LITERATUR UND GESELLSCHAFT Dead Poets Society Drei Pfeifen des Herrn von Doderer: Was geschieht mit den Nachlässen niederösterreichischer Autoren? M A N F R E D W I E N I N G E R FOTOS: HELMUT LACKINGER Postkarte und Karikatur aus dem Nachlass des deutschtümelnden Dramatikers Franz Keim: Beispiel für die Irrwege einer literarischen Hinterlassenschaft zwischen Marbach, Weimar, St. Pölten und Wien - aber auch für das kulturelle Gedächtnis eines Landes ... 52 morgen 1/06 In der Fackel-Nummer 668-675 des Jahres 1924 musste sich Karl Kraus ordentlich ärgern, und zwar unter anderem über den damals erstaunlichen Nachruhm des sechs Jahre zuvor verstorbenen St. Pöltner Oberrealschullehrers und bierernst-deutschtümelnden Dramatikers Franz Keim. In der Glosse „Von den monumentalen Blamagen“ zitiert Kraus einen Zeitungsartikel, der die Enthüllung eines von Fritz Hänlein ausgeführten Denkmals – das die FranzKeim-Gesellschaft stiftete – im Wertheimsteinpark in Wien-Döbling zum Inhalt hat. Kraus kritisierte darin, dass ein „St. Pöltner Mittelschulprofessor“, der sich in der literarischen Begabung von anderen Mittelschulprofessoren nicht unterscheidet, für „denkmalswürdig“ gehalten wird, während „der größte und lebendigste Wiener Geist, der satirische Klassiker der deutschen Literatur – Johann Nestroy – noch immer kein Denkmal hat.“ Das Wiener Keim-Denkmal dürfte zwar noch stehen, aber inzwischen hat die Literaturgeschichte Kraus auf der ganzen Linie Recht gegeben. Der Stern des selbst ernannten Neoklassikers und Schiller-Verehrers Keim war zwar 1875 mit der Uraufführung seines dramatischen Erstlings „Sulamith“ am Wiener Stadttheater relativ hell aufgegangen, in den Jahren und Jahrzehnten danach kam sein umfangreiches, patriotisch-pathetisches Bühnenwerk mit Titeln wie „Die Amelungen. Heldenspiel“, „Stefan Fadinger, ein deutsches Bauernlied“, „Der Schmied vom Rolandseck“ usw. über Laienaufführungen bei diversen deutschnationalen Turnvereinen, schlagenden Verbindungen und dilettierenden Honoratiorenrunden kaum mehr hinaus. 1908 erschien noch seine Übertragung des Nibelungenliedes ins Neuhochdeutsche, die aber aus heutiger Sicht eigentlich nur wegen der prächtigen Jugendstil-Illustrationen von Carl Otto Czeschka bemerkenswert ist. Ab 1912 ließen die Keim-Verehrer aus dem deutsch- tümelnden Establishment der Monarchie eine repräsentative, fünfbändige Werkausgabe mit Biographie zu Lebzeiten erscheinen, die aber wenig gekauft und wahrscheinlich noch weniger gelesen wurde. Heute ist Franz Keim ein weitgehend vergessenes Mitglied der Dead Poets Society, seine hochdramatischen, oft unfreiwillig komischen Historienschinken haben bald nach dem ersten Weltkrieg keine Verleger und schon gar keine Theater mehr gefunden. Nur seine Übertragung des Nibelungenliedes wurde 1972 als Insel-Taschenbuch nachgedruckt. Nach dem Tod seiner Witwe zersplitterte sein Nachlass mehr oder weniger und gelangte in den Besitz des Wiener Stadtund Landesarchivs und des Niederösterreichischen Landesmuseums. Einige Teile, darunter vor allem Korrespondenz, fanden auch den Weg in das Schiller-Nationalmuseum in Marbach, in das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar und offenbar auch in den Autographen-Handel. Denn vor einigen Jahren gelang es dem rührigen St. Pöltner Stadtarchiv, eine ganze Reihe von kolorierten Skizzen des Gelegenheitskarikaturisten Keim aus dem lokalen Handel zu erwerben und damit einen schon vorhandenen Bestand – fußend auf einer Schenkung aus dem Jahr 1944 – zu ergänzen. Zu entdecken ist in diesen köstlichen Blättern beileibe kein verbiesterter Schiller-Epigone, sondern ein ganz anderer Keim, wie schon ein St. Pöltner Zeitgenosse wusste: „Wenn er die Feder weggeworfen [...], dann trat sein köstlicher Humor in seine Rechte und in oft ausgelassener Laune ließ er geistreichen Witzen, ätzenden Sarkasmen, beißendem Spotte die Zügel schießen.“ Nicht unerwähnt soll dabei aber bleiben, dass Keim in manchen Zeichnungen und dazugehörigen Spottgedichten im Stil der Zeit auch antisemitischen Regungen „die Zügel schießen“ ließ. Egal, wie man nun zum ideologischen Hintergrund der Keimschen „Heldenspie- le“ steht, als Schriftsteller ist er zweifellos ein Teil der Kultur- und Geistesgeschichte Niederösterreichs. Sein Beispiel zeigt aber auch exemplarisch, dass es in Niederösterreich offenbar nie eine zentrale Stelle gegeben hat, die einigermaßen systematisch literarische Nachlässe niederösterreichischer Autoren, die ja in ihrer Gesamtheit sicherlich einen nicht unbedeutenden Teil des kulturellen Gedächtnisses des Landes ausmachen, gesammelt und gepflegt hätte. ZENTRALE: LITERATURARCHIV. Der Nachlass des 1995 verstorbenen Albert Drach – wahrlich eine bedeutendere literarische Gestalt als der St. Pöltner Heros Keim – umfasst 14 Kartons mit literarischen Schriften und 37 Kartons mit juristischen Akten und Korrespondenzen. Besonders bedeutsam und wertvoll wird ein Nachlass natürlich vor allem durch Manuskripte bisher unveröffentlichter Texte, auch in dieser Hinsicht ist Drachs Hinterlassenschaft besonders reich. Der Mödlinger Autor hinterließ viel Unveröffentlichtes, Texte wie „Rinaldo Rinaldini unter den Schildbürgern“, „Atlantis“, „Meine gesammelten Misserfolge“, Essays und Gedichte, von denen der interessierten literarischen Öffentlichkeit bis heute gerade einmal die Titel bekannt sind. Das riesige Konvolut befindet sich nun nicht etwa im NÖ Landesarchiv oder in der NÖ Landesbibliothek in St. Pölten – die kürzlich auf Anfrage nach etwaigen vorhandenen Nachlässen niederösterreichischer Autoren in ihren Beständen mit „leider nein“ antworteten –, sondern im Österreichischen Literaturarchiv in Wien und wird dort eifrig bearbeitet: Bereits im Jahr 2002 erschien die große Drach-Biographie „Ein wütender Weiser“ von Eva Schobel, die gemeinsam mit Ingrid Cella, Bernhard Fetz und Wendelin Schmidt-Dengler auch eine neue zehnbändige Werkausgabe herausgibt, von der bisher ein Band, nämlich „Untersuchung an Mädeln. Kriminalprotokoll“ herausgekommen ist. Ebenso leider nicht in Niederösterreich gelandet sind die drei Pfeifen des in Hadersdorf geborenen Heimito von Doderer, seine Totenmaske, sein Bogenschieß-Trainingsbüchlein, seine Personalausweise – also Lebensdokumente, die einem Nachlass oft erst zusätzliche Würze geben – wie auch seine Briefe und Korrespondenzen, Tagebücher und Typoskripte. All das lagert ebenfalls im Österreichischen Literaturarchiv und wird dort schon seit Jahren mustergültig bearbeitet und betreut. Diese Institution besitzt auch die literarischen Hinterlassenschaften von niederösterreichischen Autoren wie etwa Karl Bienenstein, Hans Brecka, Fritz Habeck, Theodor Kramer, Emil Lorenz, George Saiko, Hermann Schreiber, Elfriede M. Skorpil-Samset, Wilhelm Szabo und Alois Vogel. Nicht einmal der umfangreiche Nachlass von „morgen“-Gründer György Sebestyén, bestehend aus 35 Kartons, konnte in Niederösterreich gehalten werden. Auch er lagert derzeit – erraten – im Österreichischen Literaturarchiv am Wiener Josefsplatz. Einzig die 1989 gegründete Dokumentationsstelle für Literatur in NÖ stemmt sich – neben den Stadtarchiven Baden, St. Pölten und Waidhofen an der Ybbs – hier dagegen. 1990 konnte als Kern und Beginn der Sammlung ein Teilnachlass von Wystan Hugh Auden erworben werden. Zusammen mit dem Gesamtnachlass von Walter Sachs und Teilnachlässen von Franz Keim, Siegfried Freiberg, Josef Weber-Wenzlitzke, Eduard Kranner, Franz Ritter, Emmy Feiks-Waldhäusl und Maria Grengg ergibt das die jetzige Sammlung von rund 50 Kartons, darunter der Hut, das Geschirr und die Aktentasche von Auden. Ohne den Nachlass von Franz Kafka, den Max Brod ja bekanntermaßen nicht, wie in gleich zwei testamentarischen Verfügungen des 1924 im niederösterreichischen Kierling verstorbenen Autors vorgeschrieben, verbrannt, sondern ab 1925 publiziert hat, wäre das 20. Jahrhundert um den größten Teil des Werkes seines vielleicht bedeutendsten Autors gekommen. Es könnte sich also über kurz oder lang durchaus lohnen, wenn die öffentliche Hand in Niederösterreich im 21. Jahrhundert mehr in die Sammlung und Betreuung literarischer Nachlässe niederösterreichischer Autoren investieren würde. Sicherlich ist das auch eine Geldfrage. Erst vor kaum zwei Jahren hat die Wiener Stadt- und Landesbibliothek den Hauptnachlass von Gerhard Fritsch um 654.000 Euro erworben – und damit einen neuen Kaufpreis-Rekord für Autographensammlungen österreichischer Autoren des letzten Jahrhunderts aufgestellt. Geht es um Weltliteratur, sind allerdings noch dickere Brieftaschen vonnöten: Vor drei Jahren wurde von einem Wiener Antiquariat der Nachlass eines ungarischen Arztes, in dem neben Schreiben von Einstein, Werfel und Thomas Mann vor allem 38 Briefe Franz Kafkas enthalten waren, um 1,2 Millionen Euro angeboten. Ein Goethe-Brief ist dagegen schon um circa 1.000 Euro zu haben, der Mann war als Briefschreiber einfach viel zu produktiv. ■ Brief mit Geburtstagswünschen des bedeutenden englischen Lyrikers Wystan Hugh Auden (der in Kirchstetten lebte und begraben liegt), gesammelt in der Dokumentationsstelle für Literatur in NÖ. Außerdem erhalten: Audens Hut, Geschirr und Aktentasche. morgen 1/06 53