52_53_Literarische Nachlaesse

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LITERATUR UND GESELLSCHAFT
Dead Poets Society
Drei Pfeifen des Herrn von Doderer: Was geschieht mit den Nachlässen niederösterreichischer Autoren?
M A N F R E D
W I E N I N G E R
FOTOS: HELMUT LACKINGER
Postkarte und Karikatur aus dem Nachlass des
deutschtümelnden Dramatikers Franz Keim:
Beispiel für die Irrwege einer literarischen
Hinterlassenschaft zwischen Marbach, Weimar,
St. Pölten und Wien - aber auch für das
kulturelle Gedächtnis eines Landes ...
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morgen 1/06
In der Fackel-Nummer 668-675 des Jahres
1924 musste sich Karl Kraus ordentlich
ärgern, und zwar unter anderem über den
damals erstaunlichen Nachruhm des sechs
Jahre zuvor verstorbenen St. Pöltner Oberrealschullehrers und bierernst-deutschtümelnden Dramatikers Franz Keim. In der
Glosse „Von den monumentalen Blamagen“ zitiert Kraus einen Zeitungsartikel,
der die Enthüllung eines von Fritz Hänlein
ausgeführten Denkmals – das die FranzKeim-Gesellschaft stiftete – im Wertheimsteinpark in Wien-Döbling zum Inhalt
hat. Kraus kritisierte darin, dass ein „St.
Pöltner Mittelschulprofessor“, der sich in
der literarischen Begabung von anderen
Mittelschulprofessoren nicht unterscheidet, für „denkmalswürdig“ gehalten wird,
während „der größte und lebendigste Wiener Geist, der satirische Klassiker der
deutschen Literatur – Johann Nestroy –
noch immer kein Denkmal hat.“
Das Wiener Keim-Denkmal dürfte zwar
noch stehen, aber inzwischen hat die
Literaturgeschichte Kraus auf der ganzen
Linie Recht gegeben. Der Stern des selbst
ernannten Neoklassikers und Schiller-Verehrers Keim war zwar 1875 mit der Uraufführung seines dramatischen Erstlings
„Sulamith“ am Wiener Stadttheater relativ hell aufgegangen, in den Jahren und
Jahrzehnten danach kam sein umfangreiches, patriotisch-pathetisches Bühnenwerk mit Titeln wie „Die Amelungen. Heldenspiel“, „Stefan Fadinger, ein deutsches
Bauernlied“, „Der Schmied vom Rolandseck“ usw. über Laienaufführungen bei
diversen deutschnationalen Turnvereinen,
schlagenden Verbindungen und dilettierenden Honoratiorenrunden kaum mehr
hinaus. 1908 erschien noch seine Übertragung des Nibelungenliedes ins Neuhochdeutsche, die aber aus heutiger Sicht
eigentlich nur wegen der prächtigen
Jugendstil-Illustrationen von Carl Otto
Czeschka bemerkenswert ist. Ab 1912 ließen die Keim-Verehrer aus dem deutsch-
tümelnden Establishment der Monarchie
eine repräsentative, fünfbändige Werkausgabe mit Biographie zu Lebzeiten erscheinen, die aber wenig gekauft und wahrscheinlich noch weniger gelesen wurde.
Heute ist Franz Keim ein weitgehend vergessenes Mitglied der Dead Poets Society,
seine hochdramatischen, oft unfreiwillig
komischen Historienschinken haben bald
nach dem ersten Weltkrieg keine Verleger
und schon gar keine Theater mehr gefunden. Nur seine Übertragung des Nibelungenliedes wurde 1972 als Insel-Taschenbuch nachgedruckt.
Nach dem Tod seiner Witwe zersplitterte sein Nachlass mehr oder weniger und
gelangte in den Besitz des Wiener Stadtund Landesarchivs und des Niederösterreichischen Landesmuseums. Einige Teile,
darunter vor allem Korrespondenz, fanden
auch den Weg in das Schiller-Nationalmuseum in Marbach, in das Goethe- und
Schiller-Archiv in Weimar und offenbar
auch in den Autographen-Handel. Denn
vor einigen Jahren gelang es dem rührigen St. Pöltner Stadtarchiv, eine ganze
Reihe von kolorierten Skizzen des Gelegenheitskarikaturisten Keim aus dem lokalen
Handel zu erwerben und damit einen
schon vorhandenen Bestand – fußend auf
einer Schenkung aus dem Jahr 1944 – zu
ergänzen. Zu entdecken ist in diesen köstlichen Blättern beileibe kein verbiesterter
Schiller-Epigone, sondern ein ganz anderer Keim, wie schon ein St. Pöltner Zeitgenosse wusste: „Wenn er die Feder weggeworfen [...], dann trat sein köstlicher
Humor in seine Rechte und in oft ausgelassener Laune ließ er geistreichen Witzen,
ätzenden Sarkasmen, beißendem Spotte
die Zügel schießen.“ Nicht unerwähnt soll
dabei aber bleiben, dass Keim in manchen
Zeichnungen und dazugehörigen Spottgedichten im Stil der Zeit auch antisemitischen Regungen „die Zügel schießen“ ließ.
Egal, wie man nun zum ideologischen
Hintergrund der Keimschen „Heldenspie-
le“ steht, als Schriftsteller ist er zweifellos
ein Teil der Kultur- und Geistesgeschichte
Niederösterreichs. Sein Beispiel zeigt aber
auch exemplarisch, dass es in Niederösterreich offenbar nie eine zentrale Stelle
gegeben hat, die einigermaßen systematisch literarische Nachlässe niederösterreichischer Autoren, die ja in ihrer Gesamtheit sicherlich einen nicht unbedeutenden
Teil des kulturellen Gedächtnisses des Landes ausmachen, gesammelt und gepflegt
hätte.
ZENTRALE: LITERATURARCHIV. Der Nachlass des 1995 verstorbenen Albert Drach –
wahrlich eine bedeutendere literarische
Gestalt als der St. Pöltner Heros Keim –
umfasst 14 Kartons mit literarischen
Schriften und 37 Kartons mit juristischen
Akten und Korrespondenzen. Besonders
bedeutsam und wertvoll wird ein Nachlass
natürlich vor allem durch Manuskripte
bisher unveröffentlichter Texte, auch in
dieser Hinsicht ist Drachs Hinterlassenschaft besonders reich. Der Mödlinger
Autor hinterließ viel Unveröffentlichtes,
Texte wie „Rinaldo Rinaldini unter den
Schildbürgern“, „Atlantis“, „Meine gesammelten Misserfolge“, Essays und Gedichte,
von denen der interessierten literarischen
Öffentlichkeit bis heute gerade einmal die
Titel bekannt sind. Das riesige Konvolut
befindet sich nun nicht etwa im NÖ Landesarchiv oder in der NÖ Landesbibliothek
in St. Pölten – die kürzlich auf Anfrage
nach etwaigen vorhandenen Nachlässen
niederösterreichischer Autoren in ihren
Beständen mit „leider nein“ antworteten –,
sondern im Österreichischen Literaturarchiv in Wien und wird dort eifrig bearbeitet: Bereits im Jahr 2002 erschien die
große Drach-Biographie „Ein wütender
Weiser“ von Eva Schobel, die gemeinsam
mit Ingrid Cella, Bernhard Fetz und Wendelin Schmidt-Dengler auch eine neue
zehnbändige Werkausgabe herausgibt, von
der bisher ein Band, nämlich „Untersuchung an Mädeln. Kriminalprotokoll“
herausgekommen ist. Ebenso leider nicht
in Niederösterreich gelandet sind die drei
Pfeifen des in Hadersdorf geborenen
Heimito von Doderer, seine Totenmaske,
sein Bogenschieß-Trainingsbüchlein, seine Personalausweise – also Lebensdokumente, die einem Nachlass oft erst zusätzliche Würze geben – wie auch seine Briefe
und Korrespondenzen, Tagebücher und
Typoskripte. All das lagert ebenfalls im
Österreichischen Literaturarchiv und wird
dort schon seit Jahren mustergültig bearbeitet und betreut. Diese Institution besitzt
auch die literarischen Hinterlassenschaften von niederösterreichischen Autoren
wie etwa Karl Bienenstein, Hans Brecka,
Fritz Habeck, Theodor Kramer, Emil Lorenz, George Saiko, Hermann Schreiber,
Elfriede M. Skorpil-Samset, Wilhelm Szabo und Alois Vogel. Nicht einmal der umfangreiche Nachlass von „morgen“-Gründer György Sebestyén, bestehend aus 35
Kartons, konnte in Niederösterreich gehalten werden. Auch er lagert derzeit – erraten – im Österreichischen Literaturarchiv
am Wiener Josefsplatz.
Einzig die 1989 gegründete Dokumentationsstelle für Literatur in NÖ stemmt
sich – neben den Stadtarchiven Baden,
St. Pölten und Waidhofen an der Ybbs –
hier dagegen. 1990 konnte als Kern und
Beginn der Sammlung ein Teilnachlass
von Wystan Hugh Auden erworben werden. Zusammen mit dem Gesamtnachlass
von Walter Sachs und Teilnachlässen von
Franz Keim, Siegfried Freiberg, Josef
Weber-Wenzlitzke, Eduard Kranner, Franz
Ritter, Emmy Feiks-Waldhäusl und Maria
Grengg ergibt das die jetzige Sammlung
von rund 50 Kartons, darunter der Hut, das
Geschirr und die Aktentasche von Auden.
Ohne den Nachlass von Franz Kafka,
den Max Brod ja bekanntermaßen nicht,
wie in gleich zwei testamentarischen Verfügungen des 1924 im niederösterreichischen Kierling verstorbenen Autors vorgeschrieben, verbrannt, sondern ab 1925
publiziert hat, wäre das 20. Jahrhundert
um den größten Teil des Werkes seines
vielleicht bedeutendsten Autors gekommen. Es könnte sich also über kurz oder
lang durchaus lohnen, wenn die öffentliche Hand in Niederösterreich im 21. Jahrhundert mehr in die Sammlung und Betreuung literarischer Nachlässe niederösterreichischer Autoren investieren würde. Sicherlich ist das auch eine Geldfrage.
Erst vor kaum zwei Jahren hat die Wiener
Stadt- und Landesbibliothek den Hauptnachlass von Gerhard Fritsch um 654.000
Euro erworben – und damit einen neuen
Kaufpreis-Rekord für Autographensammlungen österreichischer Autoren des letzten Jahrhunderts aufgestellt. Geht es um
Weltliteratur, sind allerdings noch dickere
Brieftaschen vonnöten: Vor drei Jahren
wurde von einem Wiener Antiquariat der
Nachlass eines ungarischen Arztes, in dem
neben Schreiben von Einstein, Werfel und
Thomas Mann vor allem 38 Briefe Franz
Kafkas enthalten waren, um 1,2 Millionen
Euro angeboten. Ein Goethe-Brief ist dagegen schon um circa 1.000 Euro zu haben, der Mann war als Briefschreiber einfach viel zu produktiv.
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Brief mit Geburtstagswünschen des bedeutenden englischen Lyrikers Wystan Hugh Auden
(der in Kirchstetten lebte und begraben liegt),
gesammelt in der Dokumentationsstelle für
Literatur in NÖ. Außerdem erhalten: Audens
Hut, Geschirr und Aktentasche.
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