeit, Größe der Leerräume entspricht. Für den auf das Doppelte, sondern bereits auf das die im Wesentlichen dadurch bestimmt Ursprung einer solchen Skala gibt es in dem 2,5-Fache an. ist, dass man das bis dahin verstriche­ beschriebenen Bild von der kosmischen Rückwärts in der Zeit betrachtet, ne Alter des Universums mit der Licht­ Strukturentwicklung eine plausible Er- schrumpft das Universum. Obwohl die geschwindigkeit multipliziert, prägt der klärung. Sehr früh im Universum spielten Strahlungsdichte heute fast vernachlässig­ heutigen Galaxienverteilung demnach nicht die gewöhnliche und die Dunkle bar klein ist, wächst sie dabei schneller an ihre charakteristische Größe auf. www.astronomie-heute.de August 2010 39 Wenn wir diese Größe messen können, bestimmen wir also indirekt den Zeitpunkt, zu dem die Materiedichte die Oberhand über die Strahlungsdichte gewann. Daraus lässt sich das heutige Verhältnis der Materie- zur Strahlungsdichte bestimmen. Die Dunkle Materie in kollidierenden Galaxienhaufen A n zwei Beispielen wollen wir zeigen, welche Einsichten über die Existenz, räumliche Verteilung und Dynamik der Dunklen Materie, aber auch welche neuen Rätsel uns die Beobachtung des Gravitationslinseneffekts in Galaxienhaufen verschaffen kann. Es heutige Strahlungsdichte kennen wir aber geht um zwei Galaxienhaufen, die kürzlich jeweils als Produkt einer Kollision von zwei – aus den Messungen des Mikrowellenhinter- möglicherweise auch drei – Galaxienhaufen entstanden sind. grunds. Die faszinierende Schlussfolgerung ist: Die typische Längenskala in der Galaxi- ó Ein direkter Existenzbeweis: Unser erstes Bild zeigt den etwa drei Milliarden Lichtjahre enverteilung gibt uns eine Möglichkeit, die entfernten Galaxienhaufen 1E 0657.556, auch »Bullet cluster« genannt. Es handelt sich gesamte Materiedichte im Universum zu in Wahrheit um zwei Haufen, die etwa senkrecht zu unserer Blickrichtung mit einer ermitteln. Je höher die Materiedichte ist, Relativgeschwindigkeit von 4500 Kilometern pro Sekunde aufeinander zugerast und vor umso früher hatten Strahlung und Materie etwa 100 Millionen Jahren zusammengestoßen sind. dieselbe Dichte, umso kleiner war damals Drei Komponenten des Systems sind dargestellt. Das optische Bild zeigt zahlreiche Ga- das überschaubare Universum, und umso laxien, die sich auf zwei getrennte, etwa zwei Millionen Lichtjahre voneinander entfernte kleiner ist dann auch die typische Längen- Gebiete konzentrieren. Die Galaxien liegen rechts und links (und deutlich außerhalb) des skala in der Galaxienverteilung. Messungen dieser Skala sind erst seit heißen Haufengases, dessen Röntgenstrahlung hier in Rot dargestellt ist. Kurzem möglich, weil sie sehr groß ist. Um gestoßen sind, annähernd senkrecht zu ihrer Bewegungsrichtung blicken: Die nahezu sie zu bestimmen, müssen Galaxien bis in punktförmigen Galaxien der beiden Haufen sind ungehindert aneinander vorbeigeflo- Diese Situation ist zu erwarten, wenn wir auf zwei Haufen, die kürzlich zusammen- ernormen Entfernungen beobachtet werden, und zwar auf einem ausgedehnten Gebiet des Himmels, weil ein Ausschnitt der Strukturen erfasst werden muss, der im Vergleich zur typischen Skala genügend groß ist. Seitdem solche Beobachtungen möglich sind, ergeben sie eine Materiedichte, die wieder knapp 30 Prozent der kritischen Dichte entspricht, in sehr guter NASA / STScI / ESO/ D. Clowe et al. Übereinstimmung mit den Messungen der Temperaturschwankungen im kosmischen Mikrowellenhintergrund. Die Kartierung Dunkler Materie Wenn tatsächlich eine Form Dunkler Materie die großräumigen kosmischen Strukturen bestimmt, die grundsätzlich nicht mit Licht in Wechselwirkung tritt, wie können wir dann Strukturen aus Dunkler Materie finden und abbilden? Eine Methode, die Verteilung Dunkler Gravitationsfeldern direkt beobachtbar die Galaxien gerade sind, deren Masse wir ist; Geschwindigkeiten lassen sich mit bestimmen wollen, können wir anhand Materie empirisch zu erschließen, haben modernen Spektrografen sehr genau mes- ihres Aussehens vermuten, aber sicher wir schon besprochen, nämlich die, welche sen. Sie hat aber zugleich zwei Nachteile. können wir uns nicht sein. Bei Galaxien- auf der Bewegung von Sternen in Galaxien Zum einen beruht jede Umrechnung der haufen ist es noch schwieriger, von einem und von Galaxien in Galaxienhaufen be- beob­achteten Geschwindigkeiten in Mas- Gleichgewicht auszugehen, weil sie kos- ruht. Dabei macht man sich das vermutete sen auf Gleichgewichtsannahmen von mologisch jünger sind, aber auch länger Gleichgewicht zwischen Gravitation und der Art, dass die Gravita­tionskraft genau brauchen, um ihren Gleichgewichtszu- Zentrifugalkraft zunutze, schließt aus durch die Zentrifugalkraft ausgeglichen der gemessenen Geschwindigkeit auf die werde. Das ist gewiss im Mittel für viele stand zu erreichen. Hinzu kommt, dass wir spektroskopisch Gravitationskraft, die zu ihrer Stabilisie- Galaxien recht gut erfüllt, aber wir kön- nur den Anteil der Geschwindigkeit sehen rung nötig ist, und damit auf die gesamte nen uns selten wirklich darauf verlassen. können, der längs der Sichtlinie liegt, weil gravitierende Masse. Der radiale Verlauf Galaxien stehen nicht isoliert im Raum die Verschiebung der Spektrallinien allein der Geschwindigkeit zeigt, wie die Massen- und sind keine statischen Gebilde, son- durch die Bewegung der Lichtquelle vom dichte vom Zentrum der Galaxie oder des dern begegnen anderen Galaxien, wer- Beobachter weg oder zu ihm hin zustande Gala­xienhaufens nach außen abfällt. Diese Methode hat den Vorteil, dass die den dabei verändert und gehen im Laufe kommt. Um die Verteilung der Masse wirk- langer kosmischer Zeiträume von einem lich zu bestimmen, wäre auch die Richtung Bewegung der jeweiligen Testobjekte, ob Gleichgewichtszustand in einen neuen der Bewegung im Raum erforderlich, die es nun Sterne oder Galaxien sind, in ihren über. In welchem physikalischen Zustand uns aber nicht zugänglich ist. Wir müssen 40 August 2010 Sterne und Weltraum gen, während die diffusen Plasmaanteile – als Systeme geladener Teilchen – heftige Wechselwirkung miteinander hatten und heute zwei nicht wirklich voneinander getrennte Plasmawolken bilden, 1 2 die im Wesentlichen zwischen den beiden auseinanderfliegenden Galaxienhaufen liegen. In der rechten Wolke ist rechts oben deutlich eine den heftigen Zusammenstoß bezeugende, hell leuchtende Stoßfront zu erkennen. Im heißen Haufengas steckt weitaus mehr Masse als in den vielen sichtbaren Galaxien. Leistet also die Masse des Haufengases 5 den wesentlichen Beitrag zur Gravitation, die in diesem komple- 3 xen System herrscht? Die Antwort kommt von der Analyse des NASA / CXC / CFHT / A. Mahdavi et al. Gravitationslinseneffekts, der die Bilder von Tausenden weit hinter dem kollidierenden Doppelhaufen stehenden Galaxien beim Durchgang durch den Doppelhaufen verbogen hat. 4 Die aus der Analyse der Verformung dieser Bilder ermittelte Verteilung der gravitierenden Masse des Doppelhaufens ist in Blau dargestellt. Es zeigt sich, dass der maßgebliche Teil der 1 Bogenminute gravitierenden Masse auf zwei Gebiete verteilt ist, die deutlich 650 000 Lichtjahre außerhalb des leuchtenden Plasmas liegen und mit den beiden Ansammlungen von Galaxien zusammenfallen – obwohl in den Galaxien selbst nur wenige Prozent der Gesamtmasse der beiden Verteilung des im Röntgenlicht strahlenden heißen Plasmas dar- Systeme stecken können. Es muss also neben den Galaxien und gestellt; die Konturlinien stellen die aus der Analyse des Gravitati- dem heißen Gas noch eine dritte, den beobachteten Gravitations- onslinseneffekts abgeleitete Verteilung der Dunklen Materie dar; linseneffekt maßgeblich bewirkende Komponente geben, die sich und das optische Bild zeigt die Haufengalaxien (weißlich bis gelb), beim Zusammenstoß der Haufen gemeinsam mit den Galaxien wobei die Galaxien, deren Zugehörigkeit zu Abell 520 spektrosko- ungestört weiterbewegt hat – und genau dies erwarten wir von pisch überprüft wurde, mit einem Kreuz gekennzeichnet sind. Hier der schwach wechselwirkenden Dunklen Materie! Hier konnten erweist sich nun gänzlich unerwartet, dass die Galaxien ganz an- die Astronomen erstmals direkt auf die Existenz der Dunklen Ma- ders verteilt sind als die Dunkle Materie! Insbesondere der Bereich terie schließen, ohne eine spezielle Form des Gravitationsgesetzes der Maxima Nummer 3 und 4 ist weitgehend galaxienfrei! annehmen zu müssen. Dieser Befund widerspricht unserer bisher für wahr gehaltenen Vorstellung, dass die Dunkle Materie sich in Bezug auf die Gravita- ó Ein rätselhafter Fall: Das zweite Bild zeigt den 2,3 Milliarden tion genauso verhält wie baryonische, nicht in der Form geladener Lichtjahre entfernten Galaxienhaufen Abell 520. Wieder spricht Teilchen vorliegende Materie. Gibt es vielleicht eine (noch gänzlich alles dafür, dass wir den Zusammenstoß von zwei oder vielleicht unbekannte) nicht-gravitative Wechselwirkung der Dunkle-Mate- auch drei Galaxienhaufen vor uns haben. Auch hier ist in Rot die rie-Teilchen miteinander? uns also damit behelfen, zusätzlich zur ge- gelenkt, so dass sie sich ganz ähnlich zur führt wie der newtonsche Zugang. Wäh- messenen Geschwindigkeit Bahnformen Masse hin krümmen, als ob sie durch eine rend einer totalen Sonnenfinsternis wur- anzunehmen, auf denen die Sterne in den gewöhnliche gläserne Sammellinse ab- de 1919 Einsteins verdoppelte Vorhersage Galaxien oder die Galaxien in den Gala- gelenkt würden. (siehe Bild S. 42) Deswe­- bestätigt. xienhaufen umlaufen. Dabei wird zum gen heißt diese Lichtablenkung auch Gra- Als optische Systeme betrachtet, sind Beispiel oft vorausgesetzt, dass die Bahnen vitationslinseneffekt. Schon Isaak New­- Gravitationslinsen schier unbrauchbar. tangential verlaufen, also Kreise um das ton hat vermutet, dass Massen Licht ab- Die Lichtablenkung ist differenziell, so Massenzentrum beschreiben. Das kann lenken könnten, aber weil er sich Licht dass benachbarte Strahlen, die in etwas im Mittel schon stimmen, aber solche nicht als Strom von Teilchen vorstellte, unterschiedlichem Symmetrieannahmen sind besonders bei fehlten ihm die Konzepte, den Effekt auch Masse vorbeilaufen, etwas verschiedene vergleichsweise jungen Objekten wie Ga- beschrei-ben zu können. Das tat 1801 der Ablenkungen erfahren. Kreisrunde Licht- laxienhaufen, die möglicherweise fernab damalige Direktor der Münchner Stern- quellen, wenn es sie im Universum gäbe, von einem Gleichgewichtszustand sind, warte, Johann Georg Soldner, wobei er blieben deswegen nach einer Abbildung mit Vorsicht zu betrachten. Massen zwingen aber beim Leser um Verständnis dafür bat, durch eine Gravitationslinse nicht kreis- nur dass er Licht wie aus Teilchen zusammen­ rund, sondern würden elliptisch verformt, Planeten, Sterne und Galaxien auf ge- gesetzt behandelte. Einsteins Allgemeine denn der Teil der Quelle, der näher an der krümmte Bahnen, sondern auch Pho- Relativitätstheorie bietet für diesen Effekt Gravitationslinse stünde, würde stärker tonen. Lichtstrahlen, die dicht an einer eine geometrische Erklärung, die aber zu abgelenkt als der fernere Teil. Mit Begrif- Masse vorbeigehen, werden ebenfalls ab­- einer doppelt so starken Lichtablenkung fen der Optik ausgedrückt, sind Gravitati- www.astronomie-heute.de nicht Abstand an August 2010 einer 41 Einsteinring Eine große Masse, die zwischen einer fernen Quelle und dem Beobachter liegt, lenkt das Licht dieser Quelle ab und wirkt so als »Gravitationslinse«. Bei perfekter Axialsymmetrie sieht der Beobachter ein Quelle Beobachter auf der Erde ringförmiges Bild (Einsteinring, rechts). Abweichungen von der Axialsymmetrie Gravitationslinse führen zu mehrfachen, verstärkten und SuW-Grafik verzerrten Bildern (ganz rechts). onslinsen furchtbar astigmatisch, von ih- durch einfache Gesetze beschrieben wer- durch eine eventuell vorhandene Gravita- ren langen Brennweiten ganz abgesehen. den, die den Grad der messbaren Verzer- tionslinse abgelesen werden kann. Dabei Es ist aber gerade ihr Astigmatismus, rung zur Verteilung der vorhandenen Ma- kommt uns zugute, dass es so viele von der die Gravitationslinsen für die Astrono- terie in Beziehung setzen. Es gibt auch eine diesen fernen Galaxien auf jeder Qua- mie so wertvoll macht. Wären sie perfekte Art kosmischer Tapete, denn bei genügend dratbogenminute gibt. Wir können zum optische Linsen, wie in Brillen, Kameras langer Belichtung stellt sich heraus, dass Beispiel ohne Weiteres die Bilder von je- oder Ferngläsern, so würden wir von ihrer der Himmel von fernen Galaxien geradezu weils zehn Galaxien zusammenfassen und Existenz nichts merken. Gerade die Verzer- übersät ist. Etwa 30 solcher unscheinbarer trotzdem auf jeder Quadratbogenminute rungen, die ihr Astigmatismus hervorruft, Galaxienbildchen finden sich in jeder Qua- immer noch drei bis zehn solcher gemit- verraten uns ihre Anwesenheit, und sie dratbogenminute auf tiefen Bildern des telten (und damit hinreichend »runden«) sind messbar. Dieser Effekt ist leicht zu Himmels. Auf langen Belichtungen mit Bilder erzeugen, die uns eine Messung des verstehen. Stellen wir uns vor, wir betrach- dem Weltraumteleskop Hubble erscheinen ten eine fein gemusterte Tapete durch ein sogar mehr als 100 davon. Der Vollmond Gravitationslinseneffekts erlauben. Einfach ist das trotzdem nicht, weil die unregelmäßig dickes Glas. Das Tapeten- mit seinem Durchmesser von 30 Bogenmi- typischen Verzerrungen, die beispielswei­ muster erscheint verzerrt. Aus dem Grad nuten verbirgt hinter sich zwischen 25 000 se in der Nähe eines Galaxienhaufens der Verzerrung können wir die Dicke des und 80 000 dieser Hintergrundgalaxien. erzeugt werden, etwa zehn Prozent betra­- Wären alle diese Galaxien kreisrund, so gen. Kreisrunde Quellen würden demnach der geometrischen Optik anwenden. Auf genau diese Weise lässt sich nun könnten wir anhand ihrer Verzerrung mes- als Ellipsen abgebildet, deren beide Ach- sen, wie stark der Gravitationslinseneffekt auch der Gravitationslinseneffekt verwen- von Ort zu Ort am Himmel schwankt. sen sich um zehn Prozent unterscheiden. Der Gravitationslinseneffekt ausgedehnter den, um Dunkle Materie nicht nur aufzu- Leider sind die Galaxien nicht kreisrund, kosmischer Strukturen ist noch deutlich spüren, sondern um sogar ihre Verteilung sondern haben zum Teil abenteuerliche schwächer und liegt im Prozentbereich. zu bestimmen. Wir benötigen dafür ledig- Formen. Mittelt man aber über mehrere Dennoch ließen sich mit dieser Me- lich eine fein gemusterte kosmische Tapete Bilder, überlagern sich diese so, dass in thode des schwachen Gravitationslinsen­ und die Gesetze der Gravitationslinsen­ der Summe ein Bild entsteht, das ohne die effekts in den letzten Jahren spektakulä­- optik. Glücklicherweise stehen uns beide Wirkung einer Gravitationslinse ungefähr re Erfolge erzielen. Am eindrucksvollsten zur Verfügung. Gravitationslinsen können rund ist, und an dem dann die Verzerrung sind vielleicht die Karten der Verteilung Es gewinnt, wer alle 16 Felder besucht hat und dann mindestens 5 Produkte auswendig nennen kann. 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Solche Kartierungen sind auf grö­ Bewegung von Sternen in Galaxien oder ßeren Skalen als Galaxienhaufen kaum von Galaxien in Galaxienhaufen, gehen mehr möglich, weil der Gravitationslin- in die Analyse des Gravitationslinsenef- seneffekt dort zu schwach wird, aber er fekts keinerlei Gleichgewichtsannahmen kann immer noch statistisch nachge- mehr ein. Der Gravitationslinseneffekt wiesen werden, indem das Signal großer weist Materieverdichtungen nach, ob sie Bereiche am Himmel zusammengefasst nun dunkel sind oder leuchten, ob sie wird. So können wir uns sogar von der ein inneres Gleichgewicht erreicht haben großräumigen dreidimensionalen Vertei- oder nicht. Er ist zu einer der wichtigsten lung der Dunklen Materie ein Bild machen Methoden geworden, dem dunklen Uni- (siehe SuW 11/2008, S. 44). versum auf die Spur zu kommen. Matthias Bartelmann (links) ist Kosmologe, Direktor am Institut für Theoretische Astrophysik, Zentrum für Astronomie der Universität Heidelberg, und Mitherausgeber von SuW. Matthias Steinmetz ist wissenschaftlicher Direktor des Astrophysikalischen Instituts Potsdam. Zu seinen wissenschaftlichen Interessen gehört die Entstehung und Entwicklung der Galaxien, insbesondere des Milch- Bartelmann, M.: Der kosmische Mikrowellenhintergrund. In: Sterne und Weltraum 5 / 2000, S. 330 - 337. Bartelmann, M.: Das Standardmodell der Kosmologie. Teil 1 in: Sterne und Weltraum, 8 / 2007, S. 38-47; Teil 2 in: Sterne und Weltraum 9 / 2007, S. 36 - 44. Faure, C., Fohlmeister, J.: Galaxien als natürliche Teleskope. In: Sterne und Weltraum 11 / 2008, S. 44 - 52. Klein, U., Jósza, G., Kenn, F., Oosterloo, T.: Galaxien und dunkle Materie. In: Sterne und Weltraum 9 / 2005, S. 28 - 36. Rau, W.: Auf der Suche nach der dunklen Materie. In: Sterne und Weltraum 1 / 2005, S. 32 - 42. Rix, H.-W.: Perspektiven astronomischer Entdeckungen. In: Sterne und Weltraum 8 / 2008, S. 32 - 40. Schneider, P.: Die Grundfragen der Kosmologie. In: Sterne und Weltraum 7 / 2007, S. 44 - 52. Springel, V.: Die Millennium-Simulation. In: Sterne und Weltraum 11 / 2006, S. 30 - 40. Weblinks zum Thema: www.astronomie-heute.de/ artikel/1036677 straßensystems. Anzeige GRATIS beim Kauf einen SkyWatcher Teleskop über 300 € STERNATLAS FORNAX-10 NEU • PE unter 5" • Nachführung bis zu 2 St 15 Min F10 GRUNDKÖRPER INKL. 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